Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

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Viertes Kapitel

»Stabshauptmann in der Adelskompagnie der Leibgarde, Romanow III – Schmatz!« so pflegte der Großfürst Nikolai Pawlowitsch in seiner Jugend scherzweise die Billets an seine Freunde und auch Regimentsbefehle zu unterschreiben; dasselbe pflegte er manchmal zu sagen, wenn er allein im Zimmer vor dem Spiegel stand.

Am finsteren Morgen des 13. Dezember saß er am Rasiertischchen vor dem von zwei Wachskerzen flankierten Spiegel; er warf einen Blick auf sein Spiegelbild und sprach den gewohnten Gruß:

»Stabshauptmann Romanow III, untertänigsten Respekt Eurem Wohlgeboren – Schmatz!«

Er wollte noch hinzufügen: ›Braver Kerl‹, sagte es aber nicht, sondern dachte sich: ›So mager und blaß bin ich geworden. Der arme Nixe! Armer Kerl! Pauvre diable, je deviens transparent!‹

Mit seinem Äußeren war er überhaupt zufrieden. ›Apollo von Belvedere‹ nannten ihn die Damen. Trotz seiner siebenundzwanzig Jahre war er noch immer so schmächtig wie ein Knabe. Lang, biegsam und schlank wie eine Weidenrute. Ein schmales Gesicht, ganz Profil. Ungewöhnlich regelmäßige, wie aus Marmor gemeißelte, aber unbewegliche und starre Züge. »Wenn er ins Zimmer tritt, so sinkt im Thermometer das Quecksilber«, hatte von ihm jemand gesagt. Dünne, leicht gelockte, rotblonde Haare; ebensolche Koteletts an den eingefallenen Wangen; tiefliegende, dunkle, große Augen; eine geschwungene Nase; eine steil abfallende, gleichsam abgeschnittene Stirn; vorstehender Unterkiefer. Sein Gesichtsausdruck war so, als ob er immer schlechter Laune wäre: als sei er gegen jemand aufgebracht, oder als hätte er Zahnschmerzen. »Ein Apollo, der Zahnweh hat« – dieser Scherz der Kaiserin Jelisaweta Alexejewna fiel ihm ein, als er sein mürrisches Gesicht im Spiegel erblickte; es fiel ihm auch ein, daß er diese ganze Nacht vor Zahnweh nicht hatte schlafen können. Er befühlte den Zahn mit dem Finger – er tut weh; daß nur die Backe nicht anschwillt. Soll er denn den Thron mit einer geschwollenen Backe besteigen? Er ärgerte sich noch mehr und wurde ganz böse.

»Dummkopf, wie oft hab ich dir schon gesagt, daß du den Seifenschaum ordentlich schlagen sollst!« schrie er den Generaladjutanten Wladimir Fjodorowitsch Adlerberg, oder einfach ›Fjodorytsch‹ an, der bei ihm auch das Amt eines Kammerdieners versah. »Auch das Wasser ist kalt! Das Messer ist stumpf!« Er schob den Napf weg und warf das Rasiermesser auf den Tisch.

Fjodorytsch machte sich stumm mit dem Rasierzeug zu schaffen. Schwarz, voll und weich wie Watte, erweckte er den Eindruck eines plumpen Bären, war aber in Wirklichkeit flink und geschickt.

»Nun, wie hat Saschka geschlafen?« fragte Nikolai, als er sich ein wenig beruhigt hatte.

»Seine Hoheit der Thronfolger haben ausgezeichnet geschlafen«, antwortete Adlerberg. »Seit heute früh weint er aber, weil er nicht mehr im Anitschkin-Palais ist und seine Pferdchen nicht mehr hat.«

»Was für Pferdchen?«

»Die Holzpferdchen; sie sind im Anitschkin-Palais geblieben.«

»Nein, er beweint nicht die Pferdchen, sondern seinen unglücklichen Vater. Er ahnt wohl Unheil«, dachte sich Nikolai.

»Wo geruhen Hoheit heute das Diner einzunehmen?« fragte Adlerberg.

»Im Anitschkin-Palais, Fjodorytsch, zum letzten Male im Anitschkin-Palais!« antwortete Nikolai mit einem Seufzer.

Es fiel ihm ein, wie er sich einst danach sehnte, »sich ins Privatleben zurückzuziehen« und in der Einsamkeit die Freuden des Familienlebens zu genießen. »Wenn dich jemand fragt, in welchem Winkel der Welt das wahre Glück wohnt, so tue ihm den Gefallen und schicke ihn ins Anitschkinsche Paradies«, pflegte er seinem Freund Benkendorf mit der gefühlvollen Miene zu sagen, die er von seiner Mutter, der Kaiserin Maria Fjodorowna, geerbt hatte.

Nach dem Tode seines Bruders Alexander war er aus dem Anitschkin-Palais ins Winterpalais gezogen und wohnte hier in strenger Abgeschlossenheit, wie unter Arrest, da er es für »unpassend« hielt, sich öffentlich zu zeigen. Er richtete sich ein Arbeits- und Schlafzimmer in der neben dem Saale des Reichsrates gelegenen Bibliothek ein, in den einstigen Gemächern des Königs von Preußen, in einem Zimmer, das durch einen dunklen Korridor mit dem Reichsratssaale verbunden war.

