Gregor Samarow
Held und Kaiser
Gregor Samarow

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Neuntes Kapitel

In dem Badezimmer des Barons von Rothschild im Schloß zu Ferrières hatte der König Wilhelm sein Arbeitskabinett einrichten lassen. Die Badewanne war mit einem Teppich bedeckt und durch eine Chaiselongue maskiert, ein großer viereckiger Tisch war in die Mitte des Raumes gestellt, und auf demselben lagen in regelmäßigster Ordnung die verschiedenen, für die persönliche Einsicht Seiner Majestät bestimmten Briefe und Berichte, und teils verschlossene, teils schon geöffnete Mappen standen daneben an die Seiten des Schreibtisches gelehnt. Alle die kleinen Gegenstände, welche den König auf seinen Reisen und Feldzügen zu begleiten pflegen, waren an ihren gewohnten Plätzen, und dieser stille Raum in seiner ernsten Einfachheit, seiner ruhigen Ordnung und seiner freundlichen Behaglichkeit hätte kaum vermuten lassen, daß sich hier der Mittelpunkt so ungeheurer Streitkräfte befinde, welche von diesem einfachen Zimmer aus mit mathematischer Sicherheit wie auf einem Schachbrett geleitet wurden.

Der König saß völlig angekleidet, aber mit aufgeknöpftem Militärüberrock vor seinem Schreibtisch und war beschäftigt, die auf demselben liegenden Sachen durchzusehen. Seine Majestät sah frisch und blühend aus in den reinen Farben des ernstruhigen, milden Gesichts, diesen so jugendlichen Farben, die ebenso wie die klaren, hellen Augen nicht mit dem schneeweißen Bart und Haar zusammenzupassen schienen.

Er legte die Spenersche Zeitung, welche er, langjähriger Gewohnheit gemäß, durchblättert hatte, lächelnd auf den Tisch.

»Sie haben die Statue des großen Friedrich arg mitgenommen in ihrer Siegesfreude,« sagte er heiter, – »die Berliner Jungen, – welche so arge Rangen sind und dann tüchtige, herrliche Soldaten werden, wenn sie den blauen Rock angezogen haben. Nun, der alte Herr wird's ihnen nicht übelgenommen haben, – er stand ja mit ihnen auf gutem Fuß, – sie haben ihm bei Lebzeiten sich auch an die Steigbügel gehangen, und geduldig ließ er sich von ihnen belehren, daß Mittwoch nachmittag keine Schule sei! – Er wußte wohl, daß aus diesen Straßenjungen die Männer erwachsen, mit denen er bei Leuthen und bei Roßbach siegte. – Gott erhalte sie, die richtigen Berliner Jungen,« sagte er mit glänzendem Blick, – »und gebe ihnen noch oft solche Gelegenheit, das Denkmal ihres ›alten Fritzen‹ zu erklimmen.«

Er wendete sich zu den Briefen, welche der Geschäftsordnung gemäß, als zur Privatkorrespondenz gehörig, zu seiner eigenhändigen Eröffnung auf den Tisch gelegt waren.

Mehrere derselben hatte er erbrochen und schnell durchlesen, als er betroffen auf ein Schreiben blickte, das ein großes schwarzes Siegel trug.

Einen Augenblick zögerte er, – es schien, als fürchte er, die heitere Morgenstimmung durch eine Trauernachricht sich trüben zu lassen.

»Was wird das sein?« flüsterte er leise, – »je weiter wir vorschreiten auf der Lebensbahn, um so schmerzlicher berührt uns das Ausscheiden eines jeden aus dem Kreise der Bekannten und Freunde, – wird der Kreis doch immer mehr gelichtet, der uns in der Jugend in so reicher Fülle umgab! – Doch nein, mein Gott, nein,« sagte er dann, das Auge aufwärts richtend, – »in Demut und Dank erkenne ich es an, daß du mir immer reicher und voller deine Gnade geschenkt hast, – wohl sind viele – viele dahin, mit denen ich in fröhlicher Jugendlust mich freute, – manches Herz,« sprach er mit bebender Stimme, »das mir warm entgegenschlug, steht still in ewiger Ruhe, – aber sind sie mir nicht in so großem, reichem Kreise nahegetreten in diesen gewaltigen Tagen, diese Waffengefährten alle, die Lorbeeren auf Lorbeeren um meine Krone winden, – umgibt mich mein ganzes Volk nicht noch inniger, noch wärmer und treuer, – wendet sich nicht auch des lange zaudernden und zögernden Deutschlands Vertrauen mir zu – Ja,« rief er, »das Alter, das sonst alles unerbittlich raubt, hat mir viel Großes und Herrliches mit reichen Händen gegeben, – Dank dem Herrn!«

Er erbrach den Brief.

»Die Prinzessin Amalie von Sachsen!« sagte er mit wehmütigem Ton, nachdem er den Inhalt durchflogen, – »es war ein stilles, sanftes Leben, das sich da geschlossen hat, einfach und bescheiden, aber wohltuend und heiter, – Amalie Heiter nannte sie sich ja als Dichterin, – Gott gebe ihr sanfte Ruhe! – Der arme König Johann tut mir leid, – er hing an dieser Schwester und hat schon so Schweres ertragen. Die neue Zeit hat ihn hart und schmerzlich getroffen, – ich weiß es wohl und erkenne es um so höher an, daß er so treufest am gegebenen Wort hält. – Nun, unsere Tage werden das alles versöhnen und verklären, die braven Sachsen haben so herrlich mitgerungen im großen Kampf, und der Kronprinz hat so vollen Anteil an dem Ruhmeskranz der deutschen Waffen! – Könnten doch alle Erinnerungen so versöhnt werden,« sagte er leise und schmerzlich, – »der arme Georg –« Er ließ den Kopf auf die Brust sinken und saß einige Augenblicke mit gefalteten Händen still da.

Dann ergriff er eines der übrigen geordnet daliegenden Papiere.

»Ah,« sagte er, »der Bericht des Komitees der deutschen Nordpolfahrt, – ich habe ihn zurücklegen lassen und will ihn eingehend lesen, sobald ich einen Augenblick Muße habe.«

Er blätterte nachdenklich in dem Bericht.

»Der Schoner Hansa ist untergegangen, – aber die Germania ist nach langer, mühevoller Fahrt glücklich im Hafen eingelaufen,« sagte er, den Bericht langsam auf den Tisch legend, – »die Hansa – das ist das Bild der alten Gestaltung Deutschlands, in welcher die Sonderbündnisse der einzelnen getrennten Teile die Macht und Kraft ersetzen sollten, die dem Ganzen fehlten, – und die Germania, – nun, so Gott will, wird auch das große Deutschland in einen mächtigen, sicheren Hafen einlaufen, der die Früchte seiner Arbeit und seines Fleißes schützt gegen die ganze Welt. – Wie wunderbar,« sprach er weiter, – »die großen Ereignisse einer weltgestaltenden Zeit oft mit den kleineren in bedeutungsvoller Beziehung stehen! Während hier die deutschen Heere auf den Schlachtfeldern die Anerkennung deutscher Macht vor Europa erkämpften, hat dort ebenso unerschrocken und tapfer eine kleine Schar den starren Eisfeldern des Pols frische Lorbeerblätter für den Ruhm der deutschen Wissenschaft abgerungen. Und so soll es bleiben,« rief er mit vollem Ton, – »immer fester geeinigt soll deutsche Kraft und deutscher Geist überall dastehen, allezeit als Mehrer des Ruhms und der Herrlichkeit der Nation!«

Er wendete sich zu dem nächsten Bericht, und ein schmerzlich trüber Schatten zog über sein Gesicht.

»Petitionen wegen der Verhaftung Johann Jacobys in Königsberg,« sagte er, die Blätter durchfliegend, – »wie schmerzt es mich, daß ein solcher Mißklang in der Heimat die Siegesfreude stört! – wie gern möchte ich Gnade walten lassen! – aber noch stehen wir vor dem Feind, – Vogel von Falckenstein weiß, was er tut, – die militärische Autorität darf nicht erschüttert werden, – hätte ich diese Autorität nicht so unantastbar festgehalten, so wäre das hohe Ziel, an dem wir heute stehen, niemals erreicht worden! Daß sie das doch so schwer, – so schwer begreifen wollen, – sie sprechen von nationaler Einheit und Macht und wollen doch selbst in dieser ernsten Entscheidungszeit ihre persönlichen Meinungen nicht dem großen Ganzen unterordnen!«

Seufzend legte er den Bericht auf den Tisch zurück.

Der diensttuende Flügeladjutant trat ein und meldete Seine königliche Hoheit den Großherzog von Mecklenburg-Schwerin.

Schnell stand der König auf, knöpfte den Überrock zu und trat dem Großherzog entgegen, der in der Generals-Kampagneuniform mit dem Stern des schwarzen Adlerordens,, dem Orden pour le mérite und dem mecklenburgischen Militärverdienstkreuz in militärischer Haltung sich seinem königlichen Oheim näherte.

Der König hörte freundlich lächelnd die dienstliche Meldung des Großherzogs an, dann umarmte er denselben und küßte ihn.

»Ich freue mich herzlich, daß du kommst,« sagte er, – »ich erwarte auch Karl und Albrecht, – hoffentlich werden wir einmal einen ruhigen Tag verleben können, – die letzte Zeit hat mir kaum eine Minute Freiheit gelassen, – und bald wird es wohl wieder zu tun geben, denn die Pariser scheinen sich ernstlich wehren zu wollen.«

»Die Unterhandlungen also,« fragte der Großherzog, – »von denen wir hörten –«

»Sind gescheitert,« sagte der König, – »sie wollen die Bedingungen, die ich für den Waffenstillstand stellen mußte, nicht annehmen, es wird noch viel Blut – kosten,« fuhr er traurig fort, – »bevor sie sich der Notwendigkeit beugen –«

»Nun,« rief der Großherzog, – »zu lange wird das hoffentlich nicht dauern, denn einen ernsten Widerstand können sie doch nicht mehr leisten.«

Der König schüttelte den Kopf.

»Es kann noch recht, recht lange dauern,« sagte er, – »dieser Gambetta, der niemals Militär oder Beamter war, zeigt ein Organisationstalent, das mich erstaunen läßt, – und die Hilfsquellen Frankreichs sind größer, als man glaubt, – wenn sie eine legitime Regierung hätten, – wenn der Kaiser oder seine Regentschaft in geordneter Weise alle diese Anstrengungen machte, dann könnten sie uns noch schwere Arbeit auflegen, – aber auch so wird es lange genug dauern, – dazu kommt der Fanatismus, der das französische Volk ergreift, – ein solcher Krieg ist schwer und vor allem recht peinlich und traurig, – ich habe,« sagte er lächelnd, »mir meine Wintergarderobe von Berlin hierher bestellt, – doch«, fuhr er fort, auf ein Etui blickend, welches der Großherzog in der Hand hielt, – »was hast du denn da?«

»Ich habe eine Bitte an dich,« erwiderte der Großherzog, indem er das Etui öffnete, in welchem man ein Ordenskreuz erblickte, – »du trägst seit dem Jahre 1849 die zweite Klasse unseres Militärverdienstkreuzes, – ich möchte dich bitten, nun auch die erste Klasse desselben anzunehmen, – als ein Zeichen meiner Verehrung und meiner Bewunderung der gewaltigen Erfolge, die unter deinem Befehl errungen sind.«

Der König drückte dem Großherzog herzlich die Hand.

»Du weißt,« sagte er, »wie hohen Wert ich auf die militärischen Auszeichnungen lege, welche durch Verdienst vor dem Feind erworben werden, – ich danke dir recht sehr für deine Aufmerksamkeit, die mich mit den braven mecklenburgischen Truppen noch enger verbindet.«

Er nahm das Etui und blickte sinnend auf das Kreuz, das in demselben funkelte.

»1849 – und heute,« sagte er, – »welch einen Weg hat die Geschichte seit jener Zeit gemacht, – und wie danke ich Gott, daß dieser Weg glücklich und ruhmvoll vollendet ist! Damals galt es den Kampf gegen die Revolution, – gegen die verirrten und verblendeten Söhne Deutschlands, die heute geeinigt gegen den Nationalfeind im Feld stehen, – in jenen Sieg mischte sich Trauer und Bitterkeit einer unklaren, verworrenen Zeit, – heute ist alles licht und rein, – groß und klar, – die beiden Klassen deines Ordens stellen mir Anfang und Ende einer Bahn dar, auf der Gottes Gnade mich herrlich geführt hat. Nochmals meinen herzlichsten Dank!«

Der Flügeladjutant trat abermals ein und meldete:

»General von Obernitz, Kommandeur der königlich württembergischen Division.«

»Sogleich,« sagte der König, indem er das Etui mit dem Orden auf den Tisch stellte, – »General von Moltke soll kommen. – Du wirst hoffentlich gute Aufnahme finden, – Raum genug ist da in diesem Prachtschloß des Herrn von Rothschild, der mir nicht mehr die Ehre erzeigt, mein Generalkonsul zu sein,« sprach er dann lächelnd zum Großherzog, – »aber über dessen Gastfreundschaft ich mich nicht beklagen kann, – auf Wiedersehen –«

Er begleitete den Großherzog einige Schritte nach der Tür hin.

Einige Augenblicke darauf trat der General von Moltke und der württembergische General von Obernitz in das Kabinett.

Der letztere, ein verhältnismäßig noch junger Mann von raschem, militärisch feurigem Wesen, meldete sich dienstlich bei Seiner Majestät, um Bericht zu erstatten über das Gefecht, welches bei Sceaux, auf der Südseite von Paris, stattgefunden hatte.

»Ich bedaure sehr, nicht dort gewesen zu sein,« sagte der König, der neben seinem Schreibtisch stehen blieb, – »ich war am Morgen nach Saint-Denis geritten, wo ein kleines Gefecht stattfand, – das aber nur ganz unbedeutend war im Vergleich zu dem Zusammenstoß im Süden von Paris.«

»Es war dort ziemlich ernst, Majestät,« sagte der General von Obernitz, – »die sämtlichen gegen Paris heranrückenden Korps hatten sich im Südwesten vereinigt und erstürmten die Höhen bei Chatillon, Petit-Bicêtre und Sceanx. Das fünfte Korps namentlich und die Bayern kamen sehr scharf ins Feuer, – die Franzosen schlugen sich zuerst gut, – dann aber, bei Bicêtre namentlich, stob ein Zuavenregiment vor den ersten Granaten auseinander und riß bald die übrigen Truppen mit sich fort, so daß alles in wilder Flucht in die Vorstädte von Paris floh. Es war ein erhebender, großer Augenblick, als unsere Truppen zuerst von den Höhen, die sie erstürmt, die riesige Hauptstadt vor sich liegen sahen, – Seine königliche Hoheit der Kronprinz kam heraufgeritten und war fast der erste, der die feindliche Hauptstadt, in welcher man noch vor kurzer Zeit von einem militärischen Spaziergang durch Deutschland träumte, zu den Füßen der siegreichen deutschen Truppen liegen sah.«

»Wie gern wäre ich dort gewesen!« sagte der König. »Wie lebhaft steht die Zeit vor mir,« fuhr er fort, – »als ich vor langen Jahren auch diese Stadt zuerst vor mir liegen sah, – an der Seite meines Vaters, – damals war ich freilich noch so jung, – ich konnte kaum handelnden Anteil an den Ereignissen nehmen, – mein Sohn ist glücklicher,« fügte er freundlich hinzu, »er ist schon General und Feldherr, – das wird eine schöne Erinnerung für ihn sein.«

»Wenn unsere Truppen noch weiter vorgedrungen wären, Majestät,« sagte der General von Obernitz mit blitzenden Augen, »so hätten sie an jenem Tag mit den völlig aufgelösten französischen Truppen nach Paris eindringen und die Stadt nehmen können.«

Der General von Moltke schüttelte den Kopf.

»Seine königliche Hoheit der Kronprinz hat sehr recht gehabt, Majestät,« sagte er ruhig, – »der Versuchung zu einem solchen Handstreich zu widerstehen, – es wäre viel Blut unnütz vergossen; ein sicherer und zweifelloser Erfolg ist nur zu erreichen durch eine systematische Einschließung, welche Paris mit mathematischer Genauigkeit zur Übergabe zwingt.«

»Diese Einschließung ist fast vollendet,« bemerkte der General von Obernitz, – »Versailles ist besetzt, Seine königliche Hoheit der Kronprinz hat dort sein Hauptquartier genommen, und überall reichen sich die deutschen Korps die Hand.«

»Die Einschließung ist noch nicht an allen Punkten gleich stark und auch nicht völlig gesichert,« sprach der General von Moltke, – »die dritte Armee auf der Südseite hat noch die Glieder der Kette an allen Punkten festzuschließen, – es sind manche Schwierigkeiten zu überwinden, das Terrain mit dem Lauf des Flusses an den Höhenzügen ist der Verteidigung ungemein günstig –«

»Nun, das wird Fritz besorgen,« sagte der König mit zuversichtlichem Ton, – »freilich mit den Geschützen werden wir die Stadt immer nicht erreichen können –«

»Ich glaube,« sprach der General von Moltke mit einem feinen Lächeln, unsere Geschütze würden uns noch geringere Dienste leisten als die einfache Einschließung, – die Pariser werden wohl bald unter sich aneinander geraten, wenn sie gezwungen sind, still und ruhig zu bleiben, und wenn ihre Deklamationen keine anderen Zuhörer finden als sie selbst –«

Der König neigte zustimmend den Kopf.

»Diesmal muß ein Ende gemacht werden, – nur wenn sie von dem Glauben an ihre Unbesiegbarkeit gründlich zurückkommen, wird man künftig mit ihnen in Frieden leben können. – Ich danke Ihnen, Herr General,« sagte er dann zum General von Obernitz, – »ich werde Sie bei Tisch noch sehen.«

Die Ankunft der Prinzen Karl und Albrecht wurde gemeldet, der König entließ die Generale, bald kamen die übrigen in Lagny einquartierten deutschen Fürsten, und Seine Majestät machte mit denselben einen Rundgang durch alle Räume des Schlosses und durch den Park bis zur Zeit des Diners, das in dem großen Speisesaal serviert wurde, dessen Wände mit prachtvollen, in das Getäfel eingelassenen Bronzereliefs geschmückt sind.

Die größten und schönsten dieser Reliefs stellen in herrlicher Arbeit den Sturz des Phaëton und den Himmelssturm der Giganten dar, und mancher Blick richtete sich auf diese Bilder, die in so wunderbarer Beziehung herabblickten auf den siegreichen königlichen Feldherrn Deutschlands, der hier, von den Fürsten seines Volkes umgeben, Tafel hielt, während der französische Imperator, dem Phaëton gleich, zerschmettert herabgestürzt war von seiner vermessenen Fahrt zu den geträumten Sonnenhöhen europäischer Schiedsherrlichkeit, und während überall in Frankreich die Elemente der Revolution sich emporrichteten zum Titanenkampf gegen das deutsche Königtum von Gottes Gnaden, das von dem Felsen der treuen Liebe seines Volkes herab dem wilden Ansturm seinen leuchtenden Schild entgegenhielt mit dem einfachen Kreuzeszeichen.

*

Während der König mit den Fürsten und seinen Generalen noch bei der Tafel saß, an welcher auch der württembergische Kriegsminister von Suckow und der Minister von Linden teilnahmen, fuhr Herr Regnier auf einem leichten, offenen Wagen wieder an der Säulenhalle des Schlosses vor, und nachdem er etwa eine Stunde in einem Zimmer des Erdgeschosses, in dem man ihm einige Erfrischungen servierte, gewartet hatte, wurde er abermals in das Arbeitskabinett des Ministerpräsidenten Grafen Bismarck geführt, der soeben vom Diner Seiner Majestät kam und den weißen Waffenrock des magdeburgischen Kürassierregiments Nr. 7 mit den Schulterstücken des Generalmajors trug, den Stern des schwarzen Adlerordens auf der Brust.

Er trat Herrn Regnier lebhaft entgegen und lud ihn ein, sich neben seinen Schreibtisch zu setzen, während er selbst auf dem Kanapee davor Platz nahm, auf welchem diesmal kein Taschentuch lag. Der Revolver des Grafen befand sich an seinem gewöhnlichen Platz auf dem Schreibtisch.

»Nun, mein Herr,« begann der Ministerpräsident, – »wie weit sind Sie gekommen? – ich habe gehört, daß der Marschall Bazaine den General Bourbaki zur Kaiserin geschickt hat, – Sie haben mein Telegramm erhalten und werden wissen, daß ein Waffenstillstand mit der Regierung in Paris nicht zustande gekommen ist, – was bringen Sie? – wird es möglich sein, über den Frieden zu unterhandeln, der für beide Nationen eine Wohltat, – für Frankreich eine Notwendigkeit ist?«

Herr Regnier hatte fast mit Ungeduld das Ende der Anrede des Grafen Bismarck erwartet, – er richtete sich gerade auf, zog ein Papier mit Notizen aus der Tasche und sprach, während der Ministerpräsident ihn mit seinen scharfen, stahlgrauen Augen erwartungsvoll ansah:

» Veni vidi, – ich bin gekommen mit manchen Schwierigkeiten und Mühsalen, – ich habe gesehen vieles Traurige und Schmerzliche, – den dritten Teil dieser Phrase Cäsars,« fuhr er fort, – »darf ich nicht wiederholen, – am wenigsten Ihnen gegenüber wiederholen, der Sie ein besonderes Anrecht darauf haben. Ich habe vor allem mir, meinem Vaterlande, ja, wie ich glaube, dem ganzen Europa Glück zu wünschen, daß ich in Eurer Exzellenz einen jener seltenen Männer gefunden habe, welche große Ideen zu erfassen und zu benützen verstehen, und daß es mir dadurch gelang, den Weg zum Frieden zu öffnen.«

Der Graf von Bismarck blickte ein wenig erstaunt auf Herrn Regnier, welcher diese Worte mit einer großen selbstgefälligen Zuversicht gesprochen hatte.

»Und der Marschall Bazaine?« fragte er rasch und kurz.

»Der Marschall,« erwiderte Herr Regnier, »ist bereit, mit seiner Armee die Basis zum Friedensschluß zu bilden, wie ich denselben mit Eurer Exzellenz besprochen habe.«

»Und haben Sie eine Erklärung, – eine Vollmacht des Marschalls mitgebracht?« fragte Graf Bismarck.

Er hat mir durch seine Unterschrift dasjenige bestätigt,« erwiderte Herr Regnier, »was er mit mir besprochen.«

Er zog aus seinem Portefeuille die Photographie von Hastings hervor und reichte dieselbe dem Ministerpräsidenten, indem er mit dem Finger auf den unter den Zeilen des kaiserlichen Prinzen befindlichen Namenszug des Marschalls deutete.

Graf Bismarck betrachtete einen Augenblick dies Blatt, dann sah er tief und forschend diesen Mann an, der ihm so zuversichtlich gegenübersaß und mit zwei Unterschriften auf einem unbedeutenden und gleichgültigen Bild in der Hand eine Verhandlung zu führen unternahm, welche über das Schicksal einer großen Nation und über die künftigen Verhältnisse Europas entscheiden sollte.

Herr Regnier sprach lebhaft weiter:

»Eure Exzellenz haben Frankreich besiegt – und ich kann nicht von Ihnen verlangen, daß Sie das Prinzip des Vae victis, welches zu allen Zeiten der Geschichte für die Sieger maßgebend war, verleugnen sollten, – aber ich darf Sie daran erinnern, – und ein so großer Mann wie Sie wird mich verstehen, – daß Sie bei den Forderungen, die Sie den Besiegten stellen, zwei Rücksichten vor allem zu beobachten haben.«

Graf Bismarck schien sprechen zu wollen. Dann aber blitzte es in seinem Auge auf wie das Interesse an einem wunderbaren und außergewöhnlichen Phänomen, dessen Wesen und innern Zusammenhang zu ergründen den Geist reizt. Er stützte die Hand auf das Knie und neigte den Kopf wie zum Zeichen, daß er zu hören bereit sei.

Herr Regnier fuhr fort:

»Ihre Erfolge, Herr Graf, sind groß, – Ihre Position erscheint drohend und unangreifbar, – und doch hat sie ihre schwachen Stellen, – wie ich Ihnen zu sagen nicht nötig habe. Sie befinden sich mit Ihrer ganzen Macht weit vorgeschoben in einem feindlichen Lande, das täglich mehr von dem nationalen Fanatismus wird ergriffen werden, – die Flammen, welche hier rund um Sie her emporlodern, können gefährlich, – überwältigend werden, – die europäischen Mächte halten zurück, – erschrocken über die so gewaltigen, aller Berechnung spottenden Ereignisse, – wenn Österreich sich aufraffte –«

Graf Bismarck zuckte kaum merklich die Achseln, ohne daß sich in dem kalten, ruhig-aufmerksamen Ausdruck seines Gesichtes die geringste Veränderung zeigte.

»Rußland steht dahinter, – ich weiß es,« sagte Herr Regnier, – »aber auch dort könnten Wendungen – Veränderungen der Stimmung eintreten, – Sie werden jedenfalls einräumen, daß eine Verlängerung der gegenwärtigen Situation auch für Sie Gefahren in sich schließt, welche Sie besser vermeiden, und daß die Klugheit Ihnen raten muß, die Früchte Ihrer Siege so schnell als möglich und ohne neue Opfer in Sicherheit zu bringen.«

Er hielt einen Augenblick inne, – Graf Bismarck saß unbeweglich und schweigend da, es wäre unmöglich gewesen, in den Zügen seines Gesichtes irgendein zustimmendes oder abweichendes Urteil über die vernommenen Worte zu lesen.

»Dies der Gesichtspunkt der Gegenwart,« fuhr Herr Regnier fort, – »ein Staatsmann wie Sie, Herr Graf, muß aber auch auf die Zukunft Rücksicht nehmen, – und deshalb bitte ich um die Erlaubnis, einen Blick in die Zukunft werfen zu dürfen. Es wird eine Zeit kommen,« sprach er in hoch erhobenem Ton, »in welcher Eure Exzellenz nicht mehr die Politik Preußens, das von nun an Deutschland sein wird, leiten, – dann werden die Verhältnisse, nicht mehr beherrscht und gelenkt von einem übermächtigen und außerordentlichen Geist, in ihre natürlichen Rechte treten. Welches aber werden diese Verhältnisse sein? Ich sehe vor mir,« fuhr er immer lebhafter fort, »ein deutsches Kaiserreich mit siebzig Millionen Menschen, – daneben ein moskowitisch-slawisches Kaiserreich mit hundertfünfzig Millionen, auf der anderen Seite Frankreich; – neu gestärkt und gekräftigt durch seinen Handel, seinen Gewerbefleiß, seine ökonomische Arbeit, wird es an die Spitze eines großen Bundes der lateinischen Rassen treten, – eines Bundes, der ebenfalls hundertfünfzig Millionen Menschen umfassen wird, die noch inniger geeinigt sein werden durch das feste, gemeinsame Band der katholischen Kirche. Auf der anderen Seite des Ozeans wird sich Nordamerika, wahrscheinlich auch ein Kaiserreich mit hundert Millionen, erheben, – und England, nach Verlust seiner Kolonien an Rußland und Nordamerika, wird keine Macht mehr sein, sondern nur eine Erinnerung an versunkene Größe, – wie Tyrus und Sidon es im Altertum waren. – Das, Herr Graf, – ist die Zukunft, wie sie hervorgehen muß aus den nationalen Agglomerationen, die sich jetzt vollziehen, – und wenn Sie sich die Lage Deutschlands unter den Mächten der Zukunft denken, so wird es erdrückt werden, sobald Frankreich und die lateinische Welt dem slavischen Reich die Hand zum Bunde reichen. Das aber, Herr Graf, wird Frankreich nicht tun, – denn Frankreich wird mit Deutschland an der Spitze der Bildung und Zivilisation stehen, – wenn es nicht durch einen tiefen, notwendigen und unauslöschlichen Haß zur Feindschaft gegen Deutschland gezwungen wird, – durch einen Haß, wie er entstehen müßte, wenn Sie heute über die Grenzen des Notwendigen hinaus die Macht ausnützen, welche der Sieg Ihnen gegeben.«

Graf Bismarck hatte den Kopf in die Hand sinken lassen und die Augen auf den Tisch vor sich geheftet.

Er richtete sich empor und fragte, den Blick voll und fest auf Herrn Regnier richtend:

»Und Ihre Schlußfolgerung?«

»Meine Schlußfolgerung, Herr Graf,« erwiderte Herr Regnier, indem er sein Notizblatt emporhob und die engen Zeilen auf demselben verfolgte, – »meine Schlußfolgerung geht dahin, daß Ihre Interessen völlig gesichert sind, wenn Sie eine Linie zur Grenze nehmen, welche von Breisach über Kolmar und Zabern geht, dann den Vogesen und dem Laufe der Saar folgt, Saarburg, Philippsburg und Bitsch einschließt und bei Zweibrücken endet. Damit werden Sie nicht in die eigentlichen nationalen Grenzen Frankreichs eingreifen, – Sie werden Deutschland strategisch sichern und die Möglichkeit schaffen, daß Deutschland und Frankreich in dauerndem Frieden nebeneinander leben und in späterer Zukunft sich zur Führung Europas verbinden können. Greifen Sie weiter, so werden Sie aus dem Körper Frankreichs ein Stück von seinem Fleisch und Blut reißen, das sich niemals mit dem deutschen Element vermischen wird, – und ein sicherer und dauernder Friede wird zur Unmöglichkeit werden.«

Graf Bismarck hatte eine auf seinem Tisch liegende Handkarte ergriffen und auf derselben die von Herrn Regnier angedeutete Linie mit der Spitze eines Federmessers verfolgt.

Dann sprach er, mit der Messerklinge leicht an der Spitze seines Nagels schnitzend, in ruhigem und kaltem Ton:

»Ich kann auf die Ansichten, die Sie mir soeben entwickelt haben, nichts erwidern, da der erste und notwendige Ausgangspunkt jeder Verhandlung, die Legitimation des Verhandelnden, fehlt, – doch kann ich keinenfalls anerkennen, daß die Zurücknahme von Metz und Straßburg ein Eingriff in das eigentlich nationale Gebiet Frankreichs wäre. Kommen wir aber auf das praktische Gebiet zurück, mein Herr, denn Sie scheinen mir ja auch ein Mann der Tat und Realität zu sein. Der Waffenstillstand mit der Pariser Regierung ist nicht zustande gekommen, – Herr Jules Favre faßt die Sachlage nur als Advokat auf und lebt noch in Illusionen, – es fehlt also noch immer an einer Regierung in Frankreich, welche Recht und Macht zum Friedensschluß zugleich hat. Ich würde mit Ihnen über die Friedensbedingungen unterhandelt haben, wenn Sie imstande wären, in diese Unterhandlungen im Namen eines Marschalls an der Spitze von achtzigtausend Mann einzutreten, welcher in der Lage wäre, der kaiserlichen Regentschaft, der einzigen heute völkerrechtlich anerkennbaren Autorität in Frankreich, die Garantie der faktischen Macht zu geben. Ich leugne auch nicht, daß, je schneller der Friede geschlossen würde und je legaler und fester die Regierung dastände, welche ihn schließt, um so mäßiger unsere Friedensbedingungen sein könnten. Deshalb, mein Herr,« fuhr er fort, »habe ich Ihnen die Genehmigung erwirkt, nach Metz hineinzugehen und wieder herauszukommen, – eine ganz außerordentliche, niemals vorgekommene Bewilligung, – und ich muß Ihnen mein Erstaunen und Bedauern darüber ausdrücken, daß Sie zurückkommen, ohne eine weitere Vollmacht mitzubringen als den Namenszug des Marschalls auf einer Photographie.«

»Aber, Exzellenz,« sagte Herr Regnier, – »dieser Namenszug ist mir eine Bestätigung der mündlichen Besprechungen, – die Beglaubigung –«

»Ich bin seit länger als zwölf Jahren Diplomat, mein Herr,« fiel Graf Bismarck ein, – »diese Beglaubigung genügt mir nicht, – ich bedaure, jede Erörterung abbrechen zu müssen, bis Sie eine bessere Vollmacht beibringen können.«

Herr Regnier seufzte tief auf. Er schien ratlos zu sein, – schmerzlich zuckte sein Gesicht, – er stand auf.

»So habe ich Eurer Exzellenz denn nur noch zu danken,« sagte er mit tonloser Stimme, »daß Sie mir so freundlich entgegengekommen sind, – und zu beklagen, daß die Vorsehung mein armes Vaterland noch nicht zu Ruhe und Frieden führen will.«

Graf Bismarck hatte sich erhoben, – in tiefem Nachdenken stand er einige Augenblicke da, ohne Herrn Regnier zu entlassen.

»Ich kann noch etwas für Sie tun,« sagte er dann, – »um Ihnen zu zeigen, wie sehr ich bereit bin, den Weg zum Frieden mit einer anerkannten und festen Regierung zu erleichtern, – ich will an den Marschall eine telegraphische Anfrage richten, ob er Sie zu Verhandlungen autorisiert, – und wenn er diese Erklärung abgibt, so ist eine Basis gewonnen, auf der sich weiter operieren laßt.

»Dank, Herr Graf, – Dank Ihnen,« rief Herr Regnier freudestrahlenden Blickes, – »dieser Entschluß kann Ströme kostbaren Blutes ersparen, – und mein Vaterland vor schweren Opfern retten!«

Graf Bismarck hatte sich wieder an den Schreibtisch gesetzt und auf einen Bogen Papier einige Zeilen in seiner großen, kräftigen Handschrift hingeworfen.

Er las:

»Bevollmächtigt der Marschall Bazaine Herrn Regnier, wegen der Übergabe von Metz zu unterhandeln?«

»Genügt das?« fragte er.

»Ich möchte Eure Exzellenz bitten, hinzuzufügen,« sagte Herr Regnier nach kurzem Nachdenken, – »auf Grund der mit dem genannten Herrn getroffenen Verabredung –«

Graf Bismarck sah ihn einen Augenblick scharf an, als wolle er sich den Sinn dieser Worte klar machen.

»Es ist wegen des Zugeständnisses der militärischen Ehren,« sagte Herr Regnier.

»Gut,« erwiderte Graf Bismarck, – »als Grundlage eines definitiven Friedens läßt sich darüber sprechen.«

Er setzte den von Herrn Regnier formulierten Satz dem vorher aufgezeichneten Telegramm hinzu.

»Nun, mein Herr,« sagte er dann, »warten Sie einen Augenblick im Vorzimmer, ich will dafür sorgen, daß Sie gut untergebracht werden, – und ich hoffe, daß die Sache einen für alle Teile erwünschten Fortgang nimmt.

Er folgte Herr Regnier zur Tür des Vorzimmers und befahl, den Grafen Hatzfeld zu rufen.

»Es ist Wahres und Richtiges in den Ideen dieses Mannes, – es wäre eine Wohltat auch für Deutschland, wenn ein sicherer Friede erreicht werden könnte, ohne noch mehr Menschenleben zu opfern, noch mehr Familien in Trauer zu versetzen, – es ist ein kostbares, ein sehr edles und kostbares Material, das unsere Armeen bildet, – und wenn man zugleich geordnete Zustände in Frankreich schaffen könnte, – mit der Armee Bazaines könnte sich das Kaiserreich halten – –

»– Doch warum,« fuhr er nach einer Pause fort, – »warum kommen diese Gedanken, diese Vorschläge durch einen Unbekannten ohne Legitimation und Vollmacht an mich? Wer ist dieser Regnier, den ich nie gesehen und den niemand kennt? – Der Kaiser, – die Kaiserin, – sie haben ja Personen genug, die schon durch ihren Namen beglaubigt wären –«

Er schüttelte den Kopf und ging langsam auf und nieder.

Graf Hatzfeld trat ein.

»Wollen Sie dies Telegramm nach dem Hauptquartier von Metz zur Beförderung an den Marschall Bazaine abgehen lassen,« sagte Graf Bismarck, dem Legationsrat den Bogen reichend, den er vorhin beschrieben, – »und dann«, fügte er hinzu, – »bringen Sie Herrn Regnier, der im Vorzimmer wartet, zum Feldpolizeidirektor, um ein Quartier für ihn zu ermitteln, – er mag ihn beobachten, – es wäre mir lieb, etwas Klarheit über diesen rätselhaften Mann zu erhalten.«

Graf Hatzfeld nahm das Telegramm und ging hinaus.

Im Vorzimmer ersuchte er Herrn Regnier, ihm zu folgen, und führte ihn durch die Korridore des Schlosses nach einem Zimmer, welches in dem sogenannten Korridor des Chasseurs lag, weil hier abgesondert die Wohnungen für die Teilnehmer an den großen Jagden des Barons Rothschild lagen, damit dieselben bei ihrem frühen Aufbruch zur Jagd die übrigen Bewohner des Schlosses nicht im Schlaf störten.

In diesem Zimmer befanden sich drei Personen.

An einem Tisch in der Mitte, einen Bogen Papier vor sich, auf den er seine Notizen machte, saß der Feldpolizeidirektor Geheimer Regierungsrat Stieber, ein Mann, dessen Erscheinung im ersten Augenblick keinen außergewöhnlichen Eindruck machte. Er mochte fast sechzig Jahre alt sein, seine Gestalt war schmächtig, sein etwas weiches Gesicht mit dem sorgfältig frisierten Haar hatte einen kränklichen Ausdruck. Aber in den Augen von unbestimmbarer Farbe lag, wenn er sie auf einen Gegenstand richtete, eine so feine, scharfe und durchdringende Beobachtung, daß man den Eindruck empfing, diesem Blick, der sich wie eine Sonde in die tiefsten Fugen der Dinge senkte, könne auch das Verborgenste sich nicht entziehen, und um seinen festgeschlossenen Mund lag eine gewisse leichte Ironie, als spotte er der Bemühungen der Welt, durch die äußere Erscheinung das Wesen der Dinge zu verhüllen.

Vor ihm stand ein Mann in der Tracht der Bauern der Gegend, – auch sein Gesicht schien den Stempel französischer Abstammung zu tragen, – doch sprach er im reinsten Deutsch und in dem bestimmten, ruhig klaren Ton dienstlicher Berichterstattung zu dem Chef der so weit verzweigten und so vortrefflich organisierten Feldpolizei.

Auf der anderen Seite des Tisches saß der Geheime Hofrat Schneider, des Königs Vorleser und langjähriger Vertrauter, in einem weiten schwarzen Überrock, das jugendlich frische Gesicht mit dem freundlich jovialen Ausdruck und den klugen, heiter, oft fast schalkhaft blickenden Augen, umgeben von dem ganz weiß gewordenen Haar und dem ebenso weißen Vollbart, den er wohl zum erstenmal in seinem Leben sich nach der militärischen Sitte des Hauptquartiers hatte wachsen lassen.

Er war eifrig beschäftigt, ein großes Paket französischer Zeitungen zu durchmustern, welche der Feldpolizeidirektor soeben von dem vor ihm stehenden Agenten erhalten hatte.

»Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Krasnewski,« sagte der Geheimrat Stieber mit seiner etwas leisen, aber scharfen Stimme, – »Sie sind glücklich nach Paris hinein- und wieder herausgekommen, das zeugt von Geschicklichkeit und Umsicht, – ich werde für eine Gratifikation für Sie sorgen. Sie glauben also nicht,« fuhr er fort, »daß die Pariser so bald entmutigt sein werden?«

»Nein, Herr Direktor,« erwiderte der Mann im Ton bestimmter Überzeugung, – »sie haben Vorräte in großer Menge, – wenn damit einigermaßen vernünftig hausgehalten wird, so werden sie noch lange keinen Hunger fühlen, – sie sind voller Wut, namentlich seitdem Jules Favre zurückgekommen ist, und außerdem hoffen sie auf Armeen, die in den Provinzen gebildet werden und von außen zu ihrem Entsatz heranziehen sollen. In den Kreisen der Regierung traut man dem Marschall Bazaine nicht, – dem Volk aber wird er als der Retter dargestellt, der bald von Metz auf Paris durchbrechen werde.«

»Und spricht man vom Kaiser?« fragte der Polizeidirektor.

»Wenig, – und wenn es geschieht, so hört man nur die heftigsten Verwünschungen, – und von seinen Soldaten die lautesten und grimmigsten, – fast scheint es, als wollten sie sich dadurch bei dem Pöbel einschmeicheln und ihre Niederlagen vergessen machen. Neulich aber, nach dem Gefecht bei Sceaux, richtete sich doch die Volkswut sehr bedenklich gegen sie, – die Zuaven kamen in wilder Flucht zurück und erklärten, sie hätten keine Patronen mehr, um den Kampf fortzusetzen, – da fand man aber ihre Patronentaschen vollgefüllt, – und wenig fehlte, so hätte man sie an die Laternen gehängt, der General Trochu mußte strengste Untersuchung und Bestrafung zusagen.

» Inexplicable panique nennt er das in seinem Tagesbefehl,« fiel der Geheime Hofrat Schneider von seiner Zeitung aufblickend ein, – »in der Tat, sie wissen dort für alles einen wohlklingenden Euphemismus zu finden, selbst für das so einfache und klare ›Ausreißen‹ haben sie die vollklingende Phrase: inexplicable panique«

Er blätterte in seinen Zeitungen weiter.

Der Graf von Hatzfeld trat mit Herrn Regnier ein, führte den Polizeidirektor Stieber nach der Fensternische und sprach einige Augenblicke leise mit ihm. Dieser rief eine Ordonnanz und trug derselben auf, für ein Quartier zu sorgen. Graf Hatzfeld ersuchte Herrn Regnier, einige Augenblicke zu warten, und zog sich wieder zurück.

Herr Stieber, welcher den Agenten entlassen hatte, trat zum Geheimen Hofrat Schneider und sagte leise zu ihm:

»Ich soll den Fremden hier beobachten, – ich kann keine französische Konversation führen, – wollen Sie die Güte haben, sich mit ihm über irgend etwas, über die gleichgültigsten Dinge zu unterhalten?«

Der Geheime Hofrat legte seine Zeitungen zusammen und begann in einem so reinen Französisch, wie es je zwischen der Seine und Marne gesprochen worden, mit Herrn Regnier eine jener höflichen und verbindlichen Unterhaltungen, welche sich über ein Nichts, über die alltäglichsten Dinge in einer Reihe von artigen, ja oft geistreichen und pikanten Phrasen fortbewegen, zu welchen gerade die französische Sprache sich mit ihrem unnachahmlichen und unübersetzbaren Wortwitz so ganz besonders eignet.

Der Feldpolizeidirektor saß vor dem Tisch, anscheinend in die Durchsicht seiner Notizen vertieft, und nur von Zeit zu Zeit flog ein Blick seines rasch aufgeschlagenen Auges zu den beiden anderen Herren hinüber.

Nach etwa einer Viertelstunde kehrte die Ordonnanz mit der Meldung zurück, daß das Quartier für Herrn Regnier bereit sei, und dieser verließ, von der Ordonnanz geführt, nachdem er sich von den Herren verabschiedet, das Zimmer.

»Nun,« fragte der Geheime Hofrat Schneider, »was denken Sie über den Mann, – er hat gute Manieren und spricht ein gutes und gebildetes Französisch, – er macht mir fast den Eindruck eines alten Haushofmeisters aus einem vornehmen Hause –«

»Ich weiß nicht, was er ist,« erwiderte der Feldpolizeidirektor, – »aber das weiß ich, daß nichts, was man auch mit ihm vorhaben möge, ein Resultat haben wird, – er ist ein Schwindler –«

»So sieht er mir nicht aus,« sagte der Geheime Hofrat verwundert – »er macht mir einen ganz soliden und rechtlichen Eindruck –«

»Ich meine auch nicht«, fiel Herr Stieber ein, »ein Schwindler in – um sozusagen – in kriminalpolizeilichem Sinn, – aber er ist ein Phantast, – ein Mensch, der von einer fixen Idee beherrscht ist und weder seine Gedanken ordnen, noch die praktischen Verhältnisse beherrschen kann, – es ist einer jener Menschen, die viel umherlaufen, viel reden, zuweilen viel Lärm machen, – aber, glauben Sie mir, – es ist nichts dahinter, – die Art Menschen erreicht und schafft nie etwas.«

»Ich habe so viel Proben von der Schärfe Ihres Blickes gehabt, der den Menschen bis in die Falten des Herzens dringt,« sagte der Geheime Hofrat, – »daß ich auch diesmal nicht an Ihrer Diagnose zweifle, – es ist mir auch ganz recht,« fuhr er fort, »alle solche Verhandlungen zwischen Reihe und Glied durch sind nicht nach meinem Geschmack, die beste Magnetnadel für den Weg zum Ende all dieses Wirrwarrs ist die Spitze des Bajonnetts! Wollen Sie mir die Zeitungen lassen, – ich möchte meine Phraseologie noch um einige so schöne Wendungen bereichern, wie diese inexplicable panique

Heiter lachend packte er die Zeitungen zusammen, setzte seine große Mütze von schwarzem Ledertuch mit der Landwehrkokarde auf und ging hinaus, während der Feldpolizeidirektor aus den Notizen, die er von dem aus Paris zurückgekommenen Agenten erhalten, seinen Bericht zusammenstellte. – – –

Herr Regnier war, nach einer unruhigen und schlaflosen Nacht, bei dem ersten Morgengrauen erst eingeschlummert, als er durch ein starkes Klopfen an seine Tür geweckt wurde und der Legationsrat Graf Hatzfeld vor sein Bett trat.

Herr Regnier erhob sich noch halb träumend und stützte sich auf sein Kissen.

Graf Hatzfeld zog ein Telegramm aus der Tasche und reichte dasselbe Herrn Regnier mit den Worten:

»Hier die Antwort des Marschalls, welche Ihnen mitzuteilen der Herr Graf von Bismarck mich beauftragt hat.«

Herr Regnier fuhr zusammen. Seine etwas unsicheren und unklaren Blicke hefteten sich auf das Papier, – er las:

»Ich kann, die gestellte Frage nicht bejahen. Ich habe Herrn Regnier gesagt, daß ich hinsichtlich der Kapitulation der Stadt Metz nichts abschließen kann.«

Herr Regnier ließ das Telegramm auf die Decke seines Bettes fallen.

»Wie ist es möglich,« rief er, »in solcher Zeit eine solche Antwort zu geben, – so mißzuverstehen, worauf es ankommt! – Ja, in der Tat, – wenn derjenige, der sich selbst das letzte Palladium des Kaiserreichs nennt, sich vor kühnen Taten scheut und an nebensächlichen Kleinigkeiten hängt, dann ist die Dynastie verloren, und Frankreich muß durch die tiefsten Demütigungen hindurchgehen. Ich bitte Sie, Herr Graf,« sagte er mit angstvoll bittendem Ton, »sagen Sie dem Ministerpräsidenten –«

»Der Herr Graf von Bismarck«, erwiderte der Legationsrat, – »hat mich beauftragt, Ihnen auf das bestimmteste zu erklären, daß er sich auf keine Verhandlungen mehr einlassen könne, bevor Sie, ohne alle Ausflüchte, vollkommen genügende Vollmachten vorlegen. Die Angelegenheit sei zu ernst, als daß sie im geheimen und ohne feste Basis weitergeführt werden könne, und Seine Exzellenz hofft,« fügte der Graf in höflichem, aber bestimmtem Ton hinzu, »daß Sie, mein Herr, diese ganze Sache bald aufklären werden, – wie das, – Sie werden mir darin beistimmen, – Ihre eigene Ehre erfordert.«

Traurig saß Herr Regnier auf seinem Bett.

»So muß ich nach England zurück, – um dort Bericht zu erstatten und die Kaiserin zum Handeln zu bestimmen,« sagte er.

»Wenn Ihre Majestät die Kaiserin-Regentin,« erwiderte Graf Hatzfeld, »auf der von Ihnen angegebenen Basis unterhandeln will, so wird sie gewiß nicht zögern, Sie mit ausreichender Vollmacht zu versehen, – auch wird es Ihrer Majestät ein Leichtes sein, ihre Mitteilung an den König, meinen allergnädigsten Herrn, und an den Grafen Bismarck, sowie ihre Befehle an den Marschall Bazaine gelangen zu lassen.«

»Kann ich einen Wagen bis zur nächsten Station, von der aus ich direkt reisen kann – ich glaube Libramont in Belgien – bekommen?« fragte Herr Regnier, der seinen Entschluß gefaßt zu haben schien.

»Ich werde dafür sorgen, daß ein Fuhrwerk zu Ihrer Disposition gestellt wird,« erwiderte Graf Hatzfeld, – »leben Sie wohl, mein Herr,« sagte er dann in freundlichem Ton, – »ich habe Ihnen offiziell nichts mehr zu sagen, aber ich kann Sie versichern, daß ich ebenso erstaunt bin, als ich es bedaure, daß von seiten der kaiserlichen Regierung sowohl als von der kaiserlichen Partei bis jetzt nichts geschehen ist, um einen Frieden möglich zu machen.«

Er wünschte Herrn Regnier glückliche Reise und empfahl sich mit höflichster Artigkeit.

Eine halbe Stunde später hielt ein offener Wagen vor der Tür des Hauses, welches Herr Regnier im Dorf in einiger Entfernung des Schlosses bewohnte, und der unermüdliche Vertreter der Sache des zusammenbrechenden Kaisertums, dessen Botschafter und Gesandte vor so kurzer Zeit noch an allen Höfen Europas eine so hohe Sprache geführt hatten, – dieser letzte Mann, der es wagte, seine Hand stützend an den in Trümmer sinkenden Thron zu legen, – er fuhr allein mit seinem kleinen Reisekoffer durch die preußischen Truppenstellungen der Grenze zu, um abermals die von so stolzer Höhe herabgeschleuderte Kaiserin auf dem Boden Englands aufzusuchen, auf diesem Boden, der schon so viele gefallene Beherrscher Frankreichs aufgenommen, und von welchem sich soeben die Prinzen von Orleans zur Rückkehr nach dem Land anschickten, dessen Erde das Blut ihrer Vorfahren getrunken und auf der sie doch bereits von neuem den so gefahrbringenden und doch so lockenden Thron aufzubauen trachteten.


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