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Illustration: O. Herrfurth

Ardappelenboschs Fall vom Pferd.

Fünfzehntes Kapitel

Zu Wasser und zu Lande nach Hu-nau.

Unter dem Verdeck lag der Raum für die Ruderer, von denen je vierzig an einer Seite saßen. Zwei Personen gehörten zu einem Ruder, welche eine sehr bedeutende Länge hatten und das Schiff ziemlich schnell gegen den Strom bewegten, wobei sie von dem Winde, wenn derselbe günstig war, unterstützt wurden.

Nun wurde der Methusalem gefragt, ob er das Festmahl in seiner Kajüte oder auf dem Decke aufgetragen wünsche. Er zog das letztere vor, da die Nacht sehr mild war. Als er den andern mitteilte, daß man im Begriffe stehe, sie durch ein Nachtessen zu ehren, rief der Dicke: »Dat is goed; dat is hemelsch! Ik heb Honger; ik moet eten. Gij ook, Mijnheer Turnerstick – das ist gut; das ist himmlisch! Ich habe Hunger; ich muß essen. Sie auch, Herr Turnerstick?«

»Ja,« antwortete der Gefragte. »Essen muß der Mensch zu jeder Zeit können, und nach den Strapazen, welche wir hinter uns haben, ist eine Stärkung ganz besonders notwendig.«

»Na, wenn Sie es eine Strapaze nennen, sich im Gefängnisse auszuruhen, so nehmen Sie, obgleich Sie es nicht verdienen, mein Beileid entgegen,« sagte Gottfried.

»Was, nicht verdienen?« rief der Kapitän.

»Natürlich! Wer ist denn Schuld an die janze Weltjeschichte? Doch nur Sie selbst! Warum kommen Sie auf den horriblen Jedanken, Ihnen als Jötzen Dschaggernats in den Tempel zu postamentieren? Wat hat Ihnen denn eijentlich unter die Haut jekrabbelt, dat Sie aus so eine Association der Jedanken und Mißbegriffe jeraten konnten?«

»Nichts hat uns gekrabbelt. Verstanden!« rief der Kapitän zornig. »Mich krabbelt überhaupt niemals etwas; das mögen Sie sich merken, Sie Gottfried von der traurigen Gestalt! Wie können Sie von Mißbegriffen sprechen! Heimdall Turnerstick und Mißbegriff! Das ist geradezu eine Majestätsbeleidigung!«

»Ja. Wenigstens war dat Ihrige Aussehen ein höchst majestätisches, als Sie sich mit die Chinesigen herumbalgten. Kommen Ihnen noch mehr solche bunte Raupen in das Jehirn, so können wir nur gleich umkehren und nach Hause pilgern.«

Turnerstick wollte, wie ihm anzusehen war, eine nicht allzu höfliche Antwort geben, doch der Methusalem kam ihm in sehr ernstem Tone zuvor: »Unser Gottfried hat ganz recht! Sie haben sich und uns in die größte Verlegenheit gebracht, und wir können Gott danken, daß die Sache ein so gutes Ende genommen hat. Ich muß Sie wirklich ersuchen, sich nicht wieder solchen augenblicklichen und gefährlichen Einfällen hinzugeben. Ich hatte mir vorgenommen, Ihnen eine tüchtige Strafrede zu halten; da ich aber mit derselben das Geschehene nicht ungeschehen machen kann und Ihr Abenteuer uns ein sehr freudiges Ereignis in Aussicht gestellt hat, so will ich schweigen.«

»Ein freudiges Ereignis? Welches?« fragte der Kapitän, bemüht, schnell auf ein anderes Thema zu kommen.

»Wir haben die Bekanntschaft eines Mannes gemacht, von welchem ich vermute, daß er mit unserm guten Liang-ssi verwandt ist.«

»Mit mir?« fiel schnell der Chinese ein.

»Ja, mit Ihnen.«

»Wer ist das?«

»Hier unser wackerer Mandarin, welcher nicht nur in Ihre Befreiung gewilligt, sondern sich auch entschlossen hat, uns bis nach Deutschland zu begleiten.«

»Nach – Deutsch – land?« fragte Liang-ssi erstaunt und gedehnt. »Wa – rum?«

Sein Blick ging forschend zwischen dem Methusalem und dem Mandarin hin und her.

»Fragen Sie ihn selbst,« antwortete der erstere. »Fragen Sie ihn vor allen Dingen und zuerst nach seinem Namen!«

Der Mandarin hatte die deutschen Worte nicht verstanden, doch ahnte er, da aller Augen auf ihn gerichtet waren, daß die Rede von ihm sei. Er nannte, als er von Liang-ssi gefragt wurde, seinen Namen. Als der Fragende denselben hörte, fuhr er einen, zwei, drei Schritte zurück und rief: »Jin-tsian! Und ich heiße Liang-ssi.«

»Liang-ssi!« stieß der Mandarin hervor. »So hieß mein Bruder, welchen ich verloren habe.«

Einige Sekunden lang waren ihre forschenden Blicke gegenseitig aufeinander gerichtet; dann eilten sie aufeinander zu und lagen sich in den Armen.

»Was ist das?« fragte Turnerstick. »Warum umarmen sie sich?«

»Sie sind Brüder,« antwortete Degenfeld. »Ich habe entdeckt, daß der Mandarin der zweite Sohn unseres Ye-kin-li ist.«

Diese Worte riefen die freudigste Ueberraschung hervor. Alle drängten sich an die Brüder, welche vor Freude weinten und sich nicht aus den Armen lassen wollten. Es ertönten ihnen in deutscher, niederländischer und chinesischer Sprache die herzlichsten Gratulationen entgegen. Die Freunde waren fast in demselben Grade entzückt wie die Brüder selbst. Gottfried schlang seine langen Atme um die letzteren, zog sie kräftig an sich und rief: »Kommt an meine jefühlsreiche Brust, ihr Söhne der jeliebten Mitte. Ich bin jerührt. Ich fühle mich als eure liebevolle Erzieherin und muß teilnehmen an eurer Seligkeit. Kommen Sie, Mijnheer, und nehmen Sie die Jungens von die andere Seite! Wat glücklich sich jefunden hat, dat muß umärmelt werden.«

»Ja,« antwortete der Dicke, indem er jenseits seine Arme um die Brüder schlang, was ihm aber wegen seiner Wohlbeleibtheit nicht recht gelingen wollte, »ook ik bin gelukkig; ook mij zwellt de borst; ook ik moet mijne armen om zij wringen. Ik moet mij nagenoeg snuiten, zoo oneindelijk ben ik gevoelig – auch ich bin glücklich; auch mir schwillt die Brust; auch ich muß meine Arme um sie schlingen. Ich muß mich beinahe schneuzen, so unendlich bin ich gerührt!«

Da liefen ihm die Thränen des freudigsten Mitgefühls in hellen Tropfen über die dicken Backen herab. Selbst die kleine Nase wurde in Mitleidenschaft gezogen, so daß endlich das geschah, was er so außerordentlich zart angedeutet hatte: er retirierte in eine Ecke, setzte sich dort auf einen Stuhl, zog sein »Zakdoek« »Sacktuch«, Taschentuch hervor und »snuizte« sich so anhaltend und kräftig, daß die harmonischen Töne, welche er dabei hervorbrachte, alle anderen Laute verschlangen.

Der Methusalem als der eigentliche Schöpfer dieses Glückes stand mit Richard von ferne und schaute still der Scene zu, bis die Brüder zu ihm traten, um ihm Dank zu sagen. Beide waren begierig, ihre gegenseitigen Erlebnisse von einander zu erfahren, doch gab es zu einer solchen Unterhaltung keine Zeit, da der Ho-tschang eben jetzt melden ließ, daß das Mahl aufgetragen sei. Es wurde als Feier des Wiedersehens ein wahres Freudenmahl.

Das Verdeck wurde von zahlreichen Laternen geradezu festlich erleuchtet. Es gab an der improvisierten Tafel nur acht Plätze. Der Ho-tschang bat um die Erlaubnis, mit Platz nehmen zu dürfen, um die Bedienung seiner hohen Gäste besser leiten zu können. Der Kommandant des Schiffes und der Steuereintreiber ließen sich beide nicht sehen. Es war ihnen unheimlich geworden.

Am Himmel glänzten tausend Sterne, und der Mond stieg soeben über dem Horizonte empor. Die Nacht war lau und würzig und die Ruhe derselben wurde nur durch den taktmäßigen Schlag der Ruder und das rauschende Sog Geräusch des Wassers am Buge eines Schiffes unterbrochen. Das Essen bestand aus lauter »Meeresfrüchten«, wie der Italiener sagen würde, alle nach chinesischer Art in verschiedener Weise zubereitet. Es war ein Mahl, eines hohen Mandarinen würdig. Keiner aber ließ es sich so schmecken wie der Dicke. Er hatte seine Rührung vergessen und seine Thränen gestillt. In seinen angestrengt arbeitenden Mund ging alles, aus demselben aber kam nichts als höchstens hie und da einmal ein kurzer Ausruf des Behagens und der höchsten Befriedigung. Als das Mahl beendet war, schnalzte er mit der Zunge und sagte: »Dat was goed; dat was buitengewoon goed! Worden wij hier op den scheepe altijd zoo eten, ook morgen ochtend – das war gut; das war außerordentlich gut! Werden wir auf dem Schiffe stets so essen, auch morgen früh?«

Der Tausendfuß war indessen schnell vorwärts gekommen. Er fuhr jetzt an der Insel vorüber, welche von den Chinesen Lu-tsin und von den in Kanton wohnenden Europäern »das Paradies« genannt wird und in der Mythe des Landes eine bedeutende Rolle spielt.

Während des Essens waren die Kajüten zum Schlafen eingerichtet worden. Die Gäste bedurften der Ruhe. Bald drang das Schnarchen des Mijnheer wie das Aechzen und Stöhnen einer ganzen Schar Sterbender auf das Deck. Nur zwei blieben munter, die beiden Brüder, welche in einer kleinen, separaten Kabine saßen und einander ihre Erlebnisse erzählten.

Am Morgen waren der Methusalem und Richard Stein zuerst munter. Als sie auf das Deck traten, wurden sie von dem Ho-tschang mit großer Ehrfurcht begrüßt. Er führte sie zu einem Tische, auf welchem ihnen der Thee serviert wurde.

Der Tausendfuß hatte während der Nacht den Hauptfluß verlassen und war in den Pe-kiang eingebogen, zu deutsch Nordfluß, weil sein Lauf im allgemeinen fast schnurgerade von Norden nach Süden gerichtet ist.

Noch während des Frühstücks erschien der Steuereinnehmer. Er hatte ursprünglich nach Ing-te und weiter gewollt, erklärte aber, hier aussteigen zu müssen, um nach Se-hoei zu gehen. Der eigentliche Grund aber war jedenfalls der, daß er sich nicht mehr wohl auf dem Schiffe fühlte und nun lieber trachtete, eine andre Reisegelegenheit zu finden. Das Schiff legte seinetwegen an einem kleinen Orte an, wo er sich unter tiefen Verbeugungen empfahl.

Was den Scheu-pi betrifft, welcher der eigentliche Kommandant des Tausendfußes hätte sein sollen, so ließ er sich während der ganzen Fahrt nur dann einmal auf dem Verdecke sehen, wenn keiner von den Passagieren sich auf demselben befand. Es war, als ob er Angst vor ihnen habe, und der Methusalem erfuhr von dem Ho-tschang, daß der Offizier ein Opiumraucher sei und dem zehrenden Gifte seine Gesundheit und alle seine Energie geopfert habe.

Die Reisenden befanden sich am Tage fast stets auf dem Verdecke, um die Scenerie des Flusses zu betrachten, welche anfangs allerdings keine große Abwechslung bot. Das Land war eben und der Pe-kiang floß zwischen ausgedehnten Reis- und andern Feldern dahin, welche durch zahlreiche Kanäle bewässert wurden. Hie und da sah man die Hütten eines Dorfes am Ufer liegen, oder man erblickte die Pagode einer fernen Ortschaft. Das war die einzige Abwechslung.

Erst später, als der Fluß die Sohle eines Thales füllte, an dessen Seiten sich Berge erhoben, bot die Gegend mehr Interesse. Man sah ganze Oerter und einzelne Häuschen an den Berglehnen liegen, welche sehr gut angebaut waren, da der Chinese es versteht, jedes Stück fruchtbaren Landes möglichst auszunutzen. Man hätte sich an die Elbe oder an den Rhein versetzt denken können. Nur die Schlösser und Burgruinen, auch die Weinpflanzungen fehlten.

Die Passagiere vermochten nicht zu begreifen, wie die Ruderer bei ihrer schweren Arbeit auszuhalten vermochten. Diese Leute waren bei ihrer schmalen Reiskost fast ohne Unterbrechung Tag und Nacht thätig. Nur in Ing-te gab es einen halbtägigen Aufenthalt, den die Reisenden dazu benützten, sich in der Stadt umzusehen. Sie kehrten aber sehr bald wieder nach dem Schiffe zurück, da die Belästigung durch die Bewohner eine ganz ungewöhnliche war. Man hatte hier noch niemals fremd gekleidete Leute gesehen und kaum waren die Passagiere an das Land gestiegen, so sahen sie sich von einer Menschenmenge umgeben, welche sich von Minute zu Minute in der Weise vergrößerte, daß schließlich anzunehmen war, es sei im ganzen Orte kein Mensch daheim geblieben.

Diese Leute verhielten sich nicht etwa feindselig, o nein; die Fremden wurden von ihnen mit außerordentlicher Hochachtung behandelt. Alle Köpfe und Rücken beugten sich vor ihnen; aber das Gedränge wurde schließlich so arg, daß an ein Fortkommen gar nicht zu denken war; man blieb geradezu stecken, und die Rückkehr konnte nur Schritt um Schritt in höchster Langsamkeit bewerkstelligt werden.

Am fünften Tage gegen Abend wurde Schao-tscheu, eine Stadt zweiten Ranges, erreicht, welche am Südfuße das Nan-ling-Gebirges liegt, da, wo dasselbe in den Ta-yü-ling übergeht. Von da aus war der Fluß für den Tausendfuß nicht mehr schiffbar, und es mußte also von der Dschunke Abstand genommen werden.

Die Behandlung war eine sehr ehrfurchtsvolle und die Beköstigung eine ausgezeichnete gewesen. Die Reisenden wollten darum dankbar sein und boten dem Ho-tschang ein entsprechendes Geldgeschenk an. Er wies es aber zurück, indem er sich auf den strengen Befehl des Ho-po-so, kein Geschenk anzunehmen, berief. Er versicherte, daß dieser ihn bereits im voraus reichlich belohnt habe, und so verteilte der Methusalem die Summe unter die Matrosen, Soldaten und Ruderer. Obgleich jeder nach unsern Begriffen nur eine Kleinigkeit erhielt, waren diese anspruchslosen Leute über dieses unerwartete Kom-tscha so erfreut, daß sie sich an den Spender drängten, um ihm den Saum seines Studentenrockes zu küssen.

Der Methusalem erkundigte sich nach dem höchsten Beamten der Stadt. Dieser war ein Mandarin der fünften Klasse, in welche die Bürgermeister der Städte zweiten Ranges, die kaiserlichen Leibärzte, kaiserlichen Astronomen und alle Beamten gehören, welche zum Tragen der krystallenen Kugel auf der Mütze berechtigt sind. Er wollte sich direkt zu diesem tragen lassen und mietete zu diesem Zwecke die nötige Anzahl von Sänften.

Die Stadt war ein kleines Abbild von Kanton, nur daß der Fluß hier kleiner und die Umgegend eine bergige war. Es gab da ganz dieselbe Straßeneinrichtung, dieselben Häuser und Läden und – dieselbe neugierige Bevölkerung.

Die Träger hielten vor einem palastähnlichen Gebäude, doch stiegen die Reisenden nicht aus. Da der Methusalem sich in dem Besitze eines besondern kaiserlichen Kuan befand, so wäre es gegen seine Würde gewesen, den Mandarin aufzusuchen. Liang-ssi wurde beordert, sich zu demselben zu begeben, um ihm die Ankunft so hoher Gäste zu melden. Er nahm den Kuan mit, um ihn dem Beamten vorzuzeigen.

Glücklicherweise befand sich derselbe zu Hause. Er kam herbeigeeilt, um die Angemeldeten mit unterwürfiger Höflichkeit zu begrüßen und ihnen sich und sein Haus zur Verfügung zu stellen.

Wie aber erstaunte er, als sie aus den Palankins stiegen! Ein so wie der Methusalem gekleideter Mensch schien ihm ein wahres Weltwunder zu sein. Er zog die Brauen so hoch, daß sie unter dem Rande seiner Mütze völlig verschwanden, und seine Züge kamen in eine geradezu unbeschreibliche Bewegung. Man sah es ihm an, daß er vor Erstaunen laut aufgeschrieen hätte, wenn dies mit der gebotenen Hochachtung vereinbar gewesen wäre.

Ebenso erging es den zahlreichen Bediensteten, welche mit ihm erschienen waren, jetzt hinter ihm standen und, die Köpfe tief zur Erde geneigt, sich leise Bemerkungen zuflüsterten.

»Na,« meinte der Gottfried in deutscher Sprache, »die sind mal janz paff über uns. Soll ich vielleicht die Pipe anbrennen, jeehrtester Methusalem? Jestopft ist sie schon.«

»Ja, brenne sie an,« antwortete der Gefragte. »Es ist zwar gegen die hiesige Sitte, aber gerade das dürfte die Hochachtung vergrößern, welche wir uns wünschen müssen.«

Der Gottfried machte Feuer und der Methusalem nahm die Schlauchspitze in den Mund und sog aus Leibeskräften. Dann erst, als die Pfeife sich in »Schuß« befand, antwortete er in würdevoller Weise auf die Bewillkommnungsrede des Mandarinen.

Dieser verbeugte sich noch tiefer und lud die erlauchten Herrschaften ein, sich in das Haus zu bemühen. Der Neufundländer verstand die Armbewegung des Beamten sofort und wendete sich dem Thore zu, um langsamen Schrittes und in selbstbewußter Haltung voran zu schreiten. Hinter ihm kam der Methusalem, gefolgt von seinem Gottfried, welcher wie gewöhnlich die Pfeife und die Oboe trug. Beide verschmähten es, einen Blick auf die Bediensteten zu werfen, unter denen sich mehrere Mandarinen niederen Grades befanden. Turnerstick entfaltete seinen Fächer und der Mijnheer seinen Regenschirm; dann reichten sie sich die Hände und schritten, gefolgt von den beiden Brüdern, hinter Richard Stein her, welcher sich auch ein Ansehen gab, als ob er direkt aus der kaiserlichen Residenz Pe-king komme. Die Gewehre und andern Effekten wurden nicht berührt, da diese Gegenstände von der Dienerschaft nachgebracht werden mußten.

Ein solches Verhalten war hier so ungewöhnlich oder vielmehr so einzig, daß der Mandarin gar nicht wußte, wie er sich dazu verhalten sollte. Hinter den Gästen herzuschreiten, das verbot ihm seine Würde. Vor ihnen, also vor dem Hunde herzugehen und dessen Führer zu sein, das vertrug sich ebensowenig mit seiner hohen Stellung. Daher versuchte er, hinter dem Tiere und vor dem Methusalem Platz zu finden. Da aber hielt der Neufundländer an, richtete sich auf und fletschte knurrend die Zähne. Der Mandarin erschrak und wich zurück, um nun doch hinter seinen Gästen herzugehen. Er schüttelte den Kopf und suchte voller Angst in seinem Gedächtnisse nach, ob in der chinesischen Litteratur der Sitten und Gebräuche ein Paragraph zu finden sei, welcher davon handle, wie man sich gegen eine Dschi-ngan, zu deutsch Hunde-Excellenz zu verhalten habe.

Es ging durch einen breiten Flur und dann eine ebenso breite Treppe hinan. Da der Hund nicht wußte, ob er sich nach rechts oder nach links zu wenden habe, so blieb er stehen, und die Herren mit ihm. So erhielt der Mandarin Raum, vorzutreten und nach links zu zeigen, wo ein Diener soeben eine Thür öffnete und sich dann hinter derselben zur Erde warf.

Der Neufundländer verstand den Mandarinen abermals. Er wandte sich nach der angegebenen Richtung, schritt durch die Thür in das große Zimmer, welches als Empfangssaal zu dienen schien, sah sich dort kurz um und legte sich dann lang auf ein sofaähnliches Polstermöbel, welches mit gelber Seide überzogen war. Wäre das daheim geschehen, so würde er jedenfalls mit einigen Hieben bedacht worden sein. Hier aber that Degenfeld gar nicht, als ob er es bemerke. Er schritt vielmehr auf ein ähnliches Polster zu, deren mehrere rundum standen, und ließ sich gravitätisch auf dasselbe nieder, während der Gottfried sich als getreuer Schildknappe und Pfeifenträger hinter ihm aufstellte.

Die andern suchten sich ähnliche Plätze, so daß der Mandarin der einzige war, welcher stehen blieb. Er machte ein so verblüfftes Gesicht, daß seine Gäste Mühe hatten, ernst zu bleiben. Doch überwand er seine Verlegenheit leidlich gut und fragte dann, was zu den Befehlen der erleuchteten Herrschaften stehe.

Degenfeld that einen tüchtigen Zug aus der Pfeife und antwortete dann: »Wir wollen über die Grenze nach der Provinz Hu-nau gehen und werden, bis wir die dazu nötigen Vorbereitungen getroffen haben, hier bei Ihnen wohnen. Hoffentlich kann ich dann später melden, daß wir Ihnen willkommen gewesen sind!«

Höchst wahrscheinlich war das Gegenteil der Fall, doch antwortete der Beamte in verbindlichstem Tone und unter einer tiefen Verbeugung: »Meine Unwürdigkeit hat bereits gesagt, daß ich den gebietenden Herren mich und mein ganzes Haus zur Verfügung stelle. Jeder ihrer Befehle wird so schnell ausgeführt werden, als ob er über meine eigenen Lippen gegangen sei.«

»Das erwarte ich allerdings. Sie werden aus meinem Kuan ersehen haben, daß ich hier fremd bin, und mir nur die beste Auskunft erteilen. Auf welche Weise können Männer unsres Ranges nach Hu-nan reisen?«

»So hohe Herren haben die Wahl zwischen Pferden oder Palankins. Ich werde alles Nötige zur Verfügung stellen, gute Führer mitgeben und auch einen tapfern Tsing-wie Oberlieutenant. gebieten, die ehrwürdigen Gönner zu begleiten und zu beschützen, bis sie sich jenseits der Grenze befinden und dort eine andre Bedeckung erhalten.«

»Eine solche militärische Begleitung entspricht allerdings unserm Range, doch möchte ich wissen, ob sie auch, von demselben abgesehen, nötig ist.«

»Wohl nicht. Aber ich habe gestern die Meldung erhalten, daß von Kwei-tschou die Kuei-tse »Teufelssöhne«, aufrührerische Mohammedaner nach Hu-nan gekommen sind. Obgleich ich nicht glaube, daß sie sich bis an die Grenze unsrer Provinz wagen, halte ich es doch für jeden, der nach Hu-nan gehen will, für besser, sich mit Waffen zu versehen.«

»Ich fürchte diese Kuei-tse nicht, doch mögen Ihre Soldaten uns begleiten. Welche Zeit brauchen Sie, uns gute Pferde zur Verfügung zu stellen?«

»Das kann sofort geschehen, wenn die ahnenreichen Herren heute noch aufbrechen wollen. Auch für Proviant und alles andre werde ich augenblicklich sorgen.«

Er sagte das mit einer Hast, aus welcher zu ersehen war, wie außerordentlich gern er den baldigen Abzug der Gäste gesehen hätte. Doch Degenfeld meinte: »Solche Eile ist nicht nötig. Heute reisen wir nicht ab, doch morgen würde ich gern aufbrechen, wenn bis dahin alles beschafft werden kann.«

»Das soll es sein, hoher Herr. Ich werde den edlen Gebietern schon früh die nötigen Reit- und auch Lastpferde vorführen lassen. Und schon heute soll alles andre Nötige angeschafft werden. Wünschen die Inhaber der langen Stammbäume zusammen zu speisen, oder soll das Essen jedem einzelnen Abkömmling vorgelegt werden?«

»Wir bleiben in unsrer Gesellschaft, bis wir uns zur Ruhe legen.«

»So werde ich den Wohlwollenden jetzt ihre Zimmer anweisen lassen. Dann können sie sich im Speisesaale versammeln. Nur muß ich fragen, welche Gerichte ich bereiten lassen soll.«

»Das stelle ich ganz in Ihr Belieben. Doch bitte ich, ein Verzeichnis der Speisen, welche wir erhalten, anfertigen zu lassen, auf daß ich es später vorlegen und damit beweisen kann, daß der Kuan des Himmelssohnes hier in Schao-tscheu geachtet wurde.«

Dies war ein diplomatischer Kniff des Studenten. Er erreichte damit jedenfalls ein sehr gutes Abendessen. Der Mandarin verbeugte sich zustimmend, wendete sich dann gegen das Sofa, auf welchem der Hund lag, verneigte sich auch in dieser Richtung und fragte: »Soll ich der zwei Paar Füße habenden Excellenz auch ein besonderes Zimmer anweisen lassen?«

»Nein,« antwortete der Methusalem ernst, obgleich er lieber laut aufgelacht hätte. »Diese Excellenz ist mein Freund und wird bei mir wohnen und schlafen.«

»Aber welche Gerichte wird sie zu speisen belieben?«

»Sie wird mit an unserm Tische essen.«

»Vielleicht ist die Seele eines berühmten Ahnen in sie gefahren, denn sie hat eine Größe, wie ich ihresgleichen noch nie gesehen habe. Wahrscheinlich muß man der Excellenz ungewöhnliche Achtung erweisen?«

»Sie ist allerdings an ganz besondere Aufmerksamkeit gewöhnt und vermerkt es sehr übel, wenn man es an derselben mangeln läßt.«

»Sie soll mit mir zufrieden sein, denn ich werde für ihre Bequemlichkeit die größte Sorge tragen.«

Er entfernte sich rückwärts gehend bis zur Thür und verschwand dann durch dieselbe, nachdem er sich vor jedem einzelnen und auch vor dem Hunde verneigt hatte. Nach einigen Augenblicken traten so viele Diener ein, als Personen vorhanden waren; jeder derselben hatte den Auftrag, einem der Gäste sein Zimmer anzuweisen.

Der Methusalem wurde in eine wirklich prächtig eingerichtete Stube geführt, welche wohl nur für sehr vornehme Gäste eingerichtet war. Es befand sich nur ein Bett in derselben, aber bald brachten zwei dienstbare Geister noch ein zweites hereingetragen, in welchem wohl noch kein gewöhnlicher Mann geschlafen hatte. Auf Befragen, für wen dasselbe bestimmt sei, erklärte der eine: »Der mit dem Schweife wedelnde Urahne soll in demselben schlafen, damit er sich nicht über den Herrn des Hauses zu beklagen habe.«

Die guten Leute waren außerordentlich bemüht, die beleidigenden Worte Dschi und Kiuen, welche Hund bedeuten, zu umschreiben, um dem Besitzer der zwei Paar Beine und des Schweifes ihre Achtung zu erweisen. Degenfeld nahm dies als ganz selbstverständlich hin. Ihm machte es ja keinen Schaden, wenn sein Liebling einmal Gelegenheit fand, in einem guten chinesischen Bette zu schlafen.

Als man ihm dann sein Gewehr brachte, wurde ihm gesagt, wo der Speisesaal zu finden sei. Er hatte bemerkt, daß man ihm und seinen Gefährten eine Reihe nebeneinander liegender Zimmer angewiesen habe. Er ging, um sie aufzusuchen, und fand sie bei dem Kapitän versammelt. Sie hatten es vorgezogen, beisammen zu sein. Jeder von ihnen hatte eine brennende Pfeife im Munde, und auf dem Tische stand eine große Porzellanschale, welche Tabak enthielt. Auf die Frage Methusalems erklärte Turnerstick: »Meinen Sie etwa, daß Sie hier allein rauchen können? Wir sind gesonnen, uns ganz dasselbe Relief zu geben. Leider wurde ich nicht verstanden, als ich von der dienenden Kreatur Tabak verlangte. Man scheint hier ein schauderhaftes Chinesisch zu sprechen; aber Liang-ssi hat ihr endlich doch zum Verständnisse gebracht, was wir wollten. Wie gefällt es Ihnen in diesem Hause?«

»Ganz gut, obgleich wir nicht sehr willkommen sind, was ich dem Mandarinen allerdings nicht verdenken kann.«

»Pah! Wir zehren hier auf des Kaisers Unkosten, was mir freilich noch nicht passiert ist. Am meisten freue ich mich auf morgen. Ich kann Ihnen sagen, daß ich ein leidenschaftlicher Reiter bin. Darum war ich ganz entzückt, als Sie Pferde bestellten. Auch die andern können reiten; nur unser Mijnheer scheint nicht damit einverstanden zu sein.«

»Warum nicht, Mijnheer van Aardappelenbosch?«

Der Dicke faltete die Hände über dem Bauche, warf einen um Erbarmung flehenden Blick gen Himmel und antwortete: »In gevalle dat ik ruiten moet, zoo sterf ik op het oogenblik – wenn ich reiten muß, so sterbe ich augenblicklich.«

»Warum denn?«

»Omdat ik niet ruiten kann – weil ich nicht reiten kann.«

»Pah! Sie lernen es!«

»Ik? Mijn God een Heer! Ik ben een oongelukkige nijlpaard – ich? Mein Gott und Herr! Ich bin ein unglückliches Nilpferd!«

»Unsinn! Man setzt sich in den Sattel, steckt die Füße in den Bügel und läßt das Pferd laufen.«

»O wee! Indien ik het paard loopen laat, zoo leg ik straks onden op der moeder aarde – o weh! Wenn ich das Pferd laufen lasse, so liege ich sofort unten auf der Mutter Erde!«

»Sie müssen es wenigstens versuchen.«

»Neen! Ik dank zeer! Ik wil niet onden zitten – Nein! Ich danke sehr! Ich will nicht unten sitzen!«

»Ich sage Ihnen aber, daß die hiesigen Pferde keine arabischen Renner sind!«

»En gesteld dat zij nijlpaarben zijn, ik kan niet ruiten, en ik wil niet ruiten, noch te voet noch te paard – und wenn sie Nilpferde sind, ich kann nicht reiten, weder zu Fuße noch zu Pferde!«

Dabei blieb er. Als auch die andern in ihn drangen, wenigstens einen Versuch zu machen, rief er ganz erbost aus: »Houdt den mond! Geen mensch brengt mij op een paard! Ik wil niet mijne armen, mijne beenen en mijn nek breken. Ik ben Mijnheer Willem van Aardappelenbosch en ruit van ambtswege op geenen paard, op geenen appe, opp geenen olifant en ook op geenen ooievaar; ik ruit op geenen dier, uitgenomen op mijne muilen of op mijne laarzen – haltet den Mund! Kein Mensch bringt mich auf ein Pferd! Ich will nicht meine Arme, meine Beine und mein Genick brechen. Ich bin Mijnheer Willem van Aardappelenbosch und reite von Amts wegen auf keinem Pferde, auf keinem Affen, auf keinem Elefanten und auch auf keinem Storche; ich reite auf keinem Tiere, ausgenommen auf meinen Pantoffeln und auf meinen Stiefeln!«

Er warf bei dieser Versicherung die Arme so energisch um sich herum, daß man erkennen mußte, es sei ihm heiliger Ernst mit seinen Worten. Dabei standen dicke Schweißtropfen auf seiner Stirn, hervorgebracht von dem bloßen Gedanken, daß er reiten solle.

»Nun gut, so müssen Sie sich tragen lassen,« sagte Degenfeld.

»Ja,« nickte der Dicke befriedigt. »Ik neem twee Kulis, welke mij dragen mocten – ja, ich nehme zwei Kulis, welche mich tragen müssen.«

»Davon werden Sie absehen, da diese Träger auf die Dauer mit den Pferden nicht gleichen Schritt halten könnten. Wir müssen zu Ihrem Tragsessel zwei Pferde nehmen.«

»Hoe zal dat gemakt werden – wie soll das gemacht werden?«

»Ein Pferd geht hinten und das andre vorn, und die Tragstangen der Sänfte werden hüben und drüben an den Sätteln festgeschnallt.«

»Zoo kom ik betwixt de twee paarden? – so komme ich zwischen die zwei Pferde?«

»Ja.«

»Ik dank zeer! Dat vooran slat achten, en bat achten bijt voorn. Ik laat mij noch slaan noch bijten – ich danke sehr! Das voran schlägt nach hinten aus, und das hinten beißt vorn. Ich lasse mich weder schlagen noch beißen!«

»Aber Sie sitzen doch im Tragsessel, und kein Pferd kann Ihnen etwas thun!«

»Zoo! Ik zit in den Dragstoel? Tat is good; da maak ik met – so? Ich sitze in dem Tragstuhle? Da mache ich mit!«

Da er nun überzeugt, daß weder das eine Pferd ihn schlagen, noch das andre ihn beißen konnte, so war er zufriedengestellt.

Er war eben allezeit auf das Heil seines umfangreichen Körpers bedacht.

Noch waren alle beisammen, als ein Diener hereintrat und jedem einen Zettel überreichte, welcher eine halbe Elle breit und zwei Ellen lang war und eine Einladung zum Abendessen enthielt. Diese Zettel waren dann als Servietten oder Mundtücher zu benutzen.

Als sie dann den Speisesaal betraten, wurden sie von dem Mandarin empfangen, welcher sich in großer Gala befand. Er wies einem jeden seinen Platz an. Für die sieben Gäste waren acht Stühle vorhanden. Auf dem achten nahm nicht etwa der Hausherr Platz, sondern dieser letztere postierte sich an die eine Wand des Saales, um die Diener zu dirigieren, von denen jeder Gast seinen besonderen bekam.

Als sich alle gesetzt hatten, deutete der Mandarin auf den Hund und sagte: »Soll der Urahne sich nicht auch setzen. Es ist ja ein Stuhl für ihn vorhanden.«

Degenfeld bemühte sich, ernst zu bleiben. Er gab dem Neufundländer einen Wink und dieser sprang sofort auf den leeren Stuhl und beschaute die schriftliche Einladung, welche sein Diener vor ihn hinlegte. Das sah so drollig aus, daß Turnerstick lachen wollte, was ihm aber von dem Methusalem mit einigen Worten verwiesen wurde.

Nun wurde der erste Gang aufgetragen, welcher aus einer delikaten Fischsuppe bestand. Der Hund beroch seinen Teller. Die beigefügten Gewürze waren seinem Instinkte, seiner Natur zuwider; darum wendete er sich ab; aber auf einen Wink und ein beigefügtes Wort seines Herrn überwand er sich und leckte gehorsam den Teller leer.

Ganz dasselbe geschah bei den übrigen Gängen. Der Neufundländer war wohlgezogen und hatte früher schon manches genießen müssen, was andre Hunde versagt hätten. Wenn ihm eine Speise nicht behagte, so sah er seinen Herrn an, und sobald dieser den Finger hob, fraß er sie auf.

In dieser Weise machte das Tier das ganze Nachtmahl mit durch und wurde dabei mit einem Eifer und einer Ehrerbietung bedient, als ob es den Rang eines hohen Mandarinen bekleide. Ob der Hausherr dieses Arrangement aus Ironie getroffen hatte, das war dem Methusalem sehr gleichgültig. Es wurde alles in ernster Würde verzehrt, ohne daß dabei jemand ein Wort der Unterhaltung hören ließ, und der Hund zeigte diese Würde in nicht geringerem Grade als seine menschlichen Mitgäste.

Am Schlusse des Mahles überreichte der Mandarin dem Methusalem das gewünschte Verzeichnis der Speisen und fragte dabei, ob er sich der Zufriedenheit seiner hohen Gäste erfreuen dürfe. Er erhielt eine bejahende Antwort, und das mit vollem Rechte. Dann bat er um die Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen, da er zu gering sei, mit seiner Anwesenheit die Erleuchteten belästigen zu dürfen. Es wurde ihm in gnädigen Worten erlaubt. Natürlich war er froh, von dem Zwange befreit zu sein, welchem er bei ihnen unterworfen war.

Nun gab es noch eine Art Wein, aus gegorenem Reis bereitet, welcher heiß präsentiert wurde. Es war kein wohlschmeckendes, sondern ein sehr fades Getränk, welchem die Gäste dadurch zu entgehen suchten, daß sie baldigst aufbrachen, um sich zur Ruhe zu begeben.

Daß der Mijnheer sich mit dem Essen sehr zufrieden zeigte, verstand sich ganz von selbst. Bald schnarchte er ebenso laut wie auf dem Tausendfuße.

Der Neufundländer hatte noch nie ein solches Lager gehabt wie heute. Er blickte seinen Herrn ganz verwundert an, als dieser ihn in das Bett kommandierte, säumte aber gar nicht, diesem Befehle Gehorsam zu leisten.

»Ja,« sagte der Gottfried, welcher dabei stand, »heut jeht's hoch her bei dich, denn du bist ein urahniger Jebieter mit vier Füße und einem Schweife. Aberst komm nur wieder nach Hause! Da schläfst du wie vorher bei mich auf dem Strohdeckel, und wenn du etwa von China träumst, so jibt es Hetzpeitsche ohne Schmorkartoffel. Jehabt dir wohl, und verschlafe dir nicht, denn morjen fliegen wir zeitig aus dem Nest! Jute Nacht auch Sie, oller Methusalem! Ich habe noch die Pipe zu reinigen, damit wir morjen hier in Schao-tscheu keinen stänkerigen Eindruck machen.«

Er löschte die an der Decke hängende Laterne aus und ging. Noch war es zeitig am Morgen, als er wieder kam, um seinen Herrn zu wecken. Er meldete, daß sich unten im Hofe wohl ein Dutzend Pferde befänden, welche der Mandarin für seine Gäste requiriert habe, um dieselben sobald als möglich abreisen zu sehen.

Im Speisesaale wurde der Thee getrunken, und dann erschien der Hausherr, um die »Herren mit den langen Stammbäumen« zu ersuchen, sich in den Hof zu bemühen. Degenfeld zählte dort fünfzehn Pferde. Sechs waren zum Reiten und zwei zum Tragen des Palankin für den Mijnheer bestimmt. Den übrigen waren Packsättel aufgeschnallt.

Degenfeld untersuchte die Reitpferde. Es waren kleine, häßliche Tiere, die sich aber später als sehr munter und ausdauernd bewiesen. Das Zaumzeug war leidlich, doch zeigten die Sättel eine unbequeme Gestalt, und die Bügel waren schwer und unbeholfen. Dem konnte aber nicht abgeholfen werden.

Der Methusalem bestieg eins der Tiere, um es zu probieren. Von einem Durchreiten der Schule konnte keine Rede sein, weil es eben keine Schule besaß, doch gehorchte es ziemlich willig dem Zügel und dem Schenkeldrucke.

»Nun, wollen Sie nicht auch einmal probieren?« fragte Turnerstick den Dicken.

»Ik?« antwortete dieser, indem er alle zehn Finger abwehrend ausspreizte. »Jk niet, waarachtig niet – ich nicht, wahrhaftig nicht!«

Er kehrte, um ganz sicher zu sein, daß ein solches Ansinnen nicht wieder an ihn gestellt werden könne, schleunigst nach seinem Zimmer zurück.

