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Illustration: O. Herrfurth

Ueberfall der Mohammedaner.

Sechzehntes Kapitel

Hao-Keu und ihre Töchter.

»Gut, daß ihr kommt, und ich also keine Zeit zu verlieren brauche,« sagte er. »Hier habe ich die Zeichnung unsres chinesischen Freundes, welche, wie ich sehe, sehr genau angefertigt worden ist. Sie ist freilich schon acht volle Jahre alt, stimmt aber ganz gut auf diesen Ort. Die kleine Veränderung, welche die Situation erlitten hat, ist auf den Einfluß dieser Zeit zurückzuführen und bezieht sich nur auf das Wachstum der Pflanzen. Als Hauptmarke ist ein großer, über tausend Jahre alter Ging-ko-baum Die Salisburya andiantifolia unserer Gärtner angegeben, bei dem fünf Keime zu einem einzigen Stamme verwachsen sind. Das ist der riesige Nadelbaum, unter welchem wir hier stehen und dessen Stamm einen Umfang von über neun Meter hat und sichtlich aus fünf einzelnen Stämmen zusammengesetzt ist. Daneben sind, genau im Westen von ihm stehend, zwei andre Bäume verzeichnet, nämlich ein Ti-mu, Eisenholzbaum um welchen sich die Pflanze Lo Epheu windet, und ein wilder Sang; Maulbeerbaum; das alles ist, wie ihr sehen könnt, vorhanden, der Eisenbaum mit dem Epheu und auch der Maulbeerbaum. In der Richtung, in welcher diese Bäume stehen, – also nach Westen, hat man vierzig Schritte zu gehen, um an die sogenannte Hoci-Hoei-keu Mohammedanerschlucht zu kommen, wo eine Ku-tsiang Mauerreste. stehen soll, welche wir jetzt zu suchen haben, denn genau von ihr aus müssen wir gerade abwärts in das Thal steigen, um den Lao-hoei-hoei-miao Mohammedanischer Tempel. zu finden, um welchen es sich handelt.«

Sie schritten die angegebene Entfernung in der betreffenden Richtung ab und gelangten an den Rand des Thales, über welchem in der Entfernung von vierhundert Schritten rechter Hand von ihnen die bereits erwähnte steinerne Bogenbrücke führte. Da, wo sie die Kante desselben erreichten, sahen sie mehrere halbverwitterte Mauersteine aus dem weichen Humusboden blicken. Das war der Mauerrest, von welchem aus sie abwärts stiegen.

Noch hatten sie die Sohle der Schlucht und den dort fließenden Bach nicht erreicht, so trafen sie auf ein altes, eigentümliches Gemäuer, welches so von Büschen und hohen Farnen umgeben war, daß man es von weitem gar nicht bemerken konnte. Die Mauer bildete einen Kreis, dessen Durchmesser nicht mehr als zehn Fuß betrug. Das Dach, welches man mit der Hand erreichen konnte, war, entgegen dem chinesischen Stile, von Steinen rund gewölbt, und der Eingang war so niedrig, daß man ihn nur in sehr gebückter Haltung passieren konnte. Das Gebäude hatte die halbkugelige Form einer Kaffern- oder Hottentottenhütte und konnte unmöglich ein mohammedanischer Tempel, d. h. eine Li-pai-sse, wie die Moscheen in China genannt werden, gewesen sein.

»Wir sind an Ort und Stelle,« sagte der Methusalem, »und wollen zunächst nach dem Tscha-dse suchen, welches Ye-kin-li hier vergraben hat. Ein Tscha-dse ist ein langes, starkes Messer, mit welchem man Häcksel schneidet. Aus einem solchen bestand die einzige Waffe, welche der Händler bei sich trug. Mit ihrer Hilfe konnte er die Grube machen, in welche er seine Barren versteckte, und um dieses Werkzeug später gleich an Ort und Stelle zu haben, verscharrte er es an einer Stelle, welche genau zehn Schritte von dieser Thür aus abwärts liegt, und wo die Wurzel einer Lieu Chinesische Weide. zu Tage tritt.«

Er schritt die Strecke ab und traf auf den Baum und die Wurzel, unter welcher er mit seinem Messer grub. Schon nach kurzer Zeit brachte er das Tscha-dse hervor, welches zwar stark angerostet, aber noch fest war.

