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Die »Santissima Trinidad.« – »Ihr Onkel mag sich hängen, mein lieber Heinrich!« – Unterleutnant Korkfender. – Kapitän Konstantin Deinhard. – Die Korvette im Sturm. – Die Bergspelunke. – »Ich fliehe zwar prinzipiell nie ...« – Eine Notlüge. – Gefangen.
Am Morgen des folgenden Tages kam Lambertus eilig vom Vorderteil her zum Kapitän gelaufen, der eigenhändig die lange Ruderpinne in die Hand genommen hatte, um das Fahrzeug, welches keinen Kompaß besaß, zu steuern.
»Da ist ein großes Schiff auf Backbord, vier Strich voraus, in Sicht!« rief er.
»Läuft er uns auf, Lambertus?« fragte der Kapitän.
»Ja. Soviel ich erkennen kann, ist es ein Kriegsschiff; was für ein Landsmann aber, das ist noch nicht zu sehen.«
»Nun, gebe der Himmel, daß es einer von unseren amerikanischen Kreuzern ist; dann werden wir die Piratenkutter bald los sein. Ich komme mir hier in dem verdammten Kahne vor, wie eine Katze, der man eine alte Kasserolle an den Schwanz gebunden hat.«
»Sie haben recht, Kapitän. Der Kasten hier ist kein Aufenthalt für christliche Seeleute. Geben Sie dem Bootsmanne so lange das Ruder, und kommen Sie mit voraus, damit Sie sich einen Vers auf den fremden Segler machen können.«
Der Kapitän folgte der Aufforderung des Steuermannes, und nachdem er das Schiff eine Weile betrachtet hatte, verkündete er der Mannschaft, daß man ein brasilianisches Kriegsschiff vor sich habe.
»Es ist wohl möglich,« sagte er, sich an mich wendend, »daß es die ›Santissima Trinidad‹ ist, die ja wohl von Ihrem Onkel kommandiert wird.«
»Das wäre herrlich,« antwortete ich, »dann wird mein Onkel uns beistehen. Ich habe ihn seit meinen frühen Kinderjahren nicht gesehen, aber ich erinnere mich seiner noch sehr gut, und aus den Erzählungen meiner Eltern weiß ich, daß er allezeit das Herz auf dem rechten Flecke gehabt hat.«
»Sie mögen sich Ihres Onkels wohl noch erinnern, junger Mann,« bemerkte der Doktor, der nicht weit von der Ruderpinne stand, während sich alle Mann vorn im Buge versammelt hatten; »es kann aber sehr leicht sein, daß er sich Ihrer nicht mehr erinnert, und wenn er Sie dann nicht wieder erkennt und Sie möglicherweise für einen ganz anderen hält, dann kann die Begegnung mit der ›Santissima Trinidad‹ für uns unter Umständen eine recht unangenehme werden.«
»O,« rief ich, »Sie beurteilen meinen Onkel falsch, Herr Doktor! Meine Mutter pflegte immer zu sagen, daß der Bruder Konstantin keiner Fliege etwas zuleide thun könne.«
»Nun, ich möchte doch lieber nicht die Fliege sein, die dem Kommandanten der Korvette da drüben unter die Finger kommt,« sagte Kapitän Dickson. »Solche Herren packen gewöhnlich fest zu, wenn alle die Geschichten wahr sind, die ich von ihnen gehört habe.«
»Kapitän Dickson, ich bin ganz sicher, daß Sie in meinem Onkel einen durchaus wohlwollenden und höflichen Mann finden werden. Ich möchte sogar behaupten, daß er uns mit seinem Schiffe nach Valparaiso geleiten wird, wenn er erfährt, in welcher Lage wir uns befinden.«
»Das müßte mit einem Wunder zugehen,« entgegnete der Kapitän; »denn wie wir hier gehen und stehen, sehen wir weder sehr schön noch besonders respektabel aus. Wenn ich mich so umsehe, dann gewahre ich unter den ehemaligen Perseusleuten keinen, der sich sonderlich von einer Vogelscheuche oder, noch schlimmer, von einem Seeräuber unterschiede. Keiner von uns allen hat eine anständige Jacke auf dem Leibe, der anderen Kleidungsstücke gar nicht zu gedenken, und wenn man selber nicht genau wüßte, wo man zu Hause gehört, dann möchte man sich eher für einen der Spitzbuben aus dem Archipel als für etwas anderes halten.«
»Und überdies segeln wir hier in einem Piratenfahrzeuge,« fügte Lambertus hinzu. »Ich höre es gern, daß der Onkel unseres jungen Heinrich ein wohlwollender und höflicher und kein übereilter Mann ist, denn dann ist ja noch Aussicht vorhanden, daß er uns nicht hastig nach dem ersten Eindruck beurteilen wird.«
»Ich will nicht dafür einstehen, mein guter Lambertus,« entgegnete ich, »daß Kapitän Konstantin Deinhard nicht doch zuweilen ein wenig übereilt handeln könnte, es ist dies, soviel ich weiß, die Art eines jeden schneidigen Seemannes. Dessen aber bin ich gewiß, daß er viel zu nobel denkt, um sich blindlings von Vorurteilen leiten zu lassen.«
»Hören Sie doch unseren Heinz an, Doktor,« sagte der Steuermann lächelnd. »Wie nett so junge Enten doch schon schwimmen können!«
»Nun, wir werden ja bald wissen, wie wir mit unseres Heinrichs Onkel daran sind,« sagte der Kapitän, »da kommt er gerade auf uns zu. Er hat ein Signal im Topp fliegen; ich wollte, wir könnten ihm antworten. Oho! Sachte, Alterchen, sachte!«
Dieser letzte Ausruf galt dem Erscheinen einer rundlichen, hellgrauen Dampfwolke, die aus einer Stückpforte der Korvette hervorpuffte. Eine Vollkugel hüpfte in langen Sätzen über das Wasser und kurz vor unserem Buge vorüber, und gleichzeitig drang der dumpfe Knall eines schweren Geschützes in unser Ohr.
»Nehmt das Großsegel und die Fock weg!« rief der Kapitän. »Holt auch den Klüver nieder! Dieser Onkel scheint mir doch etwas übereilten Temperamentes zu sein! Da! da schickt er uns schon eine zweite Visitenkarte!«
Wieder dröhnte ein Schuß von der Korvette her, die Kugel sauste durch unsere Takelung und schlug weit in Lee von uns ins Wasser.
