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Der Hamburger Schnellzug fuhr von Rheinbeck aus an der Bahnstation Friedrichsruhe vor, um hier einige Augenblicke zu halten. Unter den wenigen Personen, welche den Zug verließen, befand sich ein Mann von etwa fünfundvierzig Jahren in einem einfachen Reiseanzug; ein Diener nahm ihm das Handgepäck ab und beschäftigte sich dann mit dem Koffer, welcher aus dem weiterfahrenden Zuge auf den Perron gestellt war. Der Reisende, den man bei der Einfachheit seiner Erscheinung für einen Geschäftsmann oder einen Gutsbesitzer der Umgegend hätte halten können, wenn nicht sein etwas blasses, feines Gesicht ein vielseitig geistig bewegtes Leben und zugleich jene vornehme Ruhe und überlegene Sicherheit ausgedrückt hätte, welche den höchsten Gesellschaftskreisen eigentümlich ist, sah einige Augenblicke wie suchend auf dem Perron umher; schnell nahte sich ihm ein junger, hoch und schlank gewachsener Mann, der ihn mit ehrerbietiger Artigkeit begrüßte und in französischer Sprache zu ihm sagte:
»Mein Vater hat mich beauftragt, Eure Exzellenz zu empfangen. Er ist sehr dankbar, daß Sie den Umweg haben machen wollen, um ihn in seiner ländlichen Einsamkeit zu besuchen.«
Ein leichtes Lächeln voll feiner, kaum merkbarer Ironie spielte um die Mundwinkel des Fremden, indem er mit wohlwollender Herzlichkeit die Hand des jungen Mannes drückte und seinen klugen, scharfen Blick über dessen männlich kräftiges, frisches und doch ernst-sinniges Gesicht gleiten ließ.
»Für einen Diplomaten«, sagte er, »ist es heute fast ein Umweg, wenn er die europäischen Hauptstädte berührt, um nach der Waldeinsamkeit von Friedrichsruhe zu kommen, denn hier laufen ja die Fäden zusammen, welche das Schicksal von Deutschland beherrschen und die Bewegung der europäischen Politik mit mächtigem Einfluß bestimmen; fast wird man an die graue Vorzeit erinnert, in welcher die alten nordischen Götter auch in der dunklen Tiefe der Eichenhaine wohnten und die Priester und Könige in unnahbarer Waldeinsamkeit begeisterten, das Los der Völker zu leiten.«
»Nun,« sagte der junge Mann, indem er den Fremden nach der andern Seite des Bahnhofsgebäudes hinführte, »die Kräftigung und geistige Erfrischung bietet die Frische der Wälder heute noch, wenn auch die alten Götter nicht mehr darin wohnen, meinem Vater ganz besonders, der so empfindlich ist für die nervöse Unruhe und Aufregung des Treibens im Mittelpunkt der Geschäfte und der Gesellschaft; er erholt sich jedesmal sichtlich in der Natur, und wenn er nur an seine Gesundheit zu denken hätte, so wäre es fast seine Pflicht gegen sich selbst, jenem Treiben immer fern zu bleiben.«
»Das wäre ein Unglück, ein großes Unglück,« rief der Fremde lebhaft, »ein Unglück für Deutschland, ein Unglück für uns und für die ganze Welt! Nicht wahr,« fragte er mit einem unruhig forschenden Blick, »er denkt nicht daran? Die Krisis, von welcher die Zeitungen so viel sprachen, wird keine ernsten Folgen haben?«
»Mein Vater«, erwiderte der junge Mann ein wenig zurückhaltend, »wird stets seine Pflicht gegen das Vaterland und gegen den Kaiser höher stellen, als die Sorge um sich selbst; er hat seinen Wunsch, sich ganz von den Geschäften zurückzuziehen, jener Pflicht geopfert und wird in einem längeren Urlaub seine Kräfte stärken.«
Sie hatten einen offenen Wagen mit der Livree des Fürsten Bismarck erreicht; der Diener öffnete den Schlag und Graf Peter Andrejewitsch Schuwalow, der russische Botschafter am großbritannischen Hofe, stieg mit dem Grafen Herbert Bismarck ein, um durch die frühlingsfrische Landschaft nach dem nahen Walde hinzufahren, in dem sich der Weg bald verlor, während sein Diener das Gepäck auf einen Fourgon lud, der dann dem Wagen der beiden Herren schnell folgte.
Nach kurzer Fahrt durch den wunderbar herrlichen Sachsenwald, während welcher der russische Diplomat jede Berührung des politischen Gebietes sorgfältig vermied und nur leicht und heiter über die Schönheit des Waldes, die Jagd und einige wirtschaftliche Etablissements, an denen der Weg vorüberführte, plauderte, fuhr der Wagen vor dem Schlosse vor, das diese Bezeichnung mehr seinem Herrn, als seiner Ausdehnung und Bauart verdankte. Es war ein ziemlich einfaches Gebäude mit kleinem Mittelbau und zwei Giebelflügeln, welches der Fürst aus einem früheren Gasthaus, das den Namen Frascati führte, hatte ausbauen lassen und das freundlich unter den mächtigen Bäumen des alten Waldes dalag, wie der stille Sitz eines Mannes, der weitab von dem Geräusch der großen Heerstraße des Lebens in ruhiger Zurückgezogenheit seine Arbeit der Pflege seines Bodens widmet.
In einiger Entfernung von dem Eingang zum Schlosse ging der Fürst, mit dem sich die ganze politische Welt der Diplomatie, der Parlamente und der Presse so eifrig beschäftigte, langsam auf und ab, gefolgt von einer riesigen Dogge, welche ihre Schritte genau den Bewegungen ihres Herrn anpaßte. Der Fürst hatte nicht mehr jene schlanke, sehnige Gestalt, unter der man ihn in früheren Jahren und noch während des französischen Krieges gekannt hatte; sein Körper war stärker, mächtiger und dadurch auch in seinen Bewegungen etwas schwerfälliger geworden, aber seine ganze Erscheinung ward dadurch nur noch imponierender, gewaltiger und majestätischer; sein Schnurrbart war fast ganz weiß, die Züge seines Gesichts, tief gefurcht, zeigten die Spuren schwerer geistiger und körperlicher Anstrengung. Das Alter hatte auch dieser Riesennatur seinen Stempel aufgedrückt, aber nur äußerlich, man sah, daß die alles beherrschende und zerstörende Zeit über den inneren Kern dieses eisernen Mannes keine Macht gewonnen hatte, und unter der Krempe seines großen, weichen Filzhutes blitzten die stahlgrauen Augen so geistesfrisch und willenskräftig hervor, als ob das Feuer einer unvergänglichen Jugend sie durchleuchte. Neben dem Fürsten ging sein vertrauter Mitarbeiter, der Geheimrat Lothar Bucher, in fast allem ganz das Gegenteil von der Erscheinung des Fürsten, um einen Kopf kleiner als dieser, mager, ein wenig gebückt und noch älter erscheinend, als er war, mit seinem blassen, kränklichen Gesicht und seinem grauen Bart – aber auch aus seinen Blicken funkelte und blickte trotz des mürrischen Ausdrucks seiner Züge ein jugendfrischer, durch keine Arbeit ermüdeter und abgestumpfter Geist.
Als der Wagen vorfuhr, eilte der Fürst mit schnellen Schritten, welche an die Elastizität, seiner früheren Jahre erinnerten, heran und schüttelte dem rasch aus dem geöffneten Schlage springenden russischen Botschafter herzlich die Hand.
»Ich danke Ihnen, mein lieber Graf,« sagte er mit der verbindlichen Liebenswürdigkeit, welche ihm in seinen persönlichen Umgangsformen eigentümlich ist und ihn auch da keinen Augenblick verläßt, wo er mit unbeugsamer Festigkeit die politischen Ziele über alle anderen Rücksichten hin verfolgt – »ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, um einen kranken Mann in seiner Einsiedelei aufzusuchen; aber da man mir nicht erlauben will, die Last der Geschäfte von mir zu werfen, so muß ich mir dieselbe wenigstens durch die erfrischende Einsamkeit des Waldes erleichtern, und wer mir die Ehre erweist, auf meinen Rat und meine Meinung Wert zu legen, muß sich schon die Mühe machen, diese Einsamkeit auf einen Augenblick mit mir zu teilen.«
Graf Schuwalow erwiderte einige verbindliche Worte. Der Fürst beauftragte seinen Sohn, den Gast nach den für ihn bestimmten Zimmern zu führen, um sich nach der Reise ein wenig zu erfrischen, und begab sich dann in sein Arbeitszimmer, wo er sich allein, in tiefem Nachdenken auf und nieder schreitend, für die Besprechung sammelte, welche hier in den tiefen Schatten des Sachsenwaldes die Schicksale der Welt von den Küsten des Atlantischen Ozeans bis nach dem Schwarzen Meere und den Steppen Asiens hin entscheiden sollte. Der Fürst wartete nicht lange auf seinen Gast, nach kurzer Toilette trat Graf Schuwalow im einfachsten Zivilanzug in das Kabinett des Fürsten, und man hätte diese beiden Herren, welche mit so freundlicher Unbefangenheit nebeneinander Platz nahmen, für zwei Gutsnachbarn halten können, die sich besuchten, um über die Aussichten der Ernte, über die Jagd oder über die kleinen Familiengeschichten der Gegend miteinander zu plaudern. Auch der Raum, in dem sie sich befanden, hätte einer solchen Vermutung nicht widersprochen, denn das Arbeitszimmer des Fürsten konnte kaum einfacher und schmuckloser gedacht werden; es war ein zweifenstriges Gemach im Erdgeschoß des Schlosses, sein großer, viereckiger Arbeitstisch, mit grünem Tuch überzogen, stand zwischen den beiden Fenstern, auf demselben befand sich nur das Schreibzeug, eine Zeitungsmappe, eine Zigarrenkiste mit einem Aschenbecher und einige Familienphotographien auf kleinen Staffeleien, ein Repositorium neben dem Tisch diente zur Niederlegung von Akten, ein hölzerner Lehnstuhl stand vor dem Tisch, ein Zylinderbureau an der Wand, einige einfache Bilder, ein Sofa und wenige Sessel bildeten das ganze übrige Mobiliar, daneben sah man nur noch einen kleinen braunen Klapptisch, welcher zusammengelegt in einer Ecke stand.
Graf Schuwalow umfaßte mit einem schnellen Blick die ganze Einrichtung dieses Zimmers, und trotz seiner sicheren Herrschaft über sich selbst konnte er es dennoch nicht verhindern, daß sich in seinen Blicken ein gewisses Erstaunen über die Einfachheit dieses Arbeitszimmers ausdrückte, welches die Stätte so vieler weltbewegender Ideen war.
»Ich bin hier noch nicht zu längerem, dauerndem Aufenthalt eingerichtet«, fugte der Fürst, den fragenden Blick des Grafen lächelnd beantwortend. »Der Sachsenwald, den mir der Kaiser zu schenken die Gnade gehabt, besaß keinen Herrensitz, und ich habe daher hier ein provisorisches home eingerichtet. Ich habe mich an den Aufenthalt in Barzin gewöhnt – aber die Ärzte behaupten ja nun, daß mir die dortige Luft ungesund sei, und daher werde ich doch vielleicht mich hier noch etwas bequemer einrichten müssen, wenn sich auch dies Zimmer kaum dadurch ändern wird, denn um mich her mag ich keinen embarras de richesse der mich stört und geniert.
»Übrigens,« fuhr er so heiter und behaglich plaudernd fort, als ob es sich bei dem Besuch seines Gastes in der Tat nur um eine gemütliche, freundschaftliche Konversation handle – »übrigens befinden sich in diesem Zimmer doch zwei Gegenstände, die wertvolle Erinnerungen für mich in sich schließen und mir auch bei meinen Arbeiten und bei meinem Nachdenken über die Geschäfte wertvolle Mahnungen zurufen. Sehen Sie da,« sagte er, auf ein großes Bärenfell deutend, welches als Fußdecke vor dem Schreibtisch ausgebreitet war, »diese zottige Haut da gehörte einst einem Landsmann von Ihnen, den ich selbst erlegte; es war nicht ganz leicht, ich hatte die gewaltige Bestie angeschossen, sie kam nun hochaufgerichtet, mit wutblitzenden Augen auf mich zu. Ich hatte nur noch eine Kugel in meinem Gewehr, niemand war in meiner unmittelbaren Nähe, und die Situation war in der Tat kritisch; glücklicherweise aber verließ mich mein kaltes Blut nicht, ich zielte ruhig und streckte den Bären mit einem Kernschuß nieder.
Ich habe zuweilen an jenen Moment gedacht, wenn ich mich in irgendeiner recht bedenklichen, kritischen Lage befand, und die Erinnerung an jenen Augenblick hat mir immer die Lehre gegeben: niemals die Augen vor der Gefahr niederzuschlagen, denn wenn man sie einen Moment nur aus den Augen verliert, wächst sie riesengroß, während man mit kaltblütiger Ruhe sie fast immer überwindet.«
»Sie haben bewiesen, mein Fürst,« sagte Graf Schuwalow, »daß Sie diese Lehre nie vergaßen und daß sie Ihnen immer gute Dienste leistete – vielleicht aber ist der Grundsatz bei Ihnen älter, als jener Bär, bei dem Sie ihn zur Geltung brachten.«
»Jedenfalls hat er ihn bestärkt und ein Beispiel für seine Richtigkeit geliefert«, erwiderte der Fürst; »außerdem aber«, fuhr er dann fort, »ruft mir jeder Blick auf diese Decke hier auch noch einen andern Grundsatz ins Gedächtnis, der mir in meiner diplomatischen Tätigkeit stets von großem Nutzen war, den Grundsatz nämlich, daß man das Fell des Bären nicht verteilen soll, bevor man ihn erlegt hat. Hätte ich in jenem kritischen Moment daran gedacht, was ich mit dem Fell des drohend vor mir aufgerichteten Bären anfangen wollte, statt die ganze Kraft meines Willens nur darauf zu richten, wie ich ihm am sichersten meine Kugel ins Herz jagen sollte, so würde er mich vielleicht übel zugerichtet haben, und Sie würden diese Jagdbeute heute nicht hier in meinem Zimmer sehen.«
Der Fürst hatte leichthin gesprochen, auch in dem Gesicht des Grafen Schuwalow bewegte sich keine Muskel, nur eine Sekunde lang zuckte es wie ein Blitz des Verständnisses in seinen Augen.
»Und dort in der Ecke«, sprach der Fürst in demselben Ton weiter, indem er auf den kleinen Klapptisch deutete, »sehen Sie jenes einfache Möbel, auch das ist eine Erinnerung, die vielleicht nicht für mich allein Interesse hat, wie dies Bärenfell hier – an jenem Tisch, der nur zur Ausstattung eines Gasthofszimmers bestimmt war, habe ich am 10. Mai 1871 im Hotel zum Schwan zu Frankfurt am Main den Frieden zwischen Deutschland und Frankreich mit Jules Favre und Pouyer-Quertier unterzeichnet.«
»Ah,« sagte Graf Schuwalow, »das ist in der Tat ein Möbel, auf welches die Weltgeschichte ihre Hand gelegt hat und das ebenso wie ein Denkmal von Erz und Marmor noch der spätesten Nachwelt Ihren Ruhm verkünden wird.«
Er stand auf, trat zu dem kleinen, unscheinbaren Tisch hin und betrachtete denselben einige Augenblicke mit dem Ausdruck andächtiger Bewunderung.
»Es ist in der Tat«, sagte er mit fast wehmütigem Ton, »das höchste Glück für einen Diplomaten, wenn es ihm vergönnt wird, für seinen Monarchen und sein Vaterland einen solchen Frieden zu unterzeichnen, wie Sie es auf diesem Tische tun konnten.«
»Nun,« sagte der Fürst achselzuckend, »es gehört dazu freilich auch ein wenig die Armee, welche die Basis des Friedens fest auf eine Reihe gewonnener Schlachten stützt, damit die Diplomatie sich das Verdienst erwerben kann, nicht mit der Feder zu verderben, was das Schwert gut gemacht hat. Wenn mich nun dieser Tisch da«, fuhr er fort, während Graf Schuwalow wieder den Platz an seiner Seite einnahm, »mit freudiger Dankbarkeit gegen die Vorsehung erfüllt, so ruft mir sein Anblick zugleich auch wieder einen leitenden Grundsatz ins Gedächtnis, ohne den ich kaum dahin gekommen wäre, den Frieden von Frankfurt auf dieser Platte zu unterzeichnen und den Preis desselben auf die Dauer sicher festzuhalten. Es ist dies der alte Grundsatz: ›Quidquid agis, prutender agas et respice finem.‹
Ich habe mir immer bei dem Beginn eines Krieges scharf und genau das Ziel festgestellt, das ich allen Gefahren und Schwierigkeiten zum Trotz erreichen wollte, über das ich aber auch selbst bei den außerordentlichsten Glücksfällen nicht hinauszugehen entschlossen war, um nicht Unhaltbares zu schaffen und in den Frieden selbst schon den Keim neuer Kriege zu legen. Die ruhige Berechnung der Kräfte, ihre höchste, rücksichtsloseste Anspannung während des Kampfes läßt allein das Ziel erreichen, selbstbeherrschende Mäßigung nach dem Siege läßt allein das Errungene dauernd befestigen. Dieser Grundsatz, der aus dem stummen Tisch hier zu mir spricht, hat mich die Erfolge erreichen lassen, auf die ich mit Dankbarkeit gegen die Vorsehung zurückblicke; dieser Grundsatz wird«, fügte er mit festem, stolzem Ton hinzu, »mir den Erfolg sichern, wenn ich noch einmal sollte gezwungen werden, einen großen und entscheidenden Kampf für mein Vaterland aufzunehmen, was ich nicht hoffe und wünsche – aber auch nicht fürchte.«
»Nun, mein Fürst,« sagte Graf Schuwalow lächelnd, »da haben diese beiden toten Gegenstände, das Bärenfell und der Friedenstisch, uns durch ihre Erinnerungen und Mahnungen ja mit einem Male mitten in den Gegenstand hineingeführt, den ich mit Ihnen zu erörtern hierhergekommen bin.«
»Sie sehen also, mein lieber Graf,« erwiderte der Fürst, »daß ich auch hier in der Einsamkeit meines Arbeitszimmers mich nicht in schlechter Gesellschaft befinde, und daß selbst meine leblose Umgebung imstande ist, mir – und meinen Freunden«, fügte er verbindlich hinzu, »nützliche Lehren zu geben.«
Das Gesicht des Grafen wurde ernster.
»Auch wir«, sagte er, »stehen in diesem Augenblick vor einer Unternehmung, welche in ihrem Ausgange für meinen Kaiser und für Rußland nicht minder bedeutungsvoll ist, als es die Kriege gegen Österreich und gegen Frankreich für Sie waren. Wenn Preußen die Aufgabe hatte, Deutschland unter seiner Führung zu einiger Macht zu erheben und diese Einigkeit und Macht in Europa zur Anerkennung zu bringen, so hat Rußland die Mission, den christlichen Orient zu befreien und zu schützen und die Quellen wirtschaftlichen Reichtums, das Bassin des Schwarzen Meeres, zu erschließen. Wir müssen diese Mission ebenso notwendig erfüllen, wie Sie die Ihrige in Deutschland erfüllen mußten, wenn wir nicht in Erstarrung versinken und durch äußere Machtlosigkeit auch der inneren Auflösung verfallen wollen; denn nur große Aufgaben und die Anspannung der Kräfte zur Lösung derselben können große Nationen gesund erhalten. Wie für den einzelnen Menschen, so ist auch für die Völker die Arbeit und das Ringen nach großen und erhabenen Zielen die Bedingung des Lebens.«
Der Fürst neigte zustimmend den Kopf.
Graf Schuwalow fuhr fort:
»Bei einem solchen Unternehmen ist der Zeitpunkt, in welchem es beginnt, ein wesentlicher Faktor des Erfolges. Ich muß aufrichtig gestehen, daß ich meinerseits den gegenwärtigen Augenblick noch nicht zu einem entscheidenden Eingreifen gewählt haben würde; ich war der Meinung, den Zersetzungsprozeß, in welchem die Türkei sich befindet, noch etwas weiter fortschreiten zu lassen, um desto sicherer zu sein, daß das morsche Gebäude beim ersten Anprall zusammenfalle. Auch Sie haben ja mit unermüdlicher Geduld und bewunderungswürdiger Ruhe für Ihren Krieg mit Frankreich den Augenblick der höchsten Zersetzung und Erschöpfung des Napoleonischen Kaiserreiches abgewartet und mit unübertroffener Geschicklichkeit frühere Konflikte in weniger günstigen Momenten vermieden.«
Der Fürst neigte abermals schweigend den Kopf, doch ließ seine Miene kaum erkennen, ob diese Bewegung ein Ausdruck der Bestätigung oder nur eine Aufforderung für den Grafen sei, in seiner Rede fortzufahren.
»Sie müssen schon erlauben,« sagte Graf Schuwalow, »daß Ihre Zeitgenossen auch von Ihnen zu lernen versuchen, und so wäre denn auch ich der Meinung gewesen, einen noch günstigeren Moment für unseren Krieg im Orient abzuwarten, so sehr ich auch von dessen Notwendigkeit an sich überzeugt bin; allein der Kaiser, mein Herr, hat seinen Entschluß gefaßt, vielleicht habe ich bei meinen Bedenken die inneren Zustände Rußlands und das Drängen der öffentlichen Meinung nicht genügend berücksichtigt, da ich längere Zeit im Auslande gelebt und mehr unsere internationale Stellung im Auge gehabt habe – eine Diskussion über den günstigen Moment des Krieges ist also in diesem Augenblicke überflüssig, es kommt nur darauf an, für uns alle Chancen des Erfolges zu vereinigen, und auch in dieser Beziehung haben wir von Ihnen zu lernen. Sie haben stets nur mit einem Feinde zu tun gehabt und diesen einen Feind mit Aufbietung aller Kraft vernichtet, und«, fügte er mit etwas stärkerer Betonung hinzu, »der Kaiser, mein Herr, ist aufrichtig und erfolgreich bemüht gewesen, Ihnen in dieser Beziehung behilflich zur Seite zu stehen.«
»Niemals, Herr Graf,« erwiderte Fürst Bismarck mit vollem Ton, indem er den Blick groß und frei aufschlug, »werden bei meinem kaiserlichen Herrn oder bei mir die treuen Freundschaftsdienste vergessen sein, welche Ihr erhabener Gebieter uns in unseren Kriegen geleistet hat.«
Graf Schuwalow verbeugte sich.
»Nun,« sagte er, »mehr noch als dies bei Ihren Kriegen der Fall war, bedürfen wir jetzt eine freie Flanke und einen freien Rücken, um unsere ganze Kraft gegen die Türkei aufbieten zu können, deren militärische Lebensfähigkeit ich nicht so gering anzuschlagen vermag, als dies manche meiner Landsleute tun.«
»Und Sie haben recht,« sagte Fürst Bismarck lebhaft, »denn der Krieg ist das Lebenselement des Mohammedaners, und so faul auch das türkische Staatswesen in seinem übrigen Organismus sein mag, im Kriege wird es immer noch etwas von jenem wildfanatischen Heldenmut beweisen, vor dem einst das ganze Abendland zitterte.«
»Um so mehr«, fuhr Graf Schuwalow fort, »müssen wir alles aufbieten, um der Türkei allein gegenüberzustehen, wie Sie Frankreich allein gegenüberstanden. Wir können es ja nicht verhindern, daß England heimlich Instruktionsoffiziere, Geld, Waffen und Munition unseren Feinden liefert –«
»Es hat dieselben Dienste den Franzosen geleistet«, fiel Fürst Bismarck achselzuckend, mit bitterem Lächeln ein.
»Aber«, fuhr Graf Schuwalow fort, »wir müssen sicher sein, daß England nicht offen auf den Kampfplatz tritt oder gar eine Koalition gegen uns ins Leben ruft, wie dies zur Zeit des Krimkrieges geschah, und dazu, ich spreche es offen und frei aus, dazu bedürfen wir Ihrer freundlichen Gegendienste, auf welche mein kaiserlicher Herr glaubt rechnen zu dürfen und über deren Form und Maß ich mich mit Ihnen zu verständigen gekommen bin in aller freundschaftlichen Offenheit und Vertraulichkeit, die den Beziehungen unserer Länder und ihrer Herrscher entspricht.«
Fürst Bismarck blickte nachdenkend vor sich nieder, dann erwiderte er, seine klaren Augen fest auf den Grafen richtend:
»Ich habe bereits bemerkt, daß wir die Dienste, welche Sie uns geleistet, in ihrem vollen Wert anerkennen, und daß wir bereit sind, dieselben zu erwidern; es bedarf keiner erneuten Versicherung, daß Sie Deutschland niemals gegnerisch auf Ihrem Wege finden werden.«
»Davon sind wir überzeugt,« sagte Graf Schuwalow, »allein Sie werden nicht verkennen, daß wir mehr bedürfen; wir müssen sicher sein, daß England nicht in einem Moment, in welchem wir vielleicht in schwieriger Situation engagiert sind, über uns herfällt, und diese Sicherheit hoffen wir der Freundeshand Deutschlands verdanken zu dürfen.«
Abermals dachte Fürst Bismarck einen Augenblick schweigend nach, dann sagte er:
»Ihre gegenwärtige Lage entspricht nicht ganz derjenigen, in welcher wir uns im Jahre 1870 befanden; keine europäische Macht hatte damals ein unbedingtes, zwingendes Interesse an unserem Streit mit Frankreich, und so mißgünstig auch England unsere Erfolge ansah, so waren doch keine unmittelbaren Lebensbedingungen der englischen Macht und des englischen Reichtums an Frankreich geknüpft – im Orient aber liegen wirkliche englische Lebensinteressen, deren Berührung nicht nur die englische Regierung, sondern das englische Volk zum äußersten Widerstande treiben muß. Wir nun unsererseits haben im Orient keine unmittelbaren Interessen, was uns am Herzen liegt, ist die Erhaltung des europäischen Friedens, und derselbe kann nur dann erhalten werden, wenn der Krieg vollständig zwischen Ihnen und der Türkei lokalisiert wird.«
»Ganz recht,« rief Graf Schuwalow, »ganz recht, unsere Interessen also, wenn auch aus verschiedenen Gründen entspringend, decken sich völlig mit den Ihrigen.«
»Nun«, fuhr Fürst Bismarck fort, »kann niemand von uns erwarten, daß wir mit militärischen Machtmitteln eine solche Lokalisierung des Krieges erzwingen, denn dadurch allein schon würden wir ja den europäischen Brand entzünden, statt ihn zu vermeiden, und ich«, fügte er mit klangvollem Ton hinzu, »würde niemals die Verantwortung übernehmen, auch nur das Leben eines preußischen Grenadiers in einer orientalischen Frage einzusetzen, welche Preußen und Deutschland unmittelbar so gar nichts angeht.«
Trotz seiner sicheren Selbstbeherrschung zeigte sich ein Ausdruck von Unruhe und Bestürzung auf dem Gesicht des Grafen Schuwalow.
»Allein,« fuhr Fürst Bismarck fort, »es ist das auch nicht nötig, und ich glaube, daß wir Ihnen doch nützliche Dienste leisten können, ohne die gefährlichen Grenzen militärischer Konflikte zu berühren. Ich bin vollkommen überzeugt,« fuhr er fort, »daß England, so sehr es geneigt sein mag, seine Rolle im Krimkriege zu wiederholen, so sehr auch dieser ehrgeizige Disraeli sich nach einigen Lorbeerkränzen sehnt, die er mit englischem Gelde und fremdem Blute erkaufen könnte – daß England dennoch niemals bis zu einer kriegerischen Politik vorgehen wird, wenn es nicht eine kontinentale Allianz findet –«
»Das ist es und darauf kommt es an«, fiel Graf Schuwalow lebhaft ein.
»Oder«, fuhr Fürst Bismarck nachdrücklich fort, »wenn nicht solche englische Lebensinteressen berührt werden, die das englische Volk zum äußersten drängen. Für die kontinentale Allianz nun«, fuhr er fort, »handelt es sich um Frankreich und Österreich; Frankreich wird heute kaum geneigt sein, Ihnen feindlich gegenüberzutreten, man hofft ja auf Sie in Paris für eine künftige Revanche und«, sagte er mit einem flüchtigen Lächeln, »der Fürst Gortschakoff ist klug genug, diese Hoffnungen nicht völlig abzuschneiden.«
»Sie können überzeugt sein –« rief Graf Schuwalow.
»Ich kenne die Gesinnung des Kaisers«, unterbrach ihn Fürst Bismarck; »allein Frankreich könnte immerhin auf den Gedanken kommen, die Katastrophe im Orient zu benutzen, um mit uns Streit zu suchen, und in London würde man einen solchen Fall vielleicht gern sehen. Nun«, sagte er fast heiter, »dafür ist ein Riegel vorgeschoben, Moltke hat eine vortreffliche Rede gehalten, und seine Worte von der parlamentarischen Tribüne werden in Frankreich wohl beachtet werden und die chauvinistischen Heißsporne zum Schweigen bringen, nötigenfalls würde ich nach jener Richtung hin keinen Augenblick anstehen, eine sehr ernste Sprache zu führen und meinen Worten durch militärische Demonstrationen Nachdruck zu geben.«
»Aber«, sagte Graf Schuwalow, »es gibt noch die österreichische Allianz, um welche sich England bewirbt und welche uns sehr gefährlich werden kann.«
»Österreich steht im Dreikaiserbündnis,« erwiderte Fürst Bismarck, »ich will nicht behaupten, daß man in Wien allzu freundlich gegen Sie gesinnt ist, allein ich bin überzeugt, daß man dennoch fest auf dem gegebenen Boden stehen und alle englischen Lockungen zurückweisen wird. Dahin mit aller Entschiedenheit zu wirken, bin ich bereit und entschlossen, und ich glaube auch, daß meine Wirksamkeit erfolgreich sein wird, wenn die Interessen Österreichs, welche sich mit den unsrigen decken, im Orient garantiert werden – diese Interessen aber liegen in der freien Donauschiffahrt bis zum Schwarzen Meere. Österreich wird niemals dulden können, und wir werden es niemals veranlassen dürfen, es zu dulden, daß an der Donau russische Vasallenstaaten entstehen, um es mit einem klaren Wort zu bezeichnen. Die Donau ist eine österreichische und eine deutsche Handelsstraße, und die scheinbare Souveränität der Türkei über die Donauländer darf niemals durch eine wirkliche, tatsächliche, wenn auch vielleicht namenlose Oberhoheit Rußlands ersetzt werden.«
»Niemand denkt daran,« rief Graf Schuwalow lebhaft, »niemand, und der Kaiser am wenigsten!«
»Niemand,« erwiderte Fürst Bismarck mit einem feinen Lächeln, »das ist ein wenig viel gesagt, denn es gibt bei Ihnen Leute genug, welche sehr ernsthaft an eine russische Oberhoheit über die ganze Balkanhalbinsel denken, Ihre slawischen Komitees, Ihre ganze panslawistische Presse spricht das deutlich aus. Sie werden begreifen, daß solche Gedanken in Wien lebhafte Unruhe erregen müssen, und es würde daher nötig sein, zweifellos festzustellen, daß diese Gedanken, wie sie Ihre Herren Katkow und Aksakow laut aussprechen, niemals von der Regierung aufgenommen werden.«
»Diese Versicherung kann ich aussprechen,« sagte Graf Schuwalow fest und bestimmt, »ich kann im Namen des Kaisers erklären, daß er nichts beabsichtigt, als die Freiheit und Selbstbestimmung der christlichen Länder, und daß er niemals versuchen wird, in denselben eine russische Herrschaft mittelbar oder unmittelbar aufzurichten; ich kann zugleich versichern, daß der Kaiser die berechtigten Interessen Österreichs zu achten, ja zu vertreten entschlossen ist wie seine eigenen, und daß er nichts dagegen einzuwenden hat, wenn Österreich als Pfand für seine Interessen Bosnien, ja, wenn man das für nötig hält, auch Serbien besetzt.«
»Das wäre vielleicht das Vernünftigste«, sagte Fürst Bismarck; »allein«, fügte er achselzuckend hinzu, »dazu wird man sich in Wien nicht entschließen; die Ungarn haben ja mit einem Male so große türkische Sympathien gewonnen, und man wagt in Wien nichts zu tun, was den Ungarn mißfällt; auch werden Sie begreifen, daß man es auf das äußerste vermeiden wird, einen Schritt zu tun, der Österreich unwiderruflich von England trennt – man steht ja in der einen Allianz immer fester und sicherer, wenn man die Möglichkeit einer anderen in petto hat – doch Ihre Versicherung genügt, und wenn dieselbe in Wien gegeben wird, wenn ich dieselbe in gutem Glauben als ehrlicher Makler unterstützen kann, so glaube ich meinerseits die Bürgschaft übernehmen zu können, daß Österreich niemals gegen Sie auftreten wird.«
»Ich verpfände das Wort meines Kaisers, das Sie kennen, mein Fürst,« sagte Graf Schuwalow mit feierlichem Ernst, »doch«, fügte er dann ein wenig zögernd hinzu, »ich kann Ihnen nicht verhehlen, daß ich nicht ganz frei von Mißtrauen bin, denn Graf Beust spielt in London eine eigentümliche Rolle, ich weiß, daß die Sprache, die er führt, der englischen Regierung immer noch die Hoffnung auf eine österreichische Allianz übrig läßt, ja, daß er fast direkt den Glauben an eine Wendung der österreichischen Politik nach England hin erweckt und nährt.«
Das Gesicht des Fürsten Bismarck verfinsterte sich, ein drohender Blitz sprühte aus seinen Augen, und mit jenem ehernen Klang der Stimme, der ihm in Augenblicken der Erregung eigentümlich ist, sagte er:
»Unglückselige Vielgeschäftigkeit des unruhigen Ehrgeizes, der immer durch dunkle Intrigen erreichen möchte, was er auf geradem Wege nicht erlangen kann, wie viel Unglück hat dies Treiben schon angerichtet; glauben Sie mir, das hat nichts zu bedeuten; wenn der Graf Beust heute noch Reichskanzler wäre, so würde, er sich wohl hüten, das Abenteuer einer englischen Allianz zu unternehmen – und ich würde ihn wohl daran zu hindern wissen. Jetzt aber ist das alles nichts weiter als eine kleine, und ich muß sagen, recht kleinliche Intrige gegen den Grafen Andrassy. Die Ungarn haben ja plötzlich eine so heiße und demonstrative Sympathie für die Türkei gefaßt, und da sucht denn wohl der gute Beust ein wenig mit den Ungarn zu kokettieren und wird wohl dort auch unter der Hand verbreiten lasten, wie viel mehr die heutige Strömung in Ungarn der österreichischen Politik die Richtung geben würde, wenn er am Ruder stünde. Diese kleinen Manöver sollen dem Grafen Andrassy seinen eigensten Boden unter den Füßen fortziehen und den magyarischen Einfluß in die Wagschale werfen, damit Herr von Beust wieder an die Spitze der Geschäfte gerufen werde, was seit seinem Rücktritt sein einziger Gedanke ist; aber ich wiederhole Ihnen, das alles hat nichts zu bedeuten, Graf Andrassy steht fest, er ist nicht der Mann, der eine doppelzüngige Politik macht, ich glaube an ihn mehr noch als Kavalier, denn als Diplomat, und was Beust da in London treibt, ist eine kleine Intrige auf seine eigene Rechnung.«
»Aber immerhin«, sagte Graf Schuwalow kopfschüttelnd, »ist er österreichischer Botschafter und die englische Regierung hat mindestens das Recht, seine Haltung und seine Worte für den Ausdruck der Anschauungen und Gesinnungen seines Hofes anzusehen.«
»Nun,« rief Fürst Bismarck, »wir wollen der Sache ein kurzes Ende machen, ich werde an Andrassy schreiben und ihn auf die eigentümlichen menées seines Botschafters aufmerksam machen; Sie werden sehen, daß diese Seifenblase der Beustschen Privatpolitik schnell zerstäuben wird.«
»Ich werde Ihnen sehr dankbar dafür sein, mein Fürst,« erwiderte Graf Schuwalow, »denn in der Tat, wenn mich auch Ihre Versicherung über die österreichische Regierung beruhigt, so ist es doch in einer so kritischen Zeit, wie die gegenwärtige, notwendig, daß nach allen Seiten hin zwischen den Kabinetten volle Klarheit herrscht. Auf der Basis, die wir besprochen haben, und unter den Bedingungen, über die wir völlig einig sind, darf die Regierung meines Herrn also darauf rechnen, daß Österreich ihr keine Verlegenheiten bereiten und sich nicht ihren Gegnern zuwenden wird.«
»Ich glaube dafür bürgen zu können«, erwiderte Fürst Bismarck. »Erlauben Sie mir nun,« fuhr er dann fort, »Ihnen meine Auffassung der Sachlage weiter zu entwickeln. Ich glaube aus fester Überzeugung annehmen zu dürfen, daß England ohne eine kontinentale Allianz sich nicht zu einem aktiven militärischen Vorgehen entschließen werde; doch auch dies ist nur bis zu einem gewissen Punkte richtig. Es gibt, wie ich vorher bemerkte, in der orientalischen Frage englische Lebensinteressen, deren Berührung die ganze englische Nation, so sehr sie auch im allgemeinen einen Krieg scheut, dennoch zu den äußersten Entschlüssen treiben und sie zu ähnlichen Anstrengungen und Opfern veranlassen würde, wie in dem großen Kampfe gegen Napoleon I., der ebenfalls das Messer an den Nerv des englischen Lebens legte; diese Interessen liegen in Konstantinopel und in dem Wege nach Indien. Ich meinerseits als deutscher Minister habe an diesen Fragen durchaus kein unmittelbares Interesse, aber eben darum würde ich auch nicht in der Lage sein, die deutsche Macht in die Wagschale zu werfen, um England zurückzuhalten, wenn wirklich seine Lebensinteressen berührt werden sollten. Es ist der Rat eines Freundes, den ich Ihnen glaube geben zu dürfen, wenn ich Ihnen empfehle, diesen Punkt zu berücksichtigen.«
»Auch hierin«, erwiderte Graf Schuwalow, »kommen sich unsere Anschauungen vollkommen entgegen. Der Kaiser, mein Herr, hat bereits im vorigen Jahre sein persönliches Wort gegeben, daß er Konstantinopel nicht erobern wolle; er geht weiter und erteilt die Versicherung, daß er in Europa keine Eroberung machen wolle und werde, auch wenn das Glück des Krieges ihm dazu die Möglichkeit bieten sollte. Was Asien betrifft, so werden wir allerdings auch unsere territorialen Positionen dort stärken müssen, aber wir werden von jeder Blockade des Suezkanals absehen, auch wenn Ägypten gegen uns auftritt, und wir werden ferner das Euphratgebiet vollkommen unberührt lassen, wie auch die kriegerischen Operationen sich wenden mögen.«
Fürst Bismarck nickte mehrmals billigend mit dem Kopfe.
»Das ist gut,« sagte er, »das ist gut, und Sie haben diese Versicherung in London abgegeben?«
»Ebenso bestimmt, wie ich sie hier abgebe.«
»Und Sie autorisieren mich,« fragte Fürst Bismarck weiter, »für diese Versicherungen gewissermaßen die moralische Bürgschaft zu übernehmen, das heißt, Sie geben mir Ihr Wort, daß jene Erklärungen wirklich der feste, unabänderliche, unter allen Umständen aufrecht zu erhaltende Wille Ihres Kaisers ist?«
»Ich gebe es«, erwiderte Graf Schuwalow.
»Gut denn,« sagte Fürst Bismarck, indem er ihm die Hand reichte, »so sind wir einig und Sie können fest darauf rechnen, daß ich sowohl in Wien wie in London meinen ganzen Einfluß aufbieten werde, um Ihnen den Rücken freizuhalten.«
»Ich danke Ihnen, mein Fürst,« erwiderte Graf Schuwalow, »im Namen meines Kaisers und meines Landes. Ich war überzeugt, daß wir uns leicht und schnell verständigen würden, da ich nichts zu verlangen kam, was Sie nicht geben können, und da ich gewiß wußte, daß Sie alles gewähren würden, was die Pflicht gegen Ihr Land erlaubt. Sie werden sich Ihrerseits überzeugt haben,« sagte er lächelnd, »daß die Mahnungen dieses Bärenfelles und jenes Friedenstisches dort auch bei uns Beachtung finden, denn auch wir haben uns gehütet, über das Fell des Bären zu verfügen, bevor wir ihn erlegt haben; auch wir haben uns feste Ziele gesteckt und dieselben zugleich so beschränkt, daß wir hoffen dürfen, sie festzuhalten, wenn uns das Glück beisteht, sie zu erreichen.«
»Ich freue mich, mit Ihnen verkehrt zu haben, lieber Graf«, sagte Fürst Bismarck mit Herzlichkeit; »wieviel leichter kommt man doch zum Ziel, wenn man offen und frei spricht, als wenn man mit jenen Waffen der spitzfindigen Diplomatie arbeitet, von welchen sich die alte Schule nicht losmachen kann, und welche unter guten Freunden die Dinge nicht fördern, sondern nur verwirren. Es wäre ein Glück,« fügte er leicht hingeworfen, aber mit scharf forschendem Blick hinzu, »wenn wir beide stets in der Lage wären, uns über die Beziehungen unserer Länder zu unterhalten und zu verständigen – ein Glück für Rußland und für Deutschland, wie für die Ruhe und das Gleichgewicht Europas.«
Graf Schuwalow zuckte die Achseln.
»Es ist gewiß nicht die Schuld des Kaisers,« sagte er nach einer kurzen Pause, »wenn Unklarheiten zwischen zwei Mächten entstehen, welche von der Natur so sehr auf gegenseitige Freundschaft angewiesen sind – wie Sie sagten, mein Fürst,« fuhr er dann mit einer gewissen Betonung fort, »die alte diplomatische Schule kann sich von gewissen Künsten nicht losmachen, die immer verwirren, aber jene Schule wird immer mehr verschwinden, eben weil sie die alte ist und weil sie ihre Zeit überlebt hat.«
»Ich werde mir erlauben,« sagte der Fürst, »die Punkte unserer Verständigung aufsetzen zu lassen, und es wird ja genügen, daß wir beide völlig klar über das sind, was wir besprochen und was wir versprochen haben. Ich rechne dann darauf,« fügte er, den Grafen fixierend, ernst und mit einem Anklang von Strenge in seinem Ton hinzu, »daß die Diplomatenkünste der alten Schule es niemals versuchen werden, die Klarheit, welche wir geschaffen haben, zu verwirren.
Jetzt, mein lieber Graf,« fuhr er dann verbindlich fort, »bitte ich Sie um die Erlaubnis, Sie zu meiner Frau zu führen, welche glücklich sein wird, Sie als Gast unseres Hauses zu begrüßen.«
Der Graf erhob sich und stieg, von dem Fürsten geführt, die Treppe in den oberen Stock des Schlosses hinauf. Sie durchschritten mehrere Räume, welche ebenso einfach ausgestattet waren, wie das Arbeitszimmer des Fürsten. Zahlreiche Hirschgeweihe zeugten von dem Reichtum der Jagdgründe des Sachsenwaldes. In einem einzigen größeren und glänzender dekorierten Salon hing ein großes Ölbild von Hünten, den Reiterangriff bei Mars la tour darstellend, fast der einzige künstlerische Wandschmuck des Schlosses, und als sie in das behagliche Wohnzimmer traten, in welchem die Fürstin und ihre Tochter den Grafen mit herzlicher Freundlichkeit empfingen, da zeigte die kleine, so heiter und ungezwungen plaudernde Gesellschaft keine Spur von den ernsten Fragen, welche den russischen Gast unter das Dach des Schloßherrn von Friedrichsruhe geführt hatten.