Gregor Samarow
Held und Kaiser
Gregor Samarow

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Einundzwanzigstes Kapitel

Der Baron von Rantow war mit Herrn von Feldhausen in dessen Zimmer gegangen, und die beiden jungen Leute hatten verschiedene Pläne zur Rettung des hannoverischen Offiziers entworfen, welche im wesentlichen alle darauf hinausliefen, daß derselbe mit einem Geleitschein als Beauftragter der Lazarettverwaltung am leichtesten und besten die Grenze erreichen könne. Doch war man übereingekommen, jedenfalls erst die in kurzer Zeit wahrscheinliche Rückkehr des Grafen Villebois zu erwarten und bis dahin nur alle neu ankommenden Kranken und Verwundeten zuerst von Herrn von Feldhausen, von ihnen ungesehen beobachten zu lassen, ob sich etwa Bekannte unter denselben befänden.

Der Baron von Rantow war gegen den jungen Hannoveraner voll der ausgesuchtesten und herzlichsten Freundlichkeit, als wolle er ihm alles Unrecht, das er ihm in Gedanken getan, abbitten, allen Haß, den er in seinem Innern gegen ihn gehegt hatte, wieder gutmachen, – Herr von Feldhausen dagegen erwiderte dieses Entgegenkommen nur mit kalter, stiller Höflichkeit, – was ja in seiner peinlichen und gefahrvollen Lage natürlich war und den Baron nur veranlaßte, seine freundliche Herzlichkeit zu verdoppeln.

Herr von Rantow hatte dann die Kranken besucht und war dort mit Fräulein Hortense zusammengetroffen, mit welcher er zwar nur einzelne gleichgültige Worte hatte wechseln können, die aber dennoch durch den halb scheuen, halb verständnisvoll vertraulichen Blick, der sie begleitete, ihn unendlich glücklich machten. Er hatte sich dann auf sein Zimmer zurückgezogen, um bis zum Diner ungestört seinen Träumereien nachhängen zu können, denn das Glück hat ebenso wie das Unglück das Bedürfnis, die Einsamkeit zu suchen und im eigenen Innern die Klarheit und Ruhe wiederherzustellen, welche Schmerz und Freude in gleichem Maß trüben und stören. Er lag auf seinem Ruhebett ausgestreckt, und vor ihm öffneten sich die Bilder einer lichtvollen und glücklichen Zukunft. Der Mittelpunkt aller dieser Bilder war immer und immer wieder das schöne Fräulein von Villebois mit dem reizenden Lächeln auf den Lippen, mit welchem sie ihn angeschaut hatte. Aber diese Zukunftsbilder waren unklar, er wußte nicht, wie sie sich verdichten sollten zu faßbarer Wirklichkeit, für den Augenblick jedoch machten sie ihn in ihrer traumhaft verschwebenden Gestalt so glücklich, daß er sich scheute, sie mit dem Maß der gegebenen Verhältnisse zu messen, und er drängte alle Erinnerungen an die Vergangenheit, welche wie schwarze Nebel mahnend zwischen seinen lichten Visionen sich erheben wollten, gewaltsam zurück.

Da trat sein Diener herein und meldete, daß ein Transport mit Lazarettbedürfnissen von dem Hauptquartier zu Corny angekommen wäre, und daß ein Herr, welcher diesen Zug begleitet habe, durchaus den Herrn Baron von Rantow zu sprechen wünsche.

Der Baron erhob sich und folgte dem Diener, um die angekommene Sendung in Empfang zu nehmen. Er trat, das Gesicht noch ganz von Glück strahlend im Widerschein der Gedanken, welche ihn erfüllten, unter die große Halle, die nach dem Ehrenhof des Schlosses hinausführte. Aber hier blieb er starr stehen, als erblicke er ein Schreckgespenst, dessen Erscheinung alle in seinem Herzen erschlossenen Blüten unter der Berührung seiner kalten Hand erstarren lassen möchte. Dennoch war das, was er sah, eine ganz natürliche und durchaus nicht tragische Szene.

In dem Hof standen drei bis vier mit Kisten und Säcken bepackte, von Trainknechten gefahrene Wagen. Die Dienerschaft des Schlosses war beschäftigt, die Ladung von den Wagen herabzunehmen, vor denselben aber stand der kleine Kommerzienrat Cohnheim, in einen Zobelpelz gehüllt, eine große Pelzmütze auf dem Kopf und erteilte mit lauter Stimme seine Befehle.

»Seid vorsichtig mit dieser Kiste,« rief er nach der einen Seite hin, »es sind Flaschen darin, – Burgunder und vortrefflicher Dry-Madeira, – aus meinem eigenen Keller, – ich habe ihn kommen lassen zur Stärkung der Kranken, – ich tue es gern, von Herzen gern, – ich will dem Vaterland Opfer bringen, – – um Gottes willen, daß jene Kiste nicht naß wird,« – rief er, nach einer andern Seite sich wendend, »es sind Zigarren darin, – die ich eigens habe kommen lassen für meinen künftigen Schwiegersohn, den Herr von Rantow, – die feinsten Regalias, die ich in meinem Hause habe, – sie müssen an einen ganz trockenen Ort gestellt werden –«

In ähnlicher Weise gab er nach allen Seiten hin seine Anordnungen, eine Tätigkeit, die er, was ihren Erfolg betrifft, ebenso gut hätte lassen können, denn von der ganzen Dienerschaft des Schlosses von Villebois verstand niemand die im reinsten Berliner Deutsch erteilten Ermahnungen des kleinen Kommerzienrats. Das einzige Resultat seiner vielseitigen Geschäftigkeit waren verschiedene unsanfte Berührungen, in welche er mit den rasch vom Wagen gehobenen Kisten geriet, sowie die dringende Gefahr, daß die Spitzen einiger unvorsichtig eingeschlagenen Nägel sich Durchgang durch seinen Zobelpelz verschaffen möchten.

Der Baron von Rantow blieb einen Augenblick starr und unbeweglich unter dem Portal des Schlosses stehen, kaum erblickte ihn der Kommerzienrat, so überließ er die Kisten ihrem Schicksal und eilte mit einem lauten Freudenruf auf den jungen Mann zu, – er ergriff dessen Hand und schüttelte dieselben einige Minuten lang.

»Endlich habe ich die Freude, Sie wiederzusehen, mein lieber Baron,« rief er, – »der Krieg bekommt Ihnen gut, Sie sehen voller und kräftiger aus. Auch ich habe mich sehr gestärkt in dem Lagerleben, – es ist doch etwas Erhebendes und Schönes, so im Mittelpunkt der Ereignisse zu sein, umgeben von unserer tapferen, ruhmvollen Armee. Davon hat man keinen Begriff, wenn man so ein Manöver am Kreuzberg mit ansieht, – was ja auch sehr schön ist, – sehr schön, – aber es ist doch immer nicht das Gefühl, wie einen wirklichen ernsthaften Krieg zu sehen. Ich habe mich auch gar nicht von unserer braven Armee trennen können und bin im Hauptquartier geblieben, um die Liebesgaben unseres Vereins zu empfangen und verteilen zu helfen, – und Seine Königliche Hoheit der Prinz Friedrich Karl,« fuhr er mit großer Wichtigkeit fort, »ist immer ganz besonders gnädig gegen mich gewesen und hat mir mehrere Male die Ehre erzeigt, mir Höchstseine Anerkennung auszusprechen, – nun aber muß ich wieder nach Hause, – meine Geschäfte erfordern meine Anwesenheit dort, ich kann nicht alles meinen Kommis überlassen, der Krieg bringt so schon große Verluste. Nun, Gott sei Dank, ich kann sie ertragen, wenn es nicht gar zu viel wird, – aber ehe ich nach Berlin reise, habe ich Sie noch einmal sehen wollen, lieber Baron, damit ich unseren Familien erzählen kann, wie es Ihnen geht und wie Sie aussehen, deswegen habe ich diesen Zug mit Nahrungsmitteln und Arzneien hierhergeführt; – nun, ich finde ja gottlob alles vortrefflich und werde den besten Bericht erstatten können.«

Der Baron hatte schweigend den ganzen Strom der Beredsamkeit des Kommerzienrats über sich ergehen lassen, – die Kisten waren allmählich abgeladen, und der Kommerzienrat fragte endlich, betroffen über die fast unhöflich kalte Zurückhaltung des Herrn von Rantow, ob er ein Unterkommen im Schloß finden könne.

»Ohne Zweifel – gewiß,« erwiderte der Baron, »es werden sicher noch Zimmer frei sein.«

Er rief den Kastellan und trug demselben auf, den Kommerzienrat in eins der verfügbaren Zimmer zu quartieren, indem er es übernahm, dem Fräulein von Villebois gegenüber die Gastfreundschaft für den Überbringer der Verpflegungsgegenstände zu erbitten. Glücklich, sich freigemacht zu haben, ließ er den Kommerzienrat fortführen, um ihn in ein behagliches Zimmer zu installieren, und zog sich selbst in seine Wohnung zurück, um abermals mit seinen Gedanken allein zu sein, welche jedoch diesmal weit weniger erfreulicher Natur waren, als noch kurze Zeit zuvor. Er sah mit einem Male alle diese süßen, reizenden Bilder, die ihn umgaukelt hatten, im Nebel verfliegen, und die kalte, klare Wirklichkeit trat mit erschütternder Rücksichtslosigkeit vor ihn hin. Jeder Augenblick konnte ihm die peinlichste Verlegenheit bringen, jeder Augenblick konnte sein kaum erblühtes, kaum ausgesprochenes, kaum klar gedachtes Glück wieder für immer zerstören, und er konnte in seinen verworren durcheinander wogenden Gefühlen zu keinem Entschluß kommen. – Seine Heimat und seine Vergangenheit stiegen vor ihm auf, hier in dem fernen Lande, das zu einem zauberischen Paradies für ihn geworden war. Er hatte seine Verlobung mit Fräulein Anna Cohnheim geschlossen, weil sie eine gute, eine vortreffliche Partie war, und um so lieber, weil sie zugleich ein schönes, vielbewundertes und feingebildetes Mädchen war. Hier nun aber hatte sein Herz zum ersten Male die Flammen der wahren Liebe empfunden. Er hatte sich dieser Liebe hingegeben, sie hatte ihn zu so berauschenden Hoffnungen erhoben, und nun trat so plötzlich die Mahnung an seine frühere Verpflichtung vor ihn hin, und zugleich wurde ihm auf schmerzliche Weise klar, daß alles, was ihn bewegt hatte, doch eigentlich nur ganz schwankende Hoffnungen seien, – vielleicht nur seine eigenen Wünsche, welche die Phantasie seines erregten Herzens zu Hoffnungen gestaltet hatte. Was sollte Fräulein Hortense denken, wenn es hier auf irgendeine Weise zu Erklärungen käme? Wie sollte diese Verwirrung sich lösen?

Er ging mit brennender Stirn im Zimmer auf und nieder, vergeblich nach einem Ausweg aus dieser Lage suchend, welche auf so natürliche Weise sich entwickelt hatte, und für welche er doch niemand anderem die Schuld geben konnte als sich selbst.

Er sollte nicht lange diesen Gedanken überlassen bleiben. Die Stunde des Diners nahte heran, und bald kam der Kommerzienrat in sorgfältigster Toilette, ein kleines Miniaturkreuz im Knopfloch, in das Zimmer des Barons, um denselben zu bitten, ihn der Dame des Hauses vorzustellen.

Herr von Rantow seufzte tief auf, während der Kommerzienrat, ganz glücklich darüber, daß er hier in diesem vornehmen Schlosse durch einen wirklichen, untadelhaften Baron, seinen künftigen Schwiegersohn, eingeführt werden sollte, den jungen Mann dringend antrieb, sich bei seiner Toilette zu beeilen.

Endlich konnte der Baron keine Zögerung mehr rechtfertigen, und er begab sich mit dem Kommerzienrat, auf dessen zahlreiche Bemerkungen er kaum eine Silbe erwidert hatte, in den Salon, wo, wie ihm die Diener mitteilten, das Fräulein sich bereits befand. Der Kommerzienrat näherte sich der jungen Dame, deren vornehme Haltung ihm ganz ungemein imponierte, mit lächelnder Miene und vielen Verbeugungen, und der Baron stellte ihn Fräulein Hortense mit einigen französischen Worten vor. Der Kommerzienrat lauschte gespannt, als ob ihm durch Anstrengung des Gehörs das Verständnis der französischen Sprache sich erschließen könnte.

Fräulein Hortense sagte ihm einige Artigkeiten, um ihm für die Überbringung der so willkommenen Verpflegungsgegenstände zu danken, und der Kommerzienrat verneigte sich mit immer freundlicherem Gesicht fortwährend, indem er in gewissen Intervallen die Worte: »Mademoiselle – Komtesse« – mit einer Betonung ausstieß, welche keinen Zweifel darüber lassen konnte, daß er die bestimmte Absicht habe, durch diese Worte viel Höfliches und Verbindliches auszudrücken.

Bald kam der Vicomte, und dieselbe Szene der Vorstellung, dieselbe Art der Konversation wiederholte sich. Allmählich kamen dann die französischen und deutschen Offiziere, welche sich in der Rekonvaleszenz befanden und an dem Diner teilnahmen, und Herr von Rantow, welcher nichts mehr befürchtete als eine Unterhaltung des Kommerzienrats mit den deutschen Offizieren, beeilte sich nunmehr, ohne dessen Aufforderung, denselben jedem einzelnen vorzustellen und ihn möglichst lange bei den Franzosen aufzuhalten, bis endlich der Kammerdiener anzeigte, daß serviert sei, und die Gesellschaft sich in den Speisesaal begab. Herr von Rantow atmete erleichtert auf, als er sah, daß Herr Cohnheim seinen Platz zwischen Fräulein von Villebois und ihrem Bruder erhalten hatte. Er selbst setzte sich an die Seite des Fräuleins Hortense und wußte es mit einem großen Aufwand von Kunst und Geschicklichkeit dahin zu bringen, daß Herr Cohnheim fortwährend in ein Gespräch mit der jungen Dame verwickelt wurde, bei welchem der Baron als Dolmetscher dienen mußte und es auf diese Weise in der Gewalt hatte, unangenehme und peinliche Erörterungen zu vermeiden.

Nach dem Diner versammelte man sich in dem großen Salon, wie an jedem Abend. Fräulein Hortense nahm ihren gewohnten Platz an der Seite des Kamins, und die Gesellschaft verteilte sich in verschiedene Gruppen.

Der Baron von Rantow wich nicht von der Seite des Kommerzienrats und wußte ihn mit Aufbietung aller möglichen Geschicklichkeit fortwährend zu dem Kreis der französischen Offiziere hinzuziehen, was Herrn Cohnheim durchaus nicht angenehm zu sein schien, welcher der fortwährenden Unterhaltung durch Vermittlung des Barons, – einer Unterhaltung, welche sich außerdem fast stets in denselben Phrasen bewegte, – herzlich müde zu werden begann. Auch fiel ihm das höchst verlegene und unstete Wesen des sonst so ruhigen und sichern jungen Mannes auf, und er hatte denselben schon mehrere Male mit verwundertem Kopfschütteln angeblickt.

Auch Fräulein Hortense war betroffen über das eigentümliche Benehmen des Barons, der sonst stets ihre Nähe und ihre Unterhaltung suchte und heute kein Wort und kaum einen Blick für sie hatte. Endlich, nachdem sie abermals mit Zeichen der Ungeduld seinen Augen zu begegnen versucht und die Unterhaltung mit verschiedenen anderen Herren, die sich ihr näherten, ziemlich kurz hatte fallen lassen, rief sie den Baron, der mit dem Kommerzienrat in ihre Nähe kam, zu sich heran.

Der junge Mann, der sonst einem solchen Ruf mit glücklichem Eifer gefolgt wäre, näherte sich mit leichtem Zögern.

»Es scheint, mein Herr,« sagte Fräulein Hortense mit einer gewissen Empfindlichkeit, »daß Sie heute fast die Absicht haben, mich zu vermeiden, – und«, fügte sie in ernsterem Tone wirklich gekränkten Gefühls hinzu, »gerade heute würde ich einen solchen Wunsch nicht verstehen –«

»Ich den Wunsch haben, Sie zu vermeiden, mein Fräulein?« rief der Baron mit aufwallendem Gefühl, »wie wäre das möglich, wie könnte ich –«

Er blickte hastig nach dem Kommerzienrat hinüber, welchen er zu einer kleinen Gruppe deutscher Offiziere treten sah.

»Ich würde es allerdings auch nicht verstehen,« sagte Fräulein Hortense, »ich finde es sehr hübsch, daß Sie sich eines alten Bekannten annehmen und diesen Herrn aus Berlin hier so freundlich einführen, aber er findet ja doch deutsche Herren, mit denen er sprechen kann. Und«, sagte sie mit einem reizenden Lächeln, »man darf doch über seine alten Freunde die neuen nicht vernachlässigen, – also setzen Sie sich hier zu mir und lassen Sie uns ein wenig plaudern. Sie müssen mir noch erzählen, was Sie mit diesem Herrn Bertin verabredet haben, den ich – doch so schnell als möglich von hier entfernt wissen möchte, – um ihn zu retten«, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu, während ihr Blick mit einem eigentümlich durchdringenden Ausdruck sich auf den jungen Mann heftete und sich dann schnell zu Boden senkte.

Dieser Blick ließ den Baron alles um ihn her vergessen, – seine ganze Situation und den Kommerzienrat, den er so sorgfältig bewacht hatte. Er sah nur das junge Mädchen vor sich, deren Bild wachend und träumend sein Herz erfüllte und aus deren Augen ihm immer sichtbarer und verheißungsvoller lichtes Hoffnungsglück entgegenschimmerte.

Er zog ein Tabourett neben ihren Fauteuil, und ihr Gespräch sank zum leisen, flüsternden Ton herab, während sie ihr auf die Hand gestütztes Haupt sanft zu ihm herabsenkte und er mit strahlendem Blick zu ihr aufsah.

Der Kommerzienrat hatte sich, wie gesagt, inzwischen zu einigen deutschen Offizieren gewandt. Mit verbindlichem Lächeln präsentierte er zur Einleitung der Konversation den Herren seine goldene Dose.

»Sie kommen aus dem Hauptquartier von Corny,« fragte ein junger Infanterieoffizier, der einen Fuß im Schnürstiefel trug und sich auf seinen Stock stützte, indem er die Finger in den duftenden Tabak tauchte, – »die Verhandlungen werden ja nicht lange dauern, und Metz wird bald übergeben werden.«

»Ganz gewiß, ganz gewiß,« sagte der Kommerzienrat, »der Marschall Bazaine hat sich so lange gehalten, als es ihm möglich war, und nun, nachdem all sein Proviant erschöpft ist und er sich zum Unterhandeln entschlossen hat, wird ihm auch daran liegen, so bald als möglich seine armen, verhungerten Truppen aus ihrer traurigen Lage zu befreien. Man erwartete«, fügte er mit etwas wichtiger Miene hinzu, »schon für heute die Unterzeichnung der Kapitulation und den Ausmarsch der Truppen.«

»Es ist hart für den armen Marschall,« sagte ein Dragoneroffizier, der den Arm in der Binde trug und den Oberkopf in eine leichte Bandage gehüllt hatte, – »so dem langsam ertötenden Kampf mit dem Hunger erliegen zu müssen. Ich kann es verstehen, daß die französischen Soldaten darüber tief verzweifelt sind, nachdem sie vergeblich so viel gelitten haben, um doch die Waffen strecken zu müssen.«

»Nun,« sagte der Kommerzienrat, »unsere braven Soldaten haben wahrlich auch genug ausgehalten. Zu hungern haben sie zwar nicht nötig gehabt, wenn auch manchmal die Verpflegung knapp war, aber bei dem Wetter im Biwak zu liegen, – und immer auf Posten, immer des feindlichen Ausfalls gewärtig, das ist wahrlich auch keine Kleinigkeit, und ich habe während meines Aufenthalts im Hauptquartier die höchste Bewunderung vor der Armee empfunden. So gut wie hier,« sagte er lächelnd, indem er in dem komfortablen Salon umherblickte, – »so gut wie hier haben es die Armen da draußen vor Metz nicht.«

»Nun,« rief der Infanterieoffizier, indem er auf sein zerschossenes Bein herabblickte, »ich wäre doch, weiß Gott, lieber da draußen im feuchten Biwak mit gesunden Gliedern, als hier in diesem prachtvollen, behaglichen Schloß als Krüppel zu liegen, – mit der traurigen Aussicht,« fügte er seufzend hinzu, »es mein ganzes Leben zu bleiben!«

»Ja, ja,« rief der Dragoner, »ich tummelte wahrhaftig auch lieber meinen Gaul den Feinden entgegen, als hier untätig zu sein, während die Kameraden sich Ruhm und Auszeichnung erwerben, – ich zähle die Stunden, bis ich wieder zu meinem Regiment gehen kann, – hoffentlich werden sie mir noch etwas zu tun übrig gelassen haben. Es ist ja ganz schön hier,« fuhr er fort, »aber, weiß Gott, auch recht langweilig! Ja – wem es so gut wird wie unserem Johanniter, der kann es schon eher aushalten. Dieser Herr von Randow kann wahrlich von Glück sagen, daß er hier die Eroberung dieser bildschönen und so reichen jungen Dame gemacht hat. Ich habe mich nach den Verhältnissen erkundigt, die Güter sind zwar Majorat und fallen dem Vicomte zu, aber das Fräulein Hortense bekommt eine diesem ungeheuren Vermögen entsprechende Abfindung, es ist wahrhaftig eine brillante Partie.«

Der Kommerzienrat stand da, ein Bild starren Erstaunens, seine lebhaften kleinen Augen öffneten sich übermäßig weit, mechanisch klappte seine Hand den Deckel der Dose auf und zu, und mit fast erstickter Stimme fragte er:

»Herr von Rantow, mein –«

Er sprach das Wort nicht aus, das ihm schon den ganzen Abend auf der Zunge schwebte, das anzubringen er so eifrig nach einer Gelegenheit gesucht hatte.

»Jawohl, Herr von Rantow,« sagte der Infanterieoffizier, »übrigens ein vortrefflicher, liebenswürdiger Mensch, dem ich die Partie herzlich gern gönne. Eine kurze Zeit lang schienen sie gespannt zu sein, aber jetzt ist alles wieder im besten Gange. Sehen Sie nur dorthin, – die haben schon Frieden geschlossen, ohne daß sich Graf Bismarck und Herr Jules Favre hineingemischt!«

Der Kommerzienrat wandte sich um und folgte der Richtung der Blicke des Offiziers.

Er sah Fräulein Hortense mit niedergeschlagenen Augen, sanft auf die Lehne des Fauteuils herabgebeugt, den Worten des jungen Johanniters lauschend, welcher mit glühenden Blicken zu ihr sprach. Er sah, wie sie endlich die Augen aufschlug, er sah den feuchten Glanz dieser Augen, er sah das Lächeln ihrer Lippen, als Herr von Rantow wie beschwörend seine Hand auf die Brust legte, er sah endlich, wie sie, die auf ihr Gespräch gerichtete Aufmerksamkeit bemerkend, mit leichtem Erröten dem jungen Mann einige Worte zuflüsterte, sich dann schnell erhob und zu ihrem Bruder hintrat, der, im Gespräch mit einigen französischen Offizieren, finster und traurig in einer Ecke des Salons saß.

Das heitere Lächeln verschwand von dem Gesicht des kleinen Kommerzienrats, langsam steckte er seine Dose in die Tasche und begrub sein Kinn tief in seinen weißen Hemdkragen.

Das Gespräch der Offiziere setzte sich in heiterer und leichter Weise über gleichgültige Gegenstände fort. Der Kommerzienrat aber nahm an demselben nur durch einige einsilbige Bemerkungen teil und schien, in tiefe Gedanken versunken, nach einem Entschluß zu suchen.

Das Gespräch zwischen Herrn von Rantow und Fräulein Hortense war aber nicht allein von ihm bemerkt worden, in einer Ecke des Saals stand still und bescheiden der Sekretär Bertin und seine Augen hatten glühend in dunklem Feuer zu den jungen Leuten hinübergeblickt, über deren Häuptern die goldene Lichtwolke der Jugend und der Liebe zu schweben schien. Als Fräulein Hortense aufstand, ging er leise und unbemerkt zur Tür und verschwand aus dem Salon.

Herr von Rantow aber trat an das Fenster und blickte durch die großen Scheiben in den nächtlich finstern Park hinaus, auf dessen Baumwipfel einzelne Sterne durch die dahinfliegenden, zerrissenen Wolken ihre zitternden Lichtstrahlen herabschießen ließen.

Die Unterhaltung stockte überall. Die Nachricht von der Kapitulation von Metz hatte den durch das gemeinsame Lazarettleben zwischen den deutschen und französischen Offizieren entstandenen geselligen Verkehr unterbrochen. Die Franzosen waren traurig und gedrückt, und die Deutschen wagten aus Rücksicht auf die Empfindungen ihrer Gegner nicht, ihre Freude laut werden zu lassen. Fräulein Hortense schien dies zu fühlen, und früher als gewöhnlich zog sie sich, die Gesellschaft durch eine freundliche Verneigung grüßend, in ihr Zimmer zurück. Alle wußten ihr im stillen Dank dafür und verließen ebenfalls den Salon, und Herr von Rantow, welcher nach der Entfernung der jungen Dame aus seinen glücklichen Träumen wieder zum Bewußtsein der peinlichen Wirklichkeit erwacht war, trat befangen zu dem Kommerzienrat heran und erbot sich, ihn nach seinem Zimmer zu führen.

Der Kommerzienrat erwiderte nichts und folgte ihm schweigend aus dem Salon. Herr von Rantow befahl einem der Diener zu leuchten, und bald war man durch den langen, hallenden Korridor zu der für den Kommerzienrat bestimmten Wohnung gekommen. Der Diener stellte einen silbernen Armleuchter auf den Tisch und entfernte sich.

Herr von Rantow reichte Herrn Cohnheim die Hand, um ihm gute Nacht zu wünschen. Der Kommerzienrat aber ergriff seine Hand nicht, sondern schlug die Arme übereinander und sprach ernst und feierlich:

»Ich muß noch ein Wort mit Ihnen sprechen, Herr Baron, denn wenn Sie sich auch alle mögliche Mühe gegeben haben, mich von der Unterhaltung mit unsern Landsleuten zurückzuhalten, so bin ich doch dazu gekommen zu hören, was man spricht, – und ich habe auch gesehen,« fügte er mit Betonung hinzu, »was außer mir viele gesehen haben.«

Herr von Rantow zitterte und suchte vergeblich dem fragenden Blick, welchen er auf den Kommerzienrat richtete, einen unbefangenen Ausdruck zu geben.

»Herr Baron,« fuhr der Kommerzienrat fort, »als Sie bei mir um die Hand meiner Tochter anhielten und ich Ihnen mein einziges Kind anvertraute, war ich überzeugt, dessen Schicksal in die Hand eines Mannes von Ehre zu legen –«

»Und nun?« fiel Herr von Rantow ein, indem eine glühende Röte sein Gesicht färbte.

»Und nun?« wiederholte der Kommerzienrat, – »das will ich Sie fragen. Ist es wahr, was man hier im Schloß sagt und was ich nach dem, was ich gesehen, für wahr halten muß? – Und wenn es wahr ist, – ist es von Ihnen ehrenhaft gehandelt gegen meine Tochter und ehrenhaft gegen die junge Dame, welche hier, wie es scheint, die Erinnerung an meine Tochter in Ihrem Herzen ausgelöscht hat?«

Herr von Rantow ging in tiefer Erschütterung einige Male mit großen Schritten auf und nieder. Dann blieb er vor dem Kommerzienrat stehen, und indem er ihn frei ansah, sprach er mit fester Stimme:

»Ich freue mich, daß diese Erklärung stattfindet, ich hätte sie sogleich meinerseits beginnen sollen, – und daß ich das nicht getan habe, ist das einzige Unrecht, das ich mir vorwerfe. Sie wissen selbst, Herr Kommerzienrat, daß meine Verbindung mit Ihrer Familie ebensosehr von Ihnen und meinem Vater, als von Fräulein Anna und mir herbeigeführt worden ist. Bei aller Verehrung, die ich für Ihre Fräulein Tochter hege, ist dabei doch, wie ich glaube, weder auf der einen noch auf der andern Seite von einer eigentlichen Liebe die Rede gewesen, von einer solchen Liebe, wie sie mich jetzt ergriffen hat. Mit dieser Liebe im Herzen, so hoffnungslos sie sein mag, denn leider ist sie ja unter diesen Verhältnissen der nationalen Feindschaft fast hoffnungslos, kann ich meinerseits Ihrer Fräulein Tochter die Hand nicht reichen, ohne ihr wenigstens vollkommene Klarheit über den Zustand meines Herzens zu geben. Es ist der Wille des Schicksals,« fuhr er fort, »daß es so gekommen ist – vielleicht – ich glaube es gern – ist es ein Glück für Ihre Tochter. Die Verpflichtung, welche ich habe, habe ich nur ihr allein gegenüber, und sie hat darüber allein zu entscheiden, ob sie mich dieser Verpflichtung entbinden will oder nicht. Ich werde heute noch an Fräulein Anna schreiben, ich werde ihr aufrichtig, frei und ohne Rückhalt den Zustand meines Herzens darlegen, und wenn sie trotz des Gefühls, welches ohne Zutun meines Willens übermächtig mein Herz beherrscht, mir ihre Hand reichen und mir ihr Leben anvertrauen will, so werde ich, das schwöre ich Ihnen, mein Wort halten, und ich schwöre Ihnen weiter, daß ich alles aufbieten werde, um Ihre Tochter so glücklich zu machen, als es unter solchen Verhältnissen möglich sein kann.«

Der Kommerzienrat hatte finster, immer mit niedergeschlagenen Augen dastehend, die Worte des Barons angehört. Seine Lippen bebten vor Zorn, seine kleinen Augen sprühten Feuer, und sich auf den Zehenspitzen hoch emporrichtend, sprach er:

»Ich weiß genug, Herr Baron. Sie haben nicht nötig, an meine Tochter zu schreiben, Sie haben nicht nötig, mir zu sagen, daß Sie Ihr Wort halten werden. Meine Tochter ist nicht dazu da, um einen Mann an seinem gegebenen Wort festzuhalten. Die Tochter des Kommerzienrats Cohnheim«, fuhr er, sich noch stolzer aufrichtend, fort, »kann überall Partien finden, Partien, Herr Baron, die hinter Ihnen nicht zurückstehen.«

»Ganz gewiß, Herr Kommerzienrat,« sagte Herr von Rantow, »ganz gewiß, bessere und würdigere wie ich, – Sie werden nur aber gewiß erlauben –«

»Ich werde mir erlauben,« rief der Kommerzienrat, »zu bemerken, daß nach meiner Meinung – wir nichts mehr miteinander zu erörtern haben!«

»Doch, Herr Kommerzienrat,« sagte der Baron von Rantow, »ich glaube, daß wir noch vieles miteinander zu erörtern haben, vor allen Dingen die Art und Weise, wie die Verbindung, welche zwischen uns bestand, wenn Fräulein Anna dieselbe lösen will, auf die freundlichste Weise gelöst werden könne. Indessen will ich«, fuhr er fort, »in diesem Augenblick nicht auf diese Erörterung dringen, die Ruhe der Nacht wird Sie geneigter machen, in dieselbe einzutreten.«

Er verneigte sich artig vor dem Kommerzienrat, der steif und kalt seinen Gruß erwiderte, und ging hinaus, um sich nach seinem Zimmer zu begeben.

Lange sann er über das nach, was ihm so plötzlich und unerwartet begegnet war; fast wollte es ihm als ein Glück erscheinen, daß in die Verhältnisse, welche ihn so lange peinlich gedrückt hatten, wenigstens nach der einen Seite hin Licht gekommen war, und mit beinahe freudigem Gefühl schrieb er einen Brief an Fräulein Cohnheim, in welchem er sich offen und rückhaltslos aussprach und die Entscheidung in ihre Hand legte. Überzeugt zwar, daß diese Entscheidung nichts anderes sein könne, als die Auflösung ihrer Verbindung, war er dennoch auch gewiß, Fräulein Anna keinen Schmerz zu bereiten, ihr vielmehr für ihr ganzes künftiges Leben einen Dienst zu leisten, wenn er sie vor der Fessel einer kalten, gleichgültigen Ehe bewahrte. Sein Brief war herzlich und freundlich, und mit einer hoffnungsvollen Freudigkeit, wie er sie seit lange nicht empfunden, legte er sich zur Ruhe. – – –

Am andern Morgen ließ er durch seinen Diener anfragen, ob der Kommerzienrat bereits zu sprechen sei. Er erhielt zu seinem Befremden die Antwort, daß Herr Cohnheim schon abgereist sei, zugleich wurde ihm ein Brief überreicht, den derselbe für ihn zurückgelassen habe. Schnell erbrach er denselben und las:

»Herr Baron, ich kehre nach Berlin zurück, um den Meinigen, sowie Ihren Eltern die Nachricht zu überbringen, daß die Verbindung, welche zwischen unseren Familien beabsichtigt war, aufgehoben worden ist. Ich bitte Sie, jeden Briefwechsel mit meiner Tochter zu unterlassen, jeder Versuch zur Wiederanknüpfung früherer Verbindungen würde vergeblich sein, denn mein Entschluß ist unwiderruflich.« –

Langsam und nachdenklich faltete er den Brief zusammen.

»Ich glaubte, er legte einen so großen Wert darauf, seiner Tochter einen Titel und einen alten Namen zu geben,« flüsterte er leise, – »es gefällt mir von ihm, daß er mich so kurz abfertigt, ich habe es ja auch verdient, – aber so darf sich das alles doch nicht lösen. Warum soll ein begangener Irrtum, – ein Irrtum, der von beiden Seiten begangen wurde, – nicht freundlich wieder gutgemacht werden? Mein Brief soll dennoch abgehen, und ich bin überzeugt, daß Fräulein Anna mich milder beurteilen wird als ihr Vater.«

Während er den Brief, welchen er in der Nacht geschrieben hatte, siegelte und seinem Diener zur Beförderung durch die Feldpost übergab, wurde es plötzlich laut im Schloßhof. Man hörte Jubelrufe, dann eiliges Hin- und Herlaufen in den Korridors. Ein wunderbares Leben schien das ganze, sonst so ruhige Schloß erfaßt zu haben.

Der Baron trat an das Fenster seines Schlafzimmers und sah die sämtliche Dienerschaft im Hof versammelt um einen leichten, offenen Wagen, aus welchem soeben, in einen weiten Reisemantel gehüllt, ein Herr von ausfallend vornehmer Erscheinung und Haltung stieg. Der Baron zweifelte keinen Augenblick, daß es der Graf von Villebois sei, welcher von der so freudig bewegten und doch so ehrfurchtsvoll ihn umringenden Dienerschaft begrüßt, nach seinem Schloß zurückkehrte.

»Wie wunderbar,« sagte er, »sollte jetzt, nachdem meine Vergangenheit ihren Abschluß gefunden, auch meine Zukunft sich entscheiden?«

Während er noch voll Interesse zu dem Grafen herabsah, welcher jedem einzelnen der herbeigeeilten Diener einige freundliche Worte sagte, flog Fräulein Hortense, die zum Portal des Schlosses hinabgeeilt war, in die Arme ihres Vaters, der sie lange an seine Brust drückte und dann, ihr seinen Arm bietend, mit ihr die Stufen zum Eingang hinaufstieg.

Herr von Rantow trat vom Fenster zurück, gedankenvoll machte er seine Toilette und ergriff dann ein Buch, um die Zeit zu erwarten, in der es ziemlich sein würde, sich dem Herrn dieses Schlosses vorzustellen, das sich so gastlich und freigebig der Pflege der Verwundeten geöffnet. Sein Blick aber haftete nicht auf den Zeilen des Buches, und sein Geist nahm nichts von dessen Inhalt in sich auf. Wirre, widersprechende Gedanken durchkreuzten sich in seinem Innern, er fühlte, daß der Augenblick nun kommen müsse, in dem der Vorhang sich lüften werde, dessen Schleier sein künftiges Schicksal verhüllte, und fast bebte er vor diesem Augenblick zurück in dem Gedanken, das Glück für immer zu verlieren, das seine Hoffnung ihm zuweilen schon als wirklich gezeigt hatte.

Er mochte vielleicht eine Stunde so gesessen haben, als sein Diener schnell eintrat und ihm den Grafen von Villebois meldete.

Erschrocken sprang der junge Mann auf und eilte dem Grafen entgegen, der mit ernster, bekümmerter Miene zu ihm eintrat.

»Mein Gott,« rief er, »Herr Graf, Sie bemühen sich zu mir. Ich erwartete nur, daß Sie sich ein wenig von Ihrer Reise ausgeruht hätten, um Ihnen meinen Besuch zu machen.«

»Ich habe Ihnen zu danken, Herr Baron,« erwiderte der Graf, »für die Unterstützung, die Sie meiner Tochter in der Erfüllung ihrer Aufgabe, die Leiden des Krieges zu mildern, gewährt haben. Doch komme ich nicht deshalb schon jetzt zu Ihnen, – es ist vielmehr eine andere, – leider eine traurige Sache, die mich hierherführt.«

Der Baron hatte einen Sessel herbeigezogen, der Graf wehrte dankend mit der Hand ab und fuhr fort:

»Meine Tochter ist schon seit längerer Zeit sehr leidend gewesen und wurde in gewissen Zwischenräumen von einem eigentümlichen Zustand nervöser Überreizung befallen –«

Herr von Rantow zitterte. Vor seiner Erinnerung stieg jener Abend im Park herauf, an welchem er Fräulein Hortense in jenem Zustand gesehen, – jener Abend, der unvergeßlich in seinem Herzen eingegraben war.

»Meine Tochter ist, wie mir mein Sohn gesagt hat, fast von diesen Anfällen frei gewesen,« fuhr der Graf fort, »die Freude über meine Ankunft hat ihre Nerven aber in so hohem Grade erregt, daß sie unmittelbar darauf wieder in ihren ekstatischen Zustand zurückgesunken ist.«

»Mein Gott, Fräulein Hortense ist krank?« rief der Baron erschrocken, »welch ein Unglück!«

»Ja, sie ist krank,« sagte der Graf, »sie liegt in jener Art von somnambulen Krampf, welcher sie früher häufig erfaßte, und in diesem Zustand, Herr Baron, verlangt sie mit der größten Bestimmtheit nach Ihnen.«

»Nach mir! Mein Gott!« rief Herr von Rantow in der höchsten Verwirrung, indem ihn ein Gefühl wunderbaren Glücks durchschauerte.

»Sie verlangt nach Ihnen,« erwiderte der Graf, »und der Arzt sagt, daß ihr Wunsch erfüllt werden müsse, da bei solchen Leiden die Aufregung sich durch Widerspruch steigert. Ich hoffe, Sie werden deshalb die Güte haben, mich zu meiner Tochter zu begleiten, vielleicht, daß der Instinkt der Kranken fühlt, daß Sie einen ihr günstigen magnetischen Einfluß ausüben.«

»Ich bin bereit, Herr Graf,« erwiderte Herr von Rantow, dessen tiefe Erregung ihn keinen klaren Gedanken fassen ließ, – und er folgte dem Grafen, welcher ihn rasch nach der Wohnung seiner Tochter führte.

Fräulein Hortense lag in ihrem Boudoir in einem tiefen Lehnstuhl, die Füße auf ein Tabourett gestützt, – ihre Augen waren geschlossen, ihr Gesicht durchsichtig bleich, aber der Ausdruck stiller, glückseliger Verklärung lag auf ihren Zügen, – ihre feinen Hände ruhten verschlungen auf den schweren Falten ihres weiten Morgenüberrocks von dunkelblauer Seide. Neben ihr stand ihr Bruder, besorgt auf die Kranke herabblickend, deren Brust sich in tiefen, regelmäßigen Atemzügen hob und senkte.

»Bist du da, mein teurer Freund?« sagte sie mit halb leiser, aber vollkommen klarer und verständlicher Stimme, als der Graf mit Herrn von Rantow eintrat, – »mein Herz ist erfüllt von Sehnsucht nach dir. Ich kann nicht erwachen, wenn die wohltätige Kraft, welche von dir ausströmt, mir nicht zu Hilfe kommt.«

Es entstand ein Augenblick unendlicher Verlegenheit. Der Graf sah fragend seinen Sohn an und der Vicomte blickte mit zornfunkelnden Augen auf Herrn von Rantow, welcher, in diesem Augenblick alles andere um sich her vergessend, eine Bewegung machte, als wolle er zu den Füßen der Dame niedersinken.

»Du bist erstaunt, mein Vater,« fuhr Fräulein Hortense fort, – »und du, mein Bruder, blicke nicht zornig auf ihn, dein Blick tut mir weh, er brennt mich schmerzlich, wie ein glühender Stahl. Du darfst ihm nicht zürnen, er ist mein Freund, – die Seele meiner Seele, das Herz meines Herzens. Ihn habe ich gesehen mit meinem geistigen Auge in Metz, damals wußte ich, daß er mich heilen würde, daß er bestimmt sei, dich zu retten, mein Bruder, aus dem kleinen Hause, in welchem du verschmachtend lagst, daß er das Glück meines Lebens sein würde. Aber mein äußeres und mein inneres Leben waren getrennt; – während mein ganzes inneres Wesen ihm entgegenflog, war ich gezwungen, wenn mein innerer Blick und meine innere Empfindung sich verschlossen hatten, ihn kalt und fremd von mir zu stoßen. Aber seine Nähe, das Licht und die Wärme, die von ihm ausstrahlten, haben die gestörte Harmonie meiner kranken Natur wiederhergestellt, und auch im wachen Zustande ist mir immer klarer geworden, daß ich ihn allein liebe, daß er allein mein Glück ist!«

»Es ist heute zum letztenmal,« fuhr sie fort, »daß dieser Zustand mich ergreift, in welchem die Seele vom Körper sich trennt und frei über Zeit und Raum schwebt. Er wird mich erwecken, erwecken zu neuem und kraftvollem Leben, zu einem Leben seligen Glücks, – wenn er sich nie wieder von mir wendet und nie mehr sein Schicksal von dem meinen trennt.«

Sie schwieg einen Augenblick wie erschöpft. »Ich gebe Ihnen mein Wort,« sagte der Baron von Rantow, zum Grafen gewendet, – »daß ich –«

»Sprich nicht weiter, mein geliebter Freund,« sagte Hortense, »du vermagst es ebensowenig zu fassen und zu verstehen, was du siehst und hörst, als mein Vater und mein Bruder. Würde ich es doch selbst nicht verstehen, wenn der innere Sinn sich geschlossen hat, aber das eine weiß ich, daß die Liebe, welche bis jetzt in dem innern Leben meiner Seele glühte, von nun an auch im wachen Zustand mit übermächtiger Gewalt mich erfüllen wird, – glaube mir, mein Vater, er war mir bis jetzt ein Freund, ein treuer Freund, nichts weiter, wenn auch mein Gefühl immer mehr aus der dunklen Unklarheit sich emporrang. Von nun an aber wird er mein Leben, mein Glück, meine Welt und mein Himmel sein, und wenn du mich von ihm trennst, mein Vater, so wirst du das Todesurteil deiner Tochter sprechen.«

Der Graf und der Vicomte blickten stumm zur Erde. Das Auge des Barons hing mit verklärtem Entzücken an dem jungen Mädchen, das in wunderbarer Schönheit vor ihm saß und deren Worte seine Seele mit wonnevollem Schauer erfüllten.

»Jetzt, mein Freund,« sagte sie, »strecke deine Hand gegen meine Stirn aus und erwecke mich für die Liebe, – für das Glück, – für dich!«

Der Baron blickte fragend und zögernd auf den Grafen

»Ich bitte Sie, zu tun, was sie wünscht,« sagte dieser.

Herr von Rantow streckte seine Hand aus und näherte die Spitzen seiner Finger ihrer reinen, weißen Stirn.

»Wie der Strom von Glück und Licht zum Herzen flutet,« sagte Fräulein Hortense, – »Kraft und Leben durchdringt mich, – meine Seele fügt sich ein in das Gewebe meines Körpers, – eine Wolke senkt sich herab, – ich sehe dich nicht mehr«, flüsterte sie kaum hörbar.

Ihr Haupt sank etwas seitwärts nach ihrer Schulter herab, ihre Züge nahmen den Ausdruck eines ruhigen, tiefen Schlafs an, – dann machte sie einige leichte, unruhige Bewegungen, sie erhob die Hand und fuhr mit derselben über ihre Stirn. Hierauf schlug sie langsam die Augen auf und blickte wie aus tiefem Schlummer erwachend umher.

»Wie schwach ich bin,« sagte sie lächelnd, »ich glaube, ich bin ein wenig ohnmächtig gewesen. Wie doch die Freude so mächtig ergreifen kann! Nun, eine so freudige Erschütterung kann mir nicht schaden, ich werde mich bald wieder erholen, du darfst nicht besorgt sein, mein Vater. Ah, Sie sind hier, mein Herr,« sagte sie mit leichtem Erröten, den Blick auf Herrn von Rantow richtend, welcher bei ihrem Erwachen zur Seite getreten war.

»Der Herr Baron von Rantow, mein Vater,« fuhr sie fort, »hat mich treu unterstützt in dieser Zeit. Wir sind gute Freunde geworden,« sagte sie lächelnd, indem sie dem Baron die Hand reichte. »Herr von Rantow wird auch dein Freund werden, mein Vater, ohne seinen Beistand wäre mein Bruder vielleicht nicht mehr am Leben.«

Eine tiefe Bewegung zitterte bei den letzten, mit innigem Ton gesprochenen Worten seiner Tochter über das Gesicht des Grafen. Schweigend reichte er dem Baron die Hand, welcher dieser, ehrerbietig sich verneigend, ergriff.

»Doch jetzt bedarfst du der Ruhe, mein Kind,« sagte der Graf, »wir werden dich für einige Stunden allein lassen.«

Er küßte die Stirn seiner Tochter und verließ schweigend mit dem Baron und seinem Sohn das Zimmer. Im Vorzimmer wandte er sich zu Herrn von Rantow und sprach ruhig und ernst:

»Sie werden begreifen, mein Herr, daß die ernste und entscheidende Unterredung, welche wir infolge der eben stattgefundenen Szene miteinander werden zu führen haben, in diesem Augenblick nicht angemessen wäre. Sie sind ein Deutscher, und ich bin Franzose, noch trennt der blutige Krieg unsere Nationen, und ich bitte Sie, den Gegenstand, der uns beiden so naheliegt, nicht eher zu berühren, als bis der Friede diesem mörderischen Kampf wird ein Ende gemacht haben. Ich wünsche, daß dies bald geschehe, und daß der Friede, wie er der Welt Heil und Segen geben wird, auch uns Glück bringen möge.«

Herr von Rantow verneigte sich schweigend und zog sich in sein Zimmer zurück, während der Vicomte dem Grafen nach dessen Wohnung folgte.


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