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Unbegreiflich, vollständig unbegreiflich! Die Herren Professoren und Dozenten standen da, schüttelten die Köpfe und brachten es doch zu keiner Erklärung der ungeheuerlichen Thatsache, daß heute auch nicht ein einziger Hörer erschienen war. So etwas war noch nie dagewesen. So etwas spottete sogar der Weisheit des sonst unwiderleglichen alten Ben Akiba!
Und doch wäre die Erklärung so leicht gewesen, wenn man im »Geldbriefträger von Ninive« nachgefragt hätte. Die Sache hatte einfach folgenden Grund: Die Aufregung der akademischen Welt über das plötzliche Verschwinden des Methusalem hatte sich nach und nach gelegt. Man vermißte ihn zwar, aber man sprach nicht mehr davon. Da kamen aus China die Briefe an Frau Stein und Ye-kin-li, die Berichte über den glücklichen Verlauf des abenteuerlichen Unternehmens. Die Adressaten waren entzückt und brachen in ihrer Freude ihr bisheriges Schweigen. Nun erfuhr man, wohin der Blaurote sei und was er dort wolle. Hätte man es eher erfahren, so hätte man darüber gelacht; da aber die Aufklärung zugleich mit der Kunde des Gelingens kam, so war des staunenden Rühmens kein Ende, und man erwartete mit Spannung die Heimkehr des Helden. Man erachtete es für ganz selbstverständlich, daß ihm ein solenner Empfang bereitet werde.
Das hatte der Methusalem geahnt und war, um dem vorzubeugen, mit seinen Gefährten dahin übereingekommen, daß sie ganz heimlich kommen und die Ihrigen überraschen wollten. Alle hatten zugestimmt, auch Gottfried von Bouillon; heimlich aber war dieser nicht mit dem Abkommen einverstanden. Er glaubte, einen solchen Empfang verdient zu haben, und so hatte denn heute früh der Telegraphenbote eine Depesche mit der Aufschrift »Geldbriefträger von Ninive« zur Besorgung anvertraut erhalten. Als der Wirt das Telegramm geöffnet hatte, las er:
»Heute abend Zehnuhrzug Methusalem zurück, vier Herren, drei Chinesinnen, zwei Chinesen, ein Halbchinese und ein Hund.
Gottfried von Bouillon.«
Die Rückkehr seiner zwei besten Stammgäste versetzte den Wirt in eine so freudige Aufregung, daß er die Depesche sofort in Zirkulation gab, infolgedessen sich seine Aufregung mit außerordentlicher Schnelligkeit der ganzen akademischen Bürgerschaft mitteilte. An eine Vorlesung war nicht zu denken. Man kam in den »Kneipen« zusammen, um wichtigen Beschluß zu fassen, und bald waren sämtliche Seiler der Stadt emsig beschäftigt, aus sanftem Werg und zähem Pech festliche Fackeln zu bereiten.
Der Methusalem ahnte nicht, welch eine Bewegung daheim um seinetwillen herrsche. Er hatte einen ganzen Waggon zweiter Klasse genommen, um sich und seine Gefährten bequem unterzubringen. Die Damen hatten ein abgesondertes Coupé erhalten. Die beiden Säcke mit den Barren, sorgfältig in Decken eingeschnürt, lagen auf dem weichen Plüsch, denn er mochte sie dem Gepäckwagen nicht anvertrauen.
So dampfte er wohlgemut und ahnungslos der Heimat entgegen und stand bereits am letzten Anhaltspunkte von seinem Sitze auf, um durch das geöffnete Fenster die Lichter des Bahnhofs zuerst zu erblicken.
»Soll ich die Pipe anbrennen? Jestopft habe ich ihr schon,« fragte Gottfried.
»Ja, denn Ordnung muß sein!«
Der Gottfried lächelte still vor sich hin und gab ihm das Mundstück. Degenfeld begann zu rauchen. Der Wichsier schnallte dem Hunde den Ranzen auf den Rücken und gab ihm das Stammseidel in das Maul. Ein schrilles Pfeifen, ein Glockenzeichen, ein ohrbetäubendes Knirschen und Stöhnen der Räder – der Zug hielt.
»Alle Teufel!« rief der Blaurote. »Was ist das? Draußen wimmelt es von Mützen aller Farben. Wem soll das gelten?«
Aber man hatte bereits seinen Kopf gesehen. Die Thür wurde aufgerissen, und aus mehreren hundert Kehlen ertönte ein donnerndes Salve Methusala! Man zog ihn aus dem Coupé; man umringte ihn jubelnd und drängte ihn fort. Er hörte Rufe wie: »Wo sind die Damen? Wo sind die echten Zöpfe? Wo ist der Halbchinese? Da ist der Hund; laßt ihn durch! Nehmt die Säcke mit! Wetter sind die schwer! Doch nicht etwa Moneten darin?«
Im Nu brannten die Fackeln. Er sah drei Equipagen stehen. Er sah auch, daß man die Chinesinnen höflich geführt brachte und einzeln in die Wagen placierte. Er wollte sich sträuben, doch vergebens. Er wetterte aus Leibeskräften. Lautes Lachen war die Antwort, und er mußte sich fügen.
Voran das Musikkorps, setzte sich der Zug in Bewegung. Zwölf Chargierte folgten mit Schärpen und blanken Schlägern. Hinter ihnen trollte der Hund mit Tornister und Bierglas. Dann kam der Methusalem, vor Aerger dampfend wie ein Vulkan. An seinen Fersen schritt der Gottfried von Bouillon mit der Pfeife und Oboe, ein vergnügtes Lachen auf dem verschmitzten Angesicht. Nun folgte Richard mit dem Onkel Daniel, welcher europäische Kleidung trug. Ihr Hintermann war Turnerstick, in chinesischer Mandarinentracht mit dem Klemmer auf der Nase und den ausgebreiteten Fächer in der Hand. Es war ihm anzusehen, daß er sich mit als Held des Tages fühlte. Nun kamen Liang-ssi und Jin-tsian in ihrer heimatlichen Kleidung, worauf die drei Wagen folgten. Hinter diesen gingen mehrere Packträger, welche die beiden Säcke und diejenigen Gepäckstücke trugen, die sich im Wagen befunden hatten, und an sie schloß sich der schier endlose Zug der fackeltragenden Burschen. Fackelträger gingen auch zu beiden Seiten der Triumphatoren und -torinnen.
So bewegte sich der Zug durch die Stadt, bis man die Wohnung der Frau Stein und Ye-kin-lis erreicht hatte.
Diese beiden hatten natürlich die Ankunft der Ihrigen erfahren. Sie standen miteinander unter der Thür, als die Spitze des Zuges sich unter den Klängen eines Festmarsches nahte. Da aber löste sich die Reihenfolge der so sehnsüchtig Erwarteten schnell auf.
Der Hund war samt Ranzen und Glas mit einigen schnellen Sätzen in das Haus hinein und die Treppe hinauf. Richard warf sich mit einem lauten Freudenrufe in die Arme seiner Mutter. Die chinesischen Brüder traten mit ehrerbietigen Schritten auf Ye-kin-li zu, dessen Kleidung ihn als ihren Vater bezeichnete. Degenfeld, Gottfried und Turnerstick öffneten die Wagenschläge, um die Damen beim Aussteigen zu unterstützen und sie dem Händler zuzuführen. Dann verschwanden alle diese Personen in dem Hause, nach ihnen die Kofferträger mit den Sachen. Diese letzteren kehrten bald zurück, die ersteren aber natürlich nicht.
Welch eine Fülle von Freude und Wonne diese Mauern jetzt umschlossen, das konnten sich die auf der Straße Bleibenden wohl denken. Sie hatten sich während der letzten Scene still verhalten. Sie drängten sich heran und schwiegen auch noch eine geraume Weile. Dann aber erscholl, erst vereinzelt und dann vielstimmig der Ruf: »Methusalem, ans Fenster!«
Er wurde so lange wiederholt, bis der Blaurote sich droben zeigte.
»In den ›Geldbriefträger‹!« rief man ihm zu. »Bring den Jottfried mit!«
»Heute nicht, heute abend nicht!«
»Wir gehen nicht eher. Wir warten. Oder willst du eine Katzenmusik?«
»Tolle Kerls! Nun wohl, wir kommen.«
Er gab nur deshalb seine Zustimmung, weil ihm sein Zartgefühl riet, die beiden glücklichen Familien für jetzt sich selbst zu überlassen. Bald erschien er an der Thür mit dem Hunde, mit Gottfried und mit Turnerstick, welcher sich natürlich für vollberechtigt hielt, die Ovation bis zur Neige auszukosten. Sie wurden wieder in Reih und Glied genommen und unter den Klängen der Musik nach dem »Geldbriefträger« geführt, dessen großer, hell erleuchteter Saal die Teilnehmer des Fackelzuges kaum zu fassen vermochte.
Was dort getrunken, gesungen, erzählt, bestaunt und – belacht wurde? Hm, das blieb für lange Zeit Geheimnis der Beteiligten. Erst nach Wochen munkelte man hie und da etwas von einem berühmten Tur-ning-sti-king kuo-ngan ta-fu-tsiang, von famosen Endungen, von einem Klemmer, der nie auf der Nase bleiben wollte, von einem talmichinesischen Mandarin, welcher mit allen Anwesenden Schmollis getrunken und sie dann einzeln doch mit »Mijnheer Dicker« angerufen hat. Was davon zu glauben ist, das werden diejenigen wissen, welche dabei waren. Thatsache ist, daß gerade in dem Augenblicke, als der auf der Humboldtstraße wohnende Bäcker die neubackenen Semmelzeilen in das Schaufenster legte, drei männliche Personen mit einem Neufundländer, der ein leeres Seidel trug, um die Ecke des Pfeffergäßchens gebogen kamen und nach längerem Klirren des Hausschlüssels in dem Hause verschwanden, in welchem der Methusalem seit Jahren seine »Bude« hatte.