Er wohnte hier wie auf einem Biwak. Das Zimmer war rund, ganz ohne Ecken. Das schmale Feldbett stand ungemütlich neben einem der Glasschränke; die Ledermatratze war mit Heu gefüllt: An dieses spartanische Lager hatte ihn die Großmutter gewöhnt. Auf dem Boden lag der offene Reisekoffer mit noch nicht ausgepackten Kleidern und Wäsche. Der einzige Luxusgegenstand in diesem Zimmer war ein Toilettentisch aus Mahagoni. Auf den Fächern vor dem Spiegel lagen Bürsten und Kämme und stand ein Fläschchen Parfüm de la Cour; gleich daneben waren auf einem eigenen Gestell Gewehre, Pistolen, Säbel, Degen und ein Cornet-à-pistons untergebracht.

Als er mit dem Rasieren fertig war, zog er den alten Uniformmantel, der ihm als Morgenrock diente, aus und legte die dunkelgrüne Generalsuniform des Ismailowschen Regiments mit rotem Unterfutter und goldgesticktem Eichenlaub an.

Vor dem Spiegel stehend, zog er sich so lange, langsam und sorgfältig an wie eine junge Schöne für den ersten Ball. Er betrachtete und ordnete jedes Fältchen; mit Adlerbergs Hilfe knöpfte er alle Knöpfe zu und schloß alle Haken und Ösen. In der Uniform wurde er noch länger und schlanker und bekam eine gewölbte Brust und eine Wespentaille – ganz wie ein preußischer Korporal –: Er könnte gleich zur Potsdamer Wachtparade gehen.

Nach dem Ankleiden verließ Fjodorytsch das Zimmer, und Nikolai kniete vor dem Heiligenbilde nieder. Er bekreuzigte sich schnell, nur wenig mit der Hand ausholend, und verneigte sich so, daß seine Stirne den Boden berührte. Nachdem er die festgesetzten Gebete gesprochen hatte, wollte er auch etwas aus dem eigenen hinzufügen. Aber es fiel ihm nichts ein: Er hatte keine eigenen Worte. Er glaubte an Gott; wenn er aber an ihn dachte, stellte er sich nur ein schwarzes Loch vor, wo es »streng und etwas unheimlich« ist, wie Kaiser Paul I. von der Disziplin in der russischen Armee zu sprechen pflegte. Man mag beten und rufen, soviel man will, – aus dem Loche wird doch niemand antworten.

Er erhob sich und setzte sich in einen Sessel. Er fühlte sich krank und zerschlagen. In der Nacht hatte er schlecht geschlafen und einen unangenehmen Traum gehabt. Es träumte ihm, daß ihm ein großer, krummer Zahn gewachsen sei. Die Großmutter sagte, man müsse den Zahn ziehen; er fürchtet sich, weint, läuft weg und versteckt sich. Aber sein Erzieher Lamsdorff verfolgt ihn mit einer großen Rute in der Hand; gleich wird er ihn erwischen und ihm die Rute geben. Plötzlich ist Lamsdorff nicht mehr Lamsdorff, sondern sein Bruder Konstantin. Er flieht vor ihm zu der alten Wärterin, der Engländerin Lion, und bittet sie, sie möchte ihm die Rute geben; er weiß, daß er der Strafe sowieso nicht entgehen wird; ihre Schläge tun aber weniger weh. Plötzlich ist die Wärterin nicht mehr die Wärterin, sondern . . . wer? Er hat es schon vergessen. Er wußte nur noch, daß der Traum ein übles Ende gehabt hatte.

– Der Traum kann prophetisch sein! – ging es ihm durch den Sinn. Nicht umsonst hatte er den Bruder Konstantin immer so gefürchtet, als hätte er geahnt, daß jener soviel Unheil anstellen wird; nicht umsonst hatte ihn jener noch im Mutterleibe verhöhnt: »Niemals hab ich einen solchen Bauch gesehen, da ist für Viere Platz!« hatte das Söhnchen über die Mutter gespottet, als sie mit Nikolai schwanger war. Er verhöhnte ihn auch später sein ganzes Leben lang. Er nannte ihn mit dem Beinamen des heiligen Nikolaus – »Zarewitsch von Myra in Lykien«. – Er pflegte zu sagen: »Um nichts in der Welt will ich regieren, denn ich fürchte die Revolution. Und du, Zarewitsch von Myra in Lykien, fürchtest du sie nicht? Revolution ist dasselbe wie ein Gewitter.« Und er erinnerte ihn daran, wie er als Kind, wenn es donnerte, den Kopf unter das Kissen zu stecken pflegte. »Ich bin feig und weiß, daß ich feig bin; du tust zwar sehr tapfer, bist aber noch feiger als ich.« So hat er ihn auch jetzt auf den Thron gestoßen und macht sich über ihn noch lustig: »Wollen wir mal sehen, wie du dich aus dieser dummen Affäre ziehst, du Parvenu von einem Kaiser!«

Nikolai schrieb ihm freundliche Briefe, nannte ihn seinen Wohltäter, flehte ihn an und erniedrigte sich vor ihm: »Ich falle dir zu Füßen, teurer Konstantin, und flehe dich an: Erbarme dich des Unglücklichen!« Dabei dachte er sich aber zähneknirschend: »Gemeiner Hanswurst! Verdammter Sansculotte! Was macht er mit mir! Dafür müßte man ihn mindestens erschlagen!«

Jeden Morgen nach dem Gebet pflegte er auf dem Cornet-à-pistons den Zapfenstreich zu blasen. Er hielt sich für einen Musiker und komponierte gerne Militärmärsche. Beim Potsdamer Manöver hatte er meisterhaft alle Signale geblasen, während die Kompagnie seiner Hoheit, des Kronprinzen von Preußen, exerzierte.

Er nahm das Cornet-à-pistons, führte es an die Lippen, blähte die Backen, brachte aber nur einen schwachen, klagenden Ton hervor und legte das Instrument zur Seite. Nein, es ist genug, jetzt hat er an anderes zu denken. Er seufzte schwer und fühlte wieder Mitleid mit sich selbst: ›Pauvre Diable! Armer Kerl! Armer Nixe!‹

»Fjodorytsch, Tee!«

»Augenblicklich, Hoheit!«

Morgens trank er sonst immer Tee mit Sahne und Semmeln aus Butterteig. Diesmal nahm er aber nichts dazu: Er hatte keinen Appetit.

Benkendorf meldete Golizyn.

»Mit dem Manifest?«

»Zu Befehl, ja, Hoheit.«

»Ich lasse bitten.«

Golizyn kam in Begleitung Lopuchins und Speranskijs.

»Fertig?«

»Fertig, Hoheit.«

Golizyn reichte ihm die Reinschrift des Manifestes.

»Ich bitte die Herren Platz zu nehmen«, sagte Nikolai und fing an, das Manifest laut zu lesen.

»Wir verkünden allen unseren treuen Untertanen . . . Mit wehmütigem Herzen, den unerforschlichen Ratschlüssen des Höchsten gehorsam . . .«

Er sah Speranskij nicht an, fühlte aber auf sich seinen Blick. Dieser allzu klare und durchdringende Blick macht ihn immer verlegen.

Er hielt Speranskij für einen abgefeimten Jakobiner. Nicht umsonst hatte ihn der verstorbene Kaiser verbannt und beinahe als Staatsverräter hinrichten lassen. ›Dem darf man keinen Finger in den Mund legen‹, dachte von ihm Nikolai, und wie unterwürfig und respektvoll sich jener auch benahm, hatte er doch immer das Gefühl, daß er über ihn wie über einen kleinen Jungen lache. Einmal nannte jemand Speranskij in seiner Gegenwart einen ›großen Philosophen‹; Nikolai sagte nichts, lächelte aber giftig. Die Philosophie haßte er über alles in der Welt. Und doch fühlte er, daß er Speranskij nicht so anschreien dürfe, wie die Offiziere in der Reitschule: »Meine Herren Offiziere, tun Sie Ihren Dienst und lassen Sie die Philosophie. Ich kann die Philosophen nicht ausstehen! Bei mir werden alle Philosophen die Schwindsucht kriegen!«

»Durch das Hinscheiden des in Gott ruhenden Kaisers Alexander Pawlowitsch, Unseres geliebtesten Bruders«, las er weiter, »verloren wir unsern Vater und Herrscher, der Rußland fünfundzwanzig Jahre lang seine Wohltaten erwies. Als die Nachricht von diesem beklagenswerten Ereignis Uns am 27. November erreichte, hielten wir in der ersten Stunde den Schmerz und die Tränen zurück und leisteten, der heiligen Pflicht und Unserer Herzensregung folgend, Unserm älteren Bruder, dem Zessarewitsch und Großfürsten Konstantin Pawlowitsch, als dem nach dem Rechte der Erstgeburt gesetzlichen Erben des russischen Thrones, den Treueid . . .«

Des ferneren wurde ›das Unerklärliche erklärt‹: das geheime Testament des verstorbenen Kaisers, der Verzicht Konstantins zugunsten Nikolais, – alle diese ›Familienabmachungen‹, ›das Spiel mit der Thronfolge wie mit einem Privateigentum‹.

». . . Wir wußten von der bei Lebzeiten des verstorbenen Kaisers abgegebenen und durch das Einverständnis Seiner Majestät bestätigten Verzichterklärung Seiner Hoheit; wir hatten aber weder den Willen noch das Recht, diese Verzichterklärung, die seinerzeit unveröffentlicht blieb, als unwiderruflich anzusehen. Damit wollten Wir Unsere Ehrfurcht vor dem ersten Grundgesetz des Vaterlandes von der Unabänderlichkeit der Thronfolge bezeugen. Darum bestanden Wir, dem von Uns geleisteten Eid treu, darauf, daß auch das ganze Reich Unserem Beispiele folge; dies taten Wir aber nicht aus Mißachtung vor dem von Seiner Hoheit ausgesprochenen Willen und noch weniger vor dem Uns immer heiligen Willen des hochseligen Kaisers, Unseres Vaters und Wohltäters, sondern einzig, um das Grundgesetz von der Thronfolge vor jeder Verletzung zu schützen und jeden Schatten eines Zweifels über die Reinheit unserer Absichten zurückzuweisen . . .«

»Es ist unverständlich. Das von der Thronfolge ist unklar und unverständlich«, sagte Nikolai. Sein Gewissen war nicht ganz ruhig.

»Befehlen Majestät es abzuändern?«

Leicht gesagt: abändern; er müßte doch wissen, wie; das wußte er aber nicht.

»Nein, soll es schon so bleiben«, sagte er und machte ein unzufriedenes Gesicht.

»Indem Wir mit einem von Ehrfurcht und Demut vor den unerforschlichen Wegen der Uns leitenden Vorsehung erfüllten Herzen den Thron Unserer Väter besteigen, befehlen Wir den Untertanen, Uns und Unserm Thronerben, Seiner Kaiserlichen Hoheit, dem Großfürsten Alexander Nikolajewitsch, Unserm geliebten Sohne, den Treueid zu leisten; als der Tag Unserer Thronbesteigung ist der 19. November 1825 anzusehen. Schließlich fordern Wir alle Unsere treuen Untertanen auf, ihre frommen Gebete mit den Unsern zu vereinen und mit Uns zu dem Höchsten zu beten, daß er Uns die Kraft sende zum Tragen der Uns von seiner Vorsehung auferlegten Lasten . . .«

»Nicht ›auferlegten‹, sondern ›auferlegte‹«, korrigierte Nikolai.

Speranskij ergriff schweigend den Bleistift.

»Warten Sie, wie ist es richtiger?«

»Es ist der Genitiv, Majestät: »der auferlegten« – »der auferlegten Lasten«.«

»Ja, natürlich der Genitiv. Dann ist ja nichts zu korrigieren . . .« sagte Nikolai errötend. In der russischen Grammatik kannte er sich nie recht aus. Und es kam ihm wieder vor, daß Speranskij über ihn lache, wie über einen kleinen Jungen.

». . . und Uns bestärke in Unseren aufrichtigen Absichten: einzig dem Wohle Unseres geliebten Vaterlandes zu leben und dem Beispiele des Kaisers, den Wir beweinen, zu folgen; auf daß Unsere Regierung nur eine Fortsetzung seiner Regierung sei und alles in Erfüllung gehe, was für das Wohl Rußlands der Monarch wünschte, dessen heiliges Angedenken in Uns den Eifer nähren wird und die Hoffnung, den Segen Gottes und die Liebe Unserer Völker zu erwerben.«

Das Manifest gefiel ihm gut. Aber er ließ es sich nicht anmerken. Als er es zu Ende gelesen hatte, machte er ein noch unzufriedeneres Gesicht.

Er nahm die Feder, um das Manifest zu unterschreiben, legte sie aber gleich wieder weg: Er sagte sich, daß er in einem solchen Augenblick eigentlich an Gott hätte denken müssen. Er schloß die Augen und bekreuzigte sich; aber wie immer beim Gedanken an Gott sah er nur ein schwarzes Loch vor sich, in dem es ›streng und etwas unheimlich‹ war; man mag rufen, soviel man will, aus diesem Loche wird niemand antworten. Er unterschrieb das Manifest, ohne an etwas zu denken. Er fragte bloß:

»Der Dreizehnte?«

»Zu Befehl ja, Majestät«, antwortete Speranskij.

– Und morgen ist Montag, – fiel es Nikolai ein. Er verzog das Gesicht und datierte das Manifest mit dem Zwölften.

»Ich schätze mich glücklich, Eurer Kaiserlichen Majestät zur Thronbesteigung, oder richtiger, zum Abstieg auf den Thron zu gratulieren«, sagte Lopuchin, ihn auf die Schulter küssend.

»Warum zum Abstieg?« fragte Nikolai erstaunt.

»Weil die Familie Eurer Kaiserlichen Majestät in der allgemeinen Meinung so hoch gestiegen ist, daß ihre Mitglieder den Thron nicht mehr besteigen, sondern auf ihn nur gleichsam niedersteigen können!« Lopuchin verzog den Mund zu einem freundlichen Lächeln und zeigte die weißen Zähne seines künstlichen Gebisses; aus seinem Munde kam ein Hauch von Moder wie aus dem einer Leiche.

»Unser Engel blickt auf uns vom Himmel herab!« sagte Golizyn schluchzend und küßte Nikolai gleichfalls auf die Schulter.

»Sie brauchen mir nicht zu gratulieren, meine Herren, man muß mich bemitleiden«, sagte Nikolai streng und wandte sich plötzlich mit einer fast unverhohlenen Herausforderung an Speranskij, der schweigend, mit gesenktem Kopfe dasaß. »Nun, was sagen Sie, Michail Michailowitsch?«

»Damit Unsere Regierung nur eine Fortsetzung seiner Regierung sei«, – niemals werde ich mir diese Worte verzeihen, Majestät!« antwortete Speranskij, den Blick langsam auf ihn richtend.

»Das sind ja nicht Ihre, sondern meine Worte. Warum sind sie schlecht?«

»Es ist nicht das, was Rußland von Eurer Majestät erwartet.«

»Was erwartet es denn?«

»Einen neuen Peter.«

Die Schmeichelei war zugleich fein und roh. »Il y a beaucoup de praporchiquePraporschtschik – russisch Fähnrich. Anm. d. Übers. en lui et un peu de Pierre le Grand«, hatte einmal Speranskij über den Großfürsten Nikolai Pawlowitsch gesagt; dasselbe hätte er auch über den Kaiser sagen können. Er bückte sich plötzlich, ergriff Nikolais Hand und wollte sie küssen; jener zog sie aber schnell zurück, umarmte ihn und küßte ihn auf die Glatze.

»Hören Sie auf, Exzellenz!« erwiderte er mit einem mißtrauischen Lächeln, während sein Herz vor Wonne erschauerte: »Ein zweiter Peter« war seine alte Sehnsucht.

