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Vomito Prieto. – Das »blixumsche Phantom.« – Die Pampas von Ilay. – Dr. Mertens.
In der Frühe des nächsten Morgens liefen wir in die Mündung des Madeira ein.
Der Fluß ist bedeutend schmäler als der Amazonenstrom, seine Breite erstreckt sich nicht über 800 bis 1000 Meter, erscheint aber noch geringer, da die Ufer viel höher sind, als die des Hauptstromes.
Eine weitere zwölfstündige Fahrt brachte uns bis Borba, einer alten, von den Jesuiten gegründeten Ansiedelung. Die Ortschaften am Flusse bestehen zumeist nur aus wenigen Hütten, zuweilen auch nur aus einem einzigen kleinen Gebäude; sie sind die Niederlagen der in den Wäldern zerstreuten Gummisammler, auch wohl der Tabaksbauer, und hier legen die Dampfer an, um die aufgespeicherten Waren an Bord zu nehmen und nach Manaos und Para zu bringen.
Das einzige nennenswerte Erzeugnis des Flußgebietes des Madeira ist das Gummi ( elasticum). Die Wälder auf beiden Ufern bestehen zu einem großen Teil aus Syphonien ( Syphonia elastica), deren Saft das in der ganzen Welt bekannte Produkt liefert. Die Seringueiros, wie die Gummisammler auf spanisch genannt werden, machen Einschnitte in die Bäume und hängen Blechgefäße darunter, um den hervorquellenden milchweißen Saft aufzufangen. Die Gefäße werden täglich geleert, und den Saft bringt man in großen Behältern neben ein Feuer, dessen Brennstoff die Nüsse der Motoku-Palme liefern. Nunmehr taucht der Seringueiro ein schaufelförmiges Stück Holz in den dickflüssigen Saft und hält dasselbe dann schnell in den Rauch des Feuers, wo der Saft erhärtet. Das Eintauchen wird so oft wiederholt, bis die Schaufel mit einer Gummihülle von mehreren Zoll Dicke umgeben ist; dann schneidet man die eine Seite auf, zieht das Holz heraus und hat jetzt das Gummistück in seiner marktfähigen Gestalt. –
Am siebenten Tage unserer Fahrt wurde ich krank, ernstlich krank. Wir waren in eine Gegend gelangt, die wegen ihres gesunden Klimas berühmt war, in die Nähe der Ortschaft Crato; ungefähr dreißig Jahre zuvor aber hatte das Klima von Crato für so verderblich gegolten, daß die Regierung daselbst eine Kolonie für solche Sträflinge anlegte, die sie auf eine unauffällige Art aus der Welt schaffen wollte.
Die Luft war gegen Mittag unerträglich heiß und dabei so dumpf und feucht, wie in einem Treibhause. Myriaden von Moskitos und anderem fliegenden Ungeziefer umwirbelten den Schornstein des Dampfers. Lambertus schaute aus der Thür der Kajüte, die sich in einem Häuschen an Deck befand, und rief mich zum Essen.
Ich spürte eine eigentümliche Schwere in den Gliedern, und mein Kopf war schon seit dem frühen Morgen so benommen, daß ich alles, was um mich vorging, nur wie im Traume wahrgenommen hatte. Als Lambertus meinen Namen rief, schreckte ich auf; es schien mir, als habe mein Vater mich gerufen, als befände ich mich in unserem Gärtchen daheim und müsse nun ins Haus gehen. Ich raffte gewaltsam meine Besinnung zusammen und ging in die Kajüte, wo Kapitän Dickson und der Steuermann bereits am Tische saßen. Klaus hatte die Wache an Deck.
Ich setzte mich mechanisch nieder; ein seltsamer Schwindel hatte mich plötzlich ergriffen. Ich vermochte keinen Bissen hinunter zu bringen, dagegen hätte ich mit Vergnügen den ganzen Madeira-Fluß ausgetrunken. Bald hatte ich auch den auf dem Tische stehenden Wasserfilter, zum großen Erstaunen des Kapitäns, vollständig geleert. Das Gefäß enthielt über zwei Quart.
Jetzt wurde mein väterlicher Freund auf mich aufmerksam.
Er betrachtete mich erst fragend, dann mit Besorgnis.
»Was ist mit Ihnen, Heinrich?« rief er. »Warum sehen Sie mich so an?«
»Warum ich Sie so ansehe?« erwiderte ich mit einer Stimme, die mir selber ganz fremd vorkam. »Weil ich mich wundere, was die Einbildung einem für Streiche spielen kann. Haben Sie schon von dem sogenannten zweiten Gesicht gehört, Kapitän? Von der Fähigkeit, Menschen plötzlich vor sich zu sehen, die schon längst verstorben und begraben sind? – O bitte, Sie dürfen mich nicht auslachen, Mutter Bertus!«
Damit lehnte ich mich in den Rohrsessel zurück, und drückte die Hände gegen die geschlossenen Augen und die heißen Schläfe, in denen die Adern pochten als ob sie bersten wollten.
Der Kapitän und Lambertus waren erschreckt aufgesprungen und richteten eifrige und ängstliche Fragen an mich, von denen ich jedoch keine einzige verstand. Ich öffnete meine Augen und richtete dieselben wieder auf den Gegenstand, der vorher meine Aufmerksamkeit und zugleich meine Einbildungskraft erregt hatte. Es war dies des Kapitäns Mantel, ein einfaches, lichtgraues Kleidungsstück, welches auf der langen Schiffskiste lag, die an der hinteren Kajütswand stand. Die Kapuze des Mantels war zurückgefallen, so daß das weiße Futter derselben sichtbar wurde. Der weiche Stoff war aufgebauscht, etwa zur Größe eines Menschenkopfes. Als ich zuerst hingeschaut hatte, da war mir's gewesen, als ob die Falten und Kniffe des Zeuges sich eigentümlich zu regen begannen. Ich wußte, daß ich mich täuschte, dennoch aber rieselte ein kalter Schauder durch mein Gebein, und meine Augen hafteten wie gebannt an dem Gegenstand meines Schreckens.
»Merkwürdig!« murmelte ich vor mich hin. »Merkwürdig!«
»Was haben Sie, Heinrich?« sagte Lambertus, sein Auge dicht an mein Gesicht heranbringend. »Was stieren Sie so in die Ecke dort? Man könnte fast meinen, daß Sie bei lichtem Tage mondsüchtig geworden sind.«
»Mein Gott!« rief ich. »Das ist keine Täuschung mehr! Das ist er ja selber, der tote Clafflin; da liegt er, genau so, wie er im Grase auf der Insel lag, als der Doktor ihm das Gesicht aufwärts gedreht hatte!«
Mein Herz stockte, als ob es zu schlagen aufhören wollte, und mir war, als müsse ich ersticken. Trotzdem fühlte ich weder Angst noch Schmerz, mein ganzes Wesen wurde von einer Empfindung durchflutet, die ich nicht beschreiben kann, die ich nie vorher und nie wieder nachher gespürt, die aber den unbestimmten Gedanken in mir erweckte, daß dies sehr wohl der Tod sein könne.
Ich fühlte mich vom Stuhl herab und in des alten Steuermannes Arme sinken; dann wurde es Nacht vor meinen Augen. –
Es war Abend, als ich wieder zu mir kam. Ich lag an Deck, auf Matten gebettet, unter dem Sonnensegel. Ein fürchterlicher Durst verzehrte mich; Lippen, Gaumen und Schlund brannten, als ob man mir geschmolzenes Blei in den Magen gegossen hätte, und in kurzen Zwischenräumen durchfuhr ein qualvolles, zuckendes Reißen meinen ganzen Körper. Kapitän Dickson, Lambertus und Klaus thaten alles, was in ihren Kräften stand, um meine Leiden zu lindern, aber die Krankheit in meinen Adern und in meinem Gehirn nahm von Stunde zu Stunde zu. Man bot mir an, mich in meine Koje zu tragen, aber der Gedanke war mir entsetzlich.
»Erbarmen!« flehte ich in Herzensangst. »Laßt mich hier, bringt mich nicht in die Kajüte. Dort liegt er ja, dort sehe ich ihn, den Toten, den Mann mit dem weißen Gesicht! Lieber werft mich über Bord!«
In dumpfer Betäubung wachte ich den Tag heran; die lange, lange, feuchte, schwüle Nacht verging endlich; die Sonne ging auf und erfüllte alles mit frischem Leben, nur allein mich nicht. Mit der Hitze des vorschreitenden Tages vermehrten sich meine Qualen; ich lag an Deck in wilden Fieberphantasieen, nur mühsam gehalten und gebändigt von zweien der indianischen Schiffsleute, die von Zeit zu Zeit von ihren Kameraden abgelöst wurden, während ich in meiner Raserei nach Willy Arnold rief und von dem Colonel Clafflin schwatzte, der drinnen auf der Schiffskiste liegen sollte. Klaus wich keinen Augenblick von meiner Seite; er war immer bereit mit einem erfrischenden Trunk und einem kühlenden Umschlag für meinen brennenden Kopf, und wenn in dem Fieber ab und zu eine kurze Ebbe eintrat, dann murmelte ich dem alten, wettergebräunten Seemann mit den grauen Bartstoppeln in dem lederfaltigen Gesicht gerührte Dankesworte zu:
»Innigen Dank, Gertrud, lieblicher Engel des Himmels! Innigen Dank!«
In solchen Momenten waren die Schreckbilder freundlicheren Phantasieen gewichen; der arme Klaus aber wurde durch derlei Schmeichelworte fast bis zu Thränen geängstigt.
Dann wieder pries ich die Schlankheit seiner zarten Finger, in der Meinung, Gertrud Arnolds Hand zu sehen – Klausens Finger, die eher einem Bündel knorriger Mohrrüben glichen, denen man die Spitzen abgebrochen hatte. –
»Meine schlanken, zarten, weißen Fingerchen – Gott soll mich bewahren! Ne, Stüermann, dat halt ich nich länger aus! Hol' mich der Deubel! – Meine weißen, zarten Fingerchen – O Mord! Mord!«
Am Abend desselben Tages langten wir in Crato an. Meinetwegen hätten wir im Hades einlaufen können; ich wußte schon längst nicht mehr, was um mich geschah, und es sollte sehr lange dauern, ehe ich wieder zum Bewußtsein des Lebens und zum Gebrauch meiner Sinne kam.
*
Hast du, lieber junger Leser, schon einmal ein recht, recht böses Fieber gehabt? Nein? Nun, dann bist du eigentlich zu bedauern, denn dann weißt du nicht, was es heißt, sich wie im Himmel zu fühlen. O dieses Entzücken, diese Seligkeit des Hochgefühls der Genesung, der wiederkehrenden Kräfte, dazu das Bewußtsein, sich in einem hohen, weiten, luftigen Zimmer zu befinden, in einem breiten, kühlfrischen Bett, und wie in nebelhaften Fernen die Erinnerung an die enge, dumpfige Koje an Bord des kleinen, nach Rauch, Maschinenfett und Kombüsendunst riechenden Dampfers!
Durch die offenen Fenster, die auf eine schattige Veranda führten, kam aus dem grünen Schatten der dichtbelaubten Gartenbäume ein würziger Luftzug herein und bewegte leise raschelnd die hellblaue Gaze des Moskitonetzes, welches mein Lager wie ein Zelt überspannte; die Palmen, deren glatte, graue, geringelte Stämme draußen im wechselnden Sonnenlicht glänzten, rasselten mit ihren langen, harten Blättern, daß es sich anhörte, wie fallender Regen; Orangenbäume, mit goldenen, reifen Früchten, grünen, unreifen Früchten und schneeweißen Blüten sandten ihren Duft gleichsam in Stößen von der Veranda herein, und neben meinem Kopfkissen saß eine stattliche Dame, eine Mulattin, meine Pflegerin, und bot mir mit freundlicher Liebenswürdigkeit ein Glas Sangarie nach dem andern – Sangarie ist ein wunderbares Getränk, ein drittel Madeira, zwei drittel Wasser, dazu Muskatnuß und Zucker – – mit einem Wort, ich glaubte im Himmel zu sein, als ich nach langer Zeit zum erstenmal wieder in voller Besinnung die Augen aufschlug.
Ich trank Sangarie, und dann schloß ich die Augen aufs neue; es war zu schön! Als ich wieder um mich schaute, saßen Kapitän Dickson, Lambertus und Klaus neben meinem Lager.
Ich wollte sprechen, aber die Worte drängten sich nur mühsam aus meiner Kehle. Aha, also noch war alles nicht ganz in Ordnung mit mir.
»Ruhig, Heinrich,« sagte der Schiffer. »Ruhig, mein Sohn, Take it coolly, my lad, und danken Sie Gott, daß Sie soweit wieder auf dem Damme sind. Spüren Sie Kopfschmerzen?«
»Nein, warum sollte ich?«
Der Schiffer lächelte. Ich erhob meine Hand, was mir schwere Mühe machte, tastete nach meinem Schädel und bewegte unwillkürlich die Finger, um meine Locken zu fassen. O weh! An Stelle meines vollen, blonden Haarwuchses berührte ich ein kühles, junges Bananenblatt, welches man um meine Schläfe gebunden hatte.
»Was ist das?« fragte ich erstaunt. »Ein Kohlblatt und kein einziges Haar?«
Lambertus blickte mich mit seinem großen, drolligen Auge an und lachte.
»Wo sind meine Locken geblieben, Lambertus, Sie alter Pirat?«
» Never mind, Heinrich,« fiel der Schiffer ein, »Ihr Haar wird bald wieder wachsen.«
Lambertus nickte zustimmend, lachte aber noch immer.
»Wie konnten Sie sich unterstehen, mich so zu skalpieren?« rief ich, krankhaft gereizt. »Sie sind ja schlimmer als ein Mohikan!«
In diesem Augenblick kam ein alter, nett aussehender Herr ins Zimmer. Das war der Doktor.
»Ah,« sagte er in gebrochenem Englisch, indem er meinen Puls faßte, »ich freue mich. Die Gefahr ist endlich vorüber. Die Senfpflaster haben Ihnen gut gethan, junger Mann. Das war ein Fall von Vomito prieto, wie ich ihn in gleicher Heftigkeit lange nicht gesehen.«
Vomito prieto! Ich hatte also das gelbe Fieber gehabt!
»Was knistert hier so auf meiner Brust?« fragte ich. »Da liegt ja auch ein Bananenblatt!«
»Ja, und darunter ein Senfpflaster, wie auf Ihrem Kopfe.«
»Ein Senfpflaster – wie auf meinem Kopfe! Und was ist denn das an meinen Füßen? Die Sohlen schmerzen mich jetzt plötzlich, als hätte man mir die Bastonnade gegeben.«
»Auch nur einige Zugpflaster, Senfteig und spanischer Pfeffer, weiter nichts.«
»Senfteig und spanischer Pfeffer! – Und was ist denn das für ein Geigenkasten, da draußen auf der Veranda?« fragte ich weiter, als mein verwirrt umherschweifendes Auge auf einen schwarzen, niedrigen, langen Kasten fiel, der außerhalb des einen Fensters zur Hälfte sichtbar war.
»Geigenkasten?« wiederholte der Doktor. »O, das ist Don Monteros Flintenfutteral; Don Montero ist ein großer Sportsmann, müssen Sie wissen. – Seien Sie doch so gut, Kapitän, den Vorhang dort zuzuziehen; der Zugwind ist für unseren Patienten noch zu stark.«
Ich wendete mein Gesicht der Wand zu. Denn ich wußte sehr wohl, daß der schwarze Kasten draußen ein Sarg war, mein Sarg, bestimmt, meine Gebeine aufzunehmen, wenn das gelbe Fieber mich überwältigt hätte. Denn die am Vomito prieto Verstorbenen werden in jenen Gegenden unmittelbar nach erfolgtem Ableben eingescharrt.
»Sie haben diesmal den yellow Jack »Gelber Hans« – unter den englischen und amerikanischen Seeleuten gebräuchliche Bezeichnung des gelben Fiebers. in Ihrem Kielwasser zurückgelassen, Heinrich,« sagte der Schiffer mit humoristischem Lächeln, während zwei Thränen über seine Wangen liefen, »aber es war ein hartes Stück Arbeit! Nicht, Klaus?«
Der alte Matrose, der in seinem hellfarbenen, feinen Anzuge eine seltsam komische Figur war, nickte bedeutsam mit dem struppigen Kopfe. Er schaute sich langsam und vorsichtig im Zimmer um, ob auch kein Unberufener anwesend sei – der Doktor war hinausgegangen – und sagte dann zu mir in einem Flüsterton, der wie das Knurren einer Bulldogge klang:
»Don Montero und seine Leute sind zwar bloß Spanier und Nigger, aber alle Achtung! Sie haben gethan was sie konnten, wie Christenmenschen, dat muß ich sagen! Der Stüermann und ich, wir haben sogar jeder so'n Stück Kammerdiener gehabt – der Deubel wollte mir sogar beim Hemdanziehen helfen, hahaha! Denken Sie sich man blos an, Klaus Klaussen mit 'nem eigenen Privat-Kammerdiener – hihihi!«
Der alte Matrose krümmte sich in unterdrücktem Gelächter, bis er beinahe von seinem Stuhl herabfiel. –
Ich hatte wochenlang das gelbe Fieber mit allen seinen Nachwehen gehabt und diese fürchterliche Krankheit mit dem Beistande Gottes und guter Menschen überstanden. Als ich die Augen zum erstenmal wieder mit dem Verständnis für meine Umgebung aufgeschlagen, befand ich mich in dem Hause eines spanischen Händlers, Don Montero, in der Stadt Trinidad, im Staate Bolivia. Bis hierher hatten mich meine Freunde in einer von Maultieren getragenen Sänfte transportiert, nachdem sie in Crato den Dampfer verlassen und das Fahrzeug, wie verabredet, nach Manaos zurückgesendet hatten. In Crato war keine Spur von Alvarado aufzufinden gewesen; später wollten einige Händler, welche mit Tauschwaren nach den Indianergebieten zogen und den Weg von Kapitän Dicksons kleiner Karawane kreuzten, einen Reisenden mit Namen Garillas in Trinidad bei Don Montero getroffen haben. Unter unendlichen Mühseligkeiten wurde der Weg bis hierher fortgesetzt; ein Händler Garillas befand sich noch immer in Trinidad, der Seeräuber Alvarado aber war's nicht.
Schon längst hatten sich in Kapitän Dicksons Innerem Zweifel erhoben, ob der Pirat auch wirklich damals von Para aus flußaufwärts gegangen sei und ob der Alvarado, mit welchem Don Hombrecillo in Manaos zu thun gehabt, auch die Persönlichkeit gewesen, nach welcher wir auf der Suche waren. Diese Zweifel hatten sich im Laufe der Fahrt mehr und mehr verstärkt, und auch Lambertus Schomerus hatte schon längst mit seiner Überzeugung nicht mehr hinterm Berge gehalten, daß wir hinter einem »blixumschen Phantom« herjagten, während der Seeräuber ruhig und ungestört seine Teufeleien auf der offenen See weiter trieb und sich ins Fäustchen lachte, uns so erfolgreich hinters Licht geführt zu haben.
Von Crato aus hatte Kapitän Dickson mit dem zurückkehrenden »Mosquito« an den Maschinisten Johannsen nach Para die Weisung gesendet, durch Mynheer van Vechter einen Schiffer für den »Perseus« suchen zu lassen und dann mit dem Dampfer ohne Aufenthalt nach Arica in See zu gehen. Dieser Hafen war von uns am schnellsten zu erreichen, und von dort aus konnte die weitere Verfolgung des Piraten am wirksamsten wieder aufgenommen werden, da derselbe inzwischen ganz ohne Zweifel die Westküste ebenfalls schon erreicht hatte, sich vielleicht gar bereits in seinem Hauptquartier, dem Chonos-Archipel, befand.
Der gastliche Empfang und die aufopfernde Pflege, die uns, und ganz besonders mir, in Don Monteros Hause zu teil geworden waren, mußten hauptsächlich auf ein Empfehlungsschreiben des Don Hombrecillo zurückgeführt werden, welches dieser treffliche Mann dem Kapitän Dickson mitgegeben hatte. Als ich nach Verlauf einer weiteren Woche endlich wieder auf den Beinen war, sorgte Don Montero dafür, daß wir uns einer Händlerkarawane anschließen konnten, die von Trinidad aus nach der Chilenischen Küste zog, und mit dankerfüllten Herzen nahmen wir von unserem Gastfreunde und seinem Hause Abschied.
Einer eingehenden Beschreibung dieses mühseligen Maultierrittes, der eine Reihe von Wochen in Anspruch nahm, muß ich mich hier enthalten. Jeder von uns verfügte über zwei Maulesel, der eine diente uns als Reittier, der andere schleppte unsere Nahrungsmittel und sonstigen Bedürfnisse.
Auf der Heerstraße, welche unsere aus zwanzig Personen und gegen sechzig Maultieren bestehende Karawane entlang zog, herrschte ein ziemlich reger Verkehr, es verging wenigstens kein Tag, an welchem uns nicht wenigstens einige Reiter mit Lasttieren, zuweilen auch eine Karawane, wie die unsere, begegnet wären.
Einsam wurde unser Weg erst, als er sich, nachdem wir die Kordilleren in einer Anzahl von sehr gut passierbaren Pässen überschritten hatten, über die Hochebene von Ilay hinzog. Diese Hochebene, auch die Pampas von Ilay genannt, ist ein Sandmeer von zwölf deutschen Meilen Breite und sechsunddreißig Meilen Länge und liegt gegen sechstausend Fuß über dem Meeresspiegel. Dem Beispiel unserer landeskundigen Genossen folgend, legten wir unseren Tieren die Zügel auf den Rücken, damit dieselben ganz nach Gutdünken ihren Pfad suchen und ihre Kräfte zu Rate halten konnten. Sobald dieselben ihren freien Willen hatten, lösten sie die bisher innegehaltene Kolonnenordnung auf und bildeten, eins hinter dem andern, eine lange Linie, die sie auch beibehielten, bis die Wüste durchschritten war.
Der Weg durch die Pampas von Ilay ist nicht ohne Gefahr. Der Wind durchpflügt den feinen, treibenden Sand, so daß die Oberfläche des Sandmeeres sich fortwährend verändert. Vom Morgen bis zum Abend befinden die Sandhügel und Sandwehen sich in ebenso ruheloser Bewegung, wie die Wogen des Oceans. Um den Weg durch diese pfadlose Öde zu finden, richten sich die Landeskundigen am Tage nach dem Stande der Sonne und während der Nacht nach den Gestirnen. Diese Merkmale sind unfehlbar, aber noch andere Wegzeichen finden sich hier und da, die Gebeine der Tiere, die auf dem Marsche durch die Wüste umgekommen sind. Der Reisende erkennt aus den mehr oder weniger nach rechts oder nach links belegenen Lagerorten dieser bleichenden Reste, ob er den rechten Pfad innehält oder nicht.
Wir waren bereits eine weite Strecke in die Pampas hineingedrungen, und noch immer hatten unsere Händler vergeblich nach einem Anzeichen ausgeschaut, aus welchem auf die Nähe der animalischen Überreste geschlossen werden konnte.
Endlich ertönte die Stimme des an der Spitze des Zuges reitenden alten Arriero.
»Die Gebeine!« rief er. »Die Gebeine!«
Aller Augen richteten sich nach der bezeichneten Gegend, und wir erkannten unweit des südlichen Horizontes eine weißliche Linie, die sich auf dem Sande dahinzog und welche Kapitän Dickson anfänglich für eine jener Salzablagerungen zu halten geneigt war, die in solchen tropischen Einöden nicht selten vorkommen sollen.
Auf den Rat des alten Arriero, nicht in Lee von diesen zum Teil noch im Verwesungsprozeß befindlichen Kadavern vorüber zu ziehen, wendeten wir uns nach links, um dieselben zu umgehen. Dadurch kamen wir in die Nähe der Gebeine, die, in größeren und kleineren Haufen, gleichsam eine Kette von fast unabsehbarer Länge bildeten. Die Knochen waren teils mehr, teils weniger gebleicht und rein, je nach der Zeit, die nach dem Fallen des Tieres verstrichen war. Es war unverkennbar, daß Menschenhände bei dem Zusammenhäufen der Gebeine mitgewirkt hatten, obgleich unsere Begleiter steif und fest behaupteten, daß alles nur das Werk des Windes sei. Einige der Kadaver wiesen noch das Fell und das halb gedörrte Fleisch auf, und hier hatten Scharen von Aasgeiern ihr Quartier aufgeschlagen. Wie die Ratte in der Fabel, die im hohlen Käse ihr Nest baute, hatten diese gefräßigen Vögel, nachdem sie die Eingeweide der Kadaver verschlungen hatten, die Bauchhöhlen derselben zu ihren Schlupfwinkeln gemacht. Bei dem Geräusch der vorüberziehenden Karawane kamen sie, einer nach dem andern, aus ihren Verstecken heraus, musterten uns mit unheimlichen Blicken und krochen dann wieder in die Rippenhöhlen zurück.
Der Ritt durch diese Wüste dauerte achtzehn Stunden, und Menschen und Tiere atmeten auf, als wir die Einöde hinter uns hatten.
In Tacna nahm unser Karawanenritt, eine Woche später, sein Ende. Wir machten einen Tag Rast und fuhren dann von hier aus mit der Eisenbahn nach Arica, eine Strecke, welche wir in drei Stunden zurücklegten.
Unsere Reise quer durch den Kontinent von Südamerika hatte drei Monate gedauert. Es war tatsächlich eine Jagd nach einem Phantom gewesen, denn das erste, was wir hier in Arica von chilenischen Kauffahrern hörten, war, daß der Seeräuber Alvarado mit seinem schnellsegelnden Schoner »Luzifer« sich auf der Höhe von Valparaiso gezeigt habe!
Unsere Phantomjagd hatte also doch ihren Nutzen gehabt, nämlich den, daß wir dadurch dem Piraten fast direkt auf den Leib gerückt waren, was uns auf dem Seewege kaum so schnell gelungen wäre. Denn der »Perseus«, der vier Tage nach unserer Ankunft in Arica eintraf, hatte während seiner ganzen Fahrt um das Kap Horn und dann längs der Küste herauf, von dem Piraten weder etwas gehört noch gesehen.
Die Freude, mit welcher wir wieder an Bord unseres Fahrzeuges gingen, ist nicht zu beschreiben, ebenso wenig das Erstaunen, mit welchem unsere alten Schiffsmaaten die Erzählungen unserer Erlebnisse, besonders aus Lambertus' und Klausens Munde, aufnahmen.
Der spanische Schiffsagent, welcher hier mit der Ergänzung der ausgegangenen Proviantvorräte beauftragt wurde und der uns zugleich frische Munition zu beschaffen hatte, schien genau in das Treiben der Chonos-Piraten eingeweiht zu sein. Er erzählte allerlei Streiche, die Alvarados Namen schon vor Jahren an dieser Küste bekannt gemacht hatten, und aus seinen Schilderungen ging hervor, daß der kühne Seeräuber in den Kreisen der niederen Handelswelt der chilenischen Hafenorte mehr Freunde als Feinde besaß. Durch seine Vermittelung erhielten wir auch noch eine Verstärkung der Mannschaft, darunter einen spanischen Matrosen, den er dem Kapitän ganz besonders empfahl, weil derselbe mit den Schlichen der Piraten vertraut sei und uns daher von Nutzen sein könne.
Am Tage vor dem Auslaufen des »Perseus« fand sich ein Herr an Bord ein, der sich als ein deutscher Arzt vorstellte und den Kapitän bat, ihm gegen Entgelt eine Überfahrt nach Santa Cruz auf Chiloe zu gewähren, woselbst er in Gemeinschaft mit seinem dort ansässigen französischen Kollegen naturwissenschaftliche Studien zu machen beabsichtigte.
Kapitän Dickson entsprach dem Wunsche des Arztes, der sich Dr. Mertens nannte, mit freundlicher Bereitwilligkeit, lehnte aber die Annahme eines Entgelts für Quartier und Kost höflich und bestimmt ab.
»Sie können's abarbeiten, Doktor,« sagte er, »indem Sie meinen alten Steuermann in die Kur nehmen, wenn er seekrank wird.«
Wir lachten, Lambertus am meisten, der Doktor schaffte seine Kisten und Kasten an Bord, Bootsmann Klaus wies ihm eine Koje an, und dann wurde der »Perseus« seeklar gemacht.