»Ihr Onkel mag sich hängen, mein lieber Heinrich!« rief der Doktor. »Erst wird er uns in den Grund bohren und nachher vielleicht um Entschuldigung bitten. Vorgesehen, Leute!«
Dieser Warnruf galt einem dritten Schuß, den die Korvette gegen uns abfeuerte und der diesmal dicht hinter unserem Heck vorüberstrich.
Es schien keineswegs unmöglich, daß die Worte des Doktors zur Wahrheit werden könnten. Kapitän Konstantin Deinhard war ohne Zweifel ein tüchtiger Seeoffizier, der nur seine Pflicht that, wenn er verdächtig erscheinende Fahrzeuge ohne weiteres angriff. Trotzdem konnten wir uns nicht verhehlen, daß ein etwas geringerer Eifer in der Ausübung seines kriegerischen Berufes ihm unser Vertrauen und unsere Zuneigung schneller erworben haben würde.
Um die Segel möglichst schnell herniederzuholen, rissen wir einfach den ganzen Notmast um, der vorher mit so vieler Mühe aufgerichtet worden war, und lagen nun auf dem Wasser wie ein Stück Treibholz, um abzuwarten, was die energische »Santissima Trinidad« weiter über uns zu beschließen haben würde. Ihre Stückpforten waren offen, die Mannschaft an Deck stand klar zum Gefecht, und auf dem Achterdeck konnte man den tapferen Kommandanten inmitten seiner Offiziere deutlich stehen sehen.
Wir brauchten nicht lange zu warten. Von jeder Seite der Korvette setzte ein Großboot ab, gefüllt mit bewaffneten Mannschaften, und beide Boote kamen schnurstracks auf uns zu. Die Korvette war ein Schiff von achtzehn Kanonen. Sie hatte Vollschiffstakelung und sah so stolz und stattlich aus, wie man dies von einem brasilianischen Fahrzeuge kaum hätte erwarten sollen. Da sie aber einen deutschen Kommandanten hatte, so durfte man sich füglich nicht darüber wundern.
»Kutter ahoy! Wer seid ihr, und wo kommt ihr her?« schrie uns der Kadett an, der das nächste der beiden Boote kommandierte. Er hatte augenscheinlich unsere weißen Gesichter gesehen und daraus entnommen, daß wir zum mindesten keine Neger oder Indianer wären.
»Wir sind amerikanische und deutsche Seeleute,« entgegnete Kapitän Dickson in englischer Sprache, da auch der Anruf englisch gewesen war. »Wer seid denn ihr eigentlich, und was für ein Recht habt ihr, auf uns loszufeuern?«
»Unser Recht werde ich euch gleich weisen,« entgegnete der Kadett.
Im nächsten Augenblick rasselten die Bootshaken der brasilianischen Matrosen in unsere Rüsten, und gleich darauf befand sich der größte Teil der Mannschaften, geführt von dem Kadetten, an Deck des Kutters.
»Was wollen Sie von uns?« fragte Kapitän Dickson schroff, »und wer sind Sie?«
»Ich will wissen, wer Sie sind,« lautete die noch schroffere Entgegnung des Kadetten.
»Das sollen Sie erfahren, wenn Sie zuerst meine Frage beantwortet haben werden,« entgegnete der furchtlose Amerikaner. »Wenn dies geschehen ist, dann werden wir vielleicht einander besser verstehen. Sie haben auf mich und meine Leute gefeuert; ich bin ein Amerikaner, ein freier und unabhängiger Mann, hier meine Genossen, sind zum größten Teil deutsche Seeleute, harmlose Kauffahrer –«
»Lehren Sie doch Ihre Großmutter frischgelegte Eier austrinken!« war des Kadetten höfliche Entgegnung. »Ich bin hier nicht an Bord gekommen, um mit Ihnen zu palavern. Das Schiff dort ist Sr. Allerchristlichsten Majestät Korvette ›Santissima Trinidad‹, verstanden? Und wenn Sie nun nicht höflich sind, dann bohren wir Sie in den Grund!«
Die Korvette war also wirklich die »Santissima Trinidad«; mein Herz hüpfte hoch auf vor Freude bei dieser Kunde.
»Ist der Kapitän Konstantin Deinhard an Bord?« fragte ich den Kadetten, der vielleicht ein Jahr älter sein konnte, als ich selber.
»Was zum Teufel geht das Sie an?« antwortete der junge Mann in seiner uns nun bekannten höflichen Weise.
»Kapitän Konstantin Deinhard ist zufällig mein Onkel,« entgegnete ich so ruhig als möglich, »und wenn ich ihm berichte, wie Sie sich hier an Bord eines harmlosen Fahrzeuges und unter anständigen Leuten benommen haben, dann könnte es einen Rüffel für Sie setzen.«
Ich hatte vergessen, daß ich gegenwärtig ein Gefangener war, so gut als auch alle übrigen meiner Schiffsgenossen. Der Kadett aber hatte dies nicht vergessen, und so war seine einzige Antwort auf meine kecke Äußerung ein Stoß mit seinem dicksohligen Stiefel gegen mein Schienbein. Da aber jeder Wurm sich krümmt, wenn er getreten wird, so erwiderte ich die Brutalität dieses jungen Menschen durch einen wohlgezielten Schlag in das Auge desselben, der ihn platt an Deck niederwarf.
Die brasilianischen Matrosen schauten dieser Scene grinsend zu und schienen im allgemeinen mit der Lektion, die dem Kadetten zu teil geworden, durchaus einverstanden zu sein. Der Unterleutnant aber, der das inzwischen herangekommene zweite Boot kommandierte, ergriff mich ohne weiteres am Kragen, und während er bemüht war, den aufs neue wütend auf mich eindringenden Kadetten von mir abzuwehren, ließ er mich binden; dann wandte er sich ernstlich und nachdrücklich an Kapitän Dickson, um zu erfahren, was es mit dem Kutter, der unverkennbar ein Piratenfahrzeug sei, und unserer Anwesenheit an Bord desselben für eine Bewandtnis habe. Der Kapitän berichtete in kurzen Worten das Schicksal des »Perseus« und den Kampf mit den Piraten, fand aber, trotzdem der Steuermann Lambertus, sowie auch der Doktor und der Bootsmann seine Aussagen voll bestätigten, bei dem jungen Offizier nur wenig Glauben.