Er schwieg eine Weile und sagte dann:

»Ich hatte niemals an den Thron gedacht. Man erzog mich zu einem Brigadegeneral. Ich hoffe aber, mich meines Berufes würdig zu zeigen; ich hoffe auch, daß alle ebenso ihre Pflicht tun werden, wie ich die meine getan habe. Wenn ich einmal die nötigen Kenntnisse habe, werde ich einem jeden den entsprechenden Posten anweisen. Die Philosophie ist nicht meine Sache. Die Herren Philosophen können sagen, was sie wollen, für mich bedeutet aber leben – dienen; und wenn alle so dienen wollten, wie es sich gehört, würde überall Ordnung und Ruhe herrschen. Das ist meine ganze Philosophie, meine Herren!«

Er warf einen Blick auf Speranskij. Jener schwieg und hielt den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen, als hörte er Musik.

»Darum«, fuhr Nikolai mit erhobener Stimme fort, »lasse ich gar nicht den Gedanken aufkommen, daß jemand von meinen Untertanen es wagte, in allem, was das mir von Gott anvertraute Reich betrifft, von den von mir angegebenen Wegen abzuweichen.«

Er sprach kurz, abgerissen, als widerspäche oder zürne er jemand; er fand Geschmack an der Rolle und schrie wie ein junger rauflustiger Hahn, der noch nicht richtig zu krähen versteht.

»Und wenn ich auch nur eine Stunde Kaiser gewesen bin, werde ich zeigen, daß ich dessen würdig war!« Mit diesen Worten erhob er sich.

»Durchlaucht«, wandte er sich an Lopuchin, »wollen Sie den Reichsrat für heute acht Uhr abends zur Anhörung des Manifestes und zur Vereidigung einberufen. Ich bitte Sie, meine Herren, niemand soll es erfahren . . . Heute bitte ich noch, aber morgen werde ich befehlen!« Er konnte sich wieder nicht beherrschen und sprach die letzten Worte schreiend.

Lopuchin, Golizyn und Speranskij verließen das Zimmer. Sie gingen zu der einen Tür hinaus, zu der anderen trat aber Benkendorf ein.

Der unbegüterte baltische Edelmann, der künftige große Spitzel, Chef der Gendarmerie und Direktor der III. Abteilung, General-Adjutant Alexander Christophorowitsch Benkendorf, hatte ein adliges Äußere, aber ein etwas mitgenommenes Gesicht: Er schien ein bewegtes Leben hinter sich zu haben; er lächelte freundlich und starr und hatte einen trügerisch gutmütigen Blick wie ein Mensch, dem alles gleichgültig ist und der allem ausweicht. Er war nicht dumm, auch nicht schlecht, aber zerstreut und zu allem fähig. »Glissez, mortels, n'appuyez pas«, pflegte er zu sagen.

Kaum war er eingetreten, als Nikolais Gesicht sich sofort, ohne jeden Übergang veränderte: Aus einem unzufriedenen und mürrischen verwandelte es sich in ein rührseliges und empfindsames. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich überhaupt mit erstaunlicher Schnelligkeit, als wechsele er eine Maske nach der anderen. »Eine Menge von Masken, aber kein Gesicht«, hatte von ihm jemand gesagt.

Er ergriff Benkendorfs Hand mit beiden Händen und sah ihn stumm an.

»Haben Majestät zu unterschreiben geruht?«

»Ich habe es unterschrieben«, antwortete Nikolai, schwer aufseufzend und die Augen gen Himmel hebend. »Ich habe meine Pflicht getan, unser Engel muß mit mir zufrieden sein. Alles wird natürlich in Ordnung sein, oder ich werde nicht leben. Gottes Wille und der Entschluß meines Bruders gehen an mir in Erfüllung. Ich gehe vielleicht dem Untergang entgegen, aber ich kann nicht anders. Ich bringe mich meinem Bruder zum Opfer; ich werde mich glücklich schätzen, wenn ich wie ein Untertan seinen Willen erfülle. Aber was wird mit Rußland sein?«

Er sprach noch lange. Die Vorliebe für rührseliges Geschwätz hatte er auch von seiner Mutter geerbt.

Benkendorf wartete gelangweilt und geduldig, daß er ende.

»Nun, was gibt's in der Stadt?« fragte Nikolai in einem andern, geschäftlichen Ton, indem er sich mit dem Taschentuch seine trockenen Augen wischte und ebenso schnell wie früher eine Maske mit einer anderen vertauschte.

»Alles ist ruhig, Majestät. Vielleicht ist es aber nur die Ruhe vor einem Sturm.«

»Erwartest du also doch einen Sturm?«

»Ja, Majestät. Die Zahl der Unzufriedenen ist allzu groß. In den Geistern besteht schon eine Revolution.«

»Mit Rostowzew habe ich gestern wohl einen Bock geschossen«, fiel es Nikolai plötzlich ein. »So habe ich die Namen nicht erfahren. Das werde ich mir niemals verzeihen. Ich hätte die Namen erfahren und alle verhaften lassen sollen . . .«

»Nein, nein, Majestät, nur keine Verhaftungen! Sonst entwischt uns die ganze Bande. Außerdem soll man nicht den ersten Tag der Regierung auf diese Weise trüben.«

»Wenn sie aber zu handeln beginnen?«

»Sollen sie nur. Dann werden auch die Verhaftungen niemand in Erstaunen setzen. Man muß ganz langsam und vorsichtig vorgehen. Man darf die Leute nicht erbittern. Majestät haben auch so genug Feinde.«

»Dafür aber einen Freund!« rief Nikolai und drückte ihm fest die Hand.

Er trat an den Tisch, schloß eine Schublade auf und nahm ein Paket heraus mit der Aufschrift: »Von den dringlichsten Dingen. Seiner Kaiserlichen Majestät zu eigenen Händen.« Es war der Bericht des Generals Dibitsch,Dibitsch, Baron Iwan Iwanowitsch (1785-1831), Generaladjutant, vorher in preußischen Diensten, bekam für die Unterdrückung des Dekabristen-Aufstandes den Grafentitel und zeichnete sich später im Türkenkrieg und bei der Unterdrückung des polnischen Aufstandes aus. Seine Büste steht in der Walhalla bei Regensburg. Anm. d. Übers. den Frederiks einen Tag vorher aus Taganrog gebracht hatte.

»Hier, lies. Es gibt noch eine ganze Verschwörung.«

»In der zweiten Armee? Die geheime Gesellschaft des Oberstleutnants Pestel?«Pestel, Pawel Iwanowitsch, geb. 1794, Sohn des Generalgouverneurs von Sibirien, Oberst, einer der Hauptverschwörer vom 14. Dezember, wurde gehenkt. Anm. d. Übers. fragte Benkendorf, ohne das Paket zu öffnen.

»Weißt du es schon?« fragte Nikolai erstaunt, beinahe erschrocken: – Ist das ein Kerl; er weiß alles, selbst was eine Elle unter der Erde vorgeht! –

»Ich weiß es, Majestät. Ich hatte schon im Jahre einundzwanzig die Ehre, dem hochseligen Kaiser darüber Meldung zu erstatten.«

»Und was sagte er?«

»Er geruhte dem keine Aufmerksamkeit zu schenken. Der Bericht lag vier Jahre in seinem Schreibtisch.«

»Eine nette Erbschaft hat uns der Verstorbene hinterlassen!« bemerkte Nikolai mit einem boshaften Lächeln.

»Haben Majestät mit niemand über diese Sache zu sprechen geruht?« fragte Benkendorf mit einem durchdringenden Blick.

»Nein, mit niemand«, log Nikolai. Er schämte sich zu gestehen, daß er auch darin »einen Bock geschossen« und den Grafen MiloradowitschMiloradowitsch, Graf Michail Andrejewitsch (1771-1825), Gouverneur von Petersburg, nahm an den Feldzügen gegen Napoleon teil. Anm. d. Übers. in die Sache eingeweiht hatte.

»Gott sei Dank. Vor allem darf es Miloradowitsch nicht erfahren«, erwiderte Benkendorf, als hätte er Nikolais Gedanken erraten. »Ich hatte mir schon damals erlaubt, seiner Majestät zu bemerken, daß man diese Sache Miloradowitsch nicht anvertrauen dürfe.«

»Warum denn?«

»Weil er von Verbrechern umgeben ist.«

»Miloradowitsch? Ist er denn auch mit ihnen?« fragte Nikolai erbleichend.

»Ob er mit ihnen ist oder nicht, jedenfalls ist er schlimmer als alle Verschwörer. Es ist schrecklich, daran zu denken, Majestät, daß dieser seelenlose Hanswurst das Schicksal Rußlands in der Hand hat! Neulich habe ich über ihn so etwas gehört, daß ich meinen Ohren nicht traute.«

»Was denn?«

»Erlassen Sie es mir, Majestät. Es ist mir ekelhaft, es wiederzuerzählen.«

»Nein, sprich!«

»Als Miloradowitsch sich am 27. November nach der Öffnung des Testamentes des seligen Kaisers mit unerhörter Frechheit gegen die Thronbesteigung Eurer Majestät aussprach, sagte ihm jemand: ›Sie sind sehr kühn, Graf!‹ Darauf sagte er: ›Wenn man 60 000 Bajonette in der Tasche hat, darf man wohl kühn sein!‹ Und dabei klopfte er lachend auf seine Tasche.«

»Der Schurke!« flüsterte Nikolai, noch mehr erbleichend.

»Neulich sagte er mir aber«, fuhr Benkendorf fort: »›Ich zweifle am Erfolg der Vereidigung. Die Garde liebt ihn, das heißt Eure Kaiserliche Majestät, nicht.‹ – ›Von welchem Erfolg sprechen Sie?« fragte ich ihn. ›Und was hat damit die Garde zu tun? Was hat die Garde zu sagen?‹ – ›Sehr richtig‹, antwortete er mir, ›sie darf nichts zu sagen haben, aber es ist bei ihr schon zu einer Gewohnheit, zu einer zweiten Natur geworden‹.«

»Der Schurke!« flüsterte Nikolai weiter.

»›Der mündlich geäußerte Wille des seligen Kaisers‹, sagte er, ›wäre für die Garde heilig; aber wenn das Testament erst nach seinem Tode bekanntgegeben wird, werden es die Leute zweifellos für eine Fälschung halten‹.«

»Für eine Fälschung?« Nikolai fuhr zusammen, und sein Gesicht flammte auf wie nach einer Ohrfeige. »Was soll das heißen? Bin ich vielleicht ein Usurpator?«

»Der Graf Miloradowitsch, Majestät!« meldete Adlerberg, leise die Türe aufmachend und den Kopf hereinsteckend.

