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Illustration: O. Herrfurth

Wing-kan wird seines Verbrechens überführt.

Elftes Kapitel

Landeinwärts.

China ist ein wunderbares Land. Seine Kultur hat sich in ganz andrer Richtung bewegt und ganz andre Formen angenommen als diejenige der übrigen Nationen. Und diese Kultur ist hochbetagt, greisenhaft alt. Die Adern sind verhärtet und die Nerven abgestumpft; der Leib ist verdorrt und die Seele vertrocknet, nämlich nicht die Seele des einzelnen Chinesen, sondern die Seele seiner Kultur.

Schon Jahrtausende vor unsrer Zeitrechnung hatte dieselbe eine Stufe erreicht, welche erst in allerneuester Zeit überschritten zu werden scheint, und zu diesem Fortschritte ist China mit der Gewalt der Waffen gezwungen worden. Derjenige französische Missionar, welcher das Reich der Mitte le pays de l'âge caduc, das Land des hohen Alters nannte, hat sehr recht gehabt. Es ist da eben alles greisenhaft, sogar die Jugend.

Wer die Kinder beobachtet, lernt die Eltern genau kennen. So ist es auch mit dem Volke. Eine Nation ist unschwer nach dein Thun und Treiben ihrer Kinderwelt zu beurteilen. Die Arbeit des Kindes ist das Spiel. Wie aber spielt der Chinese?

Der Europäer sieht im Spiele nur das Mittel zur körperlichen und geistigen Kraftentwickelung. Er will die Muskeln stärken, die Knochen festigen die Brust erweitern, die Willenskraft erwecken, den Scharfblick üben und das Gemüt bereichern. Das Spiel soll im Knaben den spätern Mann, im Mädchen die einstige sorgliche, treue Hüterin des Hauses erkennen lassen.

Anders bei den Chinesen. Wo sieht man da die roten Wangen und blitzenden Augen, wo hört man das lustige helle Jauchzen der Kinder? Fast nirgends! Der chinesische Knabe tritt aus seiner Thür langsam und bedächtig, schaut um sich wie ein Alter, schreitet ohne irgend eine lebhafte Bewegung nach dem Spielplatze hin und sinnt nun nach, womit er sich beschäftigen werde. Er ist ein Erwachsener in verkleinertem Maßstabe. Sein gelbes Gesicht rötet sich höchstens dann ein wenig, wenn er ein Heimchen erblickt. Er fängt es, sucht noch eins dazu und setzt sich nieder, um die beiden Tiere gegeneinander kämpfen zu lassen. Mit Behagen sieht er, wie sie sich die Glieder abbeißen, sich gräßlich verstümmeln und selbst dann noch kämpfen, wenn sie nur noch aus dem gliederlosen Rumpfe bestehen. Ist es da ein Wunder, daß die Grausam- und Gefühllosigkeit des Chinesen als eine seiner hervorragendsten Eigenschaften bezeichnet werden muß?

Dort spielen zwei Knaben Ball. Sie schleudern ihn einander nicht zu; sie fangen und schlagen ihn nicht; sie werfen ihn nicht an eine Mauer, um ihn abprallen und rikoschettieren zu lassen. Der eine schlägt den Ball mit der flachen Hand so oft in die Höhe, als es ihm möglich ist, ohne ihn zur Erde fallen zu lassen. Ist dieses letztere geschehen, so nimmt der andre ihn auf und versucht dasselbe Spiel. So stehen sie still und stumm nebeneinander, doch nein, nicht stumm, denn sie zählen. Für jeden Schlag, der dem ersten mehr gelingt als dem zweiten, hat dieser letztere einen Kern, eine Frucht oder sonst etwas zu bezahlen. Dabei suchen sie einander nach Kräften zu betrügen. Hier entspringt der große Eigennutz, die gewissenlose Schlauheit, welche den Chinesen auszeichnet.

Das Hauptspiel der Knaben ist das Drachensteigenlassen. Es ist das sogar ein Sport, den die erwachsenen Männer, reich und arm, vornehm und niedrig, treiben. Der Chinese hat es darin zu einer Fertigkeit gebracht, welche Bewunderung erregt und einer bessern Sache wert wäre. Es gibt wohl kaum irgend ein Tier, dessen Gestalt der Sohn der Mitte nicht, in Papier nachgeahmt, in die Luft steigen ließe. Am prächtigsten bildet er den Tausendfuß nach; die Gestalt ist oft an die dreißig Ellen lang und ahmt die Bewegungen des Tieres mit merkwürdiger Naturtreue nach. Habichte steigen an einer und derselben Schnur in die Höhe und umkreisen einander genau so, wie wirkliche Habichte es an windigen Tagen thun.

Während der deutsche Knabe seinen Drachen aus reiner, unschuldiger Lust an der Sache steigen läßt, verbindet der Tschin-tse-tsi Chinesenknabe mit diesem Spiele eine Absicht, welche uns nicht als lobenswert erscheinen dürfte. Er bestreicht die Schnur mit einem Klebstoffe und streut gestoßenes Glas darauf. Mit der so präparierten Schnur sucht er dann die Drachenschnüre andrer Knaben zu durchschneiden oder zu durchsägen, daß deren Drachen vom Winde mit fortgenommen werden. Sollte damit nicht die bekannte chinesische Hinterlist und Schadenfreude großgezogen werden?

Turnanstalten gibt es keine im ganzen Reiche, so groß dasselbe ist. Daher der Mangel an Mut und körperlicher Gewandtheit.

Mädchen sieht man niemals im Freien spielen. Sie scheinen zu derselben Abgeschlossenheit wie ihre Mütter verurteilt zu sein. Es ist sehr schwer, bei einem Besuche die Frau des Hauses zu Gesicht zu bekommen. Und doch haben die Chinesen sich das nicht von den Hoeï-hoeï Mohammedaner angeeignet, deren es Millionen bei ihnen gibt.

So spielt die Jugend fast nur, um die schlechten Eigenschaften zu entwickeln, welche sich beim Erwachsenen ausgebildet haben. Spricht ein Fremder mit einem Knaben, so bekommt er keine lebhaften Antworten zu hören, kein freundlich lächelndes Gesicht zu sehen. Es ist ganz so, als ob er mit einem Alten spräche. Wie gesagt, schon die Jugend macht einen greisenhaften Eindruck.

Und wie der Greis, welcher sich am Spätabende seines Lebens nicht erst von seinen bisherigen Anschauungen trennen will, so ist auch der Chinese wenig oder gar nicht bereit, die Ansichten andrer sich anzueignen. Dies ist besonders in religiöser Beziehung der Fall, weshalb die christliche Mission in China noch gar keine nennenswerten Früchte getragen hat.

Mag der Missionar die herrlichen Lehren des Christentums immerhin noch so eifrig und noch so begeistert entwickeln, der Chinese hört ihm ruhig zu, ohne ihn zu unterbrechen, denn das gebietet die Höflichkeit; aber am Schlusse wird er freundlich sagen: »Du hast sehr recht und ich habe auch recht. Put tun kiao, tun li; ni-men tschu hiung,« zu deutsch: »Die Religionen sind verschieden, die Vernunft ist nur eine; wir sind alle Brüder.«

Die Neuerungen, welche die letzten Jahrzehnte dem Lande gebracht haben, sind demselben entweder aufgezwungen worden, oder der Chinese hat sich zu ihnen nur aus Eigennutz verstanden. Sie sind auch nur in Küstengegenden zu spüren, während das Landesinnere nach wie vor wie ein Igel die Stacheln gegen jede fremde Berührung sträubt.

Kanton ist diejenige Stadt, in welcher der lebhafteste Fremdenverkehr herrscht. Darum verhält man sich dort gegen den Ausländer und seine Kultur nicht so sehr abweisend wie anderswo. Man sieht ein, daß der Umgang mit ihm große Vorteile bringt; man möchte sich diese Vorteile wohl gern aneignen, sieht aber durch die Gesetze einen starren Zaun um sich gezogen, welcher nicht zu übersteigen ist. Höchstens darf man sich erlauben, heimlich eine Lücke durch denselben zu brechen.

Eine solche Lücke war es, welche sich dem Methusalem öffnete, als der Tong-tschi ihm und seinen Gefährten die Gastfreundschaft anbot und einen Paß versprach.

Ueber eine Woche hatten sie in Hongkong bleiben müssen, bevor die Untersuchung gegen die Piraten so weit gediehen war, daß die Vernehmung der Zeugen nicht mehr vonnöten war. Der Tong-tschi war mit dem Ho-po-so schon am ersten Abende abgereist, und beide hatten dem Studenten gesagt, wo, wie und wenn er sie in Kanton finden könne.

Diesen Namen für die Stadt anzuwenden ist falsch. Kanton oder vielmehr Kuang-tung heißt die Provinz. Der Name der Hauptstadt aber ist Kuang-tschéu-fu. Sie liegt 150 Kilometer vom Meere entfernt am nördlichen Ufer des Perlstromes und bildet ein unregelmäßiges Viereck, welches von einer neun Kilometer langen Mauer umgeben wird. Diese ist auf Sandsteinfundament aus Ziegeln gebaut, acht Meter hoch und sechs Meter dick und wird von fünfzehn Thoren durchbrochen. Eine Quermauer, durch welche vier Thore gehen, scheidet die Alt- oder Tatarenstadt von der Neu- oder Chinesenstadt. An den Seiten schließen sich ausgedehnte und volkreiche Vorstädte an, welche der zahlreichen Bevölkerung doch nicht Platz genug bieten, weshalb über dreihunderttausend Menschen auf Flößen, Booten und ausgedienten Schiffen wohnen, die an die Flußufer befestigt sind, aber so oft ihre Plätze wechseln, daß für den eigentlichen Stromverkehr nur eine schmale Wasserrinne frei und offen bleibt.

Man schätzt die Zahl dieser Boote, welche Sam-pan genannt werden, auf über achtzigtausend. Die mobilen Bewohner derselben werden mit dem Namen Tan-kia bezeichnet. Auf diesen Sam-pan herrscht ein so wechselvolles Leben, daß der Fremde wochenlang zuschauen könnte, ohne müde zu werden. Doch ist es für ihn keineswegs geraten, mit allzu großem Vertrauen ein solches Boot, besonders des Nachts, zu besteigen, denn die Tan-kia sind Menschen, vor denen man sich wohl in acht zu nehmen hat. Sie gehören der ärmsten Klasse, der Hefe des Volkes an, haben entsetzlich mit der Not des Lebens zu ringen und finden dennoch alle Veranlassung, die Mandarinen als Blutegel zu betrachten, vor denen sie die Tasse magern Reis, die ihren Hunger stillen soll, verbergen müssen. Da wird die Not dann stärker als die Ehrlichkeit, und so führen die meisten Tan-kia ein Leben, welches die Augen des Gesetzes mehr oder weniger zu scheuen hat.

Man lockt die Fremden unter den verschiedenartigsten Vorspiegelungen auf die Boote. Wohl dem, der dann nur als gerupftes Hühnchen davonschwimmen darf! Tausende sind verschwunden – vielleicht in die Magen der Fische, ohne daß eine Spur von ihnen aufzufinden war.

Längs des Flusses stehen die fremden Faktoreien mit ihren großen, wohlgepflegten Gärten und riesigen Warenhäusern, welche Hong genannt werden.

Scha-mien, das Europäerviertel, hat eine sehr malerische Lage. Es war ursprünglich eine in den Perlfluß vorspringende Landzunge und wurde durch einen hundert Fuß breiten Kanal vom Lande abgetrennt. Jetzt ist es ein Gemeinwesen für sich. Drei Brücken, welche durch Gitterthore verschlossen werden können, führen nach Kanton hinüber, und die eleganten Steinhäuser liegen zwischen grünen Grasplätzen, duftenden Gärten und schattigen Alleen so angenehm, wie hier nur möglich.

Hier legte der Dampfer der »China Navigation Company« an, welchen die sechs Reisenden doch noch benutzt hatten, um nicht möglicherweise abermals auf eine Piratendschunke zu geraten.

Obgleich der Dampfer den letzten Teil der Strecke nur mit halber Schnelligkeit fuhr, war es doch absolut unbegreiflich, daß er die umherjagenden Boote nicht dutzendweise unter sich begrub.

Und wie ging es erst am Landeplatze zu! Da drängten sich Hunderte und Aberhunderte auf die aussteigenden Passagiere los, um einige Sapeken zu verdienen. Das schrie, brüllte, kreischte durcheinander, daß man die einzelnen Stimmen fast gar nicht zu unterscheiden vermochte. Da boten sich Sänftenträger, Wäscher, Barbiere, Bootsleute, Führer, Händler, Dolmetscher an, indem einer den andern zur Seite stieß, um sich vorzudrängen.

Der Methusalem stieg gar nicht aus. Er wartete, bis die Schreienden glaubten, daß das Schiff sich geleert habe, und sich einen andern Ort suchten, um dort denselben Spektakel zu wiederholen.

In Scha-mien gibt es nur einen einzigen Gasthof, welcher einem portugiesischen Wirte gehört. Dorthin begaben sich die sechs zunächst, und zwar ganz in der bekannten Weise und Reihenfolge.

