Johannes Richard zur Megede
Félicie
Johannes Richard zur Megede

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Zehntes Kapitel.

Mein Schlaf bleibt miserabel. Man träumt ja auch wachend so schön! . . . Die letzte Nacht natürlich – die Nacht eines zu Henkenden. Ich war schon mit dem Morgengrauen auf, gescheucht von der bebenden Angst, ich könnte den Abschiedsgruß Félicies verschlafen – und damit das letzte Sonnenlächeln des Glücks. Im Toilettenzimmer kein Laut. Sie nimmt sich Zeit . . . Drinnen halte ich es nicht mehr aus und beginne auf der Landstraße zu promenieren. Die Luft kühl, herrlich, der weiße Staub noch schwer vom Tau. Wenn sie abfährt, muß ich ihr unbedingt begegnen. Dennoch wage ich mich nicht um die nächste Felsecke. So wandern wilde Tiere in ihren Käfigen auf und ab – ruhelos, mit brennenden Augen. Die armen gefangenen Bestien thaten mir immer so leid.

Sieben – acht – neun – ich müßte hundemüde sein von dem zwecklosen Gehen, und ich bin nur nervös. Der Zug nach Savona geht um halb zehn – eine Stunde Wagenfahrt dazugerechnet. Wenn das Coupé nicht durch die Lüfte geflogen ist, kommt die Herzogin zu spät . . . Da fällt mir das Boot ein. Wenn sie mich morgens vergebens im Schlosse gesucht hätte und dann, um abzukürzen, über die Bucht gerudert wäre . . . Ich habe eben kein Glück! . . . Mir ist, als hätte ich die Frau schon heute endgültig verloren. Ich schlendere stumpfsinnig zurück durch das Portal, an der Remise bleibe ich stehen. Der Kutscher wäscht dort die Wagen ab. Er ist ein vorzüglicher Stallmann, Engländer durchaus, der mich auch nur mißvergnügt grüßt. Ich könnte bei ihm fragen, warum die Herzogin per Boot gefahren sei. Ich thue es nicht – ich bin so matt! . . . Ich stehe wohl über eine Stunde bei dem Mann, höre das Wasser rauschen, die Räder surren, der scharfe Geruch von Pferden und Stroh und Wagenlack quillt heraus. Ich könnte wähnen, ich wäre bei uns zu Hause – ich liebte solche Gerüche mal sehr. Was ist mir das Zuhause, die Heimat? – Ich habe keine mehr! Mein Englishman mag denken: ›Dieser schweigende Zuschauer will mich kontrollieren‹ Ich spreche ja auch sonst mit den Leuten nie. Der Mann aber glättet das helle Riemenzeug mit einem verbissenen Lächeln und putzt unwirsch die hellen Silberschnallen am Kopfstück. Vom Souterrain her ruft jemand, der mich nicht sieht, ein französisches Wort – eine englische Antwort knurrt zurück. Ich erwache aus meiner Trägheit, weil ich merke, daß ich hier doch wohl etwas zu lange gestanden.

Als ich die düstere Burgtreppe langsam emporsteige, höre ich einen leisen Schritt. Ich zucke zusammen. Da steht auch schon Félicie vor mir. Sie ist sehr blaß: »Wo sind Sie gewesen?« fragt sie hastig. »Ich suche bereits im Schlosse eine Stunde – ich habe sogar dreimal an Ihrem Zimmer geklopft, was sehr unvorsichtig. Jetzt wollte ich nach Ihnen im Garten suchen – Ich fürchtete schon. Sie hätten etwas Unglaubliches gethan – diesmal an sich.« . . .

Ich kann im Moment nicht antworten. Ich kann sie nur ansehen.

»Aber ich reise jetzt gar nicht weg – erst spät abends. Alles ist umgeändert.«

Ich zittere beinahe – mich durchrieselt ein solches Gefühl von Glück, von wonniger Urkraft . . . Hast Du das jemals gefühlt, Gert? . . . Und wenn der Tod auf der nächsten Stufe lauerte – es ist so schön! – »Angebetete Félicie!« sage ich endlich.

Da lächelt sie auch. Sie hatte wohl vorher für mich gebangt und bei meinem Anblick sich ein wenig geärgert über ihre grundlose Angst. Jetzt fühlt auch sie die Macht meines großen Gefühls . . . Ja, ich habe eine Macht über sie.

Aber sie fürchtet diese Macht, sucht sie immer schnell abzuschütteln. Darum sagt sie hastig: »Den ganzen Vormittag können wir hier unmöglich stehen bleiben! Ihr Frühstück wartet. Ich werde Ihnen sogar Gesellschaft leisten. Kommen Sie schnell! . . . Es ist unvorsichtig, es ist thöricht – was thut's? Ein Augenblick gelebt im Paradiese . . .« Ja, wenn's nur mit dem Tod erkauft wäre! Ich fürchte mich vor dem knochigen Herrn wahrhaftig nicht. Es soll mit einem Male vorbei sein – meinetwegen in dem Moment, wo die herzogliche Jacht einläuft. Leben heißt büßen – sterben nie! In der Halle muß ich trinken, essen, rauchen. Sie ist eine strenge Hausfrau für ihre Gäste, die Herzogin. Ich soll meine Nerven konservieren und meinen Magen. »Sie müssen blind gehorchen, mein Herr! . . . Was machen Sie nachher mit einem kranken Körper? Gewissensbisse möchte ich Ihretwegen nicht haben – dazu denke ich viel zu sehr an Ihr Glück . . .«

Und Glück habe ich doch! Der Duc kommt noch einen Tag später, die Schiffszimmerleute in Nizza scheinen mit uns im Bunde. Die Marquise ist heute in Genua, wünscht aber bei ihrer abendlichen Rückkunft die reizende Nichte unbedingt vorzufinden. Ich grolle mit dieser widerwärtigen Tante. Félicie tröstet mich: »Ich kann dann schon mit dem Nachmittagszuge zurück sein. Es ist zwar ein furchtbarer Zug, der überall anhält. In der ersten Klasse kein Mensch, nicht einmal einer von den entsetzlich spuckenden Italienern . . . Eine wahre Tortur in diesen ausgefahrenen Wagen! Dafür haben Sie mich drei Stunden früher.«

Die letzten Worte höre ich kaum noch. Ich bin zerstreut. Ein Gedanke schießt mir durch den Kopf: »Bis zu welcher Eisenbahnstation bringt Sie morgen der Marquisenlandau?«

»Bis Alassio. Es ist eine wunderbare, meilenweite Fahrt längs der Küste, auf die ich mich sonst allein freuen würde, die mir aber morgen allein wehe thun wird. Sie sehen, mein Freund, daß auch ich leide . . . Es giebt freilich noch eine nähere Station – kleines Fischernest – aber da halten die Schnellzüge nicht.«

»Und der Omnibuszug?«

»Der allerdings.«

»Und wenn ich Sie nun fußfällig bitten würde, Mine, gerade in diesem Fischernest einzusteigen?«

»Und was haben Sie davon?«

»Weil ich Sie dort erwarten will, Félicie.«

Sie sieht mich groß an und spricht wie immer in der Bestürzung französisch: »Mais vous êtes fou, mon ami – c'est impossible!«

»Das sehe ich nicht ein.«

»Aber ich! Meine Leute hier würden es merken, der Diener dort würde es merken . . . Das geht nicht – das wäre das Ende! . . . Sie sprechen da auch einen Gedanken aus, den ich nicht mal nachzudenken wage.« Félicie ist sehr entschlossen.

Da lege ich mich aufs Betteln: »Seien Sie doch barmherzig, Félicie . . . Es geht – es geht ganz gewiß! Ich fahre ganz einfach morgen vormittag mit irgend einem Mietwagen die ganze Küste lang bis nach dem Fischernest. Es können bergauf bergab fünfzig Kilometer sein. Lassen Sie es hundert und mehr Kilometer sein – Und wenn ich ein halbes Dutzend von den erbärmlichen italienischen Kracken kaput jagen sollte – um zehn Uhr fahre ich ab, um fünf bin ich zur Stelle. Auf dem kleinen Bahnhof dort bin ich x-beliebiger Tourist, den niemand kennt. Sie kennen mich auch nicht, falls der Diener Sie bis ans Coupé bringen sollte.«

»Aber wenn es jemand merkt, Herr von den Raben?«

»Aber es merkt es niemand!«

Félicie überlegt lange. Zuweilen sieht sie mich forschend an, dann starrt sie ins Leere.

»Es geht nicht, mein Freund!«

»Es geht, Félicie!«

»Es geht unter keinen, keinen Umständen.«

»Wer schon so viel gewagt hat für mich, der zaudert bei dieser Kleinigkeit nur aus lächerlicher Angst vor den Leuten? . . . Nun gut – es mag uns jemand sehen – selbst der Duc – ich kann doch zu guter Letzt in jeden Zug und in jedes Coupé steigen. Nicht einmal Sie, Herzogin, könnten mich daran hindern . . . Sagen Sie nachher: ich sei zudringlich gewesen – oder erzählen Sie's direkt als amüsanten Zufall Ihrem Mann . . . Aber diese Angst vor den Lästermäulern . . .«

Sie unterbricht mich nervös:

»Es sind nicht die Leute, es ist nicht Menschenfurcht – es ist etwas ganz andres!«

»Und?«

»Fragen Sie nicht! Gestehe ich Ihnen den wahren Grund, so mache ich Ihnen vielleicht eine Freude damit – und ich darf Ihnen nicht einmal diese Freude machen!«

»Félicie, dann wenigstens diese Freude!«

»Nun gut– wissen Sie's! Ich habe Angst vor mir selbst! Hier im Schloß und auf der Landstraße bin ich meiner bis zu einem gewissen Punkte absolut sicher. Es bleibt bei Worten, beim Handkuß . . . Aber da draußen – ich weiß nicht – da draußen ist es etwas ganz andres . . . Diese Fahrt ist eine so verbotene Sache, daß Sie sicher etwas ebenso Verbotenes versuchen würden zu thun. Thäten Sie's, so könnte ich Ihnen nie wieder ins Gesicht sehen, Sie müßten auf der Stelle abreisen . . . Wie ich für Sie fühle, wissen Sie genau – doch wegwerfen will ich mich nicht!«

Natürlich habe ich ketzerische Gedanken, und ebenso natürlich lüge ich: »Sie sollen mir ja während dieser Fahrt weiter nichts überlassen als Ihre angebetete weiße Hand, Félicie!«

»Gut! Aber schwören Sie mir, daß Sie nie auch nur den leisesten Versuch machen werden, mehr . . .«

Da werde ich wieder ehrlich: »Das kann ich nicht versprechen, Félicie! . . . Wer so anbetet wie ich, der ist nicht immer Herr seiner selbst.«

»Also, sehen Sie!« antwortet sie leicht gekränkt.

»Aber es liegt doch in Ihrer Hand, Félicie! . . . Seien Sie vernünftig für mich . . .«

»Ich möchte schon.«

»Also ich darf kommen?«

»Nein, nein, Sie dürfen nicht!«

»Félicie?«

»Ach Gott, quälen Sie doch nicht! . . . Die Vernunft – die dumme Vernunft! . . . Ich habe ja noch viel mehr Angst vor mir als vor Ihnen! – Und das soll man nicht mißbrauchen bei einer Frau!«

Was heißt mißbrauchen, Gert? – Kuß heißt Gewalt. Ein erster Kuß wird immer geraubt. Und im Grunde ihres Herzens lassen sich die Frauen doch gerade den so gern rauben! . . . Du hältst so etwas für sündig. Was heißt sündigen, wenn man liebt? . . . Ich will ja gern mein ganzes Leben lang für die Frau betteln gehen – betteln gehen für einen einzigen Kuß!

Gebettelt und gefleht bei ihr selbst – das habe ich genug. Durchgesetzt habe ich's auch, das heißt holen darf ich sie, küssen darf ich sie nicht . . . Und ich werde sie doch küssen!

*

Am Abend frostiger Abschied – die Dienstboten beobachten uns. Den Wagen befiehlt Félicie morgen erst zum Courierzuge an die Bahn. Hat sie unsre Verabredung absichtlich vergessen? Ein letzter verstohlener Blick von der Treppe her beruhigt mich darüber.

Bis Mitternacht schrieb ich an Dich. Schätze meine brüderliche Liebe nicht zu hoch! Indem ich fieberhaft schreibend mich selbst gebe, suche ich mir selbst zu entgehen.

Später habe ich etwas Unglaubliches gethan. Ich bin in ihrem Toilettenzimmer gewesen. Ich schlich wie ein Spitzbube über den Korridor – nicht etwa gemeine Neugier oder noch was Schlimmeres! Ich sehnte mich nur so kindisch nach der Frau – und weil sie fern – wollte ich doch irgend etwas von ihr, wenigstens den Duft des schwarzen Haares, der in dem Gemach vielleicht zurückgeblieben. Er war auch mitleidig zurückgeblieben. Ich spürte so deutlich den feinen, weichen Duft, als ich nachtwandelnd wie Lady Macbeth, das schwankende Licht in der Hand, zum Toilettentisch ging. Das zierlich arrangierte Empiretischchen einer vornehmen Frau mit dem funkelnden Krystall der geschliffenen Flacons und dem gleißenden Silber der Wappenmonogramme. Ein leiser Hauch von Kölnisch-Wasser schwebte darüber. Kein Puder, keine Schminke! – Diese Virtuosin der Natürlichkeit verachtet die häßliche Kosmetik. Alles steht an seinem Platz in jener reizenden Ordnung, die keine bezahlte Kammerjungfer schaffen kann. Vor dem großen Stehspiegel eine lächerlich kleine japanische Vase – ein halbverwelkter Erikablütenzweig darin. Es ist so rührend – ich pflückte ihn ihr neulich in den Bergen – und sie hält Andenken so heilig! . . . Ich liebkose die Vase. Aufblickend sehe ich mich selbst in dem blitzenden Glas. Ich bin doch einigermaßen erschreckt. Meine Liebe macht nicht gerade jung. Das kann ich Dir versichern, Gert! . . . Einen Schritt weiter – und ich wäre im Schlafzimmer gewesen. Aber nein – das nicht! Ich kenne nur aus den Erzählungen des Duc diese uralten geschnitzten Prunkbetten, in denen seit Jahrhunderten die gefürsteten Edeln von Lièges mattlächelnd geboren wurden und mattlächelnd starben. Wunderbare historische Goldbrokatdecken sollen sich über die weichen Polster legen . . . Ich sehe das alles im Geiste sehr genau – und möchte dem Schicksal fluchen . . . Giebt es überhaupt noch einen gütigen Gott?

Den nächsten Vormittag spielte ich den Gelangweilten, interviewte den französischen Diener nach lohnenden Partien. Er gab mir sehr höflich eine erlesene Auswahl. Schon vor neun Uhr trollte ich mich, ohne das Dejeuner abzubestellen. Ich ging in die Berge, das heißt, ich schlenderte unnatürlich langsam bis zur nächsten Felsecke, um dann zu laufen wie ein Flüchtling. Ich hatte wieder Glück. Nach zehn Minuten begegnete mir ein leerer Mietswagen, der von Cannes zurückkam. Eleganter, etwas müder Zweispänner, der noch bis Savona will. Ich engagierte ihn nur für eine kurze Strecke, weil ich mir vorgenommen hatte, die Tour in wenigstens vier Etappen zu machen.

Wie die Fahrt war? . . . Sie gilt für eine der schönsten an der Riviera an einem Sonnentag. Und der Tag ist so klar und so sonnig, das Meer so blau, die zackigen Felshäupter so scharf umrissen wie nur je am Vorabend eines Sturmes. Mein Malerauge sonnt sich nicht daran. Es ist ein fieberndes Vorübergleiten an verstaubten Oliven, weißen Häusern, stummen Parks. Die Ponente hat beinahe Sommer. Von den grauen Mauern wuchern die blauen Glycinien, Palmen rascheln, Cypressen starren, blühende Obstbäume recken sich wie weiße Riesensträuße heraus – zuweilen schwankt auch ein schlanker, blattloser Blütenzweig in dem zarten Hellviolett des echten Frühlings. Viele Wagen mit Vergnügungsreisenden begegnen mir, oder ich überhole sie. An den Schlägen glänzen die aufdringlichen Namen großer Hotels. Die Leute lehnen im Fond, das trunkene Auge starr auf das blauende Meer gerichtet, auf dem ein kleiner Küstendampfer träge dahin zieht; andre plaudern glückselig. Ich höre helle Frauenstimmen, sehe helle Kleider. Die Jugend schwelgt in Lust und Frühling – nur ein bildhübsches, blasses Mädchen träumt. Was interessiert's mich?! . . . Ich sehne mich nach einem seegrünen Kleid, nach kranken Lippen, einem kranken Lächeln. Darum zieht mir alles andre vorüber, verschwommen wie ein Traum – die Eindrücke, die Gedanken – im schläfrigen Aufblinken. Auch meine Sinne haben nur noch Kraft für die eine. – Von den Ortschaften kommen Kinder gelaufen, nackte Füße trippeln, armselige Aermchen mit Veilchensträußen und wilden Rosen strecken sich flehentlich zu mir. Betteln – klagen – gierige Dunkelaugen. Der italienische Kutscher läßt gleichmäßig die Peitsche auf die mageren Pferderücken fallen. Mitleid kennen hier nur die Fremden. Ich kenne es auch nicht mehr. Ich sehe nach der Uhr – es ist noch so früh. Ich könnte Stunden verschwenden mit vollem Recht und halte doch die eine verlorene Sekunde, die der Wechsel von Veilchenstrauß und Soustück beansprucht, für einen Frevel. Ich habe nicht mal Zeit, den Beutel zu ziehen. Nur immer vorwärts! Die Peitsche knallt, die Pferde traben schärfer. Hinter uns jammern die Enttäuschten. Ich kann heute nicht mitleidig sein, ich darf es nicht einmal – ich habe ein Ziel. Wenn die Pferde unterwegs niederbrächen, wenn eine Steinbrücke zusammengestürzt wäre oder ein Schieferberg über die Straße gerutscht! Meine Phantasie sieht alle diese Möglichkeiten. Ich berechne, ob ich dann noch laufend das Nest erreichen könnte. Indessen rollt der Wagen weiter – bergab mit quietschender Bremse und stolpernden Pferden, dann quält sich's bergauf, die Pferderücken gekrümmt, die Last schwer . . . Blaue Buchten . . . Wilde Kaps – Rauschende Pinien oben – rauschendes Meer unten. Es ist so einzig schön! Die Empfindung dafür entfliegt mir rasch. – Es geht durch die elenden Küstenorte mit ihren dumpfen Gassen, ihren schattigen Bogengängen, ihrer schweren Atmosphäre von Schmutz und Alter und finsterem Glauben. Die losen Eisen klappern auf dem harten Pflaster. Dann wieder ein schmaler Durchblick – eine flimmernde, dunstige küstliche Bläue: die See. Morsche Kähne sind auf den Sand gezogen, Burschen spielen, die Bocciakugel rollt, der Geruch von salzigem Wasser und faulenden Fischen dringt herüber . . . Es geht durch die großen Kurorte, wo das hohlwangige Schwindsuchtsgeschlecht auf Ruhestühlen an den Promenaden liegt, das müde Gesicht nach der Sonne, die Lungen rasselnd in dem aufwirbelnden Staub. Und dicht daneben eine schlendernde, lässige, elegante Welt, die sich amüsiert, flirtet. Ich sehe Toiletten, so chic oder so gesucht wie bei einer Nachmittagsrundfahrt im Bois de Boulogne. Elegante Läden mit Riviera-Erinnerungen: den fremden Muscheln, den matten Spitzen, den bunten Seidentüchern, den bemalten Spielereien aus braunem Olivenholz. – Ach, sie hat zwei so verschiedene Gesichter, die goldene Riviera! Ein hübsches, lächelndes, oberflächliches – und ein krankes, müdes, elendes. Ich fahre durch das alles mitten hindurch, mich interessiert nichts. Ich bin ja so jung, so glücklich, der Himmel liegt vor mir, ich fahre ihm fiebernd entgegen, und die leuchtende Natur lächelt mir Beifall. Und vielleicht bin ich selbst ein Kranker, der Kränkste von allen, einer von den wirklich Unglücklichen, deren Weh keine Sonne mehr zu vergolden vermag, bis es endlich die eigne Kugel endigt . . . Wozu die thörichten Gedanken? Ich fahre ja dem Glück entgegen . . . dem Glück!

Ich habe bereits dreimal den Wagen gewechselt, die italienischen Kutscher angetrieben, daß sie die ausgemergelten Gäule bis aufs Blut quälten. Ich liebe Tiere, galt im Regiment als Pferdenarr – und heute könnte ich selbst die verendenden Pferde wieder aufpeitschen, die frischen zu Schanden jagen, ohne einen Schimmer des Mitleids – nur mit dem verbissenen Blick nach meinem Ziel. Das Glück ist hartherzig, Gert . . . Da drüben hinter jener schmalen Bucht schimmert das Nest endlich vor. Es ist drei Uhr. Ich habe eine wahre Gewaltfahrt hinter mir, an die die Tiere noch lange denken werden. Jetzt sind die neuen gute, ausgeruhte Pferde, die mich spielend ans Land bringen müssen. Da geht das Glücksfieber – der Zweifel kommt . . . ›Ob sie überhaupt kommen wird? – Sie wird sicher nicht kommen! . . . Ob sie mich wirklich lieb hat? – Sie spielt nur mit mir!‹ . . . Ich, der ich doch so vieles hinter mir habe, kann auf einmal nicht begreifen, daß einen häßlichen Kerl eine schöne Frau doch lieb haben kann. Und jetzt geht's mir beinahe zu rasch. Die letzten Strecken im Leben sind wohl immer furchtbar kurz oder furchtbar lang . . . Wir sind wahrhaftig schon in der Stadt! Eine alte Jungfer mit einem Malkasten und emanzipiert geschnittenem Haar tritt ausweichend zur Seite und sieht dabei feindselig nach dem gehaßten Mann. Sie ist von unangenehmer Häßlichkeit – hat also ein gutes Recht auf Emanzipation und Männerhaß. Ich muß lächeln. – Ihr andern aber, ihr hübschen Mädchen und hübschen Frauen, seid ihr wirklich so thöricht, in eurem gleichen Recht das Heil zu erblicken? Seid ihr erst uns gleich geworden – ohne Schwäche und ohne Korsett – was seid ihr dann noch? Eure Schwäche ist eure Macht – sie ist uns heilig. Und ihr wollt thöricht das hergeben, was euch zu den Despoten unsrer Herzen und Sinne macht? Félicie liebt die Emanzipation sicher nicht. Sie gängelt mich mit einer weißen, kranken Hand – und gängelt mich so gut! . . .

Der Kutscher beugt sich zu mir herüber: »Alla stazione, Signore?«

»Si, alla stazione.«

Kaum hab' ich's gesagt, da thut's mir auch schon leid. Wenn der Wagen jetzt nicht in diese kleine Seitengasse abböge, wenn ich immer weiter und weiter führe, immer die Pferde wechselte, eigensinnig und doch ohne irgend ein Ziel, bis ich zusammenbräche in tödlicher Ermattung? Der Schlaf danach wäre mir vielleicht Heilung . . . Denn es ist kein Spiel, keine Episode, keine Erinnerung, wie Félicie wähnen mag – ich will mehr, ich will alles, ich will sie selbst, ich will das Glück! . . . Du darfst mir schreiben, Gert, wenn Du mir helfen kannst. Sag, hat mein Glück große Opalaugen und eine kranke Hand und wartet auf mich in einem seegrünen Kleid? – Die Vorsehung narrt uns nur zu gerne, hüllt auch das Verhängnis in lockende Gewänder unter lockenden Formen – und wir eilen diesem Verhängnis nach mit lechzenden Lippen und fiebernden Sinnen . . . Und wenn's das Verhängnis wäre, Gert – und wenn ich's genau wüßte: ich kann nicht mehr entfliehen, ich will's auch nicht mehr.

Ich rufe noch einmal dem Kutscher zu: »Alla stazione!« – Ich rufe es bewußt – denn ich fahre bewußt dem Verhängnis entgegen.

Der Bahnhof ein steinerner Kasten mit schmutzigen Wartesälen und faulenzenden Facchini. Sonst keine Menschenseele. Auf den Perron darf man erst in der letzten Minute – und es fehlt noch eine gute Stunde bis zum fälligen Zug. Die ruhelose Wanderung der Menageriebestie beginnt wieder. Die Station liegt hoch, hat eine einzige Zugangsstraße. Wenn der Duc auch auf Besuchsgedanken gekommen ist und ich plötzlich den Marquisenlandau erblicke – im Fond die beiden vereint – ich könnte nicht mal entfliehen. Ich müßte in den Gepäckschuppen oder auf die Treppe zur Vorsteherwohnung retirieren, aus welchen zweifelhaften Zufluchtsorten mich ein lächerlicher Zufall vertreiben könnte. Die Lächerlichkeit galt mir stets als das Schlimmste. Auf jeden Fall aber wäre dann unsre Beziehung entdeckt. Denn ich könnte dem Duc doch unmöglich weismachen, ich sei aus purer Marotte die sechzig Kilometer und mehr abwechselnd Galopp und Trab gefahren, bloß um ausgerechnet in diesem ganz uninteressanten Fischernest wieder in einen Bummelzug zur Rückkehr zu steigen. Und Félicie? – Ich fühle, daß auch der leiseste Verdacht auf sie mir furchtbarer ist als eine eigne entsetzliche Tortur. Allmählich wird's auch lebhafter. Ein paar elende Droschken kommen den Berg hinaufgekrochen und versuchen mit mir: »Mousiu . . . caballo . . .« gutes »caballo« zu accordieren. In den Güterschuppen schleppen Blusenmänner Apfelsinenkörbe, und der unrasierte, würdige Stationsvorsteher sieht zu. Die Sonne funkelt. Der hoch ummauerte Park eines italienischen Nobile grüßt mich jenseits der Geleise mit rauschenden Palmen und fruchtbeladenen Orangenbäumen. Ich verstehe heute die glückselig lächelnde Natur doch nicht recht. Ich würde auch keinen Glücklichen verstehen, weil es doch für alle nur das eine Glück geben kann – und das erwartet mich doch allein. Ueber einen Unglücklichen würde ich wiederum die Achseln zucken, weil doch eigentlich niemand auf dieser Erde unglücklich sein kann, weil mir selbst das Glück winkt. Dann werde ich wieder kleinmütig. Wenn sie Gewissenszucken bekommen hätte, nicht käme? . . . Und ich erwarte sie doch so sehnsüchtig und habe sie doch so unsinnig lieb! . . . Wieder ein keuchender Droschkengaul, Leute, die mit dem Zuge weg wollen. Der Billetschalter drin wird geöffnet. Sie kommt doch nicht . . . Mir wird so trostlos zu Mute wie einem verlassenen Betteljungen . . . Ich Kleinmütiger – mir winkt ja schon das Glück!

Der scharfe Trab herrschaftlicher Pferde – ein hoher, gelber Jagdwagen – ein seegrüner Hut und ein seegrünes Kleid, der helle Sonnenschirm leuchtet. Sie ist es wirklich! Ich trete in das Bahnhofsgebäude, höre, wie draußen der Kutscher tadellos pariert. Der Diener springt vom Bock . . . ein paar helle, italienische Worte von einer geliebten Stimme: »No, no, grazie!« Der Wagen wendet langsam. Wieder der scharfe Trab, diesmal bergab. Félicie tritt schnell in den Bahnhof. Ich gehe auf sie zu: »Félicie, angebetete Félicie . . .«

»Guten Tag . . . so seien Sie doch vernünftig!«

Ihre Angst ist unnötig, auf dieser verlassenen Station stört kein verdächtiges Gesicht.

»Sehen Sie, ich bin doch gekommen, mein Freund! Was ich verspreche, halte ich stets.« Wie ich mir jetzt das Billet nehme, bebt die Hand, die die Lirescheine aufzählt. Félicie sieht das. Sie ist ein wenig verlegen, unsicher in dieser ganz ungewohnten Situation. Sie möchte mir gar nichts erlauben. Ich darf ihr nicht einmal die Hand küssen.

»Nein, nein – ich habe Angst vor Ihnen! Sie werden doch etwas Schlimmes thun.«

Und da werde ich sicher vor freudiger Aufregung: »Félicie, was werde ich Ihnen denn thun, als Ihre kleine Hand küssen und wieder küssen und Ihnen sagen und wieder sagen: ,›Sie angebetetste der Frauen! . . .‹« Ich werde ja nichts Besseres wissen, weil es doch das Beste sein muß für dieses kleine Ohr.

Sie wehrt sich. »Ich fahre Damencoupé – oder wo noch andre Menschen sind!«

»Félicie!«

»O, Sie haben so etwas gewiß schon oft hinter sich! Ihnen ist das Verbotene eine häßliche Freude! . . . Ich fühle mich hier so gewöhnlich, beinahe erniedrigt. Ich bin schlecht – ganz gewiß schlecht! . . . Und daran sind Sie schuld, mein Herr.«

Ich aber fühle mich ganz rein, weil es kein gemeines Sündigen ist, weil ich nur das große Gefühl für diese Frau fühle.

Die Wartesäle werden geöffnet, wir gehen rasch hinaus auf den Perron, Mit argwöhnischem Blick jeden anständigen Anzug musternd. Auch hier giebt's keine Verräter oder Feinde. Félicie, die vor Angst zittert, merkt das wohl auch – der Zug läuft ein. Es ist ein schwerfällig schwankender Zug, mit gefüllten dritten Klassen und einem einzigen Waggon erster. Kein Mensch drin. Mein Glück! Denn die großen Opalaugen der geliebten Frau suchen ängstlich nach diesem einen Reisenden wie nach einem rettenden Engel. Beim Einsteigen drücke ich dem Kondukteur einen Doppelfranken in die Hand. Die Thür klappt zu. Félicie sieht mich feindlich an: »Wozu das Trinkgeld? Ich hab' es wohl gesehen!«

»Weil wir doch allein sein wollen.«

Da schreitet sie rasch nach der andern Seite des Coupés und beugt sich mit ihrem schmiegsamen Körper so weit heraus, daß ich rufe: »Um Gottes willen!«

»Ich stürze mich hinaus – ich stürze mich ganz gewiß hinaus!«

Félicie ist so nervös und aufgeregt, daß ich in diesem ängstlichen Mädchen die tadellos sichere Dame der großen Welt kaum wiedererkenne. Und so, wie sie jetzt ist, ist sie ja noch viel reizender – das Gesichtchen rosig, die großen Opalaugen in flimmernder Angst – und dabei so warme, schöne Augen! So warme Augen sah ich nie bei einer andern Frau. – Der Zug rasselt ab. Vom Park drüben blinzelt zum Abschied eine goldene Orange. Und jetzt, wo wir im Freien sind, wird Félicie ruhiger. Wir haben noch zwei Stunden Fahrt vor uns. Ich sollte die Gewissensflut ruhig abebben lassen. Ich kann es nicht. Ich fiebere ja selbst so sehr! Ich habe bei jeder schwerfälligen Drehung der Räder das Gefühl: wieder eine unwiederbringliche Minute ungenutzt verstrichen! – Félicie ist im Polster zurückgelehnt, die Augen halb geschlossen, und atmet schwer. Das schwarze, schlichte Haar flattert ein wenig verwirrt. Nach einer Weile sehe ich sie lächelnd an. Sie lächelt wieder. Ein ganz leises sündiges Verstehen liegt in unser beider Blick. Es sieht beinahe aus, als wenn wir auf der Hochzeitsreise wären . . . Ja, eine Hochzeitsreise mit ihr – eine Hochzeitsreise, die nie kommt! . . . Warum kommt sie nie? . . . Liebt Félicie mich auch nur den hundertsten Teil so stark wie ich sie, dann ist sie eines großen Entschlusses fähig, dann ist sie frei . . .

Heute reichen meine Gedanken so weit. Während der Fahrt war ich schon glücklich, als ich endlich neben ihr sitzen durfte und ihre weiße Hand fassen und sie mit Küssen bedecken. Ich spreche leise zu ihr. Es ist das thörichte Stammeln der Leidenschaft, das sie von ihrem korrekten Duc nie gehört haben mag. Man findet nie das richtige Wort und wird doch immer verstanden. Ich möchte uns beide in den Traum wiegen, daß wir auf unsrer wirklichen Hochzeitsreise sind, daß wir uns von Rechts wegen gehören, daß die Sonne nur für uns lächelt, die See nur für uns blaut.

Sie lauscht, betäubt sich, schweigt.

Endlich sagt sie, auch gefangen von dem holden Wahn: »Eh bien, mon ami, nous sommes mariés pour deux heures, mais nous sommes mariés.«

Sie hat mir das schon einmal gesagt, als wir ein heikles Thema berührten – aber das war im Schloß, im Bann der Tradition. Hier klingt es so anders, so bethörend! . . . Ich muß sie küssen.

Ich habe die Hand um ihre lächerlich schlanke Taille gelegt. Sie zittert nervös, beide Hände krampfhaft vor dem Gesicht, und murmelt kaum hörbar: »Ich springe zum Fenster heraus, ich springe heraus!« – Aber sie springt nicht. Ich küsse die Finger, fiebernd, toll – ich will ihr die Hände wegziehen vom Gesicht. Ich kämpfe, ich brauche Gewalt.

»Nie, nie, nie!« Die Schwache ist jetzt so stark, obgleich ihr die Finger beben.

»Félicie, angebetete Félicie.«

Bis sie endlich matt geworden flüstert: »Thun Sie es nicht! Uns kann das nicht gut sein – Ihnen ganz gewiß nicht!«

Die kleine, praktische Vernunft! Gewiß ist es uns beiden nicht gut! Aber wer immer danach fragen wollte im Leben? – Ich muß sie küssen – und sollten wir beide an diesem einen Kusse sterben. Ich bin eben von Sinnen.

Da pfeift es kurz. Ein Tunnel kommt. Der dicke Lokomotivenqualm schlägt durch das geöffnete Fenster ins Coupé. Félicie springt geängstigt auf: »Nein, nicht hier, nicht hier! Es ist so häßlich.«

Und in diesem Tunnel und in diesem Qualm habe ich sie geküßt. Es war nur das blitzschnelle Berühren eines sofort Zurückgestoßenen – aber es waren dennoch ihre süßen, kranken Lippen, die sich im Kampf aufeinander gepreßt hatten.

Dann eine Station. Der Perron gedrängt mit gewöhnlichem Volk. Wir sind wieder verständig, rücken weit voneinander weg. Sie ordnet sich das entzückende, wirr gewordene schwarze Haar, steckt den grünen Strohhut mit der Nadel zurecht . . . »Wenn jetzt jemand hereinkäme! . . . Mein Gott, ich schäme mich so sehr . . .«

Doch es kommt niemand. Der Zug gleitet wieder stampfend durch ein schmutziges Nest mit verwahrlosten Gärten und wehenden Wäschefetzen auf den rostigen Balkons.

Félicie sagt nur: »Aber thun Sie es nie wieder – nie wieder!«

»Aber Félicie, sei doch barmherzig, ich kann ja nicht anders, ich habe dich ja so lieb!«

Und wieder der Kampf und die Abwehr – und der flüchtige, glühende, geraubte Kuß. Es ist zum Ersticken heiß im Coupé; unsre Gesichter sind heißer. Félicie schämt sich, schmollt. Ich bin ihr ein häßlicher Barbar – und doch haben die Frauen solche Barbaren gern. Ich habe ihr doch wohl den Zaubertrank des großen Gefühls eingeflößt, den ihre dürstenden Lippen immer wieder verzweifelt wegstießen, dann aber tranken – so widerwillig und so gern!

Drei Viertel des Weges haben wir hinter uns, sie sind dahingesaust wie ein Meteor in diesem elenden Bummelzuge . . . Liebt mich Félicie? Warum murmelt sie denn immer wieder: »Wird Ihnen das auch gut sein? Muß das nicht schrecklich enden für uns beide?«

Ihre holden Lippen könnten auch einmal das »Du« der Liebe flüstern in schönem Selbstvergessen. Sie flüstern es nicht.

»Verlangen Sie von mir, was Sie wollen, aber das kann ich nicht! . . . Ich schäme mich ja so!«

Ich habe gebettelt und gefleht um dieses letzte Almosen. Ich selbst darf das »Du« sagen, weil das »Sie« lächerlich wäre einer Frau gegenüber, die man küßt, so küßt! – Gert, sie ist gut und schön, und was sie sündigt, das sündigt ein großes, unbefriedigtes Herz. Sie hat vor mir noch keinen fremden Mann geküßt – kein Fehltritt – kein Flecken – nur der tötende Gewohnheitskuß des eignen Mannes, der sie nicht versteht, vielleicht nicht mal liebt . . . Sag mir, liebt sie mich, Gert? – Oder ist's nur das Neue, Große, das sie für den Augenblick betäubt, weil es so mächtig? . . . Wenn sie mir nur Sonnenschein sein will für die kurze Zeit – solcher Sonnenschein ist im Grunde doch Mitleid, und das habe ich nicht verlangt. Den Tod nach dem Genuß will ich gern – doch die Finsternis eines ganzen Lebens hinterher ertrage ich nicht . . . Begreift sie denn, was ein Mann giebt, der alles giebt, der gern für sie leiden, bluten, sterben will – der in dem Wirbelsturm der Sinne sich aber nicht selbst verlieren darf, sondern sich selbst finden? Eine Sünde kann ganz gut groß sein, wenn sie sich zur großen That auswächst. Sie bleibt klein und erbärmlich, wo es bei der Episode bleibt, dem Augenblicksrausch.

Es kommen nur noch zwei Stationen. Man soll die Zeit nützen im Guten wie im Schlimmen. Félicie soll mich einmal küssen – nur einmal!

Und sie hat mich geküßt – rasch, heiß, ein fiebernd Sündigen, das die Lippen zu den Lippen zwingt und sie jäh voneinander reißt: »Aber das ist ganz gewiß nicht gut – das ganz gewiß nicht!« Darüber kann sie scheinbar nicht hinaus.

Der Zug pfeift wieder. Während er langsam einfährt, sagt Félicie, die aufgestanden ist, mit ihrer reizenden Vernunft: »Jetzt müssen wir wirklich verständig sein, mein Freund – wir wollen nämlich hier aussteigen, die letzte Strecke zu Fuß gehen. Das habe ich mir ausgedacht. Der letzte Tag gehört Ihnen ganz. Darum habe ich auch den Wagen erst zum Kurierzuge bestellt . . . Morgen ist alles zu Ende – alles!«

Diese Station ist noch neu – eine aufschießende Rivalin der großen Modebäder. Die aristokratischen Bekanntschaften der Herzogin verirren sich ebensowenig hierher wie meine Leute. Auf dem Perron bleibt Félicie in schwermütiger Träumerei stehen. Sie schaut einem Kinde nach, das von der jungen Mutter in ein Coupé dritter Klasse gehoben wird. Ein gelähmter Körper, ein krankes Gesicht mit müden, weichen Braunaugen.

Félicie denkt an ihr eignes Kind. Darum thun ihr die Leiden dieses fremden weh . . . Wie sie im Augenblick dasteht, so schlank, so zierlich, mit der unendlichen Güte im umflorten Blick – da ist sie Weib, Mutter mit siechem Herzen . . . Wir sprachen nie davon – aber jetzt weiß ich's, daß sich der tote René allnächtlich wie ein Gespenst zwischen den beiden Prunkbetten des Schlosses aufrichtet. Dieser Tote scheidet mit seinem sterbenden Kinderauge unerbittlich eine Ehe, die aus Schwäche, Gewohnheit oder mißverstandenem Martyrium sicher nie geschieden wird. Sonst hätte es Félicie bei dem Duc nicht so lange ausgehalten . . . Glaube mir, Gert, das Elendeste von allem, die morsche Tradition, ist auch hier stärker als unsre mächtigsten Gefühle! . . . Und doch, gerade im Anschauen dieses kranken, fremden Kindes begreife ich das nie Begriffene: welch hohes Glück es doch sein muß, ein geliebtes Kind zu haben von einer geliebten Frau. Mag es krank sein, ein Sorgenkind – es ist aber ein Kind der Liebe. Wir finden uns in ihm sicher wieder – unser eignes großes Glück, unser eignes großes Weh. Die Liebe schafft Wunder. Daß ich so fühle, ist eins davon . . . Ein geliebtes Kind – eine geliebte Frau . . .

Ich habe Félicie auch davon gesprochen. Sie versteht mich ohne Erröten, weil sie thörichte Prüderie verachtet. Sie lächelt: »Ach ja, ein Kind – ein geliebtes Kind! . . . Aber sprechen wir nicht davon! Es wird nie sein, es kann nie sein . . .« Manchmal verstehe ich die Frau doch nicht ganz. Sie bleibt vernünftig auch im thörichten Traum. Die ganze Sache war bald vorüber – als rosige Wolke am Horizonte aufgestiegen, als graue spurlos im Meer versunken. Félicie hat das richtige Gefühl, daß man an solchen Tagen nicht grübeln darf.

Es war ja auch ein so wunderschöner langer Weg am Meer. Die Felsbrandung rollte fast zu unsern Füßen. Sie peitschte in kleinen, weißen Springstrahlen den Stein. Wo sie gischtend, lüstern den Flachstrand hinauflief, hatte beim Zurückfluten das Knirschen der winzigen Sandkörner einen fast musikalischen Klang. Wir blieben oft stehen und freuten uns an dem Laut. Und sahen dann wieder in den schwarzen Felslöchern den Schaum stockig rieseln . . . »Wir wollen heute lustig sein, mein Freund, wir wollen genießen!«

Und wir genießen. Wir finden uns endlich ungewollt auf der alten Klippe wieder, wo mich die Vorahnung des großen Gefühls überkommen in der heiligen Nacht, mit dem heimlichen Nagen der Brandung am Fels, und wo die Brandung dann als zierliche Schaumschlange um die Klippe gespielt und größer und größer geworden . . . Die Fischer prophezeien für morgen spätestens Sturm. Wenn dann die schaumgekrönten Wellenberge sich brüllend über die Klippe stürzen, sie überfluten, erschüttern, wegreißen wollen in unverständlicher Wut? – Die leblose Klippe hat's gut. Auch die stärkste Brandung kommt und geht und entreißt ihr höchstens ein winziges Stück: Ich bin weit schlimmer dran. Die Brandung eines großen Gefühls hat mich erfaßt und läßt mich nimmer. Und kommt erst der Sturm, dann vermag nur ein Wunder den verlorenen Schwimmer lebendig auf die rettende Küste zu heben. – Es giebt keine Wunder, Gert! Auch im Zenit meines Glückes heute weiß ich das genau. Ich will auch nicht mehr betteln bei der Vorsehung. Wenn sie dem ehrlich Ringenden nicht doch giebt, was er will, dann mag sie's behalten! Andre schmettert solche Welle unkenntlich in Splittern an den Stein – mich aber wird sie als Wrack anspülen, als lebendigen Toten.

Félicie bleibt fröhlich, weil sie es sein will. Sie hat für morgen auch Sturm prophezeit – und sieht doch mit leuchtendem Blick ins Weite, wo eine fahl gewordene Sonne tückisch blinzelnd ins Meer kriecht.

Auf der See kein Segel! – Sie fürchten alle den Orkan. – Nur wir zwei beide bleiben auf der schwarzen Klippe . . .



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