»Nicht hereinlassen!« wollte Nikolai aufschreien, es war aber schon zu spät: Die Tür ging weit auf, und ins Zimmer trat sporenklirrend mit kühnen Schritten der militärische General-Gouverneur von Petersburg, Graf Miloradowitsch.

Benkendorf, der in diesem Augenblick das Zimmer verließ, stieß mit ihm in der Tür zusammen. Er machte vor ihm eine tiefe Verbeugung und ließ ihm mit besonderer Liebenswürdigkeit den Vortritt.

Graf Miloradowitsch, ein Kampfgenosse Ssuworows und Held des Jahres 1812, hatte trotz seiner sechzig Jahre noch seine tapfere Haltung und die sieghafte Miene bewahrt, mit der er im Feuer der Schlachten, im Hagel der Geschosse seine Pfeife zu rauchen und die Falten an seinem amarantfarbenen Mantel zu ordnen pflegte. »Ritter Bayard« nannten ihn die einen, und »Prahlhans und Aufschneider« die andern. Er färbte sich das Haar und hatte eine Hakennase, dicke Lippen und die feuchtglänzenden Augen eines alten Damenfreundes.

Bei seinem Anblick erinnerte sich Nikolai plötzlich an das Ende seines Traumes vom krummen Zahn: Als er auf der Flucht vor Lamsdorff-Konstantin sich zu seiner alten Wärterin, der englischen Miss Lion stürzte, deren Schläge doch weniger weh taten, – verwandelte sich die Wärterin in Miloradowitsch. Dieser hatte eine riesengroße Rute in der Hand und züchtigte mit ihr den armen Nixe furchtbar, viel schmerzhafter als Lamsdorff-Konstantin.

Miloradowitsch trat ein, machte eine Verbeugung und wollte etwas sagen; als er aber Nikolai ansah, blieb er stumm: Ein so wütender Haß lag in Nikolais verzerrtem Gesicht und in den brennenden Augen. Das war aber nur wie ein Blitz, die Maske wurde wieder vertauscht: Die Augen erloschen, das Gesicht erstarrte zu Stein; nur eine Muskel in der Wange bebte noch ununterbrochen.

»Ich erwarte Sie schon lange, Durchlaucht. Ich bitte Platz zu nehmen«, sagte er ruhig und höflich.

Die Veränderung ging so schnell vor sich, daß Miloradowitsch schon zweifelte, ob er jenes verzerrte Gesicht wirklich gesehen habe.

»Nun, wie stehen die Sachen? Haben Sie jemand verhaftet?« fragte Nikolai.

»Zu Befehl, nein, Eure Hoheit. Von den im Bericht des General Dibitsch genannten Personen ist keine einzige in der Stadt, alle sind im Urlaub. Und was den Oberstleutnant Pestel betrifft, so ist der Haftbefehl gegen ihn schon abgegangen.«

»Nun, und ist hier in Petersburg alles ruhig?«

»Es ist ruhig. In allen Stadtteilen herrscht eine musterhafte Ordnung. Man darf wohl sagen, daß es eine solche Ordnung noch nie gegeben hat. Ich bin fast überzeugt, daß niemand von den am Verbrechen Beteiligten hier anwesend ist.«

»Sie sind fast davon überzeugt?«

»Meine Ansicht ist Eurer Hoheit bekannt: Der vollkommenen Sicherheit halber müßte seine Hoheit der Zessarewitsch schleunigst nach Petersburg kommen, das Testament des seligen Kaisers in einer Vollversammlung des Senats vorlesen, Eure Hoheit zum Kaiser ausrufen und dann als erster den Treueid leisten.«

»Wenn das aber nicht geschieht, was dann? Sie zweifeln am Erfolg der Vereidigung? Die Garde liebt mich nicht? Wenn sie auch nichts zu sagen hat, so ist es bei ihr schon längst zu einer Gewohnheit, zu einer zweiten Natur geworden? Nicht wahr?« Nikolai sah ihn scharf an, und die Muskel an seiner Wange zitterte noch heftiger.

›Das hat ihm wohl der Schuft Benkendorf hinterbracht‹, dachte sich Miloradowitsch, ließ aber die Augen nicht sinken; ihn überkam plötzlich Wut. – »Entschuldigen Sie, Hoheit . . .«

»Nicht Hoheit, sondern Majestät«, unterbrach ihn Nikolai drohend. »Das Manifest ist schon unterschrieben . ..«

»Ich habe die Ehre zu gratulieren, Majestät!« sagte Miloradowitsch mit einer Verbeugung. »Aber ich muß dennoch meine Pflicht tun. Ich habe die Wahrheit vor Eurer Hoheit – Eurer Majestät niemals verheimlicht und werde sie auch in Zukunft nicht verheimlichen. Ja, es ist nicht leicht, die Leute zum Treueid durch ein Manifest zu zwingen, das von der Person ausgeht, die den Thron besteigen will . . .«

»Aha, nun haben wir es! Man wird das Manifest für eine Fälschung und mich für einen Usurpator halten? Nicht wahr?« rief Nikolai mit einem höhnischen Lächeln, und wieder fuhr etwas wie ein Blitz durch sein Gesicht.