Es versteht sich von selbst, daß sich sogleich eine Menge Menschen fanden, welche von dem Anblicke der für sie fremdartigen, sonderbaren Gestalten herbeigelockt wurden. Der Ausruf »Fan-kwei«, fremde Teufel, wurde vielfach hörbar, doch wagte niemand, die Reisenden zu belästigen, wohl wegen deren würdevoller Haltung und weil man in Turnerstick wirklich einen Mandarin vermutete.

Der Gasthof war keineswegs ein Hotel zu nennen. Die Europäer werden am Tage über von ihren Geschäften vollständig in Beschlag genommen und des Abends versammeln sie sich in ihren verschiedenen landsmännischen Klubs, so daß der Gastwirt nicht auf sie rechnen kann und sich also auf niedriger stehende Gäste einrichten muß.

Er bot den Reisenden sogleich Zimmer an; Degenfeld aber lehnte ab und fragte nur, ob Bier zu haben sei. Er hatte keins, erbot sich aber, welches aus dem nahen Klubhause holen zu lassen, und bald bekamen sie einen vortrefflichen Bergedorfer Gerstensaft vorgesetzt, den sie sich aus dem Stammglase des Blauroten munden ließen.

»Ich dachte, Sie wollten hier kein Bier mehr jenießen,« meinte der Gottfried. »Wenigstens sagten Sie in Hongkong so, von wejen die teuren Preise.«

»Ja, dat heest hij gezegd – ja, das hat er gesagt,« stimmte der Dicke bei.

»O, der Methusalem und kein Bier! Dat paßt nie zusammen.«

»Paßt schon!« sagte Degenfeld. »Heut aber darf ich es mir schon noch bieten. Wir haben für diese ganze Woche im Hotel nichts zu bezahlen gehabt, weil wir als Zeugen zum Bleiben gezwungen waren. Old England hat unsre Zeche übernommen. Darauf können wir uns nun einige Gläser genehmigen. Aber unser Freund Liang-ssi wird nicht länger teilnehmen können.«

»Warum nicht?« fragte der Genannte.

»Weil Sie fort müssen, nämlich zuerst zu dem Agenten, welcher den Brief nach Deutschland besorgte, und sodann zum Tong-tschi, um ihm zu melden, daß wir angekommen sind. Wir werden hier abwarten, ob der erstere uns vielleicht hier aufsucht und ob der letztere sein Wort hält und uns zu sich kommen läßt.«

Darauf hin entfernte sich der Chinese, um draußen sich einen Palankin zu nehmen und die beiden Personen aufzusuchen. Die andern tranken weiter.

Die noch im Zimmer anwesenden Gäste starrten die fünf mit verwunderten Augen an. Es waren einige Europäer unter ihnen, die nicht erstaunt zu sein brauchten, kaukasisch geschnittene Gesichter hier zu sehen; aber daß die Leute Studententracht trugen, hier im fernen China, das kam ihnen mehr als sonderbar vor.

Der Methusalem fühlte sich gelangweilt von diesen immerfort auf ihn gerichteten Blicken. Er sah, daß hinter dem Hause ein Garten lag, und ging hinaus, um einmal einen chinesischen Garten in Augenschein zu nehmen.

Wenn er geglaubt hatte, hier echt chinesische Anlagen zu erblicken, so war er in einer großen Täuschung befangen gewesen. Der Garten war klein, auf drei Seiten von Mauern umgeben, stieß mit der vierten an das Haus und zeigte nicht einmal eine Blume, sondern nur Küchengewächse.

Nur an der dem Hause gegenüber liegenden Mauer stand ein schön blühender Strauch, den er noch nicht kannte. Er trat näher, um die Blüten genauer zu betrachten. Da hörte er einen Pfiff jenseits der Mauer, an der Stelle, wo er diesseits stand. Die Mauer reichte ihm bis an die Schulter. Nicht aus Neugierde, sondern ganz unwillkürlich bog er den Kopf vor, um zu sehen, wer da gepfiffen habe.

Es stand ein Chinese draußen, welcher sehr gut gekleidet war, also der bessern Klasse angehören mußte. Auch derjenige, welchem der Pfiff gegolten hatte, war zu sehen. Dieser gehörte ganz gewiß dem niedrigsten Pöbel an. Er war barfuß; die Hose reichte ihm nur bis an die Kniee; anstatt eines Rockes oder einer Jacke trug er einen aus langen Grashalmen gefertigten Umhang in Form eines rundum vom Halse bis auf den Unterleib niederhängenden Kragens. Der Kopf war unbedeckt und mit einem dünnen Zöpfchen verziert, welches einem Rattenschwanze sehr ähnlich sah.

An der Mauer führte ein gerader, schmaler Weg vorüber, jenseits dessen hinter Mauern wieder Gärten lagen. Auf diesem Wege, zwischen den Mauern, kam der Mann eiligst herbeigelaufen.

»Tsching, tsching, ta bang!« grüßte er bereits von weitem.

Ta bang heißt großer Kauf- oder Handelsherr.

»Schrei nicht so!«, warnte ihn der andre, natürlich in chinesischer Sprache. »Niemand braucht zu hören, daß sich hier jemand befindet. Warum hast du mich so lange warten lassen?«

»Ich stand weiter oben und wartete auf den sehr alten Herrn.«

Wenn der Chinese sehr höflich sein will, so nennt er sich sehr jung und den, mit welchem er spricht, sehr alt. Mit dem »sehr alten Herrn« war also der andre gemeint, obgleich er höchstens halb so alt wie der Sprecher war.

»Nun, hast du es dir überlegt?« fragte dieser.

»Ja.«

»Und was hast du beschlossen?«

»Ich kann es nicht thun.«

»Warum nicht?«

»Es ist zu gewagt und bringt nichts ein.«

»Bist du toll, oder hast du vergessen, wieviel ich dir geboten habe?«

»Ich habe es nicht vergessen, tausend Li.«

»Nun, ist das nicht genug?«

»Nein, es ist zu wenig.«

»Um einen Gott zu stehlen? Das ist doch sehr leicht.«

»Ja, aber ich soll den Gott nicht nur stehlen, sondern ihn auch bis in das Innere der Stadt bringen.«

»Sinne nach, so wirst du ein Mittel finden, wie das ohne Gefahr geschehen kann!«

»Ich weiß eins; aber ich soll den Gott auch im Garten des Nachbar Hu-tsin vergraben. Das ist eine dreifache Mühe.«

»Nein, es ist nur eine einzige That.«

»Den Gott stehlen, den Gott bringen und den Gott vergraben, das sind drei ganz verschiedene Thaten. Ich müßte also dreitausend Li bekommen.«

»Schurke! Ich gebe tausend, nicht mehr!«

»Der ältere Herr mag bedenken, daß die Sache nicht leicht ist. Der Gott ist aus Metall, halb so groß wie ich und sehr schwer. Ich brauche noch einen zweiten Mann dazu.«

»Du bist kräftig genug; ich kenne dich und weiß, was du zu leisten vermagst.«

»Tragen könnte ich ihn vielleicht allein, aber in die Stadt bringen nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil ich den Gott in eine Sänfte setzen muß. Und zu einer Sänfte gehören doch zwei Männer.«

»Das ist freilich wahr.«

»Also müßte ich wenigstens zweitausend Li bekommen, eintausend für mich und eintausend für den andern.«

»Aber am Tage kannst du den Gott nicht stehlen und des Nachts sind die Straßen verschlossen; da kannst du ihn nicht bringen!«

»Ich stehle ihn in der Dämmerung. Jetzt werden die Straßen erst eine Stunde nach Einbruch des Abends geschlossen. Da habe ich vollständig Zeit, ihn zu bringen und auch einzugraben.«

Wenn dieser Mann von einer Stunde sprach, so sind das nach unsrer Zeitrechnung zwei. Der Chinese hat nämlich zwölf Doppelstunden, »Schi« genannt, deren erste nachts elf bis ein Uhr währt.

»Mute dir nicht zu viel zu!« warnte der Vornehme. »Besser ist's, du stiehlst ihn heute und bringst ihn morgen zu meinem Nachbar.«

»Ich habe keinen Ort, ihn bis morgen aufzubewahren. Mein Herr Wing-kan muß bedenken, daß sich ein großer Lärm erheben wird, wenn man erfährt, daß ein Gott im Tempel fehlt. Die ganze Stadt wird in Aufruhr geraten, vielleicht heute abend schon. Er muß vergraben werden, gleich nachdem ich ihn gestohlen habe. Ich bringe ihn im Siüt-schi und bin noch vor dem Hai-schi fertig.«

Die Doppelstunden heißen, wie schon erwähnt, »Schi«, welchem Worte die Zeichen des Zwölfercyklus vorgesetzt werden. Die Stunden heißen also und währen, von nachts elf Uhr an gerechnet.

tsi-schi 11 bis 1 Uhr
tsch'eu-schi 1 " 3 "
yîn-schi 3 " 5 "
maò-schi 5 " 7 "
schîn-schi 7 " 9 "
ssi-schi 9 " 11 "
ngu-schi 11 " 1 "
wéi-schi 1 " 3 "
schìn- schi 3 " 5 "
yeù-schi 5 " 7 "
siüt-schi 7 " 9 "
hái-schi 9 " 11 "

Wenn der Mann sagte, daß er den »Gott« im Siüt-schi bringen und noch vor dem Hai-schi fertig sein werde, so meinte er, daß er nach sieben Uhr zu kommen und vor elf Uhr mit dem Vergraben des gestohlenen Gegenstandes fertig zu sein beabsichtige. Er fügte noch hinzu: »Mein älterer Gebieter wird einsehen, daß ich es nicht für tausend Li thun kann. Es ist zu beschwerlich und mit großer Gefahr verknüpft. Wenn man mich ergreift, so werde ich hingerichtet, vielleicht gar mit dem Pfahle, denn einen Gott zu stehlen, wird strenger als alles andre bestraft.«

»Das weiß ich allerdings. Darum will ich dir die zweitausend Li bezahlen, vorausgesetzt, daß du deine Sache brav machst und kein Verdacht auf mich selbst fällt.«

»Ich werde es so schön machen, daß alle Schuld auf den Lin Nachbar fallen muß. Aber wann bekomme ich das Geld?«

»Morgen um dieselbe Zeit komme ich hierher, um es dir zu bringen.«

»Und wann soll es geschehen? Wohl noch heute? Ja? Je eher, desto besser. Daß dieser Hu-tsin baldigst für die Beleidigung bestraft wird, welche ich freilich noch gar nicht kenne.«

»Es ist eine doppelte. Er weiß die Käufer an sich zu locken, so daß ich oft ganze Tage lang im Laden sitze, ohne einen Li einzunehmen. Darüber ärgerte ich mich und sagte ihm, daß er die Tochter eines T'eu Bettlerkönig zum Weibe habe. Darauf beschimpfte er mich dadurch, daß er öffentlich sagte, einige meiner Ahnen seien durch den Henker gestorben, und außerdem könne er nachweisen, daß ich kein ehrlicher Goldschmied sei, da ich mit geringem Metalle arbeite und mich einer falschen Wage bediene. Nun sind auch diejenigen Kunden, welche ich hatte, vollends von mir weggeblieben.«

»Die erstere dieser Beleidigungen ist allerdings todeswürdig. Kein Mensch würde sie ungeahndet lassen. Wer läßt seine Ahnen beschimpfen!«

»Kein wirklicher Sohn seiner Eltern! Er behauptete, meine Vorfahren seien überhaupt nur Tsien Unehrenwerte Leute gewesen.«

»So müßte er eigentlich vor den Richter kommen!«

»Das fällt mir nicht ein. Man würde ihn bestrafen, aber ich hätte ebensoviel zu bezahlen wie er. Diese Mandarinen gleichen dem tiefen Sande, in welchem der Regen stets gleich verschwindet. Sie sind unersättlich.«

»Aber wenn er nicht verklagt wird, so wird man sagen, daß er doch recht gehabt haben müsse!«

»Immerhin! Wenn er nun als der Dieb eines Gottes ertappt wird, ist es nicht nur um sein Leben, sondern auch um seine Ehre geschehen, und dann wird man mir gern glauben, wenn ich sage, daß er gelogen habe. Dazu sollst du mir verhelfen und ich werde dich heute abend an meiner Gartenmauer erwarten, sobald der Siüt-schi angebrochen ist. Für jetzt aber wollen wir uns trennen. Der Ort ist zwar sehr einsam. Aus diesem Grunde und weil du hier im Sam-pan wohnst und mich in dieser Stadtgegend kein Mensch kennt, habe ich diese Stelle für unsre Zusammenkünfte gewählt. Aber es könnte doch jemand kommen. Hast du vielleicht noch eine Frage?«

»Nein.«

»Und ich kann mich auf dich verlassen?«

»So wie immer. Es ist ja nicht das erste Mal, daß ich für meinen hochgeehrten Alten stehlen gehe, und ich habe mich immer seines Beifalles erfreut. Also gehen wir. Tsing, tsing!«

»Tsing leao!«

Der Methusalem hörte, daß einer von ihnen sich entfernte. Es mußte der Vornehme sein, welcher von dem Diebe Wing-kan genannt worden war. Das laute Geräusch der Schritte konnte nur von Schuhen herrühren und der Verbrecher war ja barfuß.

Nach wenigen Minuten war ein andres Geräusch zu hören. Es klang wie ein mit den Händen verursachtes Kratzen oder ein Reiben des Körpers an der Mauer. Der Blaurote trat schnell hinter den erwähnten Strauch und bückte sich nieder, so daß dieser ihn vollständig verbarg. Gleich darauf erschien das Gesicht des Diebes draußen über der Mauer. Er hatte emporklettern müssen, weil der Weg tiefer als der Garten lag. Der Mann mußte die zu seinem Handwerke so unentbehrliche Vor- und Umsicht besitzen. Er blickte herein, um zu sehen, ob das Gespräch vielleicht hier einen Zeugen gehabt habe. Als er niemand sah, sprang er wieder ab und entfernte sich.

Dem Methusalem war das, was er gehört hatte, von großem Interesse. Ein Gott, also ein Götzenbild, sollte aus einem Tempel gestohlen werden. Das war, wie der Dieb ganz richtig gesagt hatte, ein Verbrechen, auf welches das Gesetz die härteste, qualvollste Todesstrafe legte. Und für welchen Preis wagte der Mann sein Leben? Tausend Li sollten sein Anteil sein, also ungefähr sechs Mark nach deutschem Gelde!

Degenfeld fragte sich, ob die Sache ihn etwas angehe. Er antwortete mit Ja. Ob ein Götze aus einem der vielen hiesigen Tempel entfernt würde oder nicht, das konnte ihm sehr gleichgültig sein; aber es handelte sich darum, daß ein Unschuldiger als schuldig hingestellt werden sollte. Es war Pflicht, dies zu verhüten. Aber wie? Nun, es lag sehr nahe, daß der Student sogleich an Tong-tschi, den Mandarin, dachte. Ihm wollte er erzählen, was er hier erlauscht hatte, und dieser mochte dann das weitere verfügen.

Er ging in die Gaststube zurück und erzählte seinen Gefährten das Begebnis, natürlich mit leiser Stimme, um von den andern Gästen nicht gehört oder gar verstanden zu werden. Als er geendet hatte, sagte der Gottfried, indem er eine Grimasse zog und den Kopf schüttelte: »Schönes Land, wo nicht mal die Jötter sicher vor den Spitzbuben sind! Wat sagen Sie dazu, Mijnheer?«

»Wat ik zeg? Een god zal gemuist worden? Dat is voorbeeldelos; dat is nook niet daaffeweest – was ich sage? Ein Gott soll gemaust werden? Das ist beispiellos (vorbildlos); das ist noch nicht dagewesen.«

»Dat mögen auch schöne Jötter sind, die sich von so einem Spitzbuben ins Jemüse schleppen lassen! Aberst interessant ist es doch im höchsten Jrade. Kommen wir da nur so herjeschneit und werden augenblicklich schon Mitinhaber einer solchen Kriminalanjelegenheit! Wat jedenken Sie zu thun, oller Methusalem?«

»Was meinst du wohl?«

»Nun, ich würde mir eijentlich in diese jöttliche Sänftenwanderung jar nicht mischen und es dem Idol überlassen, sich selbst seiner Haut zu wehren; aberst da ein Unschuldiger ins Verderben jestürzt werden soll, so möchte ich jeraten haben, die Sache beim hiesigen ›Staatsangwalting‹, wie unser Turnerstick sagen würde, zur Anzeige zu bringen.«

»Nun,« fiel der Kapitän schnell und eifrig ein, »ist dieses Wort etwa nicht richtig? Hat es etwa nicht ein ang und auch ein ing? Ich höre zu meiner Freude, daß Sie sich meine Lehren so nach und nach zu Herzen nehmen. Wenn Sie dabei beharren, werden Sie bald ein ebenso gutes Chinesisch reden wie ich selbst. Uebrigens stimme ich bei: Wir müssen Anzeige machen. Dieser Hu-tsin scheint ein ehrlicher Mann zu sein, während Wing-kan jedenfalls ein Schurke ist, da der Dieb schon öfters für ihn gestohlen hat. Was aber hat es denn mit den Ahnen auf sich? Ist das wirklich eine so tödliche Beleidigung?«

»Hier in China, ja. Schon bei uns daheim würde kein Ehrenmann seine Ahnen unbestraft beschimpfen lassen; hier aber ist es noch ein ganz andres, da das Andenken an die Vorfahren geradezu als Kultus behandelt wird. Es ist eine der lobenswerten Eigenschaften des Chinesen, daß er seine Eltern in hohem Grade ehrt und den Verstorbenen eine nie ermüdende Pietät widmet. Ts'in ts'in, ›die Eltern als Eltern behandeln‹, oder anders ausgedrückt, lao ngu lao, ›ich behandle die Alten als Alte‹, gilt als unumstößliche Regel. Den Namen der Vorfahren ist ein besonderer Platz des Hauses gewidmet und geweiht, an welchem man ihnen zu gewissen Zeiten Opfer bringt. Alle Unehre und jede Ehre, welche dem Nachkommen widerfährt, fällt auch auf seine Ahnen zurück, die dann mit ihm gelobt oder verachtet werden. Die Stätte, an welcher sie begraben liegen, ist eine heilige und wird mit Fleiß gepflegt, solange ein Nachkomme vorhanden ist.«

»Aber wenn das nicht der Fall wäre?«

»Nun, dann gehen die Ueberreste freilich den Weg alles Fleisches; das Grab wird nicht mehr beachtet, und bald liegen die Knochen zu Tage und werden mit Füßen getreten. Jeder denkt eben nur an seine Ahnen; diejenigen andrer Leute gehen ihn nichts an. Es gibt hier herrlich angelegte Gottesäcker, aber es ist keineswegs religiöser Zwang, in einem solchen begraben zu werden. Der Chinese trachtet vor allen Dingen danach, nach seinem Tode in heimatlicher Erde oder gar im Soden seiner Provinz, seines Distriktes zu ruhen. Ob aber seine Leiche da einem Begräbnisplatze oder der freien Erde übergeben wird, das ist ihm gleich, wenn er sich nur vorher überzeugt hat, daß seine abgeschiedene Seele mit dem betreffenden Orte zufrieden ist.«

»Zufrieden? Hm! Sie kann ja nichts dagegen haben. Was wollte sie thun?«

»Sie sendet Unglück über Unglück auf die Nachkommenschaft und zwingt dieselbe, ihr eine andre Stelle anzuweisen, an welcher sie sich komfortabler eingerichtet fühlt. So wenigstens ist die Meinung der Chinesen. Jeder bestimmt, wo er begraben sein will. Hat er das aber versäumt, so wenden sich seine Anverwandten an gewisse Priester, welche in dieser wichtigen Angelegenheit bewandert sind. Sie reisen im Lande umher, natürlich auf Kosten der Anverwandten, besichtigen die Stellen, welche ihnen als geeignet erscheinen, und halten mit dem Geiste Zwiegespräch. Hat er ihnen dann den Punkt bezeichnet, so kehren sie zurück, um die Hinterlassenen zu benachrichtigen und die Ueberreste hinzuschaffen. Es versteht sich ganz von selbst, daß der Geist um so wählerischer ist, je wohlhabender seine Anverwandten sind und je besser sie die Priester bezahlen können.«

»Also ein kleines Geschäftchen dabei?«

»Ja. Sind die Verwandten sehr zahlungsfähig, so kommt es vor, daß der Geist seiner Begräbnisstelle überdrüssig wird, oder es stellt sich an derselben irgend ein Mangel heraus, von welchem er vorher nichts geahnt hat. Da ist ihm vielleicht die Aussicht nicht gut genug, oder die Stelle ist zu rauh oder feucht, so daß er des Nachts frieren muß. Scharfen Zug kann er nicht vertragen. Vielleicht ist in der Nähe eine Mühle angelegt worden, deren Klappern ihn in seiner Ruhe stört. Dann erscheint er dem Priester und sendet denselben zu den Hinterlassenen, damit diese ihm einen trockeneren, wärmeren, zugfreien und ruhigeren Ort suchen und seine Gebeine dorthin schaffen lassen. Abgeschiedene, welche besonders eigensinnig und empfindlich sind, müssen wiederholt begraben werden, bis die Verwandten endlich doch die Geduld verlieren und ihm sagen lassen, sie achteten und ehrten ihn außerordentlich, aber er möge nun auch sie in Ruhe lassen und von jetzt an verständig sein; sie seien entschlossen, für ihn nun keinen Li mehr auszugeben, da er ihnen schon mehr als genug gekostet habe.«

»Dat ist lustig!« lachte Gottfried von Bouillon. »Und dat jeschieht wirklich in allem Ernste?«

»Sehr!«

»Und wat lag in dem Worte Tsien für eine Beleidigung?«

»Auch eine große. Man unterscheidet in China nämlich drei Klassen der Bevölkerung. Die erste heißt Liang – die ehrenwerte; die zweite Tsien – die wertlose, und die dritte Man – die heimatslose. Diese Unterscheidung wirb streng festgehalten. In die ehrenwerte Klasse gehören Tsu – der Abel, Nung – der Ackerbauer, Tsang = der Kauf- und Handelsstand, und endlich Kung = der Handwerker. Zur wertlosen Klasse zählen die Bedienten, Schauspieler, Sänger, Tänzer, Musikanten, Sträflinge, Leichenwäscher und Henker. Die Klasse der Heimatslosen umfaßt alle, welche keinen festen Wohnsitz haben, von einer Provinz zur andern ziehen und also meist in den öffentlichen Herbergen leben. Wing-kan gehört als Goldschmied der ehrenwerten Klasse an. Sein Nachbar hat aber behauptet, daß die Ahnen desselben zu den Wertlosen gehört hätten, daß sogar einige von ihnen hingerichtet worden seien. Das ist eine höchst beleidigende Mißachtung, ja Beschimpfung der Verstorbenen. Doch habe ich alle Lust, zu glauben, daß der Beleidiger die Wahrheit gesagt hat. Dafür soll ihm ein gestohlenes Götzenbild im Garten vergraben werden. Findet man es, woran kein Zweifel sein kann, da sein Gegner wohl Anzeige machen wird, so ist er verloren. Wir müssen das verhüten. Ich bin gewillt, mit Tong-tschi darüber zu sprechen. Vielleicht ist es ihm möglich, die Wohnung der beiden noch vor Abend zu ermitteln.«

Jetzt kehrte Liang-ssi zurück. Er meldete: »Den Agenten muß ich nochmals aufsuchen, denn er war verreist und kommt erst morgen wieder heim. Auch der Mandarin war ausgegangen, kehrt aber bald zurück. Der Hausmeister teilte mir mit, daß Zimmer für uns bereit gehalten seien, und ist selbst mit mir gekommen, um Sie in Sänften abzuholen. Er wird sogleich erscheinen.«

Er hatte kaum ausgesprochen, so trat der Genannte, ein behäbig aussehender und feingekleideter Chinese, ein, verbeugte sich tief und lud die sechs Personen im Namen seines Gebieters und in den höflichsten Ausdrücken ein, in den Palankins Platz zu nehmen, welche draußen für sie bereit ständen. Degenfeld bezahlte das Bier, welches noch teurer als in Hongkong war, und folgte dann mit den Gefährten dem Hausmeister.

Draußen standen sieben mit prächtigen Vorhängen versehene Sänften. Vier Läufer, welche, um den Weg durch das Volksgedränge bahnen zu können, mit Stöcken versehen waren, standen dabei. Der Hausmeister komplimentierte die Gäste in die Palankins und zog deren Vorhänge zu, damit die so fremd und auffällig gekleideten Insassen nicht durch die Zudringlichkeit des Publikums belästigt werden könnten. Hinter der letzten Sänfte hielten auch zwei Diener, welche die Gewehre zu tragen hatten, weil diese ihrer Länge wegen nicht in die Portechaisen gingen.

Was Heimball Turnerstick betraf, so bückte er sich, ehe er einstieg, nieder, um nachzusehen, ob sein Tragsessel etwa einen beweglichen Boden habe. Er war um eine Erfahrung reicher und hatte seine Lust, eventuell wieder »Sänfte laufen« zu müssen. Zu seiner Beruhigung sah er und überzeugte er sich auch noch mit den Händen, daß der Boden fest und stark genug war, ihn zu tragen.

Als auch der Hausmeister eingestiegen war, setzten sich die Träger in schnelle Bewegung. Der Methusalem schob die Vorhänge ein klein wenig zurück, um hinausblicken zu können, ohne selbst gesehen zu werden.

Ein Gedränge, wie es in diesen Straßen gab, war ihm noch niemals vorgekommen. Uebrigens war, sobald die eigentliche Stadt erreicht würde, von »Straßen« keine Rede. Die Gassen waren so schmal, daß die Sänfte die halbe Breite des Weges einnahm. Sie glichen den Schlupf- und Seitengäßchen alter deutscher Kleinstädte. Die Häuser hatten oft nur das Parterre, nie aber mehr als einen Stock, und alle waren mit Läden versehen, welche offen standen, so daß man die Waren und den Verkäufer sehen konnte. Die Dächer hatten die sonderbarsten Formen und waren mit fremdartigen Schnörkeleien versehen. An jedem Hause hingen lange, schmale Firmenschilder senkrecht hernieder, während sie bei uns platt an die Mauer befestigt werden. Sie trugen auf beiden Seiten in chinesischer Schrift ein Verzeichnis der hier ausgestellten Waren und den Namen des Ladenbesitzers. Will man sich ein Bild von dem Verkehre machen, welcher sich in diesen Gassen bewegte, so muß man sich die Schlußzeit einer Theatervorstellung denken, wo sich das dicht zusammengedrängte Publikum in geschlossener Masse durch die Ausgänge schiebt. Und doch ist dieser Vergleich unzureichend, da hier in den Gassen sich ja nicht alle in einer und derselben Richtung bewegten, sondern zwei Strömungen gegeneinander stießen. Hier durchzukommen, konnte eben nur Chinesen gelingen.

Da kamen ernste, berittene Mandarinen mit einem Gefolge von Dienern, Kulis mit schweren Lasten, die ein türkischer Hammal wohl kaum hätte überwältigen können, beladene Esel und Maultiere, Ausrufer, Handwerker, Geschäftsleute, ambulante Verkäufer, Bettler, Soldaten und Kinder, welche, wenn es Knaben waren, mit ihren ernsten Gesichtern und auf dem nackten Schädel hin und her bammelnden Zöpfchen einen eigenartigen Anblick boten. Das gab ein Schieben, Stoßen und Drängen, ein wüstes Durcheinander, welches ganz unentwirrbar zu sein schien. Das schrie, plärrte, brüllte, heulte und lachte, dazu das Hämmern der Schmiede, das Klappern der Verkäufer, das Klingeln der Garköche, das Hacken und Klopfen der Fleischer und hundert andern Geräuscharten, welche zusammen ein dumpfes Brausen ergaben. Alle Stände waren vertreten; auch Frauen erblickte man, wenn auch ganz selten. Diese gehörten den niedern Ständen an und hatten unverstümmelte Füße. Erblickt man doch einmal ein weibliches Wesen, welches mit verkrüppelten Klumpfüßchen, sich auf einen festen Stock stützend, mühsam durch das Gedränge humpelt, so ist es gewiß eine verarmte und nun doppelt arme und elende Person, welche nun durch die Not zum Gehen gezwungen wird.

Zu beiden Seiten öffneten sich die Läden und Buden der Seidenhändler, Schuhmacher, Stoffhändler, Mützen- und Hutmacher, Lackwarenarbeiter, Porzellanhändler, Barbiere, Geldwechsler, Kuchenbäcker, Blechschmiede, Fleischer, Obsthändler, Gemüsekrämer und vieler andrer. Meist waren, wie in den türkischen Bazars, die gleichartigen Geschäfte in einer Straße zusammengelegt. Die Gassen endeten in triumphbogenartig überwölbten Pforten, welche des Abends verschlossen werden, um die Aufsicht zu erleichtern. Und dabei herrschte überall ein Halbdunkel, weil die Gassen eng sind und oft zum Schutze gegen Sonne oder Regen mit Strohmatten überdeckt werden.

So ging es durch die Drachen-, Gold-, Schatz-, Seiden-, Apotheker-, Wechsler-, Tiger- und Silbergasse an der Blumen- und später an der Pagode der fünfhundert Geister vorüber. In Europa wäre es geradezu ein Ding der Unmöglichkeit, sich da durchzuarbeiten; der Chinese bringt es fertig; er ist es nicht anders gewöhnt.

Einen ekelhaften Anblick boten die Bettler, deren es außerordentlich viele gab. Sie standen, lehnten, hockten, wackelten, schlürften und taumelten allüberall herum. Ihr Aussehen war erbärmlicher als erbärmlich. Sie waren mit allen möglichen und unmöglichen Schäden und Gebrechen behaftet, hatten sich die Gesichter absichtlich mit stinkendem Schmutze oder Blut beschmiert und der Grausamkeit der Natur so sehr und auf alle Weise nachgeholfen, daß man sich mit Abscheu von ihnen wenden mußte. Und doch werden sie von der Polizei geduldet. Das Bettlertum bildet in China eine soziale Macht, von deren Bedeutung und Einfluß der Europäer gar keine Ahnung hat.

Endlich hielten die Träger auf einer etwas breiteren Straße vor einem großen, palastähnlichen Hause. Der gänzliche Mangel an Verkaufsläden und von Firmenschildern in seiner breiten Fronte ließ vermuten, daß es entweder behördlichen Zwecken diene oder einem reichen Privatmanne gehöre.

Die benachbarten Häuser waren kleiner und schmäler. Die an ihnen niederhängenden, bunt bemalten und mit Gold- und Silbercharakteren beschriebenen Tafeln bewiesen, daß sie von Geschäftsleuten bewohnt seien.

Als der Methusalem beim Aussteigen einen Blick auf das zur Rechten liegende Nachbarhaus warf, glänzten ihm auf breitem Brette zwei Schriftzeichen entgegen, welche sogleich seine Aufmerksamkeit fesselten. Es waren die Zeichen Hu-tsin, also der Name desjenigen, in dessen Garten der gestohlene Gott vergraben werden sollte.

Es konnte in der großen Stadt mehrere Personen desselben Namens geben. Demnach fragte der Student den Hausmeister: »Wer wohnt hier nebenan?«

»Hu-tsin, der Juwelier,« lautete die Antwort.

»Und wer ist dessen Nachbar?«

»Wing-kan, auch ein Juwelier. Wir befinden uns hier auf der Edelsteinstraße.«

Es konnte also keinen Zweifel geben: die beiden betreffenden Juweliere waren Nachbarn des Tong-tschi, ein Zufall, welcher gar nicht vorteilhafter hätte sein können.

Der Methusalem verlautete nichts über den Grund seiner Fragen. Er kannte die Zuverlässigkeit des Hausmeisters nicht. Wenn derselbe ein Freund des Wing-kan war, so hätte er auf den Gedanken kommen können, denselben zu warnen.

Aus dem breiten Thore des Hauses traten mehrere Diener, welche die Gäste nach einem großen Zimmer geleiteten, über dessen Thüre das Wort »Versammlungssaal« geschrieben stand.

Das Zimmer war chinesisch ausgestattet, mit schönen Bambusmöbeln und einem großen Kerzenleuchter. Sogar ein langer Spiegel, welcher vom Boden bis hinauf zur Decke reichte, war vorhanden.

Hier machte ihnen der Hausmeister nochmals seine tiefen Verneigungen, um sie an Stelle des Hausherrn willkommen zu heißen, entschuldigte diesen letzteren wegen seiner Abwesenheit und gab dann den Befehl, ihnen den Thee zu reichen.

Dieser wurde auf goldenen Präsentiertellern gebracht und aus winzig kleinen Tassen getrunken. Die Zubereitung war genau diejenige des Kaffees bei den Orientalen: Der Thee wurde in die Tasse gethan und mit kochendem Wasser übergossen. Nachdem er einige Augenblicke gezogen hatte, war er von einem Aroma und Wohlgeschmacke, derlei der Europäer an den exportierten Sorten gar nicht kennt.

Dann bat der Haushofmeister die Gäste, ihm zu folgen. Er führte sie durch mehrere Gemächer in ein großes Badezimmer, in welchem acht Wannen aus verschiedenem Materiale standen. Zwei derselben waren aus Marmor und durch Scheidewände von den andern getrennt. Der Majordomus erklärte, daß diese beiden Becken nur für den Herrn und die Gebieterin des Hauses bestimmt seien, jetzt aber von den beiden vornehmsten der Gäste benutzt werden könnten.

»Die vornehmsten?« meinte der Gottfried, als ihm diese Erklärung übersetzt worden war. »Dat ist der Methusalem, und dat bin nachher ich selberst.«

»Sie?« fragte Turnerstick. »Ein Wichsier soll vornehmer sein als wir andern?«

»Ja, denn wenn der Wichsier nicht von seinem Glanze ein bißchen an die Stibbeln seines Herrn abjiebt, dann kann vom Glanze eben keine Rede sein. Nicht wahr, Mijnheer?«

»Neen. Wichsier blijft Wichsier!«

»Wat? Sie wollen mir aus dat Stipendium jagen? Dat habe ich Ihnen nicht zujetraut. Ich bin stets Ihr freundschaftlich jesinnter Jottfried jewesen und jetzt retournieren Sie mir in dat jewöhnliche Publikum zurück? Ich kündige hiermit meine bisherige Jewogenheit und frage nur, wer denn nun der zweite Vornehme unter uns sein soll?«

»Darüber kann es gar seinen Zweifel geben,« sagte Methusalem. »Turnerstick ist Generalmajor; er steht also dem Range nach über uns allen und muß die feinste Wanne haben.«

»Richtig! Dat hatte ich verjessen. Ich trete also zurück. Hätte ich mir als Feldmarschall verkleidet, so jehörte die Wanne mich! Doch denke ich, daß ich in einer andern auch nicht versaufen werde. Also abjemacht; plätschern wir ein bißchen!«

Der Chinese ist bekanntlich nicht wegen allzugroßer Reinlichkeit berühmt. Die besseren Stände aber stehen allerdings in einem besseren Rufe. Dennoch mußte der Besitzer eines Hauses, welches einen solchen Baderaum aufwies, nicht nur ein reicher, sondern ein Mann sein, welcher überhaupt es mit dem Komfort des Lebens hielt. In dem Kasten, aus dem er errettet worden war, hatte Tong-tschi freilich nicht danach ausgesehen.

Nach dem Bade wurden die Gäste in das Speisezimmer geleitet, wo ihrer eine Mahlzeit harrte, welche aus Fisch, Geflügel, Fleisch, Gemüse, dem allgegenwärtigen Reis und endlich einer Schüssel bestand, die ein dünnes Mus enthielt, welches einen der Mandelmilch ähnlichen Wohlgeschmack hatte. Auf seine Erkundigung erfuhr der Methusalem, daß der Brei aus fein gestoßenen Aprikosenkernen bereitet worden sei. Diese Speise verdient es, auch in Deutschland nachgeahmt zu werden.

Dann erhielten die Reisenden die für sie bestimmten Zimmer, jeder ein besonderes, angewiesen. Es war aus allem zu ersehen, daß der Tong-tschi seinem Hausmeister den Methusalem als denjenigen bezeichnet hatte, dem die größte Aufmerksamkeit zu erweisen sei. Er erhielt das am feinsten eingerichtete Gemach.

Nun konnten sie sich ausruhen und nach Gutdünken thun, was sie wollten. Nur falls sie die Absicht haben sollten, sich die Stadt zu besehen, bat der Hausmeister, daß sie die Palankins benutzen sollten, da sie sonst die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf sich ziehen würden und sehr leicht belästigt, ja sogar beleidigt werden könnten.

»Aber zu einem Ausgange nur in die nächste Nachbarschaft ist die Sänfte doch nicht nötig?« fragte Methusalem.

»Darf der ganz Kleine fragen, wohin Sie wollen?«

Der »ganz Kleine« ist ein Ausdruck, mit welchem der Chinese sich selbst bezeichnet, wenn er mit einem Höherstehenden spricht. Der Hausmeister meinte also sich.

»Zum Nachbar, dessen Juwelenladen ich mir ansehen will.«

»Zu Hu-tsin?«

»Ja.«

»Der wohnt so nahe, daß Sie der Sänfte wohl nicht bedürfen. Er ist ein berühmter Juwelier und ein ehrlicher Mann. Gehen Sie nur nicht zu seinem Nachbar Wing-kan!«

»Warum zu diesem nicht?«

»Er ist ein Betrüger, obgleich das Gegenteil auf seinem Schilde steht. Beide sind einander sehr feindlich gesinnt.«

»So werde ich dem letzteren nichts abkaufen. Gottfried, brenn die Pfeife an!«

»Augenblicklich!« antwortete der Genannte, welcher sich im Zimmer des Blauroten befand. »Wir müssen bei dem Manne mit die nötige Kultur und Schicklichkeit erscheinen, wozu doch nichts so notwendig ist, wie Ihre Hukah und meine Fagottoboe.«

Auch für Tabak hatte man gesorgt. Es stand eine ganze Vase voll auf dem Tische. Von dem Inhalte derselben wurde die Wasserpfeife gestopft, und nachdem dieselbe in Brand gesteckt worden war, brachen die beiden auf, von dem Hausmeister bis an das Thor begleitet.

Sie legten die wenigen Schritte in der schon oft beschriebenen Weise und gravitätischen Haltung zurück. Trotz der Kürze des Weges sahen sie ein, daß der Hausmeister sehr recht gehabt hatte, als er ihnen für etwaige Ausflüge den Gebrauch der Sänften empfahl. Sie waren kaum aus dem Hause getreten, so blieben die Straßenpassanten stehen, um die beiden ihnen so sonderbar vorkommenden Menschen in Augenschein zu nehmen.

Methusalem ging nicht hart am Hause hin. Er hielt sich auf der Mitte der Straße, um vielleicht einen Blick in den zweiten Laden werfen zu können. Das gelang ihm auch.

An den beiden Häusern hingen mehrere Firmenschilder herab, je eins mit den Namen der Besitzer, also Hu-tsin und Wing-kan; auf den andern waren die Artikel verzeichnet, welche man bei ihnen kaufen konnte. Wing-kan hatte noch extra auf ein Brett schreiben lassen: »Hier wird man ehrlich bedient«, eine Aufschrift, welche im Gegenteile zu seiner Absicht das Mißtrauen der Leser erregen mußte, da kein ehrlicher Geschäftsmann es für notwendig halten wird, seine Kunden in so besonderer Weise auf eine Eigenschaft aufmerksam zu machen, welche man ohnedies bei ihm vorauszusetzen hat.

Er saß unweit seiner offenen Ladenthüre. Methusalem sah ihn und erkannte gleich den Mann, welchen er belauscht hatte. Es konnte nun gar kein Zweifel mehr vorhanden sein.

Er trat in den Laden Hu-tsins, welcher sich allein in demselben befand. Der Juwelier war ein Mann in den mittleren Jahren, wohlgestaltet und sehr sorgfältig gekleidet. Er trug einen langen, dünnen Schnurrbart, dessen Spitzen ihm zu beiden Seiten fast bis auf die Brust reichten. Als er die beiden Männer sah, erhob er sich von seinem Platze. Indem er sie anblickte, war er ein sprechendes Bild unendlichen Erstaunens. Zwei so fremdartige Gestalten waren noch nie bei ihm gewesen.

»Tsching!« grüßte der Methusalem kurz, indem er eine Rauchwolke von sich blies.

»Tsching!« rief auch Gottfried und zwar in einem Tone, als ob er der Kaiser von China in eigener Person sei.

»Schim Hu-tsin – Sie heißen Hu-tsin?« fragte der Student.

»Pi-tseu – das ist mein Name,« antwortete der Juwelier, welcher sich von seiner Betroffenheit erholte und unter tiefen Verneigungen und ehrerbietigen Handbewegungen die beiden einlud, näher zu treten.

»Ich komme nicht, um etwas zu kaufen,« fuhr Methusalem fort. »Ich habe notwendig mit Ihnen zu sprechen.«

»Sie – – mit mir?« fragte der Mann, dem es ein Rätsel war, was so ein fremder Herr gerade mit ihm zu reden habe. »Ist es etwas Wichtiges?«

»Sehr, nicht für mich, aber für Sie.«

»Was?«

»Es handelt sich um Ihr Leben.«

»Um – mein – Leben? T'ien-na, o mein Himmel! Ist das möglich?«

»Ja. Ich bin gekommen, um Sie vom Tode zu erretten.«

»Weshalb sollte ich sterben? Sind Sie ein fremder Arzt? Bin ich krank?«

»Nein. Sie sollen hingerichtet werden.«

»Herr, ich bin kein Verbrecher!«

»Das weiß ich; aber es kommt auch vor, daß Angeklagte unschuldig verurteilt werden.«

»Angeklagte? Wessen will man mich anklagen? Was soll ich verbrochen haben?«

»Sie sollen ein Götterbild geraubt haben.«

Der Mann erbleichte und begann zu zittern. »Ein Götterbild!« stieß er hervor. »Das ist ein Verbrechen, welches mit dem schrecklichsten Tode bestraft wird!«

»Allerdings. Und von diesem Tode will ich Sie erretten.«

»Herr, man kann mich nicht verurteilen, denn ich habe die That nicht begangen. Ich achte die Gesetze und bin mir niemals einer Schuld bewußt gewesen, am allerwenigsten aber einer so gräßlichen.«

»Aber man wird die Figur bei Ihnen finden.«

»Bei – – mir? Wo?«

»Im Garten.«

»Da mag man suchen!«

»Ja, man wird suchen und wenn man sie dort findet, sind Sie verloren.«

»Das wäre ich allerdings; aber ich weiß gewiß, daß man nichts finden wird.«

»Und ich weiß ebenso gewiß, daß man sie bei Ihnen ausgraben wird!«

»Dann müßte sie ein andrer eingegraben haben!«

»Ja, und das ist eben der Fall. Ein Feind von Ihnen will die Figur stehlen und bei Ihnen vergraben lassen. Erstattet er dann Anzeige, so wird sie bei Ihnen gefunden und Sie werden als Dieb und Tempelschänder zum Tode verurteilt.«

Da schlug der Juwelier die Hände zusammen und rief im Tone des Entsetzens: »Welch ein Unglück! Ich bin verloren; ich bin verloren!«

»Schreien Sie nicht so! Sie sehen, welch eine Menge von Menschen vor Ihrem Laden steht, um mich zu begaffen. Sie sind nicht verloren, denn ich bin gekommen, Sie zu retten. Wir müssen die Angelegenheit mit allem Bedacht besprechen.«

»Ja – besprechen – mit allem Bedacht! Ich werde jemand rufen, der einstweilen im Laden bleibt. Sie aber werden die Güte haben, mich hinauf in mein Zimmer zu begleiten.«

Er rief einen Namen durch eine Thür, welche im Hintergrunde des Ladens angebracht war. Ein junger Mann kam herein. Dann forderte er Methusalem und Gottfried auf, ihm zu folgen.

Es ging durch die erwähnte Thür nach einem kleinen Vorplatze, von welchem aus eine Treppe zum Stock emporführte. Dort traten sie in eine Stube, die der Arbeitsraum des Juweliers zu sein schien. In einer Ecke war ein Brettchen angebracht, auf welchem eine kleine, dicke Figur des Buddha saß. Vor derselben brannte ein Licht.

Der Juwelier bot zwei Stühle an. Er selbst brauchte keinen. Die Unruhe, welche ihn ergriffen hatte, erlaubte ihm nicht, sich zu setzen. Gottfried zog seinen Stuhl hinter denjenigen des Studenten, welcher sich würdevoll niederließ.

»Schade, daß ich nicht jenug Chinesisch verstehe, um dem Jange dieser Unterredung folgen zu können!« sagte der erstere. »Ich möchte doch zu jern wissen, wat er sagt.«

»Du wirst es erfahren. Das versteht sich von selbst!«

»Also ein Feind von mir will das thun, wovon Sie sprachen!« sagte der Juwelier. »Wer mag das sein?«

»Kennen Sie keinen Menschen, welcher Sie so sehr haßt, daß er eines so nichtswürdigen Anschlages fähig ist?«

»Nur einen.«

»Wer ist das?«

»Wing-kan, mein Nachbar.«

»Dieser ist es.«

»Dieser? Wissen Sie das genau?«

»Ja. Ich habe seine Unterredung mit dem Menschen, welcher den Diebstahl ausführen soll, belauscht.«

»Wer ist dieser Dieb?«

»Das weiß ich nicht. Ich kenne ihn nicht. Ich bin fremd, ein Tao-tse-kue, erst heut hier angekommen. Wing-kan will sich rächen, weil Sie ihn beleidigt haben.«

»Er hat mich vorher gekränkt!«

»Ja. Er hat gesagt, daß Sie eine Tochter des Bettlerkönigs zum Weibe haben.«

»Das wissen Sie?«

»Ich hörte es aus seinem Munde.«

»Sie sind fremd und werden also wohl nicht wissen, daß dies eine schwere Beleidigung ist. Kein braver Mann spricht von dem Weibe eines andern. Ich sah das Mädchen und gewann sie lieb, ohne zu wissen, wer sie war. Ich hörte dann, daß der T'eu ihr Vater sei. Dennoch nahm ich sie zum Weibe, weil sie gut und brav war. Muß man mir das vorwerfen? Ich war arm; der T'eu hat mich zum wohlhabenden Manne gemacht, denn er ist sehr, sehr reich. Muß ich ihm und meinem Weibe da nicht dankbar sein? Darf ich sie beschimpfen lassen?«

»Nein. In meinem Vaterlande ist es keine Schande, die Tochter eines Bettlers zu heiraten.«

»Auch eines Bettlerkönigs?«

»Bettlerkönige gibt es bei uns nicht.«

»Nicht? Dann ist Deutschland ein sehr unglückliches Land!«

»Inwiefern?«

»Weil die Menschen dort kein Mittel besitzen, sich von der Zudringlichkeit der Bettler zu befreien.«

»O, wir haben ein sehr gutes, welches viel besser und heilsamer wirkt als das Ihrige.«

»Welches?«

»Die Polizei.«

»Was kann da die Polizei thun? Doch nichts, gar nichts! Wenn ein Bettler von mir eine Gabe haben will und ich verweigere sie ihm, so zwingt er sie mir ab. Er bestreicht sich das Gesicht mit Kot. Er taucht sein Gewand in Jauche und setzt sich vor meine Thür, daß ich den Gestank nicht aushalten kann und kein Mensch zu mir hereintritt, um etwas zu kaufen. Oder er nimmt einen Gong in die Hand und schlägt so lange auf denselben ein, bis ich den entsetzlichen Lärm satt habe und ihm etwas gebe. Oder er holt eine ganze Schar andrer Bettler herbei, welche sich vor meiner Thür im Kote wälzen, sich mit Messern ins Fleisch stechen und so lange heulen und klagen, bis die Vorübergehenden mir wegen meiner Hartherzigkeit Vorwürfe machen und drohen, nichts mehr von mir zu kaufen. Ein Bettler kann einen Geschäftsmann ruinieren.«

»Nur hier bei Ihnen. In meinem Vaterlande nicht.«

»Was thut dort die Polizei mit ihm?«

»Wenn er sich so benähme, wie Sie erzählen, so würde er bestraft.«

»Womit?«

»Man sperrte ihn ein, erst für kurze Zeit, wenn es sich wiederholte, auf längere Zeit, und wenn er sich dann noch nicht gebessert hätte, für lebenslang.«

»Wohin sperrt man ihn da?«

»In ein Arbeitshaus, wo er arbeiten muß und andre, fleißige Menschen nicht mehr belästigen kann.«

»Aber wenn er nun alt, krank, ein Krüppel ist, der nicht arbeiten kann!«

»So wird er versorgt, von der Gemeinde oder auch vom Staate. Betteln ist streng verboten.«

»So ziehen bei Ihnen die Bettler nicht in ganzen, großen Scharen im Lande umher?«

»Nein.«

»Dann ist Ihr Vaterland ein sehr glückliches Land und kein unglückliches, wie ich vorhin sagte. Bei uns ist das anders.«

»Greift die Polizei nicht ein?«

»Nein. Kein Mensch und kein Polizist darf sich an einem Bettler vergreifen. Man muß sich an den Bettlerkönig, an den T'eu wenden. Kauft man sich bei ihm durch eine Summe los, so erhält man von ihm eine Bescheinigung, einen Zettel, welchen man an die Thür klebt. Dann gehen die Bettler vorüber. Der T'eu hat eine große Macht über sie. Er verteilt das Geld, welches er für diese Zettel einnimmt, unter sie. Ist er mit einem Distrikte fertig, so zieht er mit seinen Scharen nach einem andern, um dort dasselbe zu thun.«

»Das würde man bei uns Kwei-tsun Brandschatzung nennen und ihn samt seiner ganzen Schar auf zehn Jahre einsperren.«

»Ist das nicht grausam?«

»Nein, das ist Ordnung. Warum soll der arbeitsame Mensch es dulden müssen, daß der Bettler ihm Geld abzwingt? Bei euch werden die Bettler beschützt und die Fleißigen belästigt. Bei uns ist es umgekehrt, und ich halte das für das Richtige.«

»Ich auch, obgleich man das hier nicht sagen darf. Es kommt vor, daß die Regierung, die Behörde gezwungen ist, mit dem Bettlerkönige einen Kontrakt abzuschließen. Tritt zum Beispiel einer der großen Flüsse aus seinen Ufern, so werden weite Strecken Landes überschwemmt und Millionen von Menschen verlieren ihren Erwerb. Da sind Hunderttausende brotlos und zu Bettlern geworden. Sie wählen sich einen Bettlerkönig und ziehen fort, um sich von ihm in den glücklicheren Provinzen durch die Gaben, welche er erzwingen muß, ernähren zu lassen. Er regiert sie; er hat Gewalt über ihr Leben. Sie müssen ihm gehorchen. Hätten sie ihn nicht, so würden sie sich zügellos über das ganze Reich ergießen und namenloses Unheil stiften. Es würde gebrannt, geraubt und gemordet. Es würde eine Revolution der andern folgen und kein friedlicher Mensch wäre seines Lebens und seines Eigentumes sicher. Darum müssen wir Bettlerkönige haben, und darum werden dieselben von der Regierung und allen Behörden gern und willig anerkannt.«

»So hat ein solcher T'eu ja fast eine größere Macht als ein Wang, ein Vicekönig und Regent einer ganzen, großen Provinz!«

»Allerdings. Kein Beamter, und stehe er noch so hoch und sei er noch so mächtig, wird es wagen, einen T'eu zu beleidigen, denn dieser könnte sich leicht an ihm rächen. Er würde sämtliche Unterthanen seines Bettlerreiches, viele Tausende, herbeirufen und mit denselben die betreffende Provinz überschwemmen. In Peking würde man erfahren, wer schuld daran ist, und den Vicekönig sofort absetzen, weil er Unglück über seine Provinz gebracht und also bewiesen hat, daß er zum Regieren unfähig ist. Ja, ein Bettlerkönig ist ein außerordentlich mächtiger Mann. Ist es also klug, mich zu beleidigen, weil ich der Schwiegersohn eines solchen bin?«

»Das ist sehr unvorsichtig gehandelt.«

»Ja. Ich kann mich an Wing-kan rächen. Das weiß er sehr genau, und daher will er mir zuvorkommen und mich und meine Familie verderben. Denn hier bei uns werden die Frauen und Kinder der Verbrecher auch mitbestraft.«

»Das habe ich schon erfahren. Es war mir unbegreiflich, daß jemand wegen einer einfachen Beleidigung ein so schweres Verbrechen, wie der Diebstahl eines Gottes ist, nun um Rache zu üben, wagen kann. Jetzt sehe ich klarer. Wing-kan fürchtet Ihre Rache und noch viel mehr diejenige Ihres Schwiegervaters, des T'eu. Darum will er Sie unschädlich machen.«

»Und den T'eu mit, welchen die Strafe für mein Verbrechen auch treffen würde, weil er der Vater meines Weibes ist. Selbst ein Bettlerkönig darf nicht, so große Macht er auch besitzt, ein Verbrechen begehen. Thut er das, so verfällt er dem Gesetze wie jeder andre und hat keine Gnade oder Hilfe zu erwarten, weil alle seine Unterthanen sich von ihm lossagen. Das ist die Berechnung meines Nachbars, wenn die Sache sich wirklich so verhält, wie Sie es sagen.«

»Es ist genau so. Um Ihnen das zu beweisen, will ich Ihnen erzählen, wie ich den Anschlag erfahren habe.«

Er berichtete ihm alles. Der Juwelier sah sich in einer außerordentlich gefährlichen Lage. Er lief in der Stube hin und her; er warf mit den Armen um sich; er riß und zerrte an seinem Zopfe. Er war ein braver und wackerer Mann, welchem der Methusalem die vollste Teilnahme schenkte.

»Was soll ich thun, was soll ich thun?« fragte er.

»Das müssen Sie am besten wissen!«

»Soll ich schnell zum Sing-kuan Kriminalmandarin gehen und Anzeige machen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil jetzt die That noch nicht geschehen ist und Sie Ihrem Nachbar also nichts beweisen können.«

»So meinen Sie, daß ich ruhig zuwarten soll, bis er den Gott in meinem Garten vergräbt?«

»Ja.«

»Das ist gefährlich, außerordentlich gefährlich.«

»Gar nicht!«

»O doch! Sie kennen die Gesetze unsres Landes nicht. Wehe dem, auf dessen Grund und Boden oder auch nur in dessen Nähe ein Verbrechen geschieht! Er wird ganz unerbittlich mitbestraft. Kein Chinese wird zum Beispiele einem Ertrinkenden beispringen, um ihm das Leben zu retten.«

»Nicht? Das wäre ja schrecklich!«

»Und doch ist es so. Wenn der Mann dennoch ertrinkt, so würde man den Retter als Mörder festnehmen. Wenn jemand, um sich an mir zu rächen, sich vor meiner Thür entleibt, so bin ich der Schuldige und werde bestraft. Wenn mein Nachbar das Bild des Gottes bei mir vergräbt, so mag ich tausendmal beweisen können, daß er selbst es gestohlen und in meinen Garten versenkt hat; es ist bei mir gefunden worden und ich muß die Strafe erleiden.«

»Das ist freilich schlimm. Die Sache steht also folgendermaßen: Verhüten Sie jetzt die That, mit welcher man Sie bedroht, so können Sie dem Nachbar nichts beweisen, und er wird sich eine andre Art der Rache aussinnen, gegen welche Sie sich dann nicht wehren können. Lassen Sie die That aber geschehen, so fallen Sie mit ins Verderben.«

»Ja so ist es. Ich glaube jedes Wort, was Sie mir gesagt haben; ich bin überzeugt, daß Wing-kan diese Absicht hegt; aber ich sehe kein Mittel, den Schlag von mir und meiner Familie abzuwenden. Den Dieb, mit welchem Wing-kan das Verbrechen beabsichtigt hat, können Sie nicht näher bezeichnen?«

»Nein.«

»Machte ich jetzt Anzeige, so würde man ihn zwar suchen, aber nicht finden. Der Raub würde also doch geschehen.«

»Ja, aber es könnten Polizisten in Ihrem Garten postiert werden, welche den Kerl gleich in Empfang nehmen, wenn er kommt.«

»Nein, nein!« wehrte der Juwelier ab. »Er würde sagen, daß er in meinem Auftrage gehandelt habe, und dann wäre ich auch verloren.«

»So müßte man schleunigst die Priester benachrichtigen, acht auf ihre Gottheiten zu geben. Wir kennen ja die Stunde, in welcher der Raub ausgeführt werden soll.«

»Wissen Sie, in welchem Tempel sich der Gott befindet, auf den es abgesehen ist?«

»Nein.«

»O wehe! Und wissen Sie, wie viele Tempel wir hier in Kuang-tschéu-fu besitzen?«

»Ja, hundertzwanzig.«

»Das sind nur die großen, berühmten. Es gibt ihrer viel, viel mehr. Ehe die Benachrichtigung, von welcher Sie sprechen, an alle diese Orte kommt, ist der Raub geschehen. Auch das gibt keine Hilfe.«

Er rannte wieder auf und ab und riß an seinem Zopfe. Der Methusalem rückte auf seinem Sitze hin und her, rieb sich die Stirn, that ein paar tüchtige Züge aus der Pfeife und sagte dann: »So verworren und verwickelt habe ich mir die Sache freilich nicht vorgestellt. Ich dachte nicht daran, daß derjenige, in dessen Nähe oder auf dessen Besitzung ein Verbrechen geschieht, in dieser Weise mitverantwortlich gemacht wird. Wir dürfen die That nicht geschehen lassen, weil Sie sonst auf alle Fälle mitbestraft würden. Wir dürfen sie aber auch nicht verhüten wollen, weil dies unmöglich ist.«

»Ja, Sie müssen bedenken, daß der Abend bald hereinbrechen wird. Es ist keine Zeit mehr dazu vorhanden.«

»Einesteils, und andernteils wäre für Sie damit nichts gebessert, da es Ihnen nicht gelungen wäre, den Nachbar unschädlich zu machen. Und das muß vor allen Dingen geschehen, wenn Sie in Zukunft sicher leben wollen.«

»Das ist wahr; das ist wahr! Raten Sie, helfen Sie! Ich werde Ihnen sehr, sehr dankbar sein!«

»Hm! Woher soll man einen Rat nehmen? Advokaten wie in meinem Vaterlande gibt es hier nicht. Polizei kann uns nichts nützen. Schließlich komme ich selbst mit in Gefahr, wenn man hört, daß ich diese Kerls belauscht habe. Erlauben Sie mir einen Augenblick! Ich will da meinen Gefährten fragen.«

»Ist er nicht Ihr Diener?«

»Diener und Freund.«

»Er hat doch alles mitangehört. Warum spricht er nicht?«

»Er versteht die Sprache dieses Landes nicht vollständig. Er ist ein kluger Kopf, ein Pfiffikus. Rechtlichkeit und Gesetz können hier nicht helfen. Nur allein der Pfiffigkeit könnte es vielleicht gelingen, Rettung zu bringen.«

»So fragen Sie ihn, schnell, schnell!«

Der Methusalem erklärte seinem Gottfried, wie die Sache stand. Dieser hörte aufmerksam zu und sagte dann: »Ja, wenn die sojenannten Klugen nichts mehr wissen, so wenden sie sich an die anjeblich Dummen. Die Karre steckt drinnen, tief jenug im Schmutze. Kein Mensch und kein Methusalem kann ihr herausbekommen. Und da soll sich nun der olle Jottfried ins Jeschirr lejen, um sie aufs Trottoir zu bringen!«

»Beleidigt dieses Vertrauen etwa?«

»Fällt mich nicht ein! Denke jar nicht daran! Aber eine fatale Sache ist es und bleibt es. Man kann da sehr leicht mit in dat Käsefaß stecken bleiben. Bitte, jeben Sie mich mal dat Mundstück her!«

Er langte nach der Pfeifenspitze.

»Wozu?«

»Um meine Jeistlichkeit anzurejen und aufzufrischen. Ein juter Zug aus die Pfeife stärkt den Verstand und den Mutterwitz. Es ist dat zwar jejen die Subordination, aberst in diesem Falle werden Sie mich schon mal erlauben.«

»Da, rauche!«

Er gab ihm die Spitze hin, obwohl er wußte, daß es von Gottfried nur ein nichtiger Vorwand war. Er wollte ihn aber bei guter Laune erhalten, weil er von dem schlauen Wichsier wirklich einen guten, vielleicht rettenden Gedanken erwartete.

Gottfried that einige derbe Züge, brummte nachdenklich vor sich hin, zog die Stirn in tiefe Falten, that wieder einige Züge, räusperte sich, hustete, that abermals einen Zug, aber einen außerordentlich kräftigen, blies den Rauch in derbem Stoße von sich, reichte dann dem Methusalem das Mundstück zurück und sagte: »Jeschmeckt hat's jut!«

»Nun, weiter!«

»Und jeholfen hat's auch!«

»Dir ist also ein Gedanke gekommen?«

»Ein Jedanke wie ein Licht!«

»Welcher?«

»Der allereinfachste von die janze Welt.«

»Heraus damit!«

»Na, nur Jeduld! Ich stelle mich die Sache nämlich folgendermaßen vor: Wie du mich, so ich dich!«

»Wieso?«

»Er will ihm uns verjraben, nun verjraben wir ihm ihn.«

»Dummes Zeug! Wer soll das verstehen! Rede doch nur deutsch, ordentlich nach der Grammatik!«

»Wenn ich derjenige bin, welcher die Kastanien aus dem Feuer holen soll, so hat die Jrammatik sich nach mich zu richten und nicht ich mir nach sie. Verstanden! Mein Mittel ist ein jutes deutsches. Es jründet sich auf ein altes, deutsches, echt jermanisches Sprichwort, welches in andrer Weise lauten würde: ›Wie es aus dem Walde schallt, so schallt es wieder hinein‹.«

»Umgedreht ist es richtig!«

»Nein. Dat muß ich verstehen. Ich meine nämlich: Er will ihm in unserm Walde verjraben, jut, so verjraben wir ihm in den seinigen, nämlich den Jötzenonkel.«

Methusalem machte ein froh erstauntes Gesicht und rief: »Alle Wetter! Gottfried, du hast's, du hast's wirklich!«

»Nicht wahr! Jottfried hat ihm allemal! Auf diese Weise kommt unser Freund hier in keine Jefahr. Der jetreue Nachbar und desgleichen macht Anzeije, die Polizei kommt und jräbt hier nach, findet aber nichts. Während sie mit die lange Nase dasteht, machen nun wir Anzeije. Man jräbt beim juten Heinrich drüben und findet nun die Jöttlichkeit in seinem eijenen Zarten. Was weiter?«

»Weiter nichts, weiter gar nichts! Das ist genug. Das bringt erstens Rettung und ist zweitens ein Streich, so recht nach meinem Herzen.«

»Nach dat meinige auch. Und dat beste dabei ist, daß wir keinen Menschen und auch keinen Mandarin brauchen. Auch kommen wir selbst gar nicht in Betracht, weder als Zeujen noch als Gejenzeujen mit Pflichteid und jutes Jewissen. Wir handeln hinter die Kulissen und sehen von unserm Olymp herab jemütlich zu, wat die Menschen für riesije Dummheiten machen. Teilen Sie dem Manne diese meine Ansicht mit. Ich bin der Mann, der ihm jeholfen hat.«

»Ja, der bist du, denn ich glaube nicht, daß ich auf diesen prächtigen Gedanken, welcher wohl nicht allzuschwer auszuführen sein wird, gekommen wäre!«

»Ist auch kein Wunder, wenn der Methusalem nun mal altersschwach wird und wackelig auf seine Jeisteskraft. Fragen Sie nur immer mir, wenn Sie mal nicht vorwärts kommen können! Ich habe immer denjenigen Rat, welcher jut ist, leider aber es doch nicht zum Jeheimerat bringen wird.«

Methusalem teilte dem Chinesen mit, welchen Vorschlag Gottfried ihm gemacht hatte. Der Juwelier faßte sich wieder bedenklich am Zopfe. »Das ist auch sehr gefährlich!« sagte er.

»Aber das einzige, was Sie thun können.«

»Meinen Sie, daß es gelingen werde?«

»Das kommt auf die Lage der Gärten an. Wing-kan hat doch wohl auch einen?«

»Ja. Er ist genau so groß wie der meinige.«

»Sie stoßen aneinander?«

»Ja.«

»Wodurch werden sie getrennt?«

»Durch eine Mauer.«

»Ist diese zu übersteigen?«

»Ja.«

»So ist Ihnen geholfen. Sie warten, bis die Figur bei Ihnen eingegraben worden ist und nehmen sie dann schnell wieder heraus, um sie beim Nachbar zu vergraben.«

»Aber wenn man mich dabei erwischt!«

»Das dürfen Sie eben nicht geschehen lassen. Sie müssen vorsichtig verfahren. Wing-kan hat keine Ahnung davon, daß Sie von der Sache wissen. Er wird also noch viel weniger ahnen, daß Sie ihm den Gott hinüberschaffen.«

»Aber dazu bin ich allein zu schwach.«

»Sie haben ja Hände, welche Ihnen helfen werden.«

»Wessen Hände sollen das sein? In ein solches Geheimnis darf ich keinen meiner Leute ziehen.«

»Das ist auch gar nicht nötig. Sie haben doch uns.«

»Sie? Wollten Sie mir helfen? Ja, das wäre gut! Dann wollte ich es wagen!«

»Natürlich helfen wir Ihnen, und zwar sehr gern.«

»Wie dankbar werde ich Ihnen dafür sein! Aber da müssen Sie gleich bei mir bleiben.«

»Warum das?«

»Später können Sie nicht zu mir.«

»O doch. Man mag immerhin die Gasse verschließen. Wir wohnen ja in derselben.«

»In dieser Gasse? Wo da? Bei wem?«

»Nebenan beim Tong-tschi.«

Jetzt machte der Juwelier ein ganz neues Gesicht. Aus lauter Ueberraschung hatte er sie gar nicht mit der vorgeschriebenen Höflichkeit empfangen. Und dann war er allzusehr mit seiner Angst beschäftigt gewesen, als daß er hätte darüber nachdenken können, ob er vornehme oder gewöhnliche Leute vor sich habe.

»Beim Tong-tschi?« fragte er. »Sind Sie etwa die Fremden, welche ihn errettet haben?«

»Hm! Was wissen Sie von dieser Angelegenheit?«

»Er ist ein sehr hoher und reicher Mandarin und ich bin nur ein Kaufmann. Mein Weib ist sogar die Tochter eines Bettlerkönigs. Dennoch steigt die Frau des Tong-tschi zuweilen drüben in ihrem Garten auf die Stufen, um sich mit der meinigen zu unterhalten. Da wissen wir, daß der Tong-tschi kürzlich viel länger fortgeblieben ist, als er gesagt hatte. Seine Frau war voller Sorge. Sie befürchtete, es sei ihm ein Unglück geschehen. In diesen Tagen nun hat sie meinem Weibe im Vertrauen erzählt, daß ihr Mann wieder zurück sei; er habe sich in einer entsetzlichen Gefahr befunden, sei aber von fünf oder sechs fremden Männern, welche nicht aus China sind, errettet worden. Sie hat dabei gesagt, daß diese Fremden eingeladen seien und als Gäste zum Tong-tschi kommen würden.«

»Weiter wissen Sie nichts?«

»Nein.«

»Auch nicht, welcher Art die Gefahr gewesen ist, in welcher der Mandarin sich befunden hat?«

»Nein.«

»So schweigen Sie darüber gegen jedermann, sonst könnten Sie den Tong-tschi sich leicht zum Feinde machen!«

»Ich werde schweigen. Aber darf ich wohl erfahren, ob Sie diese fremden Herren sind?«

»Ja, wir sind es.«

Da verneigte er sich bis zum Boden herab und sagte: »Dann bin ich ganz unwürdig der hohen Ehre, welche Sie mir erweisen. Fremde Herren, welche dieser Mandarin zu sich ladet, müssen in ihrem Lande die höchsten Stellen bekleiden. Ich bin viel zu gering, als daß ich Ihnen in das Angesicht blicken darf. Und nun sind Sie gekommen, mich über die mir drohende Gefahr zu benachrichtigen! Nehmen Sie mein Geld, mein Leben, alles, was mir gehört; es ist Ihr Eigentum!«

»Es freut mich, daß Sie ein dankbares Herz besitzen. Ich glaubte, daß Sie ein ehrlicher Mann seien, und darum bin ich gern gekommen, Sie zu retten. Und was ich einmal anfange, das pflege ich auch zu vollenden. Wir werden Ihnen helfen, den Gott in Wing-kans Garten zu vergraben. Haben Sie dazu die nötigen Werkzeuge?«

»Ja.«

»Sie sagen, daß die beiden Frauen zuweilen miteinander sprechen. Ich vermute also, daß Ihr Garten auch an denjenigen des Mandarins stößt?«

»Ja, nur ist der letztere viel, viel größer und prächtiger als der meinige.«

»So ist uns die Sache ja möglichst leicht gemacht. Wollen Sie uns einmal Ihren Garten zeigen, aber so, daß niemand uns bemerkt!«

»Da brauchen wir nur nebenan zu gehen. Wir können durch das Fenster hinausblicken.«

Er führte sie in eine Nebenstube, welche zwei Fenster hatte. Anstatt der Glastafeln war eine sehr feine Gaze eingezogen. Er öffnete eins derselben. Man hatte gleich den Garten vor sich.

Er war klein, auf chinesische Weise angelegt. Zwergbäume, blühende Sträucher, Taxus- und Buchsbaumwände, über welche Kronen emporragten, welche in Tierformen gezogen waren. Rechter Hand lag der Garten seines Feindes, ganz in derselben Weise angelegt und gepflegt. Die Trennungsmauer war nicht ganz mannshoch.

Zur linken Hand lag der Garten des Mandarinen, welcher allerdings auch nur so tief wie die beiden andern war, aber desto breiter sein mußte. Hinter diesen Gärten schien ein Pfad vorüber zu führen. Das war jedenfalls der Weg, auf welchem der Dieb die Figur bringen wollte.

»Prächtig!« sagte der Methusalem. »Die Gärten liegen für unsre Absicht außerordentlich bequem. Wir steigen über die Mauer des Mandarinen und befinden uns dann in Ihrem Garten. Das übrige wird sich dann finden.«

»Das wollen Sie wirklich thun?« fragte Hu-tsin.

»Sogar sehr gern.«

»So weiß ich nicht, wie ich Ihnen dankbar sein soll! Ich bin viel zu gering nur der Ehre, daß Sie mein niedriges Haus betreten haben, und nun wollen Sie gar – – –«

»Still!« unterbrach ihn der Blaurote. »Sie sind ein braver Mann, welchem wir gerne helfen. Auch halten wir es für unsre Pflicht, ein Verbrechen zu verhüten, welches wir verhüten können.«

»So darf ich also wirklich auf Ihre Mithilfe rechnen?«

»Ganz bestimmt.«

»Wann werden Sie kommen?«

»Mit Beginn des Siüt, wenn es so dunkel geworden ist, daß man es nicht sehen kann, wenn wir über die Mauer steigen.«

»Bringen Sie auch die andern hohen Herren mit?«

»Nein, je weniger Personen eingeweiht sind, desto besser ist es.«

»Aber wenn wir ihrer bedürfen? Wenn wir drei nicht allein fertig werden können? Ich darf von meinen Leuten keinen ins Vertrauen ziehen.«

»In diesem Falle ist es mir nicht schwer, noch einen meiner Gefährten zu holen. Diese werden mich jetzt vermissen. Wir wollen gehen.«

»Ist der Tong-tschi daheim?«

»Nein, er ist ausgegangen, wird aber noch vor Abend wiederkommen, da dann die Thore der Straßen geschlossen werden.«

»Danach braucht er sich nicht zu richten. Er kann auch des Nachts gehen und kommen, wie und wenn es beliebt. Ihm werden alle Pei-lu geöffnet.«

Pei-lu heißen die triumphbogenartigen Bauwerke, welche die Straßen abschließen und zu diesem Zwecke mit Pforten versehen sind. Außer diesem Zwecke haben sie noch einen andern. Sie dienen nämlich als Denkmäler der Verdienste derjenigen Personen, zu deren Andenken sie errichtet worden sind.

Wenn ein Beamter oder ein Bürger viel für das Land, die Provinz oder die Stadt gethan hat, so wird ihm ein solcher Pei-lu errichtet, welcher seinen Namen trägt und in weithin sichtbaren Zeichen eine Aufzählung der Tugenden des Betreffenden enthält.

Nicht nur Verstorbene erhalten solche Denkmäler, sondern es kommt auch vor, daß Lebenden welche gesetzt werden. Diese müssen dann die Kosten bezahlen, wodurch aber die Ehre, welche ihnen erwiesen wird, keinerlei Schmälerung erleidet.

Die beiden Deutschen verabschiedeten sich von dem Chinesen. Er begleitete sie unter unaufhörlichen Bücklingen bis vor seine Ladenthür und machte es ihnen da nochmals bemerklich, daß er ganz sicher auf ihre Hilfe rechne, ohne welche er auf keine Rettung rechnen könne.

Zu Hause angekommen, begaben sie sich nach Methusalems Zimmer.

»Sollen die andern wirklich nichts davon erfahren?« fragte Gottfried.

»Nein, jetzt noch nicht.«

»Aber ihre Hilfe würde uns unter Umständen dienlich sein.«

»Unter Umständen, ja. Aber wir wollen lieber warten, bis diese Umstände eintreten.«

»Wollen wir nicht wenigstens unsern Richard mitnehmen?«

»Auch ihn nicht. Zu ihm habe ich noch eher Vertrauen als zu den andern. Er ist über seine Jahre hinaus vorsichtig und bedächtig. Das haben wir auf der Dschunke erfahren, wo wir ohne sein schnelles, besonnenes und tapferes Handeln ermordet worden wären. Aber er ist mir von seiner Mutter anvertraut worden; er ist halb noch Knabe, und ich bin verantwortlich für alles, was mit ihm geschieht. Ich mag ihn nicht unnötigerweise an einer Gefahr teilnehmen lassen.«

»Halten Sie die Sache für gefährlich?«

»Nein, aber unter Umständen kann sie es doch werden. Gehe jetzt und suche die andern auf. Sie werden nach mir fragen. Dann sage ihnen, daß ich ungestört sein wolle, weil ich die Absicht habe, meine Notizen einzuschreiben. Später kommst du zurück. In einer Viertelstunde wird es dunkel.«

Der Gottfried ging. Bald nachher kam ein Diener, um die von der Decke herabhängende Laterne anzuzünden und sich zu erkundigen, ob der »ganz Vornehme und sehr Alte« irgend einen Befehl auszusprechen habe.

»Nein, ich danke!« antwortete der Student. »Aber sage mir, ob es erlaubt ist, in den Garten zu gehen?«

»Des Morgens nicht, weil zu dieser Zeit die ›Blume des Hauses‹ draußen lustwandelt.«

»Aber jetzt?«

»Ja. Wünscht mein Gebieter hinauszugehen?«

»In kurzer Zeit. Ich bin ein Yuet-tse Dichter, wörtlich »Sohn des Mondes« und wünsche, ungestört nachdenken zu können.«

»Ich werde den Schöpfer des Gedichtes bis an die Pforte führen und dort auf seine Rückkehr warten. Vielleicht hat er mir während seines Spazierganges einen Befehl zu erteilen.«

»Nein, denn mein eigener Diener wird mich begleiten und dir meinen Wunsch mitteilen, wenn ich einen solchen haben sollte. Ich wünsche, ganz ungestört zu sein.«

Der Mann verbeugte sich und ging. Kurze Zeit später kam Gottfried zurück.

»Wo befinden sich die andern?« fragte Methusalem.

»In Turnersticks Zimmer, wo sie Thee trinken, Pfeife rauchen und Domino spielen. Habe nicht jewußt, daß diese Chinesigen auch dat Domino kennen.«

»Sie spielen es sogar sehr gern, doch sind die Steine und Ziffern anders arrangiert als bei uns. Horch!«

Von der Straße her ertönte der Schall der Gongs, welche von den Wächtern geschlagen wurden, und dazwischen hörte man den Ruf: »Siüt-schi, siüt-schi!« Es war nach abendländischer Rechnung abends sieben Uhr, nach chinesischer aber begann die elfte Stunde.

»Jetzt wird es Zeit,« sagte Degenfeld. »Hast du dein Messer?«

»Ja. Wer soll meuchlings erstochen werden?«

»Niemand, doch ist es möglich, daß wir es brauchen. Auch die Revolver habe ich bei mir.«

»Bin ebenso damit versehen. Fühle mir überhaupt als Raubritter, der im Begriffe steht, mit verhängten Zügeln zum Burgthore hinauszusprengen. Bin wirklich neubegierig, wie dat Abenteuer enden wird.«

»Hoffentlich gut. Komm!«

Draußen stand ihrer wartend der Diener. Er führte sie bis an die Gartenpforte und zog sich dann zurück. Es war schnell dunkel geworden. Man hätte einen Menschen auf acht Schritte nicht zu sehen vermocht, und binnen zehn Minuten mußte es noch dunkler werden.

»Jetzt wird der Jott jestohlen,« flüsterte Gottfried.

»Ja, jetzt ist die Zeit. Hoffentlich gelingt der Diebstahl.«

»Schöner Wunsch!«

»Aber gerechtfertigt. Wenn der Raub nicht gelingt, sind wir morgen wieder gezwungen, herauszuschleichen, was aber schwieriger sein dürfte, da dann der Tong-tschi gewiß daheim sein wird. Komm zur Mauer!«

Sie huschten geräuschlos nach derselben hin und blieben zunächst lauschend stehen. Es war jenseits kein Geräusch zu hören.

»Jetzt hinüber, aber ja ganz leise!« raunte Degenfeld dem Wichsier zu.

Sic schwangen sich hinauf und ließen sich drüben langsam wieder hinab. Kaum hatten ihre Füße den Boden berührt, so tauchte eine dunkle Gestalt neben ihnen auf.

»Hu-tsin?« fragte der Student flüsternd.

»Ich bin der ganz Armselige!« antwortete der Gefragte ebenso leise.

»Wie lange sind Sie hier?«

»Seit kurzem erst.«

»Sind Sie einmal rundum gegangen?«

»Nein. Ich dachte, Wing-kan könne drüben hinter der Mauer stehen und lauschen. Er darf doch nicht wissen, daß ich da bin.«

»Recht so! Und die Werkzeuge?«

»Liegen hier neben mir. Was thun wir jetzt, hoher Gebieter?«

»Ihr beide steckt euch hinter diese Taxushecke. Es ist möglich, daß Wing-kan herüberkommt und sich überzeugt, daß niemand hier im Garten ist. Er wird das sogar sehr wahrscheinlich thun. Ich will einmal rekognoszieren und kehre bald zurück.«

Er zog seine Stiefel aus und schlich sich fort. Schritt für Schritt gehend, suchte er die Finsternis mit den Augen zu durchdringen. Zwei Seiten des Gartens schritt er ab, ohne etwas Auffälliges zu bemerken. Die dritte Seite bildete die Mauer, welche den Garten des einen Juweliers von demjenigen des andern trennte. Indem er da langsam vorwärts ging, stieß sein Fuß, glücklicherweise nur daran streichend, an etwas Hartes, was da am Boden lag. Er bückte sich nieder, um den Gegenstand zu befühlen. Es waren eine Hacke, ein Spaten und eine Schaufel, die da auf- und nebeneinander lagen.

Diese Werkzeuge waren jedenfalls von Wing-kan herübergeschafft worden; es war gar nicht anders möglich. Vielleicht war er noch in der Nähe.

Degenfeld bückte sich nieder und lauschte. Er strengte seine Augen möglichst an, konnte aber weder etwas hören noch etwas sehen.

Er bewegte sich, zur Erde niedergebückt, noch einige Schritte weiter, und da sah er eine Gestalt an einem Baume lehnen, kaum vier Schritte von sich entfernt. Hätte er nicht diese gebückte Haltung eingenommen gehabt, so wäre er von dem Manne unbedingt bemerkt worden.

Schnell bog er zur Seite und setzte sich da hinter einen Buchsbaumrand nieder, um zu erwarten, was da kommen werde. Die Hauptsache war jetzt, daß Gottfried und Hu-tsin an ihrem Platze blieben und ja nicht auf den Gedanken kamen, ihr Versteck zu verlassen.

Glücklicherweise dauerte es nicht lange, so hörte man von draußen Schritte. Es kamen mehrere Männer, schnell laufend. Sie hielten jenseits der Mauer an. Man hörte an ihrem lauten Atem, daß sie ihre Lungen sehr angestrengt hatten.

Die dunkle Gestalt verließ den Baum und huschte nach der Außenmauer hin. Degenfeld folgte, aber selbstverständlich mit größter Vorsicht, um ja kein Geräusch zu verursachen.

»Scht!« ertönte es von draußen.

»Scht!« antwortete es von innen.

»Ist der hohe Herr da?«

»Ja. Hast du ihn?«

»Sogar zwei!«

»Zwei? Einer war genug.«

»Es ging so leicht; da nahmen wir gleich zwei.«

»Die beiden Götter waren nicht zu schwer?«

»Nein. Sie sind von Holz.«

»Aus welchem Tempel?«

»Aus dem Pek-thian-tschu-fan, Haus der hundert Himmelsherren welches nicht so entfernt ist und auch weniger gut bewacht wird.«

»So ist's gelungen, ohne bemerkt zu werden?«

»Ja, aber beim nächsten Umgang, wenn der Hai-schi Letzte Stunde = 9 Uhr unsrer Zeit geschlagen wird, muß man es unbedingt sehen. Bis dahin muß hier alles beendet sein.«

»Wie bringen wir die Götter herein?«

»Wir heben sie hinauf, und Sie nehmen sie drüben hinab.«

»Gut, dann schnell.«

Der Methusalem hörte die Fragen und Antworten genau. Zwei große Gegenstände wurden von draußen her über die Mauer gehoben. Der Juwelier hob sie, halb und halb ließ er sie herabfallen. Dann gebot er: »Nun kommt selbst herein!«

»Noch nicht. Wir müssen vorher die Sänfte zur Seite tragen, daß sie nicht gesehen wird, falls jemand noch so spät vorüberkommen sollte.«

Man hörte ihre Schritte. Bald kehrten sie zurück und kamen über die Mauer gesprungen. Es waren zwei Personen.

»Ist hier alles in Ordnung?« fragte der eine.

»Ja.«

»Niemand im Garten?«

»Nein.«

»Wollen wir uns nicht vorher genau überzeugen?«

»Das habe ich bereits gethan. Ich bin zweimal um den ganzen Garten gegangen.«

»So können wir beginnen. Aber wo?«

»Nicht weit von hier. Die Werkzeuge liegen dort. Ich habe heut am Tage über die Mauer geschaut und mir die Stelle ausgewählt, wo die Erde am lockersten ist. Kommt und bringt die Götter!«

Er ging voran, und die beiden Männer folgten ihm mit den Figuren, welche vielleicht zwei Ellen hoch und also doch ziemlich schwer waren. Dort, wo die Werkzeuge lagen, hielten sie an.

»Hier graben wir,« sagte der Juwelier. »Aber ja leise, damit man nichts hören kann. Eine Hacke ist da; aber der Spaten macht viel weniger Geräusch.«

Die drei Bösewichter begannen zu arbeiten, und zwar sehr hastig, was Wing-kan zu der Bemerkung veranlagte: »Ihr macht zu schnell. Das hört man ja dort im Hause!«

»Nein,« lautete die Antwort. »Wir müssen uns sehr beeilen, sonst werden die Thore verschlossen. Dann sind wir gefangen.«

Sie gaben sich alle Mühe, bald fertig zu werden. Es galt übrigens auch gar nicht, die Arbeit sehr sorgfältig zu verrichten. Sie wußten ja, daß die Figuren hier vergraben wurden, um bald gefunden zu werden.

Es war noch keine halbe Stunde vergangen, so hatten sie ihre Arbeit gethan.

»So!« sagte Wing-kan. »Das ist geschehen. Das war die Hauptsache. Das übrige kommt von selbst.«

»Wie will mein Gebieter es nun anfangen?« fragte der eine der Männer, jedenfalls derjenige, mit dem der Juwelier hinter der Gartenmauer des portugiesischen Gasthauses gesprochen hatte.

»Ich warte, bis der Raub ausgerufen wird.«

»Das wird sehr bald geschehen.«

»Dann laufe ich zum Mandarin.«

»Zu welchem?«

»Zu Tong-tschi hier nebenan.«

»Der ist aber doch nicht ein Mandarin des Gerichts!«

»Nein, aber doch ein Mandarin. Die Gasse ist verschlossen, und ein Sing-kurm wohnt nicht hier. Also muß ich zu ihm. Ich sage ihm, ich höre, daß zwei Götter gestohlen seien. Ich glaube, daß mein Nachbar Hu-tsin der Räuber ist.«

»Der Mandarin wird fragen, woher meinem vornehmen Alten dieser Verdacht komme.«

»Ich habe noch im Garten gelustwandelt und da gesehen, daß der Nachbar zwei Figuren vergraben hat.«

»So ist's recht! Das wird helfen! Nun sind wir fertig. Also unser Geld bekommen wir erst morgen?«

»Nein, schon jetzt. Es ist besser, ich zahle gleich. Dann brauche ich morgen nicht nach Scha-mien zu gehen. Ich habe euch die Beutel schon bereit gelegt, hier neben der Mauer. Da sind sie. In jedem tausend Li.«

»Ist's richtig gezählt?«

»Ganz richtig.«

»Ich hoffe es. Am letztenmal hatte mein Herr sich um volle fünfzig Li verzählt.«

»Ich verzähle mich nie. Du hast schlecht nachgezählt.«

»Will der sehr alte Beschützer nicht lieber warten, bis wir nachgezählt haben?«

»Wo wollt ihr denn zählen?«

»Hier.«

»Im Dunkeln?«

»Ja. Wir brauchen nichts zu sehen. Wir greifen das Geld.«

»So zählt, wenn ihr Lust habt. Ich aber kann unmöglich warten. Ich werde meinen andern Nachbar besuchen gehen, um einstweilen diesem zu erzählen, was ich hier gesehen habe. Wenn dann der Raub ausgerufen wird und wir hören, daß zwei Götter fehlen, so wird er mich auffordern, Anzeige zu machen. Er wird dann wie ein Zeuge für mich gelten. Die Werkzeuge hier werde ich sofort verschließen.«

Er warf Hacke, Schaufel und Spaten über die Mauer hinüber und stieg dann nach. Man hörte seine Schritte verklingen und dann einen Riegel knirschen.

Die beiden Spitzbuben standen still da und horchten, bis nichts mehr von ihm zu hören war. Dann sagte der eine: »Er hat uns wieder betrogen!«

»Ja, ich glaube nicht, daß jeder Beutel tausend Li enthält. Aber es ist dennoch viel Geld. Jetzt müssen wir uns beeilen. Komm!«

Sie wollten fort; sie mußten hart an Degenfeld vorüber. Diesem kam der Gedanke, sie festzuhalten. Ob ihm das gelingen werde? Pah! Er war ein starker Mann, und der Schreck that gewiß auch das seinige. Er ließ sie an sich vorbei, schnellte dann empor – ein schneller Schritt hinter ihnen her, ein Doppelgriff – er hatte sie beide bei den Hälsen und krallte seine Finger mit aller Gewalt um dieselben.

Ein unterdrückter Schrei, ein vergebliches Sträuben und Zappeln – sie brachen zusammen. Er hielt sie dennoch fest und preßte sie auf das kräftigste nieder. Keiner gab nun einen Laut von sich. Sie machten noch einige krampfhafte Bewegungen, dann lagen sie mit ausgestreckten Gliedern still unter seinen Fäusten.

Jetzt ließ er los, um zu sehen, ob sie aufspringen würden. Sie thaten es nicht, denn sie waren entweder bewußtlos oder stellten sich so. Er zog sein Messer und schnitt ihnen Streifen von den schon an und für sich nicht reichlichen Gewändern. Dann band er sie Rücken an Rücken aneinander, so daß sie sich nicht befreien konnten, und rollte sie eine Strecke weit zur Seite.

Nun kehrte er zu den beiden, welche auf ihn warteten, zurück. Sie hatten das Uebersteigen und auch das Hacken und Schaufeln gehört und waren um ihn besorgt gewesen. Er erzählte ihnen, was er ganz allein fertig gebracht hatte. Hu-tsin eilte sogleich ins Haus, um feste Stricke zu holen, mit denen die Kerls fester und sicherer gebunden werden sollten. Dann suchten sie den Ort auf, an welchem die Figuren vergraben lagen.

Degenfeld ging mit den Stricken allein zu den Gefangenen. Sie durften gar nicht wissen, was mit ihnen vorging und wie viele Personen sie gegen sich hatten. Er verband ihnen nun auch die Augen. Dann wurden sie emporgehoben und über die Mauer in Wing-kans Garten geworfen.

Diesseits dieser Mauer begann nun das Ausgraben. Als man damit fertig war, wurde das Loch wieder zugemacht. Dann stieg Degenfeld hinüber und erhielt das Handwerkszeug und die Götter zugelangt; nachher folgten die beiden andern ihm nach.

Nun war da drüben eine Viertelstunde lang ein leises, kaum vernehmbares Geräusch zu hören, dann ein mehrmaliges kräftiges Klopfen, wie wenn Pfähle in die Erde geschlagen würden. Hierauf kamen die drei wieder über die Mauer zurück.

»So, das ist herrlich gelungen,« sagte der Methusalem. »Nun mag dieser Wing-kan Anzeige machen. Er fällt in seine eigene Grube.«

»In welcher ich umkommen sollte,« ergänzte der Chinese. »Herr, Sie sind mein Retter. Wie soll ich Ihnen danken!«

»Dadurch, daß Sie sich ganz genau so benehmen, wie ich es Ihnen jetzt da drüben gesagt habe.«

»Wollen Sie nicht mit mir hereinkommen in das Haus? Nun die Gefahr vorüber und mir das Herz wieder leicht ist, möchte ich Sie bewirten.«

»Dazu haben wir keine Zeit. Wir müssen zurück. Der Mandarin darf ja nicht erfahren, daß wir hier gewesen sind.«

»So erweisen Sie Ihrem armseligsten Diener wenigstens die Gnade, daß er morgen Ihr Angesicht schauen kann!«

»Das können wir thun. Morgen werden wir kommen, um uns alles erzählen zu lassen. Jetzt aber möchten wir uns reinigen. Gibt es bei Ihnen einen Ort, wo das geschehen kann, ohne daß man uns sieht?«

»Ja, kommen Sie, kommen Sie!«

»Nehmen Sie die Werkzeuge mit; sie dürfen nicht im Garten bleiben.«

Er führte sie in einen Verschlag und holte Laterne und Bürste, wo sie den Schmutz entfernten, welcher leicht zum Verräter werden konnte. Dann verabschiedeten sie sich von ihm und stiegen in den Garten des Mandarinen zurück.

Dort stellte sich Gottfried wie ein Diener an die Pforte, und Degenfeld spazierte auf und ab. Aber das brauchte er nicht allzulange zu thun, denn er wurde bald geholt und zwar von dem Tong-tschi selbst, welcher nach Hause gekommen war und, als er erfahren hatte, daß die erwarteten Gäste angekommen seien, nun in den Garten geeilt kam, um Degenfeld zu begrüßen.

»Und nun,« sagte er, als die ersten Komplimente gewechselt waren, »muß ich Sie bitten, mir einen Wunsch zu erfüllen.«

»Welchen?«

»Niemand darf wissen, in welcher Lage ich mich befunden habe, und daß Sie meine Retter gewesen sind. Meinem Weibe allein habe ich es erzählt. Sie wünscht, Sie zu sehen, um Ihnen danken zu können. Darf ich Sie zu ihr führen?«

Degenfeld wußte, was das für eine Auszeichnung für ihn war. Darum antwortete er in höflichstem Tone: »Ich betrachte diesen Wunsch als einen Befehl der Herrin und werde demselben Gehorsam leisten.«

»So kommen Sie! Sie wartet schon längst auf Sie.«


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