Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel

Im Saale des Reichsrates im Winterpalais, zwischen dem Generaladjutantenzimmer und den provisorischen Gemächern des Großfürsten Nikolai Pawlowitsch, war es um acht Uhr früh noch so finster wie in der Nacht. Die hohen, auf den Hof hinausgehenden Fenster gähnten schwarz und undurchdringlich. Der schwarzgelbe Nebel schien wie ein beißender, erstickender Rauch durch die Fenster und Mauern einzudringen. Die Wachskerzen, die in schweren Kandelabern auf dem langen, mit grünem Tuch bedeckten Tische mit trüben Flammen brannten, beleuchteten nur die Mitte des Saales, während die Winkel im Dunkel verschwanden; zwei große einander gegenüberhängende Bildnisse von Katharina II. und Alexander I. traten geheimnisvoll und durchsichtig aus dem Dunkel hervor, und Großmutter und Enkel schienen sich mit dem gleichen schelmischen und spöttischen Ausdruck zuzulächeln.

Die alten Würdenträger in Puderperücken, Escarpins und goldgestickten Uniformen irrten wie Schatten umher, traten zueinander, tuschelten und flüsterten. In der finstersten Ecke saßen aber stumm und unbeweglich wie drei leblose Statuen drei dem Grabe entstiegene Tote: der siebzigjährige Minister des Innern Lanskoi,Lanskoi, Graf Ssergej Stepanowitsch (1787-1862), Minister des Innern, nahm großen Anteil an den liberalen Bestrebungen Alexanders I. in der ersten Periode seiner Regierung. Anm. d. Übers. der achtzigjährige Minister für Volksaufklärung SchischkowSchischkow, Alexander Ssemjonowitsch (1753-1841 ), Admiral, Präsident der Akademie, Minister für Unterricht. Dichter und Philologe, äußerst reaktionär. Anm. d. Übers. und der General Araktschejew,Araktschejew, Graf Alexej Andrejewitsch (1769-1834), Jugendfreund und Kriegsminister Alexanders I., war in der zweiten Regierungshälfte des letzteren der eigentliche Beherrscher Rußlands. Wurde von Nikolai I. entlassen. Anm. d. Übers. der unsterblich und ohne Alter schien. Nach der Ermordung der Nastasja Minkina war er heute zum ersten Male bei Hofe erschienen.

»Der Tod des Mädels nahm ihm jede Fähigkeit, sich mit Staatsgeschäften zu befassen, aber das Hinscheiden des Kaisers gab ihm diese Fähigkeit wieder«, sagte man von ihm.

Alle wußten schon, daß aus Warschau ein Kurier mit dem endgültigen Verzicht des Thronfolgers angekommen war und daß heute das Manifest von der Thronbesteigung Nikolais I. unterzeichnet werden sollte. Man erwartete von Minute zu Minute den Fürsten Alexander Nikolajewitsch GolizynGolizyn, Fürst Alexander Nikolajewitsch (1774-1844), Jugendfreund Alexanders I., Oberprokurator des Synods, 1817-24 Minister für Kultus und Unterricht. Anm. d. Übers. mit der Reinschrift des Manifestes. Sooft die Tür aufging, blickten alle hin, ob er es schon sei.

Ein schlanker, ehrwürdiger, schöner Greis mit ergrauten Haaren, die heraufgekämmt waren, um die Glatze zu verdecken, mit einem länglichen, feinen, blassen Gesicht und zwei schmerzlichen Falten am Munde, in denen Melancholie und Empfindsamkeit lagen, – ganz still, sanft, herbstlich und abendlich – Nikolai Michailowitsch Karamsin,Karamsin, Nikolai Michailowitsch (1766-1826), bedeutender Historiker und Dichter, kaiserlicher Hof-Historiograph, extrem-konservativ. Berühmt war seine Novelle ›Die arme Lisa‹. Anm. d. Übers. stand am Kamin und wärmte sich. Alle diese Tage war er krank. »Meine Nerven beben furchtbar. Alles ermüdet mich wie ein kleines Kind«, klagte er. Der Tod des Kaisers hatte ihn wie der Tod eines Freundes, eines geliebten Bruders, getroffen; noch schmerzlicher berührte ihn die Gleichgültigkeit aller gegen diesen Tod. »Alle denken nur an sich, an Rußland denkt niemand.« Alles verletzte, quälte und beleidigte ihn; er wollte grundlos weinen. Er kam sich wie die alte »Arme Lisa« vor.

Nikolai beauftragte ihn, das Manifest von seiner Thronbesteigung zu verfassen. Sein Entwurf gefiel aber nicht. »Möge Rußland die Glückseligkeit friedlicher Bürgerfreiheit und der Ruhe unschuldiger Herzen genießen«, – diese Worte gefielen nicht; er mußte sie ändern; er änderte den Satz ab, aber auch die neue Fassung gefiel nicht. Mit der Abfassung des Manifestes wurde nun SperanskijSperanskij, Michail Michailowitsch (1772-1839), Freund Alexander I. und bedeutender Staatsmann, nahm großen Anteil an den Reformbestrebungen dieses Kaisers, geriet 1812 in Ungnade und wurde verbannt; 1816 wieder begnadigt. Wurde von Nikolai I. mit der Schaffung eines Gesetzbuches betraut und bekam von ihm den Grafentitel. Anm. d. Übers. betraut.

Karamsin fühlte sich gekränkt, blieb aber dennoch im Palais. Er sprach von den Gründen der allgemeinen Unzufriedenheit und von den Maßregeln, die man zum Wohle des Vaterlandes ergreifen sollte.

Niemand aber hörte auf ihn, und er verstummte und trat zur Seite. »Das Leben ist zu Ende, zu Ende! Es ist Zeit zu sterben!« So lachte und weinte er über die alte »Arme Lisa«.

Am Kamin stehend, beobachtete er alles mit traurigen und nachdenklichen Blicken. »Ich sehe auf alles wie auf fliehende Schatten«, pflegte er zu sagen.

In der Nähe flüsterten zwei greise Würdenträger.

»Wir werden Sie doch hoffentlich nicht verlieren?« fragte der eine.

»Gott allein weiß, was mit uns sein wird«, antwortete der andere achselzuckend. »Neulich setzte uns Pjotr Petrowitsch beim Souper Champagner vor. ›Trinken wir‹, sagte er, ›man weiß nicht, ob wir morgen noch leben.‹«

»Euer Exzellenz trauern noch immer?« wandte sich an Karamsin der Ober-Kammerherr Alexej Ljwowitsch Naryschkin;Naryschkin, Alexander Ljwowitsch (1760-1826), Oberhofmarschall, Direktor der kaiserlichen Theater. Seine Frau, Maria Antonowna, war Geliebte Alexanders I. Anm. d. Übers. er strahlte in Gold und Brillanten und hatte ein majestätisch freundliches und unbedeutendes Gesicht mit dem gezierten Lächeln der alten Würdenträger vom Hofe Katharinas. Er war ein lustiger Patron und scherzte selbst dann, wenn es den andern gar nicht zum Scherzen war.

»Nicht ich allein, ganz Rußland . . .« begann Karamsin.

»Lassen wir lieber Rußland aus dem Spiel«, unterbrach ihn Naryschkin mit einem feinen Lächeln. »Vorhin, während des Trauergottesdienst waren die Droschkenkutscher auf dem Schloßplatz gar zu übermütig geworden. Man schickte jemand hinaus, um ihnen zu sagen, sie sollten sich doch schämen zu lachen, wo alle den Verstorbenen beweinen. ›Was sollen wir ihn beweinen?‹ sagten sie darauf: ›Er hat lange genug regiert, nun ist's genug!‹ Da haben Sie Ihr Rußland!« – Das bleiche Gesicht Karamsins flammte auf.

»Ich wage zu hoffen, Exzellenz, daß sich in Rußland noch Menschen finden, die die Schuld des Dankes bezahlen . . .«

»Hören Sie auf, mein Lieber, wer zahlt heute seine Schulden? Was mich betrifft, so werde ich erst auf dem Sterbebette sagen: C'est la première dette, que je paye à la nature!« antwortete Naryschkin lachend.

»Macht man denn so eine so wichtige Sache? Sie haben alle Papiere durcheinandergebracht! Sie haben keinen Zaren im Kopfe«Russische Redensart, soviel wie: nicht bei Trost sein. Anm. d. Übers. schrie ein böser Zwerg mit einem Kalmückengesicht – der Justizminister Iobanow-Rostowskij – den stellvertretenden Staatssekretär Olenin an, der an eine altersgraue Ratte erinnerte.

»Was sagt er: Man hat keinen Zaren?« fragte Fürst Lopuchin, Präsident des Reichsrates und des Ministerkomitees, Ritter des Großkreuzes des Malteserordens, der sich verhört hatte. Er war ein schlanker, großer und majestätischer Greis, geschminkt und gepudert, mit einem künstlichen Gebiß und dem Lächeln eines Satyrs. Er litt an Schwerhörigkeit, die in den letzten Tagen infolge der Aufregung noch stärker geworden war.

»Er hat gesagt, Olenin hätte keinen Zaren im Kopf!« schrie ihm Naryschkijn ins Ohr. »Was haben Sie denn geglaubt?«

»Ich glaubte, Rußland hätte keinen Zaren.«

»Ja, vielleicht hat auch Rußland keinen«, versetzte Naryschkin mit dem gleichen feinen Lächeln. »Am erstaunlichsten ist aber dieses, meine Herren: Es ist wohl schon einen Monat her, daß wir ohne einen Zaren sind, und dabei geht alles doch ebenso gut oder schlecht seinen Gang wie früher.«

»Immer noch dieser Unsinn! Man spielt noch immer Ball!« fuhr LobanowLobanow-Rostowskij, Fürst Dmitrij Iwanowitsch (1758-1838), General, war 1817-27 Justizminister. Anm. d. Übers. zu schreien fort.

»Was für ein Ball?« fragte Lopuchin, der wieder nichts verstanden hatte.

»Na, das kann man ihm nicht ins Ohr schreien«, bemerkte Naryschkin abwehrend. Dann wandte er sich leise an Karamsin: »Haben Sie das vom Ball schon gehört?«

»Nein.«

»Pendant quinze jours on joue la couronne de Russie au ballon en se la renvoyant mutuellement, – diesen Witz machte neulich der französische Gesandte Laferonnais. Der Witz ist gar nicht übel, wird aber wohl kaum in die Geschichte des Russischen Reiches aufgenommen werden!«

Lopuchin lauschte gespannt hin; als er den Namen Laferonnais hörte, begriff er wohl, wovon die Rede war, und fing ebenfalls zu lachen an, wobei die gleichmäßigen weißen Zähne seines künstlichen Gebisses sichtbar wurden und aus seinem Munde ein Hauch von Moder kam wie aus dem einer Leiche.

»Nun, was macht Ihr Rheumatismus, Nikolai Michailowitsch?« fragte mit angenehmer, heiserer Stimme ein etwa sechzigjähriger Mann in einem ziemlich abgetragenen Frack mit zwei Ordenssternen, mit einem Kranz grauer Locken um den kahlen Schädel, einem fast milchweißen Gesicht und blauen, feuchten, sich langsam bewegenden Augen. Es war Michail Michailowitsch Speranskij. »Mir aber setzen die Hämorrhoiden furchtbar zu!« fuhr er fort, ohne eine Antwort abzuwarten. Darauf holte er aus seiner Dose mit zwei langen Fingern seiner ungewöhnlich vornehmen Hand eine Prise Laferme-Tabak, stopfte sie in die Nase, wischte diese mit einem rotseidenen Tuch von zweifelhafter Sauberkeit ab – in bezug auf saubere Wäsche war er etwas geizig – und sprach mit einem selbstzufriedenen Lächeln: »Was wäre ich für ein Kerl, wenn ich nicht Tabak schnupfte!«

»Nun, ist das Manifest fertig, Exzellenz?« fragte Karamsin, der ihm zu verstehen geben wollte, daß er sich nicht verletzt fühle und ihn nicht beneide.

Speranskij richtete auf ihn langsam seine Augen und antwortete mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln auf den feinen Lippen:

»Ach, sprechen Sie nicht davon! Das Manifest wächst mir schon zum Halse heraus! Wie soll man das Notwendige sagen, wie soll man dem Volke die Familienabmachungen erklären? Nikolai verzichtet zugunsten Konstantins, und Konstantin zugunsten Nikolais. Nicht hin und nicht her.«

»Was sollte man denn machen?«

»Das Testament nicht öffnen, und die ganze Suppe nicht einbrocken.«

»Sich über den Willen des Toten hinwegsetzen?«

»Tote haben keinen Willen.«

»Es sind grausame Worte, Exzellenz!«

»Grausame Worte sind besser als grausame Taten. Man darf nicht mit der legitimen Thronfolge wie mit einem Privateigentum spielen. Wenn der verstorbene Kaiser sein Vaterland, das ihm im Jahre 1812 so unwiderlegbare Beweise seiner Ergebenheit geliefert hat, nur einigermaßen liebte, wie konnte er dann Rußland in eine solche Lage versetzen . . . Aber was soll man noch reden! Die letzten zehn Jahre übertreffen alles, was wir vom eisernen Zeitalter gehört haben . . . Vielleicht ist aber auch »alles zum Besten«, wie Euer Exzellenz zu sagen belieben.«

Karamsin schwieg. Die Kränkung für seinen Freund, seinen geliebten Bruder, brannte ihm auf dem Herzen, und er hielt nur mit Mühe die Tränen zurück. Er lehnte sich gegen den Marmor des Kamins, ließ den Kopf sinken und bedeckte die Augen mit der Hand.

»Ist Ihnen nicht ganz wohl, Exzellenz?« fragte Speranskij.

»Ja, ich habe Kopfweh. Wahrscheinlich sind es die Nerven. Meine Nerven sind immer erregt . . .«

»Das haben heute alle. Es kommt vom Wetter«, versetzte Speranskij. »Kennen Sie übrigens ein ausgezeichnetes Mittel zur Kräftigung der Nerven? Statt Tee eine kalte Abkochung aus Millefolium mit bitteren Kamillen.«

»Millefolium, Millefolium . . .« wiederholte Karamsin mit einem schmerzlichen Lächeln; in diesem Worte lag etwas unangenehm süßliches, ekelerregendes, und es blieb ihm wie ein nicht heruntergeschlucktes Klümpchen in der Kehle stecken. Und es schien ihm, daß auch Speranskij selbst, mit seinem erstaunlich weißen, fast milchweißen, Gesicht und den feuchten, blaßblauen Augen, den »Augen eines verendenden Kalbes« ganz wie Millefolium sei.

Er machte eine Anstrengung, schluckte das Klümpchen hinunter und nahm die Hände von den Augen.

»Ja, alles ist zum Besten, Exzellenz, wenn auch nicht im Sinne dieser Welt«, versetzte er mit einem stillen Lächeln. »Es gibt einen Gott, also können wir ruhig sein.«

»Sie haben recht, Nikolai Michailowitsch, wir können ruhig sein«, entgegnete Speranskij lächelnd. »Ich habe immer gesagt: Dei providentia et hominum confusione Ruthenia ducitur.«

»Wie? Was haben Sie gesagt?«

»Rußland wird durch Gottes Vorsehung und menschliche Dummheit geleitet.«

Karamsin schloß wieder die Augen. Er wollte weinen und zugleich lachen.

»Wir sind beide nett«, dachte er sich, »in einem solchen Augenblick, wo sich das Schicksal des Vaterlandes entscheiden soll, weiß der russische Gesetzgeber nichts anderes zu tun, als zu lachen, und der russische Historiker nichts anderes – als zu weinen. Das Leben ist zu Ende! Es ist Zeit zu sterben, alte ›Arme Lisa‹!«

Die Türe zum Generaladjutantenzimmer ging auf, und alle sahen wieder hin. Mit einem großen Portefeuille in der Hand, kam der kleine, dicke, kugelrunde Fürst Alexander Nikolajewitsch Golizyn ins Zimmer gerollt.

»Nun, ist das Manifest fertig?« wandten sich alle an ihn.

»Was für ein Manifest?« fragte er, als verstünde er nichts.

»Aber, Durchlaucht, die ganze Stadt weiß es!«

»Um Gottes Willen, meine Herren, es ist ein Staatsgeheimnis!«

»Schon recht, wir werden es nicht verraten. Sagen Sie nur das eine: Ist es fertig?«

»Es ist fertig. Kommt gleich zur Unterschrift.«

»Gott sei Dank!« Alle atmeten erleichtert auf.

In der dunklen Ecke regten sich die drei gebrechlichen Schatten. Araktschejew schlug langsam ein Kreuz.

Aber am gegenüberliegenden Ende des Saales ging eine andere Tür auf, die zu den provisorischen Gemächern des Großfürsten Nikolai Pawlowitsch führte, und der Generaladjutant BenkendorfBenkendorf, Graf Alexander Christoforowitsch (1783-1844), Generaladjutant Alexanders I., unter Nikolai I. allgewaltiger Chef der Gendarmerie. Anm. d. Übers. glitt sporenklirrend über das Parkett wie über Eis, leicht, beschwingt, flatternd; man hätte glauben können, daß er an Händen und Füßen kleine Flügel habe wie Gott Merkur. Glatt, adrett, sorgfältig gewaschen und rasiert, funkelnd wie eine neue Münze. Jung unter den Alten, lebendig unter den Toten. Bei seinem Anblick begriffen alle, daß das Alte zu Ende sei und daß etwas Neues beginne.

Der Morgen kam. Der erste Tag der neuen Regierung, ein schrecklicher, finsterer, nächtlicher Tag brach an. In den schwarzen Fensteröffnungen dämmerte allmählich ein fahles Licht, und auch die Gesichter erschienen fahl wie bei Leichen. Es war, als müßten die gebrechlichen Schatten zu Staub zerfallen, wie Rauch verschwinden, so daß nichts zurückbliebe.

 


 << zurück weiter >>