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Gerard fühlte sich keineswegs beängstigt. Eben als er die Wachtstube verlassen hatte, waren Reiter angekommen, die ihre Pferde draußen angehängt hatten und dann eingetreten waren, hier oben aber hatte man des lauen Abends wegen alle Fenster geöffnet. Der Leutnant trug die Büchse, die Revolver und das Messer des Gefangenen in den Händen.
»Tritt hierher zu mir!« gebot der Kommandant.
Gerard machte keine Miene, diesem Befehl Gehorsam zu leisten.
Der Kommandant zeigte mit dem Finger auf die Stelle, wohin sich der Gefangene zu verfügen habe. Als aber dieser auch jetzt nicht gehorchte, gab ihm der Leutnant einen kräftigen Stoß. Da drehte sich Gerard blitzschnell nach ihm um, erhob das Bein und trat ihn mit dem Fuß so kraftvoll auf die Magengegend, daß er zurücktaumelte, zu Boden stürzte und die Waffen, die er getragen hatte, weit fortflogen.
»Ich werde euch lehren, die Schwarzen Gerard mit Stößen zu traktieren!«
Dieser Vorfall und diese Worte des Gefangenen brachten eine ungeheure Bestürzung hervor. Die Franzosen sahen einen ihrer Kameraden beschimpft, und die Mexikaner hatten nun die Überzeugung, daß der kühne Mann verloren sei. Die Damen aber waren hingerissen von Bewunderung über die Verwegenheit eines Mannes, der in Fesseln und mitten unter seinen Feinden in dieser Weise aufzutreten wagte.
Die Offiziere ließen grimmige Worte hören, und der Leutnant wollte sich auf Gerard werfen, aber der Kommandant gebot Ruhe.
»Übergehen wir diesen Akt der Roheit«, sagte er, »die Strafe wird nicht lange auf sich warten lassen; ich verspreche, daß er dafür blutig gepeitscht werden soll!« Und sich an Gerard wendend, fragte en »Ich gebot dir näher zutreten. Warum gehorchst du nicht?«
Der Gefragte blickte ihn finster und furchtlos an und antwortete:
»Ich bin kein Söldling in Ihren Diensten, sondern ein Savannenmann, dem Achtung gebührt. Man pflegt mich ›Sie‹ zu nennen, und ich werde nicht eher eine Antwort geben, als bis Sie diese Höflichkeit befolgen.«
Der Kommandant lächelte überlegen und antwortete höhnisch:
»Ich pflege Menschen, die Fußtritte austeilen, nur ›du‹ zu nennen.« – »Das ist mir gleichgültig, Monsieur. Man hat die Gepflogenheiten desjenigen Landes zu befolgen, in dem man sich befindet. Die anwesenden Señores und Señoritas werden mir zugeben, daß die Nation der Mexikaner eine höfliche und ritterliche ist. Ein tüchtiger Präriemann steht an Erfahrung, Fertigkeit und Gewandtheit jedenfalls nicht tiefer als ein Offizier; ich habe das bewiesen. Man hat mich bereits vorher mit dem Kolben bedroht, und jetzt geht man zu wirklichen Stößen über; es war meine Pflicht, Ihren Leutnant zu belehren, daß man sich in Gegenwart mexikanischer Damen besser zu benehmen hat.«
Die Blicke dieser Damen richteten sich voll Bewunderung auf den kühnen Sprecher. Die Offiziere aber ließen ein zorniges Gemurmel hören, bis der Kommandant ihnen Schweigen winkte und zu dem Gefangenen sagte:
»Ich könnte mit meinem ›du‹ ruhig fortfahren und das Schweigen auf meine Fragen als Eingeständnis nehmen; aber unsere Damen werden neugierig sein, Sie weiter sprechen zu hören, und darum werde ich Ihnen das ›Sie‹ geben, wonach Sie ein so sehnliches Verlangen tragen. Sie sind der Schwarze Gerard?« – »Ja.« – »Was hatten Sie in der Stadt zu tun?« – »Einen Besuch.« – »Bei wem?« – »Das ist mein Geheimnis.« – »Zu welchem Zweck?« – »Zum Zwecke der Verjagung unserer Feinde.« – »Ah! Wen verstehen Sie unter diesen Feinden?« – »Die Franzosen.« – »Man muß sagen, daß Sie sehr aufrichtig sind; fast möchte ich es frech nennen. Sie nennen die Franzosen Feinde und sind doch selbst Franzose.« – »Ich bin Franzose, aber doch kein Werkzeug des kaiserlichen Blutdurstes. Ich liebe Mexiko und seine Bewohner und wage gern mein Leben, um sie von der gegenwärtigen unrechtmäßigen Regierung zu befreien.«
Der Kommandant war ganz starr über diese Todesverachtung. Endlich sagte er:
»Ich teile Ihnen mit, daß ich Sie für verrückt halte. Sie werden zu dieser sogenannten Befreiung nichts mehr tun können, denn das, was Sie jetzt gesprochen haben, reicht vollständig hin, Ihr Urteil zu fällen. Sie werden diesen Saal nur verlassen, um sofort erschossen zu werden. Vorher aber sollen Sie für den Fußtritt so gepeitscht werden, daß Ihnen das Fleisch von den Knochen fliegt. Haben Sie etwas in betreff Ihres letzten Willens zu sagen?« – »Jetzt nicht. Ich bitte überhaupt, es mir ganz allein zu überlassen, welcher Wille mein letzter sein soll. Ein Präriemann pflegt in dieser Beziehung selbständig zu sein.« – »Sie sind wirklich wahnsinnig! Woher stammen Sie?« – »Aus Paris, woher ja so vieles Verrückte kommt.« – »Höhnen Sie nicht, sonst könnte das Urteil noch schwerer ausfallen! Haben Sie wirklich Verbindungen in dieser Stadt?« – »So viele, daß Ihnen Angst würde, wenn Sie es wüßten.« – »Man sagt, daß Sie mit Juarez befreundet seien?« – »Sehr!« – »Kennen Sie seine Pläne?« – »Seine und die Ihrigen.« – »Schneiden Sie nicht auf! Was wollen Sie von unseren Plänen wissen!« – »Alles; die Folge wird es zeigen!« – »Ich bin es satt, Ihre Großsprechereien anzuhören. Darum zu etwas anderem. Jene Waffen sind die Ihrigen?« – »Ja.« – »Zeigen Sie dieselben her, Leutnant!«
Der Genannte legte das Verlangte vor dem Kommandanten auf die Tafel. Dieser ergriff die Büchse und untersuchte den Kolben.
»Hier ist Gold. Woher haben Sie dasselbe?« – »Ich habe eine Goldader im Gebirge entdeckt.« – »Ah! Wollen Sie die Kenntnis derselben verkaufen?« – »Wozu? Ich denke Sie haben die Absicht, allerdings nur die Absicht, mich erschießen zu lassen?« – »Gewiß! Aber man könnte den Preis an Ihre etwaigen Verwandten zahlen.« – »Ich würde Ihnen den Ort nicht nennen, selbst wenn Sie mir den zehnfachen Wert der Ader böten. Kein braver Mexikaner würde dies tun.« – »Sie sind ein fürchterlicher Kerl! Haben Sie mit diesem Gewehr bereits Menschen getötet?« – »Ja. Jeder Präriemann muß dies tun, um sich der Feinde zu erwehren.« – »Sie nannten vorher auch uns Ihre Feinde. Haben Sie auch Franzosen getötet?« – »Ja.« – »Wie viele?« – »Ich zähle nur Hochwild, Franzosen niemals.« – »Sie antworten wirklich nicht wie ein Sterbender. Bedenken Sie, daß Sie am Rand des Grabes stehen! Wann haben Sie den letzten Franzosen getötet?« – »Gestern früh.« – »Ah! Alle Teufel!« brauste der Kommandant auf. »Sie sind nicht ein- oder zweimal, sondern zehnmal wahnsinnig. Bewiese mir diese Büchse nicht, wer Sie sind, so glaubte ich wirklich, in Ihnen einen unzurechnungsfähigen Menschen zu sehen, dem es eingefallen ist, mit uns ein wenig Komödie zu spielen, ohne zu bedenken, daß er dabei auch mit dem Tode spielt Wer war der Franzose?« – »Das werden Sie bald erfahren.« – »Wo töteten Sie ihn?« – »Das ist ihm nun gleichgültig, wie ich glaube.« – »Donnerwetter! Bedenken Sie, vor wem Sie stehen!« – »Vor einem Mann, den ich nicht fürchte!« – »Gut, ich sehe, Sie suchen aus irgendeinem Grund den Tod. Der soll Ihnen werden, aber anders als Sie denken, und nicht so bald, wie ich vorhin sagte. Es scheint, man kann von Ihnen viel erfahren, aber da ich nach Ihrem gegenwärtigen Verhalten voraussetze, daß Sie nicht gutwillig antworten werden, so werde ich Sie einer kleinen Tortur unterwerfen.« – »Was wollen Sie wissen?« – »Zunächst, wer Ihre hiesigen Bekannten sind.« – »Das werden Sie allerdings nichts erfahren.« – »Wir werden ja sehen!« lachte der Offizier grimmig. »Sodann werden Sie die Güte haben, mich über die Pläne Ihres Freundes Juarez zu unterrichten.« – »Pah, das ist überflüssig!« – »Wieso?« – »Weil Sie die Pläne ganz von selbst erfahren, sobald er sie ausgeführt hat«
Es war unmöglich zu beschreiben, welchen Eindruck das Verhalten des Jägers machte. Die Mexikaner lauschten fast atemlos auf jedes seiner Worte. Die Franzosen knirschten vor Grimm und schämten sich, daß ihr Kommandant sich in ein so unerhörtes Gespräch einließ. Dieser selbst aber fühlte bei der letzten Antwort einen solchen Zorn, daß er aufsprang und ausrief:
»Jetzt ist meine Geduld zu Ende! Ich habe hier mit Ihnen gesprochen, um Sie den anwesenden Herrschaften zu zeigen; nun aber werde ich auch zu zeigen haben, wie man einen solchen Burschen zähmt. Sie werden fünfzig Hiebe erhalten, fünfzig Hiebe bis auf die Knochen, und dann wieder vorgeführt werden!«
Gerard schüttelte verächtlich den Kopf und seine Augen funkelten.
»Ich habe Ihnen bereits vorhin bewiesen«, entgegnete er, »daß ich keine Hiebe oder Stöße dulde, weil ich dadurch entehrt würde!« – »Was geht mich Ihre Ehre an! Führt ihn ab!« – »Und was mich die Ihrige!« rief Gerard. »Ich werde Ihnen zeigen, wer Schläge bekommt und seine Ehre verliert!«
Im nächsten Augenblick fuhren seine Arme aus dem Gürtel, riß er dem Kommandanten die Epauletten von der Schulter und versetzte ihm einen Faustschlag, daß der Getroffene wie ein Klotz zu Boden stürzte. In demselben Moment hatte er aber auch, nach seinen Waffen greifend, bereits das Messer zwischen den Zähnen, die beiden Revolver in der Tasche und seine Büchse mit umgedrehtem Kolben in der Faust. Das alles geschah, ehe man ihn ergreifen konnte.
»Hier, schmeckt einmal mein Gold!«
Mit diesem Ruf stürzte er sich auf das Piquet, warf mit einem einzigen, fürchterlichen Kolbenschlag die Leute auseinander, sprang dann mitten zwischen ihnen hindurch nach dem nächsten der offenstehenden Fenster und verschwand mit dem Ruf: »Gute Nacht, Señoritas!«
Die Soldaten wälzten sich an der Erde; die Offiziere und alle anderen Anwesenden standen noch eine Weile wie erstarrt; dann aber brach ein Getümmel los, das jeder Beschreibung spottet.
»Hinaus! Hinunter! Ihm nach! Schnell!«
Mit diesen Rufen stürzten die Offiziere nach der Tür, und die Soldaten folgten ihnen. Kein einziger aber hatte gewagt, den Sprung durch das Fenster nachzumachen. Nur die Mexikaner blieben zurück, und einige von ihnen traten, während sich unten vor dem Haus ein wüstes Schreien und Rufen erhob, zu dem Kommandanten, um ihn zu untersuchen.
»Das war ein Hieb! Er ist tot!« sagte einer. – »Nein, er ist nur betäubt«, meinte ein zweiter. »Legen wir ihn auf das Sofa!«
Einige der Damen waren in Ohnmacht gefallen; andere standen ihnen bei, sich leise ihre bewundernden Bemerkungen über Gerard mitteilend, und noch andere eilten an das Fenster, um zu sehen, ob der verwegene Mann zu ihrer Freude entkommen oder zu ihrer Trauer wieder festgenommen werde.
Sie brauchten keine Sorge zu haben. Gerard war ein guter Springer; er hatte den Boden glücklich erreicht und den Zügel des nächsten der untenstehenden Pferde losgerissen. Mit einem raschen Satz saß er auf und ritt davon, so schnell, daß er bereits die nächste Straße erreicht hatte, ehe der erste seiner Verfolger nur an der Treppe angelangt war.
Jetzt galt es, aus der Stadt und durch die Vorposten zu entkommen. Mit dem Pferd schien ihm dies nicht schwer zu sein.
Chihuahua ist eine offene Stadt; eine Mauer hemmte ihn also nicht. Er stürmte die Straße dahin. Am Ausgang derselben stand ein Posten. Ehe dieser fragen und das Gewehr vorhalten konnte, war der Reiter bereits an ihm vorbei. Aber der Posten kannte seine Pflicht Er schoß ein Gewehr ab, um das Alarmzeichen zu geben, und bald ertönten draußen auf dem Feld laute Zurufe.
»Halt! Wer da!« rief es Gerard entgegen.
Er antwortete nicht, dann blitzten mehrere Schüsse hart vor ihm auf, und er bemerkte sofort, daß sein Pferd getroffen sei. Er gab ihm also die Fersen und stürmte weiter. Bei jedem Sprung aber wurde es matter. Schreien, Rufen und Schüsse hinter sich, vor sich das freie Feld, legte Gerard noch eine Strecke zurück, dann zügelte er das Pferd, um, wenn es im Galopp zusammenbrach, nicht mit ihm einen unglücklichen Sturz zu tun. Es blieb taumelnd stehen; nun sprang er ab und eilte zu Fuß weiter.
Er kannte die Gegend genau; er konnte daher den Ort, wo er bei seiner Ankunft sein Pferd versteckt hatte, nicht verfehlen. Die Hauptsache war nur, daß man es nicht durch irgendeinen Zufall entdeckt hatte.
So eilte er weiter. Er erreichte den Wald, drang in denselben ein und fand das Tier, das ihn durch freudiges Schnauben begrüßte. Er band es los, führte es unter den Bäumen hervor und stieg auf. Erst nun fühlte er sich vollständig sicher, und erst jetzt holte er tief Atem. Er warf die Büchse über die Schulter, zog die Revolver aus der Tasche, um sie in den Gürtel zu stecken, und lachte:
»Ah, das war ein Hauptstreich! Sie werden an den Schwarzen Gerard denken! Nun mögen sie kommen, um mich zu fangen. Ich möchte nur wissen, was Emilia denkt, wenn sie es hört! Ich, ein zehnmal Verrückter! Ha, ich wußte recht wohl, was ich tat, obgleich ich sehr viel wagte!«
Er wandte sein Pferd nach Norden und ritt davon, erst im Trab, dann im Galopp, links die Orte San Carlos und Principe, rechts den Conchasfluß und vor sich die schmale Grasfläche, die zwischen dem Fluß und dem im Westen davon aufsteigenden Höhenzug liegt.
Sein Pferd hatte sich ausgeruht und trug ihn in unverminderter Eile davon. Man glaubt gar nicht, was ein solches Pferd, im Freien geboren und halb wild stets im Freien lebend, zu leisten vermag. Der Morgen war noch nicht lange hereingebrochen, so hatte er schon eine so große Strecke zurückgelegt, daß der Ort Aquanuova ihm zur Linken lag.
Von jetzt an, nun es hell geworden war, konnte er dem Grasboden, auf dem er ritt, seine Aufmerksamkeit schenken, und so fand er bald die Spur, die die gestern früh von Chihuahua fortgerittene Kompanie hinterlassen hatte. Sie war ganz deutlich zu erkennen.
»Dumme Menschen!« sagte er. »Da reiten sie durch Indianerland und lassen eine wahrhaft straßenbreite Fährte zurück, die noch einen Tag später in dieser Deutlichkeit zu erkennen ist. Der Anführer verdient Ohrfeigen.«
Kurz nach Mittag erblickte er eine Pferdeherde. Er band den Lasso los, machte Jagd auf sie und hatte in Zeit von zehn Minuten ein frisches Pferd unter sich, mit dem er den Weg fortsetzte.
Am späten Abend erblickte er da, wo der Fluß nach rechts umbiegt, eine Menge hellbrennender Wachtfeuer, die die ganze Gegend erleuchteten.
»Echt französische Leichtfertigkeit!« murmelte er. »Und das will es mit uns und den Apachen aufnehmen. Ungefährlichere Feinde können wir uns gar nicht wünschen!«
Er ritt einen weiten Bogen, um nicht bemerkt zu werden, und als der Feuerschein weit hinter ihm lag, bog er wieder nach Osten ein, so daß er ungefähr um Mitternacht die Mündung des Conchas in den Rio Grande erreichte. Nachdem er diesen überschritten, befand er sich auf dem Gebiet der Mescaleros-Apachen.
Dort setzte er sich in das Gras, um sein Pferd ein wenig ruhen zu lassen, und dachte dabei an sein letztes Abenteuer und an sein Zusammensein mit Resedilla.
»Wann war ich doch bei ihr?« fragte er sich. »Ah, es war am Montag. Am fünften Tag darauf sollten die Franzosen eintreffen, also Sonnabend. Morgen, Freitag abend, werde ich Fort Guadeloupe erreichen. Es bleibt mir demnach eine volle Nacht, um mich nach diesem fürchterlichen Ritt auszuruhen. Wo werde ich das tun? Ah, wo sonst wohl als bei Vater Pirnero? Da erhält man ein Bett, und das ist doch etwas anderes als der harte Waldboden, nachdem man volle vier Tage und vier Nächte auf ungesattelten Pferden gesessen hat«