Als sie sich im Flur befanden, wurde die Thür zur Wohnung Ye-kin-lis, deren Insassen alle noch munter waren, geöffnet, und der Händler bat: »Herr Degenfeld, darf ich Sie so spät noch zu mir bitten? Ich habe Sie doch noch gar nicht gesehen und begrüßt!«
»Gleich, lieber Freund. Ich will erst den Kapitän in die Koje bringen.«
Man munkelt ferner davon, daß Turnerstick die Treppe mittels einer vierarmigen Sänfte erstiegen habe, nämlich menschenarmig, was er, wenn es wirtlich geschehen sein sollte, jedenfalls nur der größeren Bequemlichkeit wegen gethan hat. Konstatiert aber ist es, daß er, als er droben in Gottfrieds Bett gelegt wurde, sofort tüchtig zu schnarchen begann und, davon erwachend, zornig ausrief: »Nicht schnarchen, Dicker! Ich will schlafing! Schmollis, Mijnheer! Fiduzit, Methusalung!«
Er blieb noch eine volle Woche bei seinen Freunden, hatte aber bereits am ersten Tage den langen, chinesischen Rock wieder mit dem Südkarolinafrack vertauscht. Dann kehrte er nach Hamburg zurück, wo sein Klipper vor Anker lag.
Wer der Meinung gewesen war, daß der Methusalem seine täglichen, regelmäßigen Gänge nach dem »Geldbriefträger« wieder beginnen werde, der hatte sich sehr geirrt. Ja. er ging täglich aus, aber nur einmal, mit dem Gottfried und dem Hunde ganz in der früheren Weise und Reihenfolge, aber nicht in das altberühmte Schanklokal, sondern nach einer einsam gelegenen Promenade. Fragte man ihn, warum er diese ungeahnte Neuerung eingeführt habe, so antwortete er: »Ik wil niet drinken. De lucht is hier zeer goed.«
Darüber schüttelte man natürlich die Köpfe und ließ nach einigen vergeblichen Versuchen, ihn wieder in seine alte Bahn zu lenken, ihn ruhig seines Weges gehen. Und »de lucht« schien ihm allerdings sehr gut zu bekommen. Sein Gesicht nahm nach und nach eine hellere Farbe an, und die Nase näherte sich mehr und mehr der Form solcher Nasen, welche nicht infolge eines »Hiebes« blaurot angelaufen sind.
Einem intimen früheren Zechbruder soll er gesagt haben: »Ich bin ein Thor gewesen. Der Mensch hat andre Zwecke als das Pokulieren, welches doch mit Leib und Geist zerrüttet. Ich brauche kein Amt, denn ich bin reich; aber ich will dem braven Jungen, dem Richard Stein, als Beispiel leben, damit er nicht auf meine früheren Wege gerät. Er soll doppelt lernen, erstens das Seinige und zweitens das, was ich versäumt habe.«
Onkel Daniel lebt mit seiner Schwägerin und deren Kindern als Rentier von den Zinsen seines Vermögens. Der Methusalem wohnt bei ihnen.
Wer die Hauptstraße entlang geht, dem fällt ein eigentümlich geformtes Schild auf, welches die Firma »Liang-ssi, Droguenhändler« enthält. Der Laden ist mit Hilfe der bekannten Goldbarren glänzend eingerichtet und die Thür desselben erklingt fast unausgesetzt vom frühen Morgen bis zum späten Abend.
Méi-pao und Sim-ming, die beiden Schwestern, kamen in ein Institut, um schneller Deutsch zu lernen und eine deutsche Erziehung zu erhalten.
Wer nun, da einige Jahre vergangen sind, auf dem Universitätsplatze wohnt, der kann täglich drei Studenten beobachten, welche ein einmal belegtes Kollegium gewiß nicht versäumen. Sie gehen stets Arm in Arm. Der mittlere ist von hoher, starker Figur; er muß die Dreißig schon zurückgelegt haben. Der zweite hat ein hübsches, rotwangiges, offenes Gesicht, dessen Oberlippe sich unter dem Flaume eines leisen Bärtchens dunkelt. Der dritte zeigt mongolische Züge, doch ohne daß der Schnitt derselben auffällig wäre. Diese drei sind der Methusalem, Richard Stein und Jin-tsian. Sie studieren um die Wette, die beiden letzteren aus Eifer für ihren späteren Beruf und der erstere, um sie anzufeuern. Daß er, der Alte, auch während der Vorlesungen zwischen ihnen, den viel Jüngeren, sitzt, das hat erst manches Lächeln hervorgerufen, ihn aber gar nicht stören können. Er hat sich selbst das Ehrenwort gegeben, daß er ihnen als Beispiel voranleuchten wolle, und wie er sein Versprechen in China gehalten hat, so hält er auch dieses Wort, dieses stille