Alles, was mitgenommen werden sollte, war schon verpackt. Das waren Speisen, einige Flaschen Raki und sodann vorzugsweise eine bedeutende Anzahl von Decken aus den verschiedensten Stoffen, mit deren Hilfe die Reisenden es sich in den Einkehrhäusern möglichst bequem machen sollten.

Dann führte der Mandarin seine Gäste vor das Haus, wo der Oberlieutenant mit zwanzig berittenen Soldaten hielt. Er trug auf der Brust einen Tuchfleck, welcher die Gestalt des Kriegstigers zeigte, hatte aber gar nicht etwa ein tigerartiges Aussehen. Von kleiner, dürftiger Gestalt, saß er auf einem ebenso dürftigen Rößlein, welches Lockenhaare wie ein Pudel hatte. Desto gewaltiger war der Sarras, welcher ihm von der Seite hing. Rechts und links blickten ihm zwei riesige Pistolen aus den Taschen, von denen aber zu vermuten war, daß sie die löbliche Eigenschaft besaßen, gerade dann nicht loszugehen, wenn geschossen werden sollte.

Ein ebenso unritterliches Aussehen hatten seine Kavalleristen. Sie waren verschieden gekleidet und verschieden bewaffnet. Der eine hielt einen langen Spieß und der andre ein Gewehr in der Hand, dessen Lauf wie ein Korkzieher gewunden war. Der dritte hatte eine Mordwaffe, von welcher man nicht wußte, ob sie eine Armbrust oder eine Mausefalle sein solle. Der vierte trug eine Keule, aus welcher verrostete Nagelspitzen naiv schauten. Der fünfte hatte einen Bogen ohne Pfeile und der sechste einen Köcher, zu welchem aber der Bogen fehlte. In ähnlicher Weise waren auch die andern armiert. Das Kriegerischeste an ihnen waren die martialischen Gesichter, welche sie schnitten und die Schrift, welche sie alle auf dem Rücken trugen. Dort stand nämlich geschrieben »Ping«, das ist »Soldat«.

»Alle Ober- und Unterjötter! Wat sind das für Leute?« fragte der Gottfried.

»Soldaten, Kavalleristen,« antwortete der Methusalem.

»Und die sollen mit uns?«

»Jawohl.«

»Weshalb denn?«

»Um uns zu beschützen.«

»Dat glaube ich nicht.«

»Weshalb denn sonst?«

»Wenn ich sie mich so betrachte, so scheint es mich, dat sie mit uns wollen, damit nicht sie uns, sondern wir ihnen beschützen sollen. Nicht?«

»Das letztere ist freilich wahrscheinlicher als das erstere.«

»Und wat bedeutet die baumwollene Schrift auf ihren Hinterfronten?«

»Soldat.«

»Ah, siehst du, wie du bist! Wat die Chinesigen doch für pfiffige Jungens sind!«

»Inwiefern?«

»Nun, dat ist doch leicht zu erkennen. Diese Soldaten brauchen nicht zu fechten und zu kämpfen. Es ist jar nicht nötig, dat sie ihr edles Leben wagen. Sie brauchen nur auszureißen und dem Feinde den Rücken zuzukehren. Dann liest er dat schreckliche Wort ›Soldat‹ und wendet vor Angst auch um und jeht von dannen. So wird durch eine alljemeine Flucht der glänzendste Sieg jewonnen. Ich werde diese Erfindung mit nach Hause nehmen und sie in einem einjeschriebenen Brief an Moltke senden. Vielleicht blüht mich dafür der schwarze Adler erster Jüte mit Brillanten.«

»Ja, diese Leute werden uns mehr schaden als nützen; aber wir müssen sie mitnehmen. Unser Rang erfordert es.«

»Na, wat würde man in Berlin oder so da in Deutschland herum von unserm Range denken, wenn wir in solcher Jesellschaft anjelangt kämen!«

»Vielleicht würden wir als vagierende Zigeuner per Schub über die Grenze gebracht.«

»Und zwar, ohne dat man sich erst vorher die Mühe jäbe, uns nach unsrem Impfschein zu fragen. O China, wie habe ich mich in dich jetäuscht! Wie hast du mir in meine Bejeisterung betrogen! Deine Köche will ich loben, aber deine Soldaten kannst du nur jetrost wieder in die Schachtel thun!«

Ganz entgegen diesem Urteile fragte der Mandarin in selbstbewußtem Tone Degenfeld: »Hat der erleuchtete Gebieter in seinem Lande auch so tapfere Krieger?«

»Sind diese Leute denn tapfer?« fragte der Student.

»Ueber alle Maßen. Sie fürchten selbst den Tiger, das einhörnige Rhinoceros und den wildgewordenen Elefanten nicht.«

»Hoffentlich bekomme ich während meiner Reise Gelegenheit, ihren Mut zu erproben.«

»Das würde vielen Gegnern das Leben kosten. Wann wünschen die ehrwürdigen Herren diese Stadt zu verlassen?«

»Sobald die Vorbereitungen getroffen sind.«

»Das ist bereits geschehen, und es ist alles zum Aufbruche bereit; doch vorher mögen die Vielgepriesenen den Morgenreis bei mir verzehren.«

Unter Morgenreis ist Frühstück zu verstehen. Dieses bestand nicht aus so vielen Gängen, wie das gestrige Abendessen. Der Mandarin wünschte nicht, die Anwesenheit seiner Gäste zu verlängern. Als er sah, daß sie von den Speisen nur nippten, machte er ein sehr zufriedenes Gesicht. Dasselbe nahm nur dann einen finstern Ausdruck an, wenn sein Blick auf den Mijnheer fiel. Dieser hatte sich festgesetzt, als ob er heute gar nicht wieder aufstehen wolle und langte in einer Weise zu, als ob er befürchte, von heut an bis nach Ablauf der Woche nichts Eßbares mehr vor die Augen zu bekommen.

Endlich klappte er sein Messer zu, schob es in die Tasche und sagte: »Zoo! Heden ochtend word ik niet meer eten; maar vervolgens muet ik een middageten hebben – so! Heut früh werde ich nicht mehr essen; aber nachher muß ich ein Mittagsmahl haben.«

Nun begab man sich in den Hof hinab, um aufzubrechen. Eine Rechnung war nicht zu berichtigen. Auch die Trinkgelder kamen in Wegfall, da es einem hochgestellten Chinesen niemals beikommen kann, Dienste zu belohnen, welche er seinem Range nach zu beanspruchen hat. Der Kuan hatte ja sogar die angenehme Wirkung, daß weder für die Pferde noch für die Begleitung oder den mitgenommenen Proviant etwas zu entrichten war.

Unangenehm war nur die häßliche Ceremonie des Verabschiedens. Der Methusalem suchte sie so viel wie möglich abzukürzen, und der Mandarin unterstützte sehr gern dieses Bestreben. Der erstere sagte Dank für die genossene Gastfreundlichkeit und versprach, an geeigneter Stelle derselben rühmend zu gedenken, und der letztere beklagte, die sehr hochwürdigen Gönner nicht noch länger bei sich zu sehen und bewirten zu können. Dann stieg man zu Pferde.

Außer dem Dicken hatten alle schon früher im Sattel gesessen. Selbst Richard hatte den Onkel Methusalem oft in den Tattersall begleitet und da einen kleinen Ritt gemacht. So war also nicht zu befürchten, daß einer sich vor den Bewohnern von Schao-tscheu blamieren werde.

Die Sänfte war in der von Degenfeld angegebenen Weise an zwei Pferden befestigt worden. Der Dicke stieg ein, und der Gottfried machte Feuer, damit die Wasserpfeife in Brand gesteckt werden könne. Dann setzte sich der Trupp in Bewegung, von dem Mandarinen unter tiefen Bücklingen bis vor das Thor begleitet, wobei ihm seine Untergebenen eifrig sekundierten.

Draußen stand eine ungeheure Menschenmenge. Die Ankunft der Fremdlinge hatte nicht so viel Aufsehen erregt, weil man von derselben nichts gewußt hatte. Mittlerweile aber war es ruchbar geworden, daß vornehme Mandarinen aus einem fernen Erdteile bei dem Vorsteher der Stadt eingekehrt seien und am Vormittage wieder abreisen würden. Diese Kunde hatte sämtliche Einwohner aus ihren Häusern gelockt, und nun standen sie Kopf an Kopf, um ihre Neugierde zu befriedigen.

Dies hatte der Mandarin geahnt und danach seine Vorkehrungen getroffen. Um ein Fortkommen durch die dicht gedrängte Menge zu ermöglichen, schritt eine Anzahl Polizisten voran, welche mit ihren Stäben Platz machten, indem sie die nötigen Hiebe und Püffe austeilten. Damit die so geschaffene Lücke sich nicht wieder schließe, ging rechts und links je eine Reihe derselben Sicherheitsbeamten, welche die Köpfe der Zudringlichen ebenso bearbeiteten. Zwischen ihnen bewegte sich der eigentliche Zug.

Voran ritt der Oberlieutenant, gefolgt von zehn seiner Helden, welche grimmig um sich blickten. Dann folgte der Neufundländer, welcher so stolz und sicher schritt, als ob dergleichen Triumphzüge bei ihm zu den Alltäglichkeiten gehörten. Nun kam der Methusalem zu Pferde, das Gewehr auf dem Rücken und die Pfeifenspitze im Munde, aus welchem er dichte Rauchwolken stieß, hinter ihm natürlich Gottfried mit der Pfeife und dem Fagotte. Diesem folgte Turnerstick mit weit geöffnetem Fächer, neben ihm Richard Stein, der hell und lustig über die gaffende Menge hinblickte. Hierauf war die Sänfte zu sehen. Die beiden Pferde, welche dieselbe trugen, wurden von zwei Polizisten geführt. Rechter Hand des Palankins ging ein dritter Polizist, welcher den ausgespannten Schirm des Dicken als Zeichen der hohen Würde des Besitzers trug, denn je größer in China der Fächer und der Schirm, desto vornehmer ist der Herr desselben. Zur linken Hand sah das fette Gesicht des Mijnheer mit der schottischen Mütze aus der Sänfte. Da er auf den Sattel verzichtet hatte, wollte er wenigstens in dieser Weise die Menge von seinem Dasein überzeugen und die Huldigung derselben entgegennehmen. Seine feisten Wangen und der Umstand, daß er getragen wurde, brachten auch wirklich die Ueberzeugung hervor, daß er der vornehmste der fremden Mandarinen fei. Darum verbeugte man sich oft vor dem Kopfe, dem einzigen sichtbaren Teile des Herrn mit dem langen Stammbaume, was von dem Mijnheer stets voller Huld mit einem freundlichen Grinsen erwidert wurde. Hinter der Sänfte ritten die beiden Brüder Liang-ssi und Jin-tsian, welche natürlich wenig Aufsehen erregten, und den Schluß des Zuges bildeten die andern zehn Kavalleristen, hinter denen sich die Menge wieder schloß, um den Fremden nachzudrängen.

So ging es langsam durch die Straßen und Gassen der Stadt und endlich, endlich, nach fast einer Stunde, zum östlichen Thore derselben hinaus, wo die Straße immer am Wasser hin nach Schin-hoa, dem Ziele des heutigen Rittes, führte.

Dort vor dem Thore kehrten die Polizisten um, und der Mijnheer erhielt seinen Schirm wieder zugestellt. Viele Bewohner der Stadt aber folgten noch eine weite Strecke, bis sie sich schließlich doch überzeugt hatten, daß die Fremden genau so wie sie selbst auch gestaltet seien.

Von jetzt an gebürdete sich der Oberlieutenant ganz als Führer und Beschützer der ihm anvertrauten hohen Herrschaften. Er gab eine Menge ganz unnötige Befehle, welche häufig den geradesten Widerspruch enthielten, kommandierte seine Untergebenen bald vor, bald hinter, bald neben die Reisenden, sprengte weit voran, um auszuschauen, ob die Straße sicher sei, und blieb ebenso häufig zurück, um sich zu überzeugen, daß dort keine hinterlistige Gefahr drohe. Er hielt seine Leute und Pferde fortwährend in Atem, und das alles nur, um den »Erleuchteten« zu zeigen, welch einen wichtigen Posten man ihm anvertraut habe, und daß er ganz der Mann sei, denselben auszufüllen.

Die Straße stieg bald am steilen Ufer empor, bald senkte sie sich wieder zum Niveau des Flusses nieder. Sie war gut angelegt und leidlich unterhalten. Die chinesische Regierung schenkt zwar dem System der Kanäle mehr Aufmerksamkeit als demjenigen der festen Wege, aber das Land ist trotzdem keineswegs arm an guten Straßen. Oft sind dieselben sogar mit großer Kühnheit angelegt, und die Hindernisse, welche Flüsse, Thäler und Schluchten bieten, werden von Brücken und Viadukten überschritten, welche Jahrhunderte überdauert haben und die Bewunderung selbst eines berühmten europäischen Architekten erregen würden, zumal diese Bauten zu einer Zeit ausgeführt wurden, in welcher bei uns niemand gewagt hätte, so kühne Wege anzulegen.