»Das klingt ja alles ganz schön und gut,« sagte derselbe, »aber die Geschichte erscheint mir zu wahrscheinlich; wenn sie ein klein wenig ungewöhnlicher klänge, dann könnte man daran eher glauben, als an eine so alltägliche Erzählung.«
Bei diesen Worten drückte er ein Monokel in sein linkes Auge und sah uns alle der Reihe nach mit vornehmer Überlegenheit an. Es war ein hübscher junger Mann, mit hellblauen Augen und blondem Schnurrbärtchen. An Bord der Korvette führte er, wie wir später erfuhren, den Beinamen »der Advokat«, wegen seiner Neigung zum disputieren und kritisieren. Trotzdem aber galt er für einen tüchtigen Seemann und besonders für einen guten und treuen Kameraden.
Nach kurzer Verhandlung wurden wir angewiesen, unsere wenigen Habseligkeiten zusammenzuraffen und uns in die Boote zu begeben. Kaum war dies geschehen, da ließ der Leutnant den Kutter in Brand stecken, und das trockene Holz ging im Nu in hellen Flammen auf. Lange bevor das Fahrzeug bis auf die Wasserlinie heruntergebrannt war, hatten wir uns an Deck der Korvette eingefunden – eine seltsame, zerlumpte, wettergebräunte und pulvergeschwärzte Schar.
»Laßt die Leute nach hinten kommen,« rief der erste Offizier vom Achterdeck her dem uns führenden Leutnant zu.
Wir gehorchten diesem Befehl; man hatte mir vorher die Stricke gelöst, mit denen meine Hände und Füße gefesselt gewesen waren.
Kapitän Konstantin Deinhard, mein würdiger Onkel, stand auf der Steuerbordseite des Achterdeckes. Neben ihm befand sich sein erster Offizier, und in einer kleinen Entfernung stand eine Gruppe anderer Offiziere, die alle augenscheinlich sehr neugierig waren, zu erfahren, was für eine Schar von Vagabunden sie in der ehemaligen Mannschaft des »Perseus« hier vor sich hatten. Die Wegnahme eines Piratenfahrzeuges, welches eine durchweg weiße Besatzung hatte, war ein Ereignis, das in diesen Gewässern noch nicht vorgekommen war.
»Nun, mein Mann,« sagte Kapitän Deinhard zu unserem Kapitän. »Was haben Sie mir zu sagen?«
Er redete diese Worte in englischer Sprache, wie schon früher erwähnt, der einzigen, bei der man gewiß sein kann, allenthalben, soweit die Weltmeere reichen, von allen civilisierten Seeleuten zur Not verständen zu werden.
»Ich habe Ihnen so viel zu sagen, my dear Sir, als Sie nur immer anhören können,« entgegnete Kapitän Dickson. »Sie haben mein Fahrzeug beschossen und verbrannt, trotzdem aber und obgleich Sie dabei leicht eine Anzahl von uns verkrüppeln oder gar ums Leben bringen konnten, sind wir doch herzlich froh, uns jetzt an Bord Ihrer Korvette und unter der brasilianischen Flagge zu befinden.«
»Und obendrein unter einem deutschen Kapitän,« fügte einer unserer Hamburger Matrosen hinzu.
»Wir bitten Sie um Ihren Schutz, Kapitän Deinhard,« fuhr unser Schiffer fort, »und hier steht ein junger Mensch, der sogar das größte Recht hat, jeglichen Schutz und Beistand von Ihnen zu verlangen.«
»So! Zu verlangen? Und wer bist du denn, mein Junge?«
Diese Frage war an mich gerichtet, und ich beantwortete dieselbe nach bestem Wissen und der Wahrheit gemäß.
»Ich bin Heinrich Lubau, der Sohn deiner Schwester, lieber Onkel Deinhard.«
»Du bist ein Lubau? Mein Neffe? Meiner Schwester Sohn? Unmöglich!«
»Es mag ja immerhin unmöglich sein, Kapitän Deinhard,« fiel unser Schiffer ein, »trotzdem aber ist es doch buchstäblich wahr. Dafür bürge auch ich mit meinem Worte. Wir sind im vergangenen Sommer von Hamburg ausgelaufen, teils um Kauffahrtei zu treiben, teils aber auch um einem Schurken alle die Sünden heimzuzahlen, die er an uns begangen hat.«
»So hat der kleine kecke Bube also doch die Wahrheit gesagt,« murmelte der junge Leutnant, der dicht in meiner Nähe stand, und mit dem kleinen kecken Buben meinte er mich, der ich fast genau ebenso groß wie er selber und überdies noch der Neffe seines allgewaltigen Kommandanten war!
Ich hatte keine Gelegenheit, auf diese Bemerkung etwas zu erwidern, da Kapitän Deinhard mich zu sich heranrief.
»Komm her, mein Junge,« sagte er auf deutsch zu mir, »ist's wahr, bist du mein Neffe? Wodurch willst du das beweisen? Ich habe den einzigen Neffen, den ich mein nennen kann, seit langen Jahren nicht gesehen, und in deinem gegenwärtigen Aufzuge, der dem Namen Lubau keine sonderliche Ehre macht, würde es wahrscheinlich selbst deiner Mutter schwer werden, dich als ihren Sohn wiederzuerkennen.«
»Das ist leider wahr, Onkel Konstantin,« entgegnete ich, »daran sind jedoch die Verhältnisse schuld, nicht ich. Du magst mir aber getrost glauben, daß ich dein Neffe Heinrich bin. Entsinnst du dich vielleicht dieser Kleinigkeit hier?«
Damit griff ich in die Tasche und hielt ihm einen kleinen goldgefaßten Bleistift entgegen, den er mir bei seinem letzten Besuche geschenkt hatte. Derselbe war eine kunstvolle, ostindische Arbeit und trug an seinem Ende ein Petschaft, einen gelblichen Stein, in welchem ein Schlangenkopf eingraviert war.
»Wann und wo habe ich dir dies gegeben?« fragte der Kapitän.
»Zu Hause, in Hagenow, in der Laube unseres Gartens. Es war vor sechs Jahren und an meinem Geburtstage; du schenktest mir außerdem noch zwei Goldstücke.«
»Von letzteren weiß ich nichts mehr; mit diesem Bleistift aber hat es seine Richtigkeit. Gieb mir die Hand, mein Junge, ich freue mich, dich zu sehen, wenn du auch aussiehst wie einer von Falstaffs Rekruten. Geh' hinunter in meine Kajüte; der Steward soll zusehen, was er an Zeug für dich auftreiben kann; oder halt – Unterleutnant Korkfender, vielleicht können Sie und Ihre Herren Kameraden aus Ihren Kisten soviel heraussuchen, daß mein Neffe sich anständig auf dem Achterdeck Sr. Majestät Korvette sehen lassen kann, wenn wir irgendwo binnen laufen.«
Unterleutnant Korkfender, der junge Offizier, dessen Bekanntschaft ich bereits in handgreiflicher Weise gemacht hatte, trat vor, legte die Hand an die Mütze und sagte, daß es ihm und seinen Kameraden ein besonderes Vergnügen sein würde, mich standesgemäß aufzutakeln.
»Was ist's mit Ihrem Auge, Korkfender?« fragte der erste Offizier, während der Kapitän mit unserem Doktor redete. »Wie mir scheint, ist Ihnen da ein Stück Glas hineingeraten. Wollen Sie nicht den Arzt zu Rate ziehen?«
»Ich danke gehorsamst; es ist schon wieder besser,« entgegnete Korkfender, indem er das Monokel fallen ließ.
»Ah, das ist ja gut,« sagte der erste Offizier. »Gehen Sie nun hinunter in die Messe, und nehmen Sie den Neffen des Kapitäns mit sich. Im übrigen aber sehen Sie sich vor, Sie haben jetzt schon ein Glas zu viel, und das ist ein böses Beispiel für die andern.«
Unterleutnant Korkfender lachte, berührte seine Mütze und ergriff mich dann am Arme, um mich hinunter in die Offiziersmesse zu führen.
In der Messe befanden sich noch zwei andere junge Leutnants, ebenfalls Deutsche, wie überhaupt fast das ganze Offiziercorps der »Santissima Trinidad« aus Deutschen bestand. Die Korvette meines Onkels stand damals in dem Rufe, das tüchtigste und schneidigste Fahrzeug der brasilianischen Marine zu sein, und diesen Ruf verdankte sie dem germanischen Elemente auf ihrem Achterdeck.
»Hallo, Korkfender!« riefen die Herren ihrem Kameraden, meinem Führer, entgegen, »wen bringen Sie da angeschleppt?«
»Den neu entdeckten Neffen des Alten,« antwortete Korkfender grieflachend. »Wir sollen ihn frisch auftakeln. Kann einer von Ihnen ihm vielleicht mit einer Kluft aushelfen?«
»Wollen sehen; ich habe noch eine überzählige Hose in der Kiste,« sagte der eine.
»Und von mir kann er eine Jacke und vielleicht auch eine Weste kriegen,« fügte der andere hinzu. »Sie haben ja so gut wie gar nichts auf dem Leibe, Herr – Herr Neffe, oder wie Sie heißen,« wendete derselbe Sprecher sich dann an mich; »man hat Sie ja höllisch abgeschält! Wie war doch gleich Ihr Name?«
»Mein Name ist Lubau.«
»Schön, Lubau; wir werden also sehen, wie wir Sie wieder ein wenig civilisieren können.«
Dank dem freundlichen Entgegenkommen der jungen Offiziere war ich bald in der Lage, in dem Interimsanzuge eines brasilianischen Marine-Unterleutnants auf dem Achterdeck zu erscheinen, wo der Kapitän Deinhard im Gespräch mit dem ersten Offizier auf und ab ging. Als er meiner ansichtig wurde, blieb er stehen.
»Ah, da ist ja der Heinrich!« sagte er freundlich. »Nun, mein lieber Junge, ist dir jetzt ein wenig menschlicher zu Mute?«
»Jawohl, Herr Kapitän,« antwortete ich respektvoll, denn ich fühlte, daß ein Onkel zu Hause im Garten und ein Onkel als Kommandant einer im Dienst befindlichen Korvette zwei sehr verschiedene Menschen seien.
»So ist's recht, mein Sohn. Sieh dich nun ein wenig an Bord um. Später, wenn die Zeit geeigneter ist, werde ich mit dir plaudern. Jetzt habe ich andere Dinge im Kopfe.«
Ich trat bescheiden zurück und drückte mich hinunter an Deck, um mich nach meinen alten Schiffsgenossen umzuschauen.
Der Abend begann hereinzubrechen, und am südwestlichen Horizonte zeigte sich ein häufiges und starkes Wetterleuchten.
Am Fallreep traf ich den Kapitän Dickson in freundschaftlicher Unterhaltung mit einigen Deckoffizieren; man hatte den braven Schiffer mit einem alten Uniformrocke versehen, in welchem er, mit seinem gebräunten Gesichte und dem zottigen Bart, der seit unserer Abreise von Hamburg kein Scheermesser gespürt, so recht wie ein Piratenhäuptling aussah. Lambertus und Klaus hatten sich mit Matrosenhemden begnügen müssen, in denen sie sich so wohl befanden, daß sie sich ausschließlich nur noch unter den Mannschaften bewegten, die den alten, einäugigen Steuermann mit einem fast ehrfürchtigen Interesse beobachteten. Doktor Mertens hatte sich mit dem französischen Stabsarzt der Korvette angefreundet und schleuderte an dessen Seite, angethan mit einem schneeweißen Anzuge, kühl bis ans Herz hinan, hinter dem Großmast auf und ab. Auch unseren Matrosen war von seiten der Unteroffiziere und Mannschaften eine herzliche Gastfreundschaft zu teil geworden, und die Trinidadleute konnten nicht müde werden, den Erzählungen derselben zu lauschen, die mit immer neuen Variationen und Zusätzen wiederholt wurden.
Als Kapitän Deinhard seine Unterredung mit dem ersten Offizier beendet hatte, ließ er mich durch den wachhabenden Leutnant zu sich bescheiden. Dieselbe Aufforderung erhielt Kapitän Dickson.
Auf dem Achterdeck angekommen, wurden wir von dem Kommandanten gebeten, ihm hinab in seine Kajüte zu folgen.
»Und nun bin ich begierig, zu erfahren,« begann derselbe, »wie mein Neffe es angestellt hat, sich an Bord eines Piratenfahrzeuges, fern von den heimatlichen Laren und Penaten, im Großen Ocean von Seiner brasilianischen Majestät Korvette ›Santissima Trinidad‹ unter so merkwürdigen Umständen fangen zu lassen.«
Wir berichteten meinem Onkel nunmehr haarklein, wie alles gekommen war. Bei der Erzählung von Alvarados Betrug horchte der Kapitän hoch auf.
»Alvarado – Garillas – jawohl, den Halunken kenne ich,« sagte er. »Also meine Unterschrift hat er gefälscht – hm – na, er soll uns nicht entgehen. Ich denke in Valparaiso neue Ordres vorzufinden. Du bist nun zu mir an Bord gekommen, Heinrich, ohne recht zu wissen, wie, trotzdem dies schon seit langer Zeit mit deinen Eltern verabredet war. Du bleibst nun bei mir, um deine seemännische Laufbahn, die unter dem Kapitän Dickson einen so ereignisreichen Anfang genommen, als Kaiserlich brasilianischer Seekadett fortzusetzen. Sie, Mr. Dickson, gedenken wohl Ihre Fahrt auf eigene Faust wieder aufzunehmen?«
» Yes, Captain«, erwiderte der Amerikaner. »Ich ruhe nicht eher, bis ich den Schurken Alvarado bei der Gurgel habe. Er hat noch immer den jungen Arnold in seiner Gewalt, und ich bin dessen altem Vater verantwortlich für ihn. Mein Leben hat vorläufig keinen andern Zweck, als den armen jungen Menschen zu befreien, und nicht eher werde ich wieder ruhig schlafen können, bis er, der durch mein Verschulden dem blutdürstigen Mordgesellen in die Hände gefallen ist, sich frei, sicher und geborgen wieder im Schoße seiner Familie befindet.«
Der schrille Ton einer Pfeife an Deck unterbrach das Schweigen, welches den Worten Dicksons gefolgt war.
»Ich muß hinauf,« sagte mein Onkel, indem er sich aus seinem Sessel erhob. »Das Wetter ändert sich. Kommen Sie mit mir, Mr. Dickson, auch du, Heinrich, wenn du willst.«
Er stieg, noch redend, schnell die Treppe hinan, gefolgt von Kapitän Dickson und mir.
Das Angesicht des Himmels hatte sich vollständig verändert. Eine ungeheure schwarze Wolkenbank war aus Südwesten heraufgezogen und hatte sich über den größten Teil des Firmamentes verbreitet, so daß es, trotz des noch frühen Abends, bereits so finster war, wie um Mitternacht. Auch die See war unruhig geworden, und der Wind machte sich in immer stärkeren Stößen auf.
»Es wäre gut, wenn man die Korvette an den Wind brächte,« murmelte Dickson; »wenn man sie so liegen läßt, wie sie jetzt liegt, dann könnte es sich ereignen, daß wir auf die Riffe geraten. Ich habe das kennen gelernt:«
»Was sagten Sie?« fragte der erste Offizier, der soeben in unsere Nähe kam.
»O, ich meinte nur; ich dachte, daß es vielleicht geratener wäre, wenn man eine Weile dicht am Winde liefe und dann meinetwegen das Schiff beidrehte. Dort drüben liegen einige Riffe, die ich kenne, und in der Finsternis könnte man darauf geraten.«
»Riffe sind hier an dieser Stelle in der Karte nicht verzeichnet,« entgegnete der Offizier. »Ich werde die Marssegel reffen lassen und auf dem Kurs bleiben.«
»Meinetwegen, ich meinte auch nur so,« antwortete der Amerikaner. »Ich wollte nur bemerken, daß ich, wenn ich das Kommando der Korvette hätte, beizeiten unter Sturmstagsegeln beidrehen würde. Läuft das Schiff noch eine Weile so weiter, dann rennt's hoch und trocken auf's Land hinauf.«
Der erste Offizier und auch der Kommandant waren jedoch anderer Meinung. Die Marssegel wurden gerefft, und das Schiff brauste vor dem zunehmenden Sturme in die Finsternis hinein. Plötzlich ertönte die Stimme des Ausgucks.
»Land backbord voraus!« schrie der Mann. »Land backbord dwars ab!«
»Nieder mit dem Ruder!« rief Kapitän Deinhard, und der Steuermannsmaat am Ruder wiederholte das Kommando.
»Nieder mit dem Ruder!« rief der Kapitän noch heftiger.
»Ruder ist nieder, so hart als möglich!« klang es zurück.
»Wir haben hier eine Strömung, die uns hineinsetzt,« sagte der erste Offizier. »Auch der Wind scheint etwas geschraalt zu sein.«
»Hab' ich's nicht gesagt?« murmelte Dickson. »Wir kommen im Leben nicht an dem Riff vorüber. Wir treiben breitseit auf das Eiland los. Aber die Herren wollten's ja besser wissen.«
»Was soll nun werden?« fragte ich meinen alten Freund in heller Angst.
»Das kommt ganz auf Ihren Onkel an,« antwortete Dickson. »Wenn er ein rechter Mann ist und sich nicht zu groß dünkt, von unserereinem, der in diesen Gewässern seit langen Jahren Bescheid weiß, einen Rat anzunehmen, dann thut er jetzt, was er vorher nicht gebraucht hätte: er »klaut« sich frei von diesem Leegerwall (Land in Lee) und läuft in den Wind auf, notabene, wenn er kann!«
Das Manöver des in den Wind Auflaufens hatte augenscheinlich seine Schwierigkeiten. Der Sturm raste jetzt mit aller Macht über den Ocean daher und trieb das Schiff immer näher an die drohende Küste. Zum Aufluven war nötig, daß die Korvette eine gehörige Fahrt hatte, und hierzu wiederum gehörten Segel. Man setzte alle Leinwand, die das Schiff führen konnte, und unter dem gewaltigen Druck derselben schoß es brausend durchs Wasser.
Kapitän Deinhard ging unter Deck, um einen Blick in die Karte zu thun. Es stellte sich jedoch heraus, daß diese Leeküste gar nicht eingetragen war. Auf dem Papier befand sich an dieser Stelle ein weiter Seeraum.
Hierzu kam, daß die Strömung uns weiter nach Osten gesetzt hatte, als der Kapitän und sein Navigationsoffizier angenommen hatten. Nach der Berechnung dieser Herren mußte die Korvette noch eine ganze Strecke weiter auf ihrem Kurse liegen können.
»Das wird eine böse Nacht,« sagte Dickson zu dem Doktor Mertens, der die Treppe zum Achterdeck herauflugte.
»Und eine kurze,« entgegnete dieser in seiner gewöhnlichen, trockenen Weise. »Denn lange machen wir's nicht mehr. Hätten ebenso gut an Bord des alten Räuberkahnes bleiben können; allerdings ist es anständiger, in reinen und guten Kleidern zum alten Neptun hinabzufahren. Wir treiben direkt auf den Leegerwall zu. Wenn wir das Vorland dort in Lee von uns lassen könnten, dann wäre uns geholfen. Das aber ist beinahe eine Unmöglichkeit.«
Damit verschwand er wieder in der Finsternis.
Die Nacht wurde immer wilder. Die Korvette stackerte mühsam vorwärts, gegen die kurzen, stoßenden Seen anstampfend, welche die Schiffsseiten wie mit Hammerschlägen trafen. Der Segeldruck, der die Stärke der Masten bis auf die äußerste Probe stellte, hatte wenigstens so viel genützt, daß die Abtrift des Schiffes fast ganz aufgehört hatte; trotzdem war die Lage desselben noch eine höchst gefährliche.
So kam der Morgen heran.
Der Wind wehte von der Richtung des felsigen Vorlandes her. Wir waren in eine Art von Bucht hineingeraten; auf allen Seiten Felsenriffe und in unserem Lee eine Insel, deren schroffes Gestade von einer wütenden Brandung umtost war. Es entstand nun die Frage, ob wir das Vorland in Lee lassen und umschiffen konnten, oder ob wir halfen und über den andern Bug und mit dem Winde aus der Bucht hinauszulaufen versuchen sollten.
Mein Onkel wollte sich für das letztere entscheiden; die See aber ging so hoch, und der Seeraum war so gering, daß er sich davon bald wieder abbringen ließ.
»Dann giebt's noch einen andern Ausweg,« sagte er. »Lassen Sie den Anker klar machen, Kapitänleutnant, und das Schiff hart an den Wind bringen.«
Das geschah. Die Rudersleute, vier an der Zahl, drehten das Ruder nieder. Die Korvette luvte langsam in den Wind auf, flackernd und stampfend und wahre Sündfluten von Wasser übernehmend. Plötzlich hielt sie der Anker auf, den man inzwischen in den Grund gelassen hatte. Sie zerrte und riß an der Kette wie ein Leviathan, den man gefangen hat.
»Das Schiff kentert!« rief ich in Angst. Die Raaen waren rundgebraßt worden, und die Segel drückten das Fahrzeug tief in die kochende See.
Ein heller Feuerstrom rann vorn aus dem Buge. Ich glaubte im ersten Augenblick, daß eine Explosion stattfände, allein es geschah nichts dergleichen. Die »Santissima Trinidad« war frei und schoß in südlicher Richtung hinaus in die offene See. Der Feuerstrom war die Ankerkette gewesen, die man ausgeschäckelt hatte und die nun mit ungeheurer Gewalt und funkensprühend durch die eiserne Klüse gefahren war. Wir waren gerettet.
» Well done« murmelte Dickson. »Bei meiner armen Seele, Heinrich, Ihr Onkel ist ein Seemann, wie ich sobald keinen gesehen habe!«
Die Riffe lagen hinter uns, und der Sturm ließ nach. Nach und nach legten sich auch die gewaltigen Wogen. Die Korvette konnte wieder auf ihrem Kurse liegen, und einige Tage später gingen wir an einem wunderschönen Abend vor Valparaiso zu Anker. –
»Ich habe nichts dagegen, Heinrich,« sagte der Onkel am nächsten Morgen zu mir, »wenn du auf ein paar Stunden an Land gehst und dich in der Stadt ein wenig umschaust.«
Erfreut über dieses Entgegenkommen erwiderte ich einige Worte des Dankes.
»Gut, gut,« fuhr er fort. »Sieh dich nur vor, daß du nicht in Angelegenheiten gerätst. Meine jungen Herren sind manchmal geneigt, ein wenig über die Stränge zu schlagen, namentlich wenn es, wie heute, allgemeinen Urlaub giebt, wo dann alles an Land geht, was keinen Dienst hat und noch über einiges Kleingeld verfügen kann. Hast du übrigens Geld?«
»Nein, Onkel Konstantin.«
»Dann will ich dir etwas geben. Vergiß auch nicht, dir einige Kleidungsstücke zu kaufen. – Steward, ich lasse den Unterleutnant Korkfender bitten zu mir zu kommen!«
Korkfender erschien eilfertigst, diesmal ohne sein Augenglas.
»Ich möchte Sie bitten, lieber Korkfender, heute der Mentor meines Neffen zu sein,« sagte Kapitän Deinhard, »und zwar ist meine Wahl deswegen gerade auf Sie gefallen, weil ich Sie als einen Herrn von gesundem Sinn und exemplarischen Sitten kenne.«
Korkfender verneigte sich; man sah es ihm an, daß er ebenso erstaunt wie belustigt über diese ganz unerwarteten und, wie er sich vielleicht innerlich sagte, auch unverdienten Lobeserhebungen war.
»Sie werden meinem Neffen bei seinen Einkäufen mit Ihrer Erfahrung zur Seite stehen,« fuhr der Kapitän fort, »und ihm dann ein wenig von der Stadt zeigen. Den Eingeborenen gegenüber erbitte ich mir eine vornehme und taktvolle Zurückhaltung. Den Händlern gegenüber seien Sie fest.«
»Wie ein Fels, Herr Kapitän,« versicherte Korkfender.
»Und rollen Sie mir nicht aus einem Wirtshaus ins andere,« schloß der Kapitän lächelnd. »Sie wissen, ein rollender Fels setzt kein Moos an.«
Noch erstaunter als zuvor über die Leutseligkeit des sonst so gestrengen Kommandanten verneigte der Leutnant sich noch einmal, ich that desgleichen, und dann gingen Korkfender, Korkfenders Monokel und meine Wenigkeit an Land, und zwar mit Kapitän Deinhard und in dessen Gig, da derselbe uns großmütig gestattet hatte, die Gelegenheit zu benutzen.
Wir machten unsere Einkäufe und sendeten das umfangreiche Paket sodann durch einen unserer Matrosen an Bord der »Santissima Trinidad«. Dann erstiegen wir im Hintergrunde der Stadt eine Anhöhe, auf der wir im Schatten eines kleinen Gehölzes ein hölzernes, von einer Veranda umgebenes Gebäude entdeckten, welches auf uns den Eindruck eines verödeten und dem Verfall anheimgegebenen Wirtshauses machte. Wir hatten unterwegs einige Früchte gekauft; der Tag war schwül und windstill, und so legten wir uns in der Nähe des Hauses in das hohe Gras, verzehrten unsere Bananen und Mangos, schauten hinaus über die Stadt und den Hafen und befestigten gegenseitig unsere Bekanntschaft durch freundschaftliches Geplauder.
Die ringsum herrschende Stille war bedrückend; nichts regte sich, als Myriaden ruhelos summender Insekten. Mit der Zeit wurden wir schläfrig; wir streckten uns der Länge nach aus, starrten noch eine Weile empor in das grüne Blätterdach über uns und dann entschwebten unsere Geister in das Reich der Träume. Als ich einige Zeit darauf die Augen wieder öffnete, sah ich, daß Korkfender noch immer sanft und selig schlief.
Plötzlich hörte ich Stimmen aus einem der offenen Fenster des Gebäudes herausdringen. Wir lagen dem Hause so nahe, daß ich den verwitterten Pfosten der Veranda mit der Hand erreichen konnte.
Ich richtete mich auf und lauschte.
»Wir müssen Alvarado sogleich benachrichtigen,« sagte eine Stimme auf englisch. »Die vermaledeite Korvette macht uns einen Strich durch die Rechnung.«
Alvarado! Die Insassen des Gebäudes, welches wir für unbewohnt gehalten hatten, standen also mit den Piraten in Verbindung. Ich unterdrückte den Wunsch, meinen Gefährten zu erwecken, weil ich fürchtete, daß ein unwillkürlicher Ausruf desselben uns verraten könnte.
Ich stand vorsichtig auf und lugte um die Ecke der Veranda in das breite, niedere Fenster hinein.
In dem Gemach saßen an einem kleinen Tische zwei Männer, über einige ausgebreitete Papiere gebeugt. Beide sahen wild und verwahrlost aus, echte Banditengestalten, mit wirrem Haar und zottigem Bart; sie trugen helle, baumwollene Hemden, die auf der Brust weit offen standen, auf einem dreibeinigen, gegen die Fensterwand geschobenen Nebentisch lagen einige große Revolver, und der beizende Dampf ihrer langen, dünnen Zigarren kräuselte in dünnen Wolken zum Fenster hinaus.
»Wo ist Alvarado jetzt?« fragte einer der beiden.
»An Bord des ›Luzifer‹, seines Schoners. Irgendwo unten im Archipel. Es kann aber nicht mehr lange dauern, dann ist er hier, oder aber wir sehen ihn in Santa Cruz. Alvarado ist ein großartiger Kerl, es lohnt sich wahrlich, mit ihm in Verbindung zu stehen!«
»Ja. Wir haben schöne Geschäfte mit ihm gemacht. Er ist ein Flibustier der guten, alten Schule. Gieb mir den Brief noch einmal her!«
Die Männer vertieften sich in ihre Papiere. Ich weckte jetzt vorsichtig meinen noch immer schlafenden Kameraden und teilte ihm leise meine Entdeckung mit, daß das Haus eine Piratenspelunke sei.
»Dann müssen wir machen, daß wir fortkommen,« entgegnete Korkfender flüsternd. »Ich fliehe zwar prinzipiell nie, aber unter Umständen ist es klüger, wenn der Starke sich mutig zurückzieht. Man kann nicht wissen, wieviel von dem Gesindel hier herumlungert. Wir haben hier überhaupt nichts zu suchen gehabt, Heinrich; ich war ein Narr, Ihren verdammten romantischen Neigungen zu folgen und mich hierher ins Dickicht und unter die Räuber und Skorpione und Moskitos zu versteigen. Wenn uns hier was passiert, dann habe ich es, als Ihr Mentor, auszubaden. Machen wir uns also mannhaft davon.«
Das war aber leichter gesagt, als gethan, denn der einzige Weg zur Flucht führte uns unmittelbar an den offenen Fenstern vorüber, da uns nach jeder anderen Seite hin das dichte, mit undurchdringlichem Dornengebüsch erfüllte Gehölz einengte und jeder Versuch, in dasselbe einzudringen, mußte uns durch das dabei entstehende Geräusch sogleich verraten. Es blieb uns nichts übrig, als auf die Veranda hinauf und auf derselben dicht unter den Fenstern entlang zu kriechen, bis zum andern Ende, dort hinabzuspringen und den abschüssigen Hügel hinunter zu schleichen. Die Veranda war an unserem Ende zwei Fuß über dem Boden erhoben, an dem andern aber etwa sechs Fuß, da der Hügel sich bis dahin sehr bedeutend senkte.
»Achtung!« flüsterte Korkfender. »Ich mache den Anfang; richten Sie sich genau nach mir. Passen Sie auf, ich kann kriechen wie ein Tiger.«
Seiner brasilianischen Majestät Unterleutnant schien sich auf seine katzenartige Gewandtheit ohne Zweifel etwas einzubilden, ich muß aber gestehen, daß ich niemals ein weniger tigerähnliches Geschöpf gesehen habe, als den guten Korkfender, wie er in seiner Uniform, das Monokel im Auge und den Säbel unter dem Arme, sich auf allen vieren langsam an der Wand des baufälligen Gebäudes entlang drückte. Es war ein Anblick zum Lachen, allein in jenem Moment lachte ich nicht.
Korkfender war größer und schwerer als ich und hatte, in wirklicher und ritterlicher Großmut gemeint, daß alles gut gehen müßte, wenn er, ohne entdeckt zu werden, die gefährliche Stelle passieren konnte. Wir hatten außerdem verabredet, daß ich, im Falle er festgehalten werden sollte, in dem ersten Getümmel den Hügel hinab jagen und unten in der Stadt Lärm schlagen sollte.
Er kroch lautlos und vorsichtig; in der Mitte der Veranda hielt er einen Augenblick an, wendete sich um und machte mir mimische Zeichen, die ich aber nicht verstand. Als er das andere Ende erreicht hatte, ließ er sich in das hohe Gras hinab und verschwand meinen Blicken. Er war in Sicherheit.
Ich begreife heute noch nicht, was mich damals abhielt, nunmehr ohne weitere Bedenken so schnell als möglich an dem Hause vorbei und meinem Gefährten nach den Hügel hinabzurennen; das wäre das einfachste gewesen und jedenfalls auch das sicherste. Allein die guten Gedanken kommen einem immer zu spät.
Ich erklomm also leise die Veranda und begann nun meinerseits auf den wurmstichigen und morschen Planken desselben dahin zu kriechen. In der Mitte angekommen gab es einen Krach, das Brett unter mir brach und ich steckte, starr vor Schreck, in der Falle.
Im Nu hatten mich die beiden Banditen am Kragen.
»Ha! Wer? Ein Lauscher! Ein Spion! Warte, Schurke! Wo kommt der Schlingel her? Wie? Was hast du gehört? Antworte!«
Diese Fragen, in eine Wolke von Flüchen gehüllt, umschwärmten mich, während ich von den Banditen hin und her gerissen wurde.
»Nichts habe ich gehört!« stieß ich hervor.
»Nichts will er gehört haben!« rief der eine dem andern zu. »Die Schlange lügt! Wir wollen ihm den Hals abschneiden!«
Mir war sehr übel zu Mute.
»Warte noch,« entgegnete der Kerl, der mich am Arme hielt, »dazu ist immer noch Zeit. Was hattest du hier zu suchen, junger Mensch?«
»Ich kam hier herauf, um die Aussicht zu genießen, und dabei bin ich eingeschlafen. Als ich erwachte, sah ich Sie dort drinnen sitzen – ich fürchtete mich, und um Mißverständnissen vorzubeugen, wollte ich vorbeischlüpfen –«
»So. Also gelauscht hast du nicht? Hast nicht gehört, wovon wir redeten?«
»Kein Wort! Wenigstens kein Wort von Bedeutung!« beteuerte ich. Das war eine Lüge – aber eine Notlüge, denn es galt mein Leben. Man möge mir also verzeihen.
»Kein Wort von Bedeutung? Hm, was weißt du davon, welches unserer Worte Bedeutung hat und welches nicht? Was also hast du gehört?«
»Ich hörte Sie von Geschäften sprechen, die Sie gemacht hatten, oder noch machen wollten, weiter nichts. Ich verstehe nur wenig englisch.«
»Was bist du für ein Landsmann?«
»Ein Deutscher.«
»Wie kommst du hierher?«
»Ich bin ein schiffbrüchiger Seemann und warte hier auf eine Gelegenheit, wieder an Bord zu kommen.«
»Nun so lauf!« sagte der Mann, der mich bis jetzt festgehalten hatte, indem er mich losließ.
»Laß dich aber hier oben nicht wieder sehen!« rief der andere mir in deutscher Sprache nach. »Sonst hängen wir dich auf!«
Ich sprang von der Veranda hinab und lief, so schnell meine Füße mich tragen wollten. Bald hatte ich meinen Gefährten eingeholt.
»Gott sei Dank!« rief ich. »Es fehlte nur wenig, so wär ich jetzt ein toter Seekadett.«
Und in schnellen Worten erzählte ich was mir zugestoßen.
»Aber Piraten sind's doch,« schloß ich. »Sie redeten von Alvarado und konnten ihn nicht genug loben. Wir müssen dem Kapitän Bericht erstatten. Kommen Sie, Korkfender, rühren Sie Ihre langen Beine!«
»Von Herzen gern, mein kleiner Heinz,« entgegnete mein Genosse. »Nicht um eine ganze Monatsgage möchte ich den scheußlichen Kerlen in die Hände fallen, und wer weiß, ob sie nicht hinter uns her sind.«
»Wir sind noch nicht fertig mit ihnen,« sagte ich, während wir wacker ausschritten. »Wenn der Kapitän hört, daß hier oben Freunde von dem Spitzbuben Alvarado nisten, dann möchte ich meinen Kopf darauf wetten, daß er ihnen einen Besuch abstattet. Und wir sind dann selbstverständlich wieder mit dabei.«
»Selbstverständlich!« bestätigte Korkfender. »Der Teufel hole das Gesindel, das uns nun schon so lange in Atem erhält! Aber wir werden die Halunken wiedersehen –«
»Das sollt ihr, und zwar sogleich!« donnerte eine tiefe Stimme hinter uns.
Und ehe wir noch einen Gedanken fassen oder gar an Gegenwehr denken konnten, befanden wir uns in der Gewalt der beiden Kerle aus der Bergspelunke, denen sich jetzt noch zwei bis an die Zähne bewaffnete Neger zugesellt hatten.
»Jetzt sollt ihr hängen, ihr Spione,« rief uns einer der Piraten in deutscher Sprache zu. »Ihr gehört zu der Korvette dort unten,« fuhr er fort, die Uniform des Leutnants musternd, an dessen Arme sich die Neger gehängt hatten, so daß er sich vergeblich bemühte, sein Monokel ins Auge zu bringen. »Wie heißt das Schiff?«
»Santissima Trinidad,« antwortete Korkfender gleichmütig und verächtlich.
»Das dachte ich mir,« sagte der Bandit.
Man schleppte uns den Hügel wieder hinauf und dann in die alte Spelunke hinein, wo man uns in ein kleines Gemach stieß, welches nur durch eine schmale und hoch angebrachte Öffnung Luft und Licht empfing. Zuvor hatte man uns durchsucht und mir mein Taschenmesser, meinem Gefährten aber seinen Säbel abgenommen.
»Was nun?« sagte ich, als man die Thür von außen verschlossen und verriegelt hatte.
»Ja, was nun?« wiederholte Korkfender. »Warum haben Sie denn nicht die Augen aufgesperrt und auf die verrottete Planke geachtet? Ich machte Sie doch noch darauf aufmerksam. Jetzt haben Sie uns in eine schöne Klemme gebracht! Na, lamentieren hilft nichts. Wir wollen lieber überlegen, wie wir am besten aus diesem Loche wieder herauskommen können. Es ist ja soweit ganz nett hier, warm und trocken, aber langweilig, wie mir scheint. Also halten Sie den Mund, Lubau, und lassen Sie mich nachdenken. Sie können übrigens dasselbe thun.«
Wir setzten uns nieder auf den Fußboden, jeder in eine Ecke, und dachten nach. Eine ganze Weile resultatlos. Endlich fing Korkfender an:
»Ich hab's. So muß es gehen. Mund halten, Lubau! Wenn Sie sich rühren, erdrossele ich Sie.«
Ich saß stumm und lautlos, wie eine Ratte, während Korkfender mir das Ergebnis seines Nachdenkens entwickelte. Es war ein verzweifeltes Wagnis, aber es blieb uns keine Wahl.
»Hören Sie zu,« sagte er. »Meine Idee ist die folgende.«