»Ich verstehe nicht, Majestät . . .«

»Sie verstehen nicht, Graf? Sie verstehen Ihre eigenen Worte nicht?«

»Ich weiß nicht, welcher Schuft Ihnen meine Worte so verdreht hat. Was brauchen auch Eure Hoheit auf Denunzianten zu hören?!« Miloradowitsch erbleichte, und im alten ›Prahlhans und Aufschneider‹ erwachte plötzlich der alte Soldat und Kampfgenosse Ssuworows. Er sah Nikolai gerade in die Augen mit jener sieghaften Miene, mit der er einst im Feuer der Schlachten, im Hagel der Geschosse seine Pfeife zu rauchen und die Falten an seinem amarantfarbenen Mantel zu ordnen pflegte.

Nikolai erhob sich stumm, trat an den Tisch, machte die gleiche Schublade auf, aus der er vorhin den Bericht Dibitschs herausgenommen hatte, holte ein anderes Schriftstück – es war die Anzeige Rostwozews – und kehrte zu Miloradowitsch zurück.

»Ist es Eurer Durchlaucht bekannt, daß auch hier in Petersburg eine Verschwörung besteht?«

»Was für eine Verschwörung? Es besteht keine und kann auch keine bestehen!« Miloradowitsch zuckte die Achseln.

»Und was ist das?« Nikolai schob ihm den Brief hin und las, mit dem Finger auf die unterstrichenen Zeilen zeigend:

»Gegen Sie muß eine Verschwörung bestehen. Sie wird bei der neuen Vereidigung ausbrechen, und diese Flamme wird vielleicht den Untergang Rußlands beleuchten.«

Miloradowitsch nahm den Brief, drehte ihn um, sah sich die Unterschrift an und gab ihn ungelesen zurück.

»Leutnant Rostowzew. Ich weiß. Versammlungen des »Polarsterns« bei Rylejew . . .«Rylejew, Kondratij Fjodorowitsch (1795-1826), namhafter Dichter, war erst Offizier, später Gerichtsbeamter und zuletzt Beamter der Russisch-Amerikanischen Compagnie. Wurde gehenkt. Anm. d. Übers.

Über diese Versammlungen hatte ihn die Geheimpolizei unterrichtet. »Es ist Unsinn! Man lasse diese dummen Jungen ruhig ihre schlechten Verse einander vorlesen!« – mit diesen Worten hatte er die Denunziation abgewehrt.

Er wehrte sie auch jetzt ab:

»Lauter Unsinn! Dumme Jungen, Schreiber, Verfasser von Almanachen . . .«

»Wie unterstehen Sie sich, Herr!« schrie Nikolai und sprang voller Wut auf. Sein ganzer langer biegsamer Körper schnellte empor wie eine Weidenrute. »Gar nichts wissen Sie! Sie passen auf gar nichts auf! Sie werden es mir mit Ihrem Kopfe bezahlen müssen!«

Miloradowitsch stand gleichfalls auf, ganz vor Wut zitternd; er beherrschte sich aber und sagte mit Würde:

»Wenn ich nicht mehr das Glück habe, das Vertrauen Eurer Majestät zu genießen, so geruhen Sie nur zu befehlen, daß ich mein Amt niederlege . . .«

»Schweigen Sie!«

»Gestatten Sie die Frage, Eure Hoheit . . .«

»Schweigen Sie!«

Trotz seiner ganzen Wut war Nikolai doch bei vollem Bewußtsein; er hätte sich auch beherrschen können, wenn er wollte; aber er wollte es nicht: Die Wonne der Raserei floß wie ein feuriger Trank durch alle seine Adern, und er gab sich ihr wie berauscht hin.

»Hinaus! Hinaus! Hinaus!« schrie er, die Fäuste ballend und gegen Miloradowitsch vorrückend.

»Er wird sich gleich auf mich stürzen und mich nicht schlagen, sondern wie ein Tollwütiger beißen!« dachte sich jener angeekelt und wich zur Türe zurück: So weicht ein großer gutmütiger Hund mit gesträubtem Fell und dumpfem Knurren vor einem kleinen bösen Insekt: einer Spinne oder einem Tausendfuß.

Als er die Schwelle erreicht hatte, wandte er sich schnell um und wollte aus dem Zimmer stürzen. Aber er stieß in der Türe wieder wie vorhin mit Benkendorf zusammen. Diesmal gingen sie aneinander ohne jede Liebenswürdigkeit vorbei.

Benkendorf lief auf Nikolai zu, umarmte ihn und tat so, als wollte er ihn stützen.

»Der Schurke! Der Schurke! Was tut er mit mir! Er und Bruder Konstantin und alle, alle . . .!« Nikolai fiel ihm schluchzend an die Brust.

»Courage Sire, courage!« wiederholte Benkendorf. »Gott wird Sie nicht im Stich lassen . . .«

»Ja, Gott . . . und der, den wir unser ganzes Leben lang beweinen werden, unser Engel im Himmel!« sagte Nikolai, die Augen hebend. »Ich atme durch ihn, ich handle durch ihn, soll er mich auch leiten! Gottes Wille geschehe, und ich bin zu allem bereit. Wollen wir zusammen sterben, mein Freund! Wenn es mir beschieden ist, zugrunde zu gehen, so habe ich doch einen Degen mit einer Offiziersquaste – das Aushängeschild eines ehrlichen Menschen! Ich sterbe mit diesem Degen in der Hand und trete vor das Gericht Gottes mit reinem Gewissen. Morgen, am vierzehnten Dezember, bin ich entweder Kaiser oder tot!«

 


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