Die Reisenden erblickten an der Straße, welcher sie folgten, von zehn zu zehn Li, also nach unsrem Längenmaße ungefähr alle fünf Kilometer, Soldatenhäuser, welche mit einem Wachtturme versehen waren. Man hat sie an solchen Stellen errichtet, daß es möglich ist, von einem Turme die beiden nächsten zu erblicken und mit Hilfe von Flaggen, welche an hohen Stangen aufgezogen werden, Signale zu empfangen und weiterzugeben. Diese Wachttürme haben ganz besonders den Zweck, die Nachricht von Empörungen, welche in China sehr häufig sind, schnell zu verbreiten.

In ebenso regelmäßigen Abständen waren Ruhehäuser angelegt, welche auf Kosten des Staates unterhalten werden, jedermann zur Aufnahme dienen, besonders aber von den reisenden Beamten benutzt werden.

In der Nähe jedes dieser Gebäude stehen an einer in die Augen fallenden Stelle drei weiße, steinerne Säulen, um den Reisenden schon von weitem auf das Vorhandensein des Ruhehauses aufmerksam zu machen. Diese Steine gleichen unsern Meilenzeigern, doch enthalten sie keine Bestimmungen der Entfernungen; die letztere ist vielmehr auf Brettern angegeben, welche an Pfählen befestigt sind.

Der Oberlieutenant war am ersten Ruhehause vorbeigaloppiert, ohne es zu beachten; beim zweiten aber hielt er an, verbeugte sich vor dem Methusalem und sagte: »Hier ist ein sehr schönes Sië-kia (Ruhehaus) und ich ersuche die mächtigen Gebieter, abzusteigen.«

Während er das sagte, schwang er sich auch schon aus dem Sattel, und seine Leute folgten diesem Beispiele.

»Wer hat gesagt, daß hier geruht werden soll?« fragte der Student.

»Ich,« antwortete der Offizier dumm-erstaunt.

»Sind Sie so ermüdet?«

»Ja.«

»So reiten Sie vernünftiger, und strengen Sie Ihre Leute und Pferde nicht so an! Ich habe keine Veranlassung, abzusteigen.«

»Aber, erleuchteter Herr, es ist hier Sitte, zwanzig Li zu reiten und dann auszuruhen!«

»Diese Sitte gefällt mir nicht.«

»Wir haben ja Speise und Trank bei uns und können essen und trinken. Auch sind Decken genug vorhanden, um uns in aller Bequemlichkeit niederlassen zu können!«

»Wenn wir das thun und Ihrem Gebrauche folgen, so sind wir in zehn Tagen noch nicht am Ziele.«

»Ist es denn nötig, es so bald zu erreichen? Wir haben ja Zeit!«

»Ihr, aber wir nicht. Wie weit ist es von Schao-tschu bis Schin-hoa?«

»Hundert Li.«

»So müßten wir viermal einkehren und würden den letzteren Ort wohl erst übermorgen erreichen. Ich aber will heut noch hin.«

»Das ist unmöglich, hoher Vorfahre.«

»Ich werde Ihnen beweisen, daß es sehr wohl möglich ist. Wir kehren nur einmal ein, nämlich wenn wir die Hälfte des Weges, also fünfzig Li, zurückgelegt haben.«

»So müssen wir verschmachten, und die Pferde werden vor Müdigkeit stürzen.«

»Das sagen Sie, der Sie Offizier und Kavallerist sind? Ich finde diese Tiere sehr brav und getraue mir, mit ihnen ohne allen Aufenthalt direkt das Ziel zu erreichen.«

»O, sie wanken doch schon!«

»Das scheint Ihnen nur so, weil Sie selbst das Gleichgewicht verloren haben. Kehren Sie hier ein, wenn es Ihnen beliebt, wir aber reiten weiter!«

Er trieb sein Pferd an, daß es in Galopp fiel; die andern folgten, und selbst die Packtiere, welche keine besonderen Führer hatten, rannten hinterdrein. Der Oberlieutenant machte ein Gesicht, wie er es wohl noch nie gezogen hatte. So etwas war ihm noch nie passiert. Er hatte große Lust, seinem Kopfe zu folgen, besann sich aber eines Besseren, stieg wieder auf und ritt, gefolgt von seinen Leuten, den Vorausgeeilten nach.

Von jetzt an ließ er sein Tier ruhig gehen und hielt sich schmollend eine kleine Strecke weit zurück.

Am Mittag wurde die Stelle erreicht, an welcher der eine Arm des Flusses rechts ab nach Schi-hing und der andre links nach Schin-Hoa führt. Diesem letzteren folgten die Reisenden, ohne den Offizier zu fragen, ob dies die richtige Richtung sei.

Nun wurde die Gegend immer gebirgiger. Bisher waren die Berge bis zu ihrer Höhe mit Feldern bebaut gewesen; jetzt zeigten sich auch bewaldete Gipfel, ein Zeichen, daß man sich der eigentlichen Masse des Nan-ling-Gebirges nähere.

Als an einer der erwähnten Tafeln zu ersehen war, daß Schin-hoa nur noch vierzig Li entfernt sei, hielt der Methusalem beim nächsten Einkehrhause an. Der Wirt desselben, ein dicker, schmutzig aussehender Chinese, kam heraus, um die Ankömmlinge zu begrüßen. Sein Gesicht war nicht eben ein freundliches. Jedenfalls hatte er die Erfahrung gemacht, daß chinesische Soldaten nicht solche Gäste sind, an denen viel zu verdienen ist. Als er aber nun die fremd gekleideten Herren sah, erhielten seine Züge einen noch ganz andern Ausdruck. Er riß den Mund auf, ebenso die kleinen Schlitzaugen, so weit er konnte, und starrte die Männer an, als ob ihm der Verstand abhanden gekommen sei.

Der Gottfried sprang vom Pferde, hielt dem Manne das Fagott ans Ohr und konstruierte einen so schauderhaften Triller, daß der Wirt vor Entsetzen einen lauten Schrei ausstieß und zu gleichen Beinen davonlief, um hinter der Ecke des Hauses zu verschwinden.

»So!« lachte der Wichsier. »Dem habe ich beijebracht, dat es niemals jeraten ist, jeehrte Herrschaften mit dem offnen Maule anzublicken. Nun rennt er wohl zu Bartheln, um sich Most zu holen, womit ich Verstand und Lebensart bezeichnen will. Wir sind ihm glücklich los. Jehen wir nun rin in dat Vergnüjen!«

Das Gebäude enthielt zwei Abteilungen von sehr verschiedener Größe. Die kleinere war jedenfalls für den Wirt, die größere für die Gäste bestimmt. Als der Gottfried einen neugierigen Blick in die erstere warf, fuhr er schnell zurück und rief: »Pfui Spinne! Von dieser Madame möchte ich nicht essen!«

»Wieso?« fragte Turnerstick.

»Die Familienmutter hat sich neben dem rauchenden Schmertopfe niederjelassen und hält eine junge Lady in ihrem Schoße, mit deren Kopf sie janz datselbige macht, wat die Affen so häufig einander zuliebe thun. Wenden wir uns jrauenhaft auf die andre Seite!«

Dort sah man einen großen, kahlen Raum, in welchem nur ein Tisch und zwei Bänke standen. In kurzer Zeit aber sah es wohnlicher aus. Da es eine Ruhepause galt, waren die Soldaten nicht zurückgeblieben. Sie brachten die Decken und Tücher herein, um sie über den Tisch und die Bänke zu breiten. Einige Matten wurden auf den Boden gelegt, und dann holten die reitunlustigen Kavalleristen die Mundvorräte herein, welche von dem Methusalem verteilt wurden.

Die Herrschaften aßen am Tische und die Soldaten am Boden auf den Matten. Da ein hochgestellter Chinese sich nicht gern von einem tiefer stehenden beim Essen beobachten läßt, so hatten sich die Krieger so gesetzt, daß sie den Reisenden den Rücken zukehrten, was also nicht ein Zeichen eines Mangels an Achtung, sondern gerade das Gegenteil war.

Nach einer halben Stunde hatte man das Mahl beendet, und der Methusalem mahnte zum Aufbruche, welchem Befehle die Soldaten nur sehr langsam Folge leisteten.

Degenfeld wollte, obgleich man von dem Wirte nichts verlangt hatte, diesem doch eine Münze geben. Liang-ssi ging, ihn zu suchen, kehrte aber zurück, ohne ihn gefunden zu haben. Der Mann ließ sich aus Angst vor dem Fagotte zu den Verschollenen zählen, und das Geld mußte seiner Frau ausgehändigt werden.

Nun ging es wieder vorwärts, immer tiefer in die Berge hinein. Bald führte die Straße durch tiefe, enge, finstere Klüfte, bald stieg sie in steilen Windungen wieder zur hellen Höhe empor, um eine Aussicht auf neue Tiefen zu eröffnen.

Die Reisenden strengten jetzt die Pferde möglichst an, um noch vor Nacht das Ziel zu erreichen. Die Soldaten waren gezwungen, ihnen ebenso schnell zu folgen. Der Weg war menschenleer. Kein Wanderer begegnete ihnen. Hier und da gab es einmal ein Haus oder eine einsame Siedelung, deren Bewohner neugierig vor die Thüren gerannt kamen und halb erstaunt, halb erschrocken zurückfuhren, wenn sie die fremdartigen Reiter erblickten.

Der Methusalem ritt voran; er hatte während des ganzen Tages keine Lust gezeigt, sich zu unterhalten. Seine Gefährten hielten zusammen, um sich den Weg durch Gespräch zu verkürzen. Sie bemerkten, daß er der Gegend eine ungewöhnliche Aufmerksamkeit schenkte und bald rechts, bald links blickte, als ob er etwas suche.

So verging der Nachmittag, und der Abend wollte hereinbrechen, als man auf der letzten Höhe anlangte, von welcher aus man die Stadt Schin-hoa am Ufer des hier schmalen Flusses liegen sah. – Degenfeld befahl dem Offizier, voran zu reiten, um dem regierenden Mandarin des Ortes die Ankunft des Inhabers eines kaiserlichen Kuan zu melden, welchem schleunigst Folge geleistet wurde.

Nun ging es langsam bergab. Die Sonne war schon hinter den Bergwänden verschwunden, und die Höhen warfen ihre immer tiefer werdende Schatten in das Thal. Als die Reiter die Sohle desselben erreichten, sahen sie die Wirkung der Botschaft, welche Degenfeld dem Oberlieutenant aufgetragen hatte. Dieser hatte die Neuigkeit wohl laut auf der Straße verkündet, denn es kam ihnen eine dichte Menschenmenge entgegen, welche sich zu beiden Seiten des Weges aufstellte.

Um diesen Gaffern schneller zu entgehen, wurden die Pferde angespornt und im Galopp ging es dem Thore der Stadt entgegen. Dort wartete ihrer der Offizier, um sie nach der Wohnung des Mandarin zu bringen, bis wohin die Einwohner förmlich Spalier bildeten. Und doch war es bereits dunkel, daß man kaum einige Schritte weit zu sehen vermochte. Laternen aber durften noch nicht gebrannt werden, da das Zeichen dazu noch nicht gegeben war.

Die Gäste wurden wie gestern von dem Mandarin an der Thür empfangen und dann in das Innere des Hauses geleitet. Der lange Ritt hatte die Reisenden, welche nicht gewohnt waren, einen ganzen Tag im Sattel zu sitzen, ungemein angestrengt. Am größten mußte die Ermüdung Richards sein. Er konnte kaum die Beine biegen und hatte einen ungemein steifen Schritt, gab sich aber mannhaft Mühe, es nicht bemerken zu lassen.

Noch schlimmer schien der Mijnheer daran zu sein. Er hatte schon während des Nachmittags geklagt, ohne aber sehr beachtet zu werden. Dann waren seine Seufzer tiefer und seine Ausrufungen lauter geworden, und auf Befragen hatte er erklärt, daß er seine Glieder nicht mehr fühle. Es war allerdings nichts Kleines für einen so starkbeleibten Mann, einen Tag lang in der engen Sänfte bewegungslos sitzen zu müssen und, da dieselbe von zwei Pferden getragen wurde, alle Unebenheiten des Weges zwiefach empfinden zu müssen. Als er nun jetzt aus dem Palankin steigen wollte, war ihm das unmöglich. Zwei Diener des Mandarins zogen und ein dritter auf der andern Seite schob ihn heraus. Als er die Erde unter sich hatte, wankte er, so daß er gehalten werden mußte. Glücklicherweise lag das Empfangszimmer zur ebenen Erde, so daß es keine unüberwindlichen Schwierigkeiten bot, ihn dorthin zu bringen. Da aber sank er sofort in einen Stuhl, faltete die Hände über den Leib, stieß einen langen, stöhnenden Seufzer aus und schloß die Augen, indem er langsam flüsterte: »Ik ben dood; ik ben gestorven. Mijne ziel is ginds, en maar mijn ligcham is hier gebleven. Goede nacht, o boose wereld – ich bin tot; ich bin gestorben. Meine Seele ist jenseits, und nur mein Leichnam ist hier geblieben. Gute Nacht, o böse Welt!«

Ganz so wie gestern wurden den Reisenden Zimmer angewiesen. Der Dicke mußte in das seinige getragen werden, wo man ihn in das Bett legte. Er ließ das mit sich geschehen, ohne auch nur die Augen zu öffnen.

In Rücksicht auf die allgemeine Ermüdung hatte Degenfeld das Abendessen später als gestern bestellt. Jeder wollte vorher ein wenig ausruhen, und so kam es, daß keiner sich um den Mijnheer kümmerte. Man kannte ihn ja und wußte also, daß es ihm mit dem Sterben keineswegs Ernst sei.

Als dann an alle die Aufforderung zum Nachtmahle erging, fanden sie sich in dem dazu bestimmten Zimmer zusammen. Nur Aardappelenbosch fehlte, und so ging der Gottfried ihn zu holen. Er lag noch wie vorher mit geschlossenen Augen auf dem Bette.

»Mijnheer, schlafen Sie?« fragte der Wichsier.

Keine Antwort.

»Mijnheer, wachen Sie auf!« bat Gottfried, indem er ihn rüttelte.

»Ik ben gestorven,« antwortete der Holländer in klagendem Tone.

»Sind Sie wirklich tot?«

»Ja, op mijn woord!«

»So müssen wir Sie also begraben?«

»Ja, ik moet in de aard geleid worden – ja, ich muß in die Erde gelegt werden.«

»Schade, jammerschade! Gerade jetzt, wo es Leberpastete mit Reispudding gibt!«

»Leverpastet met rijstepudding?« schrie der Dicke, indem er in demselben Augenblicke kerzengerade auf den Beinen und in der Stube stand.

»Ja, das Essen ist serviert.«

»Het avondeten? Ik ga met; ik ga soedig met – das Abendessen? Ich gehe mit; ich gehe schnell mit!«

Er faßte den Gottfried beim Arme und zog ihn eilig zur Thür hinaus, obgleich seine noch ungelenken Beine sich gegen diese Eile sträubten. So kam es, daß die Seele des Dicken wieder aus dem »Jenseits« zurückkehrte, und dieses Wunder, diese Auferstehung eines Toten war von zwei sehr einfachen, aber höchst delikaten Worten vollbracht worden – Leverpastet und Rijstepudding.

Wie Schin-hoa kleiner ist als Schao-tscheu, so hatte alles hier einen bescheideneren Anstrich. Der Gemeindepalast war ein gewöhnliches, wenn auch geräumiges Haus. Der Bürgermeister trug die einfache Goldkugel auf der Mütze und floß weniger über von unterwürfigen Redensarten. Das Essen bestand aus weniger und nicht so kostbaren Gängen, und es gab nur zwei Personen, um die Gäste zu bedienen. Der Mandarin getraute sich gar nicht, bei dem Essen gegenwärtig zu sein.

Dies alles war den Reisenden nur lieb. Sie sahen sich nicht unter dem Zwange der Etikette und konnten sich nach Herzenslust unterhalten, obgleich sie dies der beiden Diener wegen mit dem gebotenen Ernste thaten. Als diese aber am Schlusse den Raki brachten und sich dann entfernten, konnte der Gottfried es nicht länger zurückhalten, auf welche Weise er den Mijnheer vom sichern Tode errettet hatte. Sein Bericht erregte natürlich die allgemeinste Heiterkeit, in welche der Dicke endlich selbst mit einstimmte. Doch versicherte er im vollen Ernste: »Ik ben zekerlijk gestorven geweest, op mijne eer – ich bin sicher gestorben gewesen, bei meiner Ehre!«

»So sind Sie unsterblich,« lachte der Gottfried.

»Ik? Werkelijk?«

»Ja, denn wenn Sie einst der richtige Tod beim Schopfe nimmt, so bedarf es nur eines Puterbratens oder einer Sardellensemmel, um Sie ihm zu entreißen. Sie werden der zweite ewige Jude sein und können sich also jetrost morjen wieder in ihrer Sänfte zusammenrütteln lassen.«

»Ik dank zeer! Da fluit ik niet met. Ik will niet gedragen zijn – ich danke sehr! Da pfeife ich nicht mit. Ich will nicht getragen sein.«

»Was denn?«

»Ik word ruiten – ich werde reiten.«

»Sie? Reiten? Und gestern waren Sie dagegen? Gestern versicherten Sie aus Leibeskräften, daß Sie sterben würden, falls Sie reiten müßten.«

»Dat is ook zoo; maar ruit ik, zo moet ik sterven, en word ik gedragen, zo moet if ook sterven; alzoo wil ik liever op mijnen paard sterven als in dezen ongelukkigen Dragstoel – das ist auch so; aber reite ich, so muß ich sterben, und werde ich getragen, so muß ich auch sterben; also will ich lieber auf einem Pferd sterben als in diesem unglücklichen Tragstuhle.«

»Da haben Sie recht,« stimmte der Methusalem bei. »Denn dann sterben Sie wenigstens in freier Luft und hauchen Ihre Seele nicht in dem elenden Kasten aus. Wir bekommen hier neue Pferde. Ich werde Ihnen eines auswählen.«

»Ik pflieg maar op de aard, zoo dra ik opgestegen ben – ich fliege aber auf die Erde, sobald ich aufgestiegen bin!«

»Ich suche Ihnen ein sehr geduldiges aus.«

»Ik geloov an geen paard – ich glaube an kein Pferd!«

»So binden wir Sie fest. Dann kann Ihnen nichts geschehen.«

»Dat is goed. Ik word op dat paard gebonden. Da mak ik met; da mak ik zeer geerne met – das ist gut. Ich werde auf das Pferd gebunden. Da mache ich mit; da mache ich sehr gerne mit!«

So war es also beschlossene Sache, daß der Dicke morgen sich als Kavallerist sehen lassen werde. Man war jetzt lustig geworden und hätte sich gerne noch unterhalten; aber in Anbetracht der heutigen und der morgen wieder zu erwartenden Anstrengungen hielt man es doch für geraten, zur Ruhe zu gehen. Der Methusalem ließ dem Mandarin, welcher sich nicht wieder sehen lassen wollte, eine gute Nacht von allen wünschen, und dann begab sich jeder in sein Zimmer.

Am andern Morgen weckte Gottlieb wieder. Der Oberlieutenant hatte bereits für den Umtausch der gestrigen mit frischen Pferden gesorgt, und Degenfeld suchte für den Mijnheer einen starken Gaul aus, dessen Alter vermuten ließ, daß er keine Jugendstreiche mehr begehen werde. Aardappelenbosch wurde in den Sattel gesetzt, und dann führte man das Pferd einige Mal im Hofe herum. Er saß aber so schauderhaft da oben, daß er sich unmöglich vor den Leuten sehen lassen konnte; darum wurde beschlossen, ihn in einer Sänfte voranzuschicken.

Nachdem dies geschehen war, brach die Gesellschaft auf, begleitet von den Wünschen des Mandarins, welcher froh war, von so vornehmen Gästen befreit und wieder Herr seines Hauses zu sein.

Der Auszug aus der Stadt glich, wenn auch in kleinerem Maßstabe, dem gestrigen. Die Menge begleitete die Reisenden bis vor die Stadt und kehrte dann zurück, ganz befriedigt davon, einmal so sonderbare Fremdlinge gesehen zu haben.

Der Weg stieg kurz hinter der Stadt gleich steil an, und kaum hatte man einige hundert Schritte zurückgelegt, so begegnete man den zurückkehrenden Sänftenträgern, welche wenig weiter oben den Mjnheer nach dem ihnen gewordenen Befehle mitten auf die Straße abgesetzt hatten. Er hatte den Regenschirm aufgespannt und trug kreuzweise über dem Rücken die Gewehre, an denen die Tasche hing. Diese letztere enthielt längst die verschiedenen Theesorten nicht mehr, und dennoch behandelte er sie mit unausgesetzter Sorgfalt, als ob sich ganz unersetzliche Kostbarkeiten in derselben befänden.

»Ik heb alreeds langs geroepen en gepepen,« schrie er ihnen von weitem zu. »Maakt snelst! Ik will ruiten – ich habe schon längst gerufen und gepfiffen. Macht schnellstens! Ich will reiten.«

»Schon jut, und nur Jeduld!« antwortete Gottfried. »Sie kommen zeitig jenug in den Sattel und vielleicht noch schneller wieder herunter.«

Man hielt bei dem Dicken an und gab sich Mühe, ihn auf das Pferd zu bringen, was bei seinem Gewichte und bei seiner Unbehülflichkeit keine leichte Aufgabe war.

Endlich saß er oben, aber wie! Der Methusalem riet ihm, den Regenschirm zu schließen, worauf er aber nicht einging, weil, wie er behauptete, die ihm etwa Begegnenden ihm seinen Rang nicht angesehen hätten. Den Schirm in der Linken und die Zügel in der Rechten, begann er den Ritt, und zwar sehr langsamen Schrittes. Dennoch rutschte er, da er nicht fest in den Bügeln stand und die Schenkel nicht anlegte, bald herüber und bald hinüber, so daß er die Zügel an den Sattelknopf, welcher sehr hoch war, band und sich mit der rechten Hand an demselben anhielt. Hätte man einen Gorilla auf das Pferd gesetzt, so wäre die Haltung desselben wohl keine lächerlichere gewesen. Dennoch meinte er in sehr befriedigtem Tone: »Zoo is het goed. Ik ben een bijzonder ruiter – so ist es gut. Ich bin ein vorzüglicher Reiter!«

In der Freude über die Gewandtheit, welche er seiner Ansicht nach entwickelte, machte er eine lebhafte Bewegung und verlor die Bügel. Das Pferd protestierte gegen diese Unruhe, indem es vorn in die Höhe stieg, und infolgedessen rutschte der Mijnheer hinten herab. Es gab einen dumpfen Ton, wie wenn ein Wollsack auf die Erde geworfen wird, und der Dicke kam, alle vier Extremitäten samt dem Regenschirm in die Höhe streckend, auf die Straße zu liegen.

Zum Glück besaß der Gaul kein überflüssiges Feuer. Er drehte sich um, den Reiter anzusehen, und blieb so stehen, ohne sich weiter zu bewegen. Die andern standen erschrocken um Roß und Reisigen und Degenfeld fragte: »Um Gottes willen, Mijnheer, haben Sie sich etwa Schaden gethan?«

»Ik? Zeer grooten!« antwortete er stöhnend, indem er Arme und Beine noch immer in die Luft streckte. »Het dome Nijlpaard heeft mij van achteren verloren. Ik ben dood; ik ben gestorven; ik ben buiten tegenspraak gestorven – ich? Sehr großen! Das dumme Nilpferd hat mich von hinten herunter verloren. Ich bin tot; ich bin gestorben; ich bin ohne Widerrede gestorben!«

»So legen Sie doch wenigstens die Arme und Beine nieder!«

»Dat kann ik niet. Ik ben dood!«

»So müssen wir versuchen, Ihre Lebensgeister aus dem Grabe zu erwecken. Es befindet sich eine Flasche Raki unter unsern neuen Vorräten. Wir werden Ihren Leichnam mit demselben einreiben.«

Da sprang der Dicke wie elektrisiert auf, machte eine Bewegung des Entsetzens und schrie: »Raki? Brandewijn? Met den brandewijn zal niet gereuen worden. Ik wil hem drinken. Gedronken is hij beter dan gereven. Waar is de flesch? – Raki? Branntwein? Mit dem Branntwein soll nicht gerieben werden. Ich will ihn trinken. Getrunken ist er besser als gerieben. Wo ist die Flasche?«

Er erhielt sie und that einen solchen Zug, daß den andern angst und bange wurde. Der Methusalem nahm sie ihm aus der Hand und sagte: »Das genügt. Ich sehe, daß Ihre Lebensgeister sich wieder eingefunden haben. Wie aber wird es nun mit dem Reiten stehen?«

»Indien ik mag de flesch dragen, zoo rijd ik straks beter dan een offizier van het paardevolk – wenn ich die Flasche tragen darf, so reite ich straks besser als ein Kavallerieoffizier.«

»Gut, wollen es versuchen. Aber ich mache die Bedingung, daß Sie die Bouteille nicht in der Hand, sondern in der Tasche tragen. Und um ganz sicher zu gehen, werden wir, wie schon gestern abend beschlossen, Sie auf das Pferd binden.«

»Ja, ik wil op het paard gebonben zijn, diensvolgens kann ik niet van den diere vallen – ja, ich will auf das Pferd gebunden sein, dann kann ich nicht von dem Tiere fallen.«

Er bekam die Flasche, welche er in die Tasche schob; dann wurde ihm wieder in den Sattel geholfen. Darauf erhielt er an die beiden Füße eine Leine, welche unter dem Bauche des Pferdes straff angezogen wurde. Dadurch bekam er festen Schluß. Er fühlte das mit großer Befriedigung und sagte vergnügt: »Zoo, nu is het goed. Wij worden rijden als de stormwinden – so, nun ist es gut. Wir werden wie die Sturmwinde reiten.«

So schlimm war es nun freilich nicht; aber es ging doch weit besser als vorher, zumal er jetzt auf den großen Schirm verzichtet hatte. Freilich, hätte er die Gesichter gesehen, mit denen die chinesischen Reiter den Vorgang beobachtet hatten, so wäre es um seine gute Laune geschehen gewesen. Diese letztere verließ ihn auch dann nicht, als er bald mittraben mußte und tüchtig zusammengerüttelt wurde. Er lachte vielmehr im ganzen Gesichte und behauptete, der beste Reiter der Welt zu sein. Von dieser Meinung wurde er selbst dadurch nicht abgebracht, daß Turnerstick und der Gottfried sich stets zu seinen beiden Seiten hielten, um ihn, was sehr häufig vorkam, zu unterstützen.

Die Sonne schien nicht heiß; vielmehr war es hier oben im Gebirge ziemlich kühl und dennoch liefen dem Mijnheer die dicken Schweißtropfen von der Stirn. Er pustete wie ein Narwal, blieb aber doch bei guter Laune.

»Das wird Ihrer Gesundheit sehr zuträglich sein,« meinte der Methusalem. »Durch das Schwitzen wird das schlechte, dicke Blut ausgeschieden.«

»Het bloed? Wordt mij dat niet zwak maken? Word niet de miltzucht, de tering en de beroerte in mij binnen kruipen – das Blut? Wird mich das nicht schwach machen? Wird nicht die Milzsucht, die Verzehrung und der Schlagfluß in mich hineinkriechen?«

»Im Gegenteile! Sie werden ein helles und gesundes Blut bekommen und sich dann viel wohler fühlen.«

»Zal ik ook dikker worden – werde ich auch dicker werden?«

»Hoffentlich, da gutes Blut gutes Fleisch ansetzt.«

»Goed vleesch! Heiza, voorwarts! Ik rijd al het heelal neder – gutes Fleisch? Juchhe, vorwärts! Ich reite das ganze Weltall nieder!«

Er schlug mit seinem Schirm in der Weise auf das Pferd ein, daß es einen weiten Satz machte und dann im Galoppe davonflog. Das hatte er nicht gewollt. Einen schrillen Angstruf ausstoßend, klammerte er sich an der Mähne fest, während er Mütze, Schirm und den Theeranzen verlor. Man hörte ihn schreien: »Help, help! Voorgezien, voorgezien! Vaarwel, mijn Holland een Nederland! O wee, ik oongelukkige Nijlpaard, ik vlieg in de lucht; ik vlieg in de radijsjes een in de peterselie – Hilfe, Hilfe! Vorgesehen, vorgesehen! Lebe wohl mein Holland und Niederland! O weh, ich unglückliches Nilpferd, ich flieg in die Luft; ich flieg in die Radieschens und in die Petersilie!«

Die andern sprengten hinter ihm her um die verlorenen Sachen aufzulesen und sein Pferd zum Stehen zu bringen. Als das geglückt war, richtete er sich wieder auf, trocknete sich den Angstschweiß aus dem hochroten Gesicht, setzte die Mütze wieder auf, nahm den Schirm an sich, ließ sich den Ranzen wieder auf die Gewehre hängen und fragte dann: »Holla, mijne Heeren, was dat niet nederlandsche dapperheid en heldenmoed? Ben ik niet een roemrijken ruiter – holla, meine Herren, war das nicht niederländische Tapferkeit und Heldenmut? Bin ich nicht ein ruhmreicher Reiter?«

»Ja,« antwortete Gottfried lachend. »Ein Glück, dat Sie anjebunden waren, und die Mähne erwischten, sonst wären Sie wirklich in die Petersilie jeflogen. Ik rate Sie, den Heldenmut nicht gleich wieder in Anwendung zu bringen. Galoppieren können Sie noch nicht.«

»O, ik moet zoo rijden; ik wil dik worden – o, ich muß so reiten; ich will dick werden.«

»Da sind Sie auf dem Holzwege. Vom Schnellreiten wird man dürr. Nur das langsame Reiten setzt Fleisch an.«

»Zoo? Werkelijk? Dan zal ik niet meer zoo gaauw rijden. Ik ben namelijk zoo zwak en laar, dat mijn lichaam slap als en rokzak is – so? Wirklich? Dann werde ich nicht mehr so schnell reiten. Ich bin nämlich so schwach und leer, daß mein Körper so schlaff wie eine Rocktasche ist.«

Von jetzt an hütete er sich aus Angst vor dem Magerwerden sehr, wieder das »ganze Weltall niederzureiten.« Er trieb sein Pferd nur so an, als nötig war, mit den Gefährten gleichen Schritt zu halten. Und da zeigte es sich, daß er das Reiten viel besser vertrug als das Sitzen in dem engen Palankin. Nach einer Stunde hatte er es zu einer ganz leidlichen Haltung gebracht, wohl meist infolgedessen, daß sein Gaul einen sehr glatten, ruhigen Gang hatte.

Ueberhaupt zeigte der Methusalem bei weitem nicht die Eile, die er gestern gehabt hatte. Er ritt immer nur im Schritt voran, schenkte der Gegend aber noch weit größere Aufmerksamkeit als gestern.

Die Gegend war jetzt geradezu hochgebirgig geworden. Man ritt durch düstere Thäler, welche alter Nadelwald füllte; rechts und links folgten dann Grasflächen, über denen die Felsen nackt zum Himmel ragten. War eine solche Schlucht passiert, so stieg die Straße wieder bergan, um sich aus schwindelnder Höhe abermals steil abwärts zu senken.

Auch hier gab es Einkehrhäuser in den bereits angegebenen Abständen voneinander, doch hatte sich der chinesische Offizier die gestern erhaltene Lehre so zu Herzen genommen, daß er nicht wieder zum baldigen Rasten trieb. Erst gegen Mittag hielt der Methusalem vor einem dieser Sië-kia an, um den Pferden und Menschen eine Stunde Ruhe zu gönnen. Es wurde von den mitgenommenen Vorräten ebenso wie gestern ein Mahl genossen. Der Wirt war nicht so menschenscheu wie der gestrige. Er bediente seine Gäste, und Degenfeld erkundigte sich sehr angelegentlich nach dem Wege.

Er erfuhr, daß man nach vier Stunden die Grenze der benachbarten Provinz erreichen werde, nachdem man über eine uralte und weltberühmte Kettenbrücke geritten sei.

Es war so viel Vorrat an Speise mitgenommen worden, daß nicht einmal die Hälfte desselben verzehrt wurde. Weshalb der Blaurote dies beim letzten Gastgeber so angeordnet hatte, das wußte keiner der Gefährten. Doch als die Gesellschaft wieder aufgebrochen war und sich unterwegs befand, fragte Gottfried: »Hören Sie mal, alter Methusalem, Sie machen ein Jesicht wie ein mexikanischer Joldsucher. Schon jestern hatten Sie die Augen überall am Wege. Wat wollen Sie denn eigentlich entdecken?«

»Etwas sehr Wichtiges.«

»Und wat ist dat? Doch nicht schon Kue jang, die nächste Stadt, oder jar King, wohin wir wollen?«

»Nein. Und doch hättest du zweimal recht gehabt, wenn du nämlich Kin anstatt King gesagt hättest.«

»Wieso? Kin bedeutet ja Jold.«

»Allerdings. Ich suche Gold.«

»Ist's die Möglichkeit! Sollten die Chinesigen uns Dukaten auf die Straße streuen? Oder wollen Sie einen Schatz heben?«

»Das Letztere.«

»So werde ich versuchen, meine Fagottoboe als Wünschelrute zu gebrauchen.«

»Du scherzest, mir aber ist es wirklich Ernst. Nämlich hier oben liegt das Vermögen unsres guten Ye-kin-li vergraben.«

»Hurrjerum! Und dat sagen Sie erst jetzt?«

»Aus welchem Grunde sollte ich es vorher ausposaunen? Richard habe ich es schon gestern gesagt, und nun weißt auch du es. Ich will aber nicht, daß es noch andre erfahren, auch die Söhne nicht, obgleich sie das größte Recht auf das Geld ihres Vaters haben. Man muß hier so vorsichtig wie möglich sein. Wir werden die Stelle noch vor Abend erreichen und im nächsten Ruhehause die Nacht zubringen.«

»Ah, also darum haben Sie für doppelten Proviant jesorgt!«

»Ja, darum. Da Ye-kin-li mir einen sehr genauen Plan mitgegeben hat, so werden wir die Stelle wohl finden, und ich hoffe, daß das Gold noch vorhanden ist.«

»Also ist es wirklich Jold?«

»Gold- und Silberbarren, wie sie heute noch in China kursieren.«

»Wieviel?«

»Eine ganze Menge. Nach deutschem Gelde wohl für über neunzigtausend Mark.«

»Alle juten Jeister! Ist dieser Ye-kin-li so reich jewesen?«

»Ja. Freilich hat er diesen Reichtum geheim gehalten, wie es hier gewöhnlich zu geschehen pflegt, da reiche Privat- oder Geschäftsleute von den Mandarinen so lange angezapft werden, bis sie nichts mehr haben. Kennst du das Gewicht solcher Barren?«

»Nein, denn ich habe noch niemals so viel Jold oder Silber in meine Uhrtasche jehabt, dat es mir zur Erde jezogen hätte. Wieviel Löwen- oder Spatenbräu bekommt man dafür?«

»Solche Fragen kannst du dir ersparen, da wir uns nicht im ›Geldbriefträger von Ninive‹ befinden. Es wird wohl eine volle Ladung für ein Packpferd sein.«

»So wollte ich, es jinge unterwegs daran zu Jrunde und setzte mir als Universalerben ein!«

»Da hätte ich ein Wörtchen mitzureden.«

»Ja, mit Ihnen ist überhaupt seit jestern nicht jut zu sprechen. Die beiden Brüder wollten sich so jern bei Ihnen erkundigen, auf welche Weise ihre Mutter und ihre Jeschwister jefunden werden können; aberst Sie haben sich so abweisend verhalten, dat sie jar nicht jewagt haben, die Rede darauf zu bringen.«

»Weil ich selbst noch keinen bestimmten Plan habe. Ich habe eifrig darüber nachgedacht, ohne einen Weg zu finden. Was nützt da das Reden! Hauptsache ist für uns, den Onkel Daniel aufzusuchen. Haben wir Richard zu diesem gebracht, so können wir uns dann desto mehr der andern Aufgabe widmen.«

Damit war das Gespräch abgebrochen.

Die Straße bewegte sich jetzt nur noch an der Seite schroffer, unbewachsener Höhen hin und führte dann durch einen engen, felsigen Paß, welcher die Länge von beinahe einer Stunde hatte. Wahrscheinlich begann jenseits desselben das Gebiet des Lai-kiang, welcher seine Wasser durch den Heng-kiang in den Jang-tse-kiang ergießt.

Dann kam eine kahle Hochebene, auf welcher hie und da ein armer Grashalm zu sehen war, und die sich lang und schmal über einen zweiten Paß niedersenkte. Als dieser durchritten war, hielten sie vor einer Querschlucht von solcher Tiefe, daß man den Grund derselben nicht zu erblicken vermochte.

Die Wände fielen fast senkrecht in den dunklen Schlund. Es gab weder rechts noch links einen Ausweg. Nur geradeaus führte die Straße, quer über den riesigen Spalt hinüber, und zwar auf der Brücke, von welcher der Wirt des Sië-kia gesprochen hatte.

Es war wirklich eine Kettenbrücke im eigentlichsten Sinne des Wortes. Sechs starke, parallel laufende Eisenketten waren hüben und drüben fest in dem Gestein verankert. Sie trugen querliegende, hölzerne Bohlen, welche die gefährliche Bahn bildeten.

Die Ketten hatten ihrer Schwere wegen nicht straff angezogen werden können. Sie hingen über der Mitte der Schlucht tief hernieder. Die Bohlen waren alt und ausgetreten. Infolge der Fäulnis waren Löcher und sonstige Zwischenräume entstanden, durch welche derjenige, der sich auf diese Brücke wagte, unter Grauen zu seinen Füßen in die Schwindel erregende Tiefe blicken konnte. Und was die Gefahr verdoppelte, das war der Umstand, daß die kühnen Erbauer dieser Brücke es nicht für nötig gehalten hatten, ein Geländer anzubringen.

Als der Methusalem sein Pferd anhielt und sich diese Passage mit besorgtem Blicke betrachtete, sagte Gottfried, indem er die Mütze auf dem Kopfe hin und her schob: »Sollen wir etwa da hinüber?«

»Natürlich! Wie denn sonst, da ich noch nicht bemerkt habe, daß wir fliegen können!«

»So wollte ich, der Kerl stände da, der diese famose Jasse erfunden hat!«

»Warum?«

»Ich würde ihn auf saure Sahne mit Jurkensalat fordern. Da dies aberst leider nicht stattfinden kann, so will ich ihm nur jerne wünschen, dat seine ruchlose Seele hier mittemächtig spuken und von Zwölf bis Eins in die Jeisterstunde immer über die Brücke hinüber- und herüberlaufen muß. Hat dieser Kerl etwa jedacht, dat wir Seiltänzer oder sonstige Jongleurs und Possenreißer sind!«

»Um Possen zu reißen, ist die Brücke wohl nicht da. Haben Sie Mut, lieber Turnerstick?«

Der Kapitän schob seinen Klemmer auf der Nase hin und her und antwortete: »Ich bin auf manchen Mast geklettert, aber über eine solche Brücke noch nicht. Kommt ein halber Wind, so kentert man unbedingt zur Tiefe nieder. Was sagen Sie, Mijnheer?«

Anstatt, wie vermutet war, mit in die Klage einzustimmen, meinte der Gefragte: »Ik bid, mij aftebinden – ich bitte, mich abzubinden.«

»Weshalb?« fragte Turnerstick, indem er ihm die Leine von den Füßen löste.

»Ik bin Mijnheer van Aardappelenbosch, een dapper Nederlander. Ik kan niet goed rijden, maar ik kan goed loopen. Ik word vooraan gaan – ich bin Mijnheer von Aardappelenbosch, ein tapferer Niederländer. Ich kann nicht gut reiten, aber ich kann gut laufen. Ich werde vorangehen.«

Er nahm, was keiner ihm zugetraut hätte, sein Pferd beim Zügel und führte es auf die Brücke. Die andern wollten folgen, aber der Methusalem verwehrte es ihnen: »Halt, nicht zu viele! Es steht zu vermuten, daß sich die Brücke wie eine Schaukel bewegen wird. Ich gehe mit dem wackern Mijnheer. Zwei andre mögen uns erst dann folgen, wenn wir uns auf der Mitte befinden.«

Er nahm nicht nur sein Pferd, sondern auch dasjenige Richards mit, um dem ihm anvertrauten Jüngling den schweren Uebergang möglichst zu erleichtern.

Die Brücke war ungefähr fünfzehn Fuß breit, was bei gewöhnlichen Verhältnissen gewiß genügt hätte. Aber bei einer Höhe, aus welcher das Auge nicht den Grund der Schlucht zu erreichen vermochte, bei einer Länge von vielleicht über hundertfünfzig Fuß und bei dem schlechten Zustande der Bohlen war diese Breite unbedeutend, zumal die Geländer fehlten.

Dennoch schritt der Mijnheer wacker voran. Sein Pferd folgte mit langsamen, vorsichtigen Schritten. Es schien diese Art der Passage gewohnt zu sein, denn es trat äußerst vorsichtig und – so zu sagen – probierend auf, um ja nicht mit einem Hufe durchzubrechen. Degenfeld ging mit seinen beiden Pferden eng hintendrein.

So ruhig die Schritte der beiden Männer und der drei Tiere waren, die Brücke geriet doch in eine schaukelnde Bewegung, welche am stärksten wurde, als die Genannten sich gerade auf der Mitte befanden.

»Werden Sie nicht schwindelig, Mijnheer?« fragte der Methusalem um den Dicken besorgt.

»Neen,« antwortete dieser. »Ik weet, hoe men het maken moet – nein. Ich weiß, wie man es machen muß.«

»Nun, wie denn?«

»Ik sluit het eene oog en werp het tweede recht toe voor mij neder. Makt gij het ook zoo – ich mache das eine Auge zu und werfe das zweite gerade vor mich nieder. Machen Sie es auch so!«

Auf diese Weise konnte sein Blick nicht von der Brücke in die Tiefe fallen. Er hatte recht, und der Methusalem folgte seinem Beispiele. Sie kamen trotz des Wankens des schwindelnden Steges glücklich drüben an.

Als sie sich da umdrehten, sahen sie den Gottfried mit Richard in der Mitte. Turnerstick schickte sich soeben mit Jin-tsian an, die Brücke zu betreten. Liang-ssi schien sich mit dem Offiziere im Streite zu befinden. Er berichtete dann, als er jenseits anlangte, daß die Reiter eine ziemlich hohe Summe verlangt hätten, bei deren Verweigerung sie sich nicht auf die Brücke hatten wagen wollen. Er war der sehr begründeten Ansicht gewesen, daß diese für Fremde heikle Passage ihnen gar nichts Ungewöhnliches sei; darum hatte er ihnen ihr Verlangen abgeschlagen und sie auf die Folgen hingewiesen, welche das angedrohte treulose Verhalten für sie haben müsse.

Sie hielten eine ziemlich lange Beratung und kamen dann mit den Packtieren, welche frei folgten, im scharfen Trabe über die Brücke geritten, so daß diese in einer Weise schaukelte, daß man meinen mußte, die Reiter würden in die Tiefe geschleudert werden. Sie hatten diesen Weg gewiß schon viele Male gemacht.

Bei den Reisenden angekommen, machte der Offizier sein Verlangen abermals geltend, wurde aber von dem Methusalem abgewiesen, welcher ihm antwortete: »Sobald wir am Ziele angelangt sind, werden Sie ein Kom-tscha erhalten, eher nicht, und auch dann nur in dem Falle, daß wir mit Ihnen zufrieden sind. Vergeßt ja nicht, in welchem Range wir stehen, und daß ihr gegen uns nur wie Mücken seid, welche ich mit einem einzigen Worte vernichten kann!«

Am Ende der Brücke öffnete sich abermals eine Schlucht, welche aber nur sehr kurz war; dann führte die Straße abwärts nach dem Walde, an dessen Eingange ein Ruhehaus stand, welches größer und freundlicher zu sein schien, als die bisher gesehenen Einkehrstätten. Dort hielt Degenfeld an.

»Unser Tagemarsch ist beendet,« sagte er. »Wir werden hier übernachten.«

Sofort sprangen die Chinesen ab, griffen zu den mitgebrachten Effekten und Vorräten, trieben die Pferde nach dem hinter dem Hause liegenden Grasplatze und eilten in das Innere des Gebäudes.

Eine kurze Strecke jenseits des letzteren führte die Straße über eine kurze Steinbrücke, welche nur einen Bogen hatte, und ein schmales aber tiefes Thälchen überspannte. Dorthin deutend, sagte Degenfeld leise zu Gottfried: »Nicht weit von jener Brücke, an der Seite der Bodensenkung und nicht ganz auf der Sohle derselben, wo ein kleines Wasser fließt, muß sich die Stelle befinden, an welcher wir zu suchen haben. Es ist jetzt wenig über vier Uhr. und erst nach acht Uhr wird es dunkel. Wir haben also noch vor Abend Zeit, nachzuforschen. Sobald ich mich entferne, kommt ihr einzeln nach; du kannst das Richard sagen. Ihr werdet mich unter dem großen Nadelbaum treffen, dessen Spitze du dort über die andern Wipfel emporragen siehst. Den andern sage ich, daß ich nach Pflanzen suchen will.«

Laute, zornige Rufe der Soldaten und der Klang einer bittenden Stimme veranlaßten ihn, sich in die Stube zu begeben. Dort bildeten die Kavalleristen einen Kreis, in welchem drei von ihnen einen Mann, den sie niedergerissen hatten, am Boden festhielten. Der Offizier hatte seinen Sarras gezogen und schlug mit der flachen Klinge auf den um Gnade Bittenden ein.

»Was geht hier vor?« fragte Degenfeld, indem er sich in den Kreis drängte. »Was hat euch dieser Mann gethan?«

»Sehen Sie nicht, hoher Herr, wer und was er ist?« antwortete der Lieutenant. »Hat er nicht einen halben Mond auf seiner Jacke?«

Der Mißhandelte war nicht mehr jung, fast ein Greis. Seine Züge hatten das chinesische Gepräge, und sein Anzug war der gewöhnliche des Landes. Auf dem jackenähnlichen Stücke, welches er über dem langen, einer Toga gleichenden Unterkleide trug, war ein gelbes Stück Tuch, welches die Gestalt eines Halbmondes hatte, aufgenäht. Von Waffen sah man nichts an ihm. Zwei der Soldaten knieten, noch immer auf seinen Armen und Beinen, während der Dritte ihn am Zopfe niederhielt.

»Ich sehe dieses Zeichen,« antwortete der Methusalem. »Was hat es zu bedeuten?«

»Daß er ein Kuei-tse Teufelssohn. ist, den wir tot schlagen müssen.«

»Was hat er euch gethan?«

»Uns? Nichts. Aber alle Kuei-tse müssen erschlagen werden.«

»Wer hat das befohlen?«

»Der Kaiser, welcher ein Sohn des Himmels und das Licht der Vernunft ist.«

»Könnt ihr das beweisen?«

»Beweisen?« fragte der Offizier sehr verwundert. »Alle Menschen, alle guten Unterthanen wissen es.«

»Nun gut! Hat der Sohn des Himmels die Macht, seinen Befehl zurückzunehmen?«

»Ja; wer soll ihn daran hindern? Er hat alle Macht.«

»Und wo er nicht persönlich sein kann, da erteilt er diese Macht seinen Gesandten. Mein Kuan ist der Beweis, daß ich ein solcher Beauftragter bin. Ich befehle euch von diesem Manne abzulassen!«

Um diese Scene zu begreifen, muß man wissen, daß die Mohammedaner der Provinz Yun-nan gelegentlich des Aufstandes der Thai-ping den Versuch gemacht hatten, sich das Recht der freien Religionsübung zu erwerben. Sie wurden aber überfallen, wobei man über tausend von ihnen tötete. Infolgedessen traten sie einmütiglich zusammen, eroberten die Hauptstadt Jun-nan-fu und bildeten ein selbständiges Staatswesen, dessen die Regierung selbst heute noch nicht ganz wieder mächtig geworden ist. Sie nennen sich selbst Pan-tse, werden aber von den Gegnern Kuei-tse. Teufelssöhne, genannt.

Von allen Seiten bedrängt und bedrückt, unternehmen sie unter kühnen Anführern zuweilen in größerer oder kleinerer Anzahl Züge in die benachbarten Provinzen, um sich für das Erlittene schadlos zu halten. Es war die Rede davon gewesen, daß man diese Leute jetzt in der Nachbarprovinz gesehen habe. Ob der hier am Boden liegende Mann zu ihnen gehörte, das war dem Studenten gleich. In seinen Augen war ein Kuei-tse ein ebenso berechtigter Mensch wie der Buddhist, und da der Arme den Soldaten nichts Böses gethan hatte, so nahm er ihn gegen dieselben in Schutz.

Das schien dem Offizier nicht zu passen. Er schüttelte vielmehr den Kopf und sagte: »Sie sind ein hoher Herr, aber doch ein Fremder. Wir müssen Sie begleiten und beschützen, aber wenn es sich um einen Kuei-tse handelt, dürfen wir Ihnen nicht gehorchen.«

»Ah! Wirklich nicht?« fragte der Blaurote, indem seine Augen aufleuchteten.

»Nein. Dieser Sohn des Teufels ist in unsre Hände gefallen, und wir werden ihn töten.«

»Das verbiete ich,« donnerte Degenfeld ihn an. »Ihr werdet ihn augenblicklich frei lassen!«

»Nein! Wir werden – – –«

Er kam nicht weiter, denn er erhielt bei dem letzten Worte von dem Studenten eine so gewaltige Ohrfeige, daß er zu Boden flog. In demselben Augenblicke riß der Gottfried ihn wieder auf, hob ihn mit seinen langen Armen empor und warf ihn wie einen Ball unter die andern Soldaten hinein, daß diese auseinander flogen.

Ein dritter, nämlich Turnerstick, riß ihn da mit seinen Seemannsfäusten wieder auf, trug ihn in die Ecke, steifte ihn dort nieder und schrie ihn an: »Hier, Starmatz, bleibst du sitzing! Und wenng du es wageng solltungst, dich zu rührang, so fresse ich dich mit Haut und Hearing auf! Master Methusalem, was heißt Soldat im Chinesischen?«

»Ping,« antwortete der Gefragte.

»Gut,« fuhr der Kapitän fort, indem er sich wieder an den Chinesen wandte. »Denkst du etwang, wir müssang Respekt vor dir habeng, weil du ein Ping bist? Da hast du sehr falsch kalkuliringt. Wenng du nur mit der Wimper zuckst, so reibe ich dich zu Parmesankäse und streue dich auf die Maccaronings, du Ping und Doppelping und Pong-pang-ping!«

Die Soldaten waren auseinander und zur Thür hinausgestoben. Der Mohammedaner hatte sich erhoben. Er näherte sich dem Methusalem, verbeugte sich tief vor demselben und sagte: »Allah segne die Thaten Ihrer Hände und die Tapfen Ihrer Füße, hoher Gebieter. Sie haben mich gerettet. Machen Sie das Maß Ihrer Gnade voll, indem Sie mir erlauben, mich zu entfernen!«

»Sind Sie denn sicher, daß Ihnen nicht unterwegs Aehnliches begegnet?«

»Ja. Ich kehrte in diesem Hause ein, um auszuruhen. Anstatt der Erquickung hätte ich fast den Tod gefunden. Sobald ich es verlassen habe, bin ich vor ferneren Nachstellungen sicher.«

»So gehen Sie und hüten Sie sich vor ähnlichen Begegnungen!«

Der Bekenner des Islam entfernte sich unter tiefen Verbeugungen. Die Soldaten sahen ihn nicht gehen, da sie sich hinter das Haus retiriert hatten, von wo sie erst dann zurückkehrten, nachdem Degenfeld ihnen durch Liang-ssi versichert hatte, daß Ihnen nichts geschehen solle.

Der Offizier sah ein, daß er sich eines großen Verbrechens gegen den Kuan des Kaisers schuldig gemacht habe. Er kam förmlich herbeigekrochen, um sich Gnade zu erbitten, die ihm nach einer strengen Mahnung auch zugesagt wurde.

Nun sagte Degenfeld, daß er für kurze Zeit in den Wald gehen wolle, um zu sehen, ob ein botanischer Fund zu machen sei; die Gefährten sollten dafür sorgen, daß das Mal zubereitet werde, und mit demselben bis zu seiner Rückkehr warten. Kurze Zeit, nachdem er sich entfernt hatte, ging der Gottfried ihm nach, welchem dann Richard folgte. Sie fanden ihn unter dem bezeichneten Baume. Er hielt ein Papier in den Händen, den Plan des Händlers Je-kin-li, und schien mit demselben die Gegend aufmerksam zu vergleichen.


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