Die beiden andern hatten ihn bisher still, aber erwartungsvoll angehört und ihm zugesehen. Jetzt fragte Richard: »Und wo soll denn der Schatz vergraben sein?«

»Dort im Gebäude. Ich vermute, daß dasselbe die Begräbnisstelle eines frommen Mohammedaners gewesen ist, also ein sogenannter Marabu, denn Ye-kin-li hat, um Platz für seine Barren zu finden, menschliche Gebeine, welche fast ganz verwest waren, ausgegraben und da unten in das Wasser geworfen. In dieser Gegend des Landes gibt es viele Bekenner des Islam und hat früher deren noch mehr gegeben. Kommt mit in das Mausoleum!«

Sie krochen hinein. Der Raum war so hoch, daß sie in demselben aufrecht stehen konnten, und der Boden mit dicht schließenden, behauenen Steinen belegt. Der Methusalem sah auf seinem Plane nach und sagte dann: »Wir müssen die sechs Steine, welche zusammen ein Rechteck bilden, entfernen. Dann wird es sich zeigen, ob das Gold und Silber noch vorhanden ist, woran ich übrigens jetzt nicht mehr zweifle.«

Die Steine waren so genau gefügt, daß es ziemliche Anstrengung kostete, den ersten derselben herauszunehmen; als das dann geschehen war, konnte man die andern fünf ohne Mühe entfernen. Die Unterlage bestand aus fester Erde, welche der Methusalem aufgrub.

Es war den dreien dabei wirklich wie Schatzgräbern zu Mute. Sie fühlten eine Art fieberhafter Aufregung, welche desto mehr wuchs, je tiefer das Häckselmesser in den Boden drang. Endlich, endlich zeigten sich zwei Gegenstände, welche nicht in die Erde gehörten, nämlich zwei lederne Säcke, welche lackiert waren. Nur diesem letzteren Umstände war es zu verdanken, daß sie sich noch in gutem Zustande befanden.

Der Methusalem hob den einen heraus, was einiger Kraftanstrengung bedurfte, und öffnete ihn. Da glänzten ihnen die kleinen, länglichen Barren goldig entgegen. Sie waren alle mit dem obrigkeitlichen Stempel versehen, als Beweis, daß die Legierung die gesetzlich vorgeschriebene sei.

»Gott sei Dank!« sagte Degenfeld, indem er tief aufatmete. »Dieser Teil unsrer Aufgabe wäre also glücklich gelöst.«

»Das freut mich außerordentlich!« fügte Richard hinzu. »Ye-kin-li hat nur ein sehr geringes Anlagekapital gehabt; nun werden ihm die Barren sehr zu gute kommen.«

»Dat glaube ich, dat sie zu jute kommen!« meinte Gottfried. »Mich, wenn ich sie hätte, kämen sie auch zu statten. Ich würde schleunigst meine Oboe und mir selbst verjolden lassen und den Rest sodann in Zacherlbräu und sauren Heringen anlegen. So aber muß ich mir ohne Verjoldung weiter durch mein frugales Dasein schleichen. Wat soll nun jeschehen? Hucken wir die Säcke auf, um sie nach dat Ruhehaus zu bringen?«

»Nein,« antwortete der Methusalem. »Wir lassen sie hier liegen.«

»Liegen lassen? Sind Sie bei Troste? Dat würde nicht 'mal ein Spitzbube thun, ich noch viel weniger!«

»Und doch können wir nicht anders. Wir haben uns überzeugt, daß die Barren da sind. Das genügt. Mitschleppen aber können wir sie nicht, da wir nicht wissen, welchen Wechselfällen wir noch unterworfen werden. Wir verbergen sie hier wieder und richten es später so ein, daß uns der Rückweg hier vorüberführt. Dann nehmen wir die beiden Säcke mit.«

Die beiden andern waren nicht sofort einverstanden, mußten aber doch die Triftigkeit seiner Gründe anerkennen. Der Sack wurde wieder in die Grube gelegt und mit der ausgeworfenen Erde bedeckt, welche man mit den Füßen feststampfte, um dann die Steine wieder einzufügen. Das geschah so genau, und der kleine Rest übrig gebliebener Erde wurde so sorgfältig entfernt und verwischt, daß kein andrer das Vorhandensein des Verstecks ahnen konnte.

Nun verließen sie das Gebäude, um auch das Häckselmesser wieder zu vergraben. Noch war der Methusalem damit beschäftigt, da ertönte plötzlich hart bei ihnen eine befehlende Stimme aus dem Gebüsch: »Ta kik hia – schlagt sie nieder!«

Und zu gleicher Zeit drangen wohl gegen zehn bewaffnete Männer auf die drei ein. Ihre Armierung war keine sehr furchterweckende, alte Säbel, einige noch ältere Flinten und Piken; einer schwang eine Keule.

Der Methusalem hatte sich, als der Ruf erscholl, blitzschnell aufgerichtet. Er faßte die Gefährten bei den Armen und riß sie, um Raum zu gewinnen und den dicken Stamm der Weide zwischen sich und die Angreifer zu bringen, mehrere Schritte zurück. Ebenso schnell zog er seine beiden Revolver hervor und richtete sie auf die Feinde, welchem Beispiele Gottfried und Richard augenblicklich folgten. Die Chinesen stutzten und blieben stehen. Einem von ihnen, welcher sein Gewehr zum Schusse anlegte, rief Degenfeld drohend zu: »Weg mit der Flinte, sonst trifft meine Kugel dich eher, als mich die deine! Was haben wir euch gethan, daß ihr uns in dieser Weise überfallt?«

Der Angeredete, welcher der Anführer zu sein schien, mochte seinem Schießholze kein großes Vertrauen schenken; er senkte den Lauf und antwortete mit finsterer Miene: »Ihr entheiligt unser Ma-la-bu! Was habt ihr hier zu graben?«

Also war, wie Degenfeld vermutet hatte, das Gebäude wirklich ein Marabu, das Grab eines durch seine Frömmigkeit ausgezeichneten Mohammedaners. Da dem Chinesen das r nicht geläufig war, verwandelte er es in das leichtere l, also Ma-la-bu.

»Seid ihr Hoei-hoei?« erkundigte sich der Student.

»Ja.«

»So habt ihr keine Veranlassung, uns feindselig zu behandeln. Wir achten euren Glauben und ehren Mohammed als euren Propheten.«

»Und doch grabt ihr diese heilige Erde auf!«

»Nicht um sie zu entweihen. Wir gingen in den Wald, um nach den Vorschriften der Yithung Heilkunde. Pflanzen zu suchen. Da sahen wir hier den Griff dieses Messers aus dem Boden ragen. Wir zogen es heraus, um es zu betrachten, und eben stand ich im Begriff, es wieder an seine Stelle zu legen, als ihr erschient. Nun sagt, ob wir eine Sünde begangen haben!«

»Zeige das Messer!«

Er nahm es in Empfang, betrachtete es prüfend, untersuchte dann die aufgegrabene Stelle und sagte, als er nichts fand: »Das ist ein ganz gewöhnliches Tscha-dse, welches jedenfalls ein Arbeiter hier versteckt hat, um es später, wenn er es braucht, zu finden. Ich dachte, ihr wolltet nach einem Pao-ngan Verborgener Schatz. suchen, welcher bei einem armen Ma-la-bu unmöglich vorhanden sein kann. Die Buddha-min Buddhisten. sind alberne Menschen, welche unsre Gebräuche und heiligen Orte nicht achten.«

»Wir gehören nicht zu ihnen.«

»Nicht? Was seid ihr denn?«

»Wir sind Tien-schu-kiao-min.« Anhänger der Religion des Himmelsherrn = Christen.

»Wenn das wahr ist, so sind wir Freunde, denn wir und die Christen verehren einen wirklichen Gott, dessen Propheten Mohammed und J-sus (Jesus) waren. Aus eurem Glauben schließe ich, und an eurer Kleidung erkenne ich, daß ihr aus einem fernen Lande kommt. Habt ihr denn einen Paß bei euch?«

»Ja, ich habe einen großen, besondern Kuan des erhabenen Herrschers.«

Wie unvorsichtig diese Mitteilung war, sollte Degenfeld sofort erkennen, denn der Chinese sagte: »So hast du mich betrogen, denn einen solchen Kuan bekommt nur ein Chinese. Ich werde das streng untersuchen und ihr habt uns jetzt zu folgen.«

»Als Gefangene etwa?«

»Ja. Eine Gegenwehr würde nur zu eurem Schaden sein, denn blickt einmal hinauf nach der Brücke!«

Erst jetzt bemerkten die drei Gefährten, daß oben eine Schar von wohl fünfzig Reitern hielt. Diese konnten von ihrem hohen Standpunkte aus die Scene überblicken. Dennoch antwortete der Student: »Wir fürchten uns gar nicht vor euch, denn wir haben in diesen kleinen Waffen so viele Kugeln, daß wir euch alle töten können. Aber da wir euch die Wahrheit gesagt haben, so ist für uns nichts zu besorgen. Wir gehen also mit.«

»So kommt zum Einkehrhause! Aber versucht ja nicht, uns zu entfliehen; es würde euch nicht gelingen.«

Er wendete sich nach der Brücke und gab mit dem erhobenen Arme ein Zeichen, auf welches seine Reiter sich nach dem Hause hin in Bewegung setzten. Die drei wurden in die Mitte genommen. Während man an der Seite des Thales emporstieg, sagte der Anführer: »Es sind Soldaten in dem Hause, welche einen meiner Leute töten wollten. Er ist ihnen entkommen und hat uns, die wir in der Nähe lagen, herbeigeholt, damit sie bestraft werden.«

»Hat er erzählt, auf welche Weise er der Gefahr entrann?« fragte der Methusalem.

»Ja. Ein seltsam gekleideter Mandarin hat ihn in Schutz genommen.«

»Kein Mandarin, ich selbst war es.«

»Du? Wenn es sich zeigt, daß dies wahr ist, so ist es gut für dich.«

Man hatte die Höhe erreicht und konnte nun zwischen den Bäumen hindurch das Einkehrhaus an der Straße liegen sehen. Vor demselben standen einige Soldaten. Sie sahen die Reiter kommen und eilten augenblicklich hinter das Haus, indem sie riefen: »Kuei-tse lai, kuei-tse lai. Suk tschu-kiü ni-men – Kuei-tse kommen, kuei-tse kommen. Reißt schnell aus!«

Die andern kamen aus dem Hause gerannt und liefen auch in höchster Eile hinter das Haus nach ihren Pferden. Im nächsten Augenblicke sah man sie im Galopp fliehen, und zwar nach der Richtung, aus welcher sie, die tapferen Beschützer, mit ihren Schützlingen vorher gekommen waren.

»Da jeben unsre Helden Fersenjeld,« sagte der Gottfried. »Wer weiß, ob wir ihnen jemals wiedersehen!«

»Wohl schwerlich,« meinte Degenfeld. »Ein Glück, daß sie unsre Pferde und die Packtiere nicht mitgenommen haben!«

»Dazu haben sie sich nicht die Zeit jegönnt. Ich wünsche ihnen Jesundheit und ein langes Leben, uns aberst einen Ausweg aus der Tinte, in welche wir jeraten sind.«

Die Mehrzahl der mohammedanischen Reiter war den Soldaten nachgaloppiert. Die übrigen hielten auf der Straße, um den Anführer zu erwarten. Unter ihnen befand sich derjenige, den Degenfeld in Schutz genommen hatte. Als er den letzteren erkannte, drängte er sein Pferd herbei und sagte: »Sind diese drei Herren gefangen? Sie sind meine Wohlthäter, denn sie haben mich vom Tode errettet.«

»So haben sie mich also nicht betrogen,« antwortete der Kommandierende. »Es gilt nun, zu untersuchen, ob sie wirklich Christen sind, was ich nicht glaube, da sie einen besondern Kuan des Kaisers besitzen.«

Die auf der Straße haltenden Reiter waren in gleicher Weise bewaffnet wie ihre Gefährten, deren Pferde sie am Zügel führten. Sie stiegen ab.

Turnerstick, der Mijnheer und die beiden Brüder waren aus dem Hause getreten.

»Was soll das heißen?« rief der erstere dem Studenten entgegen. »Das sieht ja ganz so aus, als ob Sie gefangen seien!«

»Es ist auch so,« antwortete der Genannte.

»So hauen wir Sie heraus!«

»Nein. Die Sache wird sich friedlich lösen. Kommt nur mit herein!«

Man band die Pferde vor dem Hause an und begab sich in die Stube, deren Besitzer sich aus Angst vor den »Teufelssöhnen« nicht sehen ließ. Dort mußte der von Methusalem in Schutz Genommene erzählen, wie er von den Soldaten überfallen worden war, und in welcher Weise sich der Retter seiner angenommen hatte. Das Gesicht des Anführers wurde dabei immer freundlicher. Er musterte die Fremden mit prüfendem Blicke und fragte dann: »Aus welchem Lande seid ihr denn nach der Mitte der Erde gekommen?«

»Aus dem Lande der Tao-tse-kue,« antwortete Degenfeld.

»Ist das wahr? Ich kenne einen Tao-tse-kue, welcher sehr reich und uns freundlich gesinnt ist. Er hat die Unsrigen, welche vertrieben wurden und sich in Not und Gefahr befanden, oft unterstützt.«

»Wie heißt dieser Mann?«

»Er nennt sich hierzulande kurzweg Schi, Stein. hat aber in seiner Heimat Sei-tei-nei geheißen.«

»Ah! Er ist der Besitzer eines Ho-tsing?« Feuerbrunnen.

»O, mehrerer Ho-tsing. Es gehört ihm eine Gegend, in welcher eine Flüssigkeit aus der Erde dringt, welche Schi-yeu Wörtlich »Steinöl« genannt wird und in Lampen gebrannt werden kann.«

»Er wohnt in Ho-tsiang-ting?«

»Ja. So hat er den Ort, aus welchem eine Stadt geworden ist, genannt, der Ho-tsing wegen, welche dort zu Tage treten. Kennst du ihn?«

»Jawohl. Dieser mein Gefährte, welcher Liang-ssi heißt, ist bei ihm angestellt.«

»Den Namen Liang-ssi kenne ich, denn er wurde mir von Genossen, welche dort Wohlthat empfingen, rühmend genannt.«

»Und dieser Jüngling ist der Bruderssohn von Sei-tei-nei, der ihm geschrieben hat, daß er zu ihm kommen soll.«

»Das stimmt, denn ich weiß, daß er keinen Sohn hat und in sein Land nach einem Sohn des Bruders geschrieben hat. So wollt ihr zu ihm?«

»Ja.«

»Dann möchten wir euch gern als gute Freunde betrachten, wenn nur der Kuan nicht wäre, von dem du gesprochen hast. Der Kaiser von Tschin ist unser Unterdrücker, und wen er liebt, den müssen wir hassen.«

Degenfeld beeilte sich, den Fehler, welchen er begangen hatte, wieder gut zu machen, indem er erklärte: »Ich habe mich vielleicht nicht richtig ausgedrückt, da ich der hiesigen Sprache nicht vollständig mächtig bin. Ich wollte nicht Kaiser, sondern König sagen. Hier ist der Kuan.«

Er zog anstatt des kaiserlichen Passes den Kuan des Bettlerkönigs hervor und gab denselben hin. Als der Mohammedaner einen Blick darauf geworfen hatte, rief er überrascht aus: »Ein T'eu-kuan! Das ist ja etwas ganz andres! Der T'eu ist unser bester Freund und Beschützer, und sein Paß wird bei uns heilig gehalten. Aber, da du« – – – er stockte verlegen und fuhr dann, sich tief verneigend, fort: »Da Sie diesen so seltsamen Kuan von ihm besitzen, so müssen Sie ein sehr hervorragender und hoher Gebieter sein und ihm große Dienste geleistet haben. Betrachten Sie uns als Ihre Sklaven und befehlen Sie, was wir für Sie thun sollen.«

»Ich befehle nichts,« antwortete Degenfeld nun auch in höflicherem Tone als vorher. »Es freut uns, Sie als Freunde von Sei-tei-nei kennen zu lernen, und ich bitte Sie nur um das eine, mir zu sagen, ob ich ihm vielleicht eine Botschaft von Ihnen überbringen kann.«

»Ich danke dem erlauchten Fremdling! Von einem so hohen Erretter kann ich das nicht verlangen. Also sind Sie unser nicht bedürftig?«

»Nein.«

»Sie kennen den Weg von hier nach Ho-tsing-ting?«

»Liang-ssi muß ihn kennen.«

»So gestatten Sie uns, unsern Ritt fortzusetzen, dessen Ziel ich freilich nicht gern sagen würde.«

»Ich habe kein Recht, nach demselben zu fragen. Reiten Sie in Allahs Namen!«

»So werden wir sofort aufbrechen und sagen Ihnen unsern geringfügigen Dank. Ich hatte den, welchen Sie erretteten, vorausgesandt, um zu erfahren, ob der Weg für uns und unsre Zwecke frei sei. Dabei wollte ich dem Ma-la-bu einen ehrfurchtsvollen Besuch abstatten und war so verblendet, Sie dort für Feinde und Schänder des Heiligtums zu halten. Ihre beglückende Gnade wird mir das verzeihen. Die Soldaten, welche Ihre Reise verunzierten, sind entflohen und werden nicht wiederkehren. An ihrer Stelle mag Ihr Erretteter bei Ihnen bleiben und Sie bis an das Ziel begleiten. Seine Anwesenheit wird Ihnen, falls Ihnen streitfertige Genossen von uns begegnen, mehr nützen als ein ganzes Heer von feigen Soldaten.«

Degenfeld nahm dieses Anerbieten natürlich dankbar an, dann entfernten sich die zu Freunden gewordenen Feinde unter wiederholten Verbeugungen und ritten davon. Ob die Kuei-tse, welche übrigens chinesischer Abkunft waren und sich auch chinesisch kleideten, die flüchtigen Soldaten ereilten, das war nun freilich nicht zu erfahren.

Als sie sich entfernt hatten, ließ der Wirt sich sehen, um demütig nach den Befehlen der Herren zu fragen. Es gab für ihn nicht viel zu thun, da der Mohammedaner die Bedienung übernahm, und alles Nötige, was die Soldaten nun allerdings im Stiche gelassen hatten, mitgebracht worden war. Nur für kochendes Theewasser hatte der Wirt zu sorgen.

Während des Essens fragte der Student den neuen Begleiter nach den Verhältnissen der Kuei-tse und seinen eigenen aus. Er erfuhr, daß derselbe vorher ein Bekenner der Lehre des Kunzfu-tse gewesen und später aus Zorn über Bedrückung seiner Familie zu den Hoei-hoei übergetreten sei. Er stammte aus der Provinz Kwéi-tschou, war dann nach Hu-nan gezogen, hatte von dort flüchten müssen und war vor einigen Monaten unter dem Schutze seiner Glaubensgefährten und der gegenwärtigen Verhältnisse wieder zurückgekehrt. Er gab an, in einem Dorfe zwischen Kun-jang und Kue-tong zu wohnen.«

»Das ist ja ganz in der Nähe unsres Reisezieles,« sagte Liang-ssi.

»Allerdings. Sie werden durch mein Dorf reiten müssen und dann nach rechts in ein Seitenthal des Lai-kiang biegen, wo die Steinölquellen entspringen und Sei-tei-nei wohnt. Ich war vor kurzer Zeit bei ihm. Steht nicht auch ein Tao-tse-kue in seinem Dienste?«

»Nein. Der, den Sie meinen, stammt aus einem Lande, welches Belgien heißt.«

Der Mijnheer verstand nicht chinesisch; das Wort Belgien aber hörte er sofort heraus. Er fragte gleich, wovon die Rede sei, und als er erfuhr, daß der Onkel Daniel einen Oelingenieur, welcher ein geborener Belgier sei, aus den Vereinigten Staaten habe kommen lassen, um ihm die technische Leitung seines Etablissements anzuvertrauen, rief er aus: »Dat is goed! Dat verheugd mi bij uitnemendheid! Ik bid, spreekt hij ook nederlandsch – das ist gut! Das freut mich ausnehmend! Ich bitte, spricht er auch niederländisch?«

»Ja, er spricht französisch, deutsch, englisch und auch niederländisch.«

»Heiza, zoo moeten wij maken, dat wij henkomen en dat ik met hem spreken kan – juchhe, so müssen wir machen, daß wir hinkommen, und daß ich mit ihm reden kann!«

Nach dem Essen rauchte man noch ein Viertelstündchen, und dann wurde aus den vorhandenen Decken, Tüchern und dem Heu, welches der Wirt lieferte, das Lager bereitet. Als die Pferde versorgt und angebunden waren, legte man sich zur Ruhe. Liang-ssi meinte, daß es hier in den Bergen wilde Hunde gebe, gegen welche man die Pferde eigentlich schützen müsse, doch der Methusalem beruhigte ihn durch die Versicherung: »Machen Sie sich keine Sorge! Hören Sie, welchen Lärm der Mijnheer macht? Da wagt sich bis auf tausend Schritte im Umkreise sicherlich kein wildes Tier heran.«

Und er hatte nicht unrecht. Der Dicke schnarchte, daß man meinte, das Dach wackeln zu hören. Was der gute Mann einmal that, das that er ordentlich.

Am andern Morgen wurde zeitig aufgebrochen, nachdem der Wirt eine so reichliche Bezahlung erhalten hatte, daß sein Gesicht vor Entzücken glänzte. Der Mijnheer wurde wieder auf das Roß gebunden, und der Hoei-hoei nahm sich der Packpferde an.

Es ging jenseits des Gebirges hinab, was viel leichter war als der Aufstieg während der beiden letzten Tage. Die Scenerie war, doch nun in umgekehrter Reihenfolge, ganz dieselbe.

Der Methusalem hielt sich vorzugsweise zu dem Mohammedaner. Bei Gelegenheit fragte er ihn, ob er Kinder habe, und erhielt die Antwort: »Nein, denn ich habe mir kein Weib genommen. Dennoch besitze ich Familie, denn es wohnt eine Verwandte mit ihren beiden Töchtern bei mir, welche mich vergessen lassen, daß ich kinderlos bin. Der Mann dieser Frau mußte fliehen, weil er ganz unschuldigerweise der Teilnahme am Aufruhr angeklagt war.«

»Solche Fälle scheinen in China sehr häufig vorzukommen.«

»Leider, Herr. Wer bei einer solchen Gelegenheit auf der Straße betroffen wird, den ergreift und verurteilt man, ohne die wirkliche Schuld oder Unschuld zu untersuchen. Und die Verwandten nächsten Grades müssen dieselbe Strafe erleiden.«

»Fand dies auch in dem diese drei Frauen betreffenden Falle statt?«

»Ja. Der Mann war gewiß unschuldig; aber nicht nur er, sondern auch sein Weib und seine Kinder wurden gefangen genommen. Es waren zwei Söhne und zwei Töchter.«

Diese letzte Bemerkung erregte die Aufmerksamkeit des Methusalem. Er erkundigte sich: »Hat eine dieser Personen die Todesstrafe erlitten?«

»Nein. Der Mann hat einen Freund, einen Mandarin, der sich der Armen heimlich annahm. Dieser ließ erst den Vater entkommen und später im Zwischenraume von einigen Tagen, da es nicht anders möglich war, auch die beiden Söhne. Diese letzteren sollten an einem bestimmten Orte dann auf ihre Mutter und ihre Schwestern warten.«

»Vereinigten sie sich glücklich mit ihnen?«

»Leider nicht. Der Mandarin stieß auf Hindernisse, und die Knaben konnten unmöglich länger warten. Sie sind also fort und spurlos verschollen. Als später die Mutter mit ihren Töchtern befreit wurde und den festbestimmten Ort aufsuchte, kam sie zu spät. Die Söhne waren fort, und sie hat nie wieder etwas von ihnen vernommen.«

»Was hat sie dann begonnen?«

»Sie mußte natürlich die Provinz verlassen, da sie dort gewiß ergriffen worden wäre, und zog als Bittende in der Fremde von Ort zu Ort. So kam sie mit den beiden Mädchen auch zu mir. Ich fragte nach ihrem Namen und Herkommen. Ihr Stamm- und ihr Geschlechtsname stimmte mit denen meiner Familie; ich erkundigte mich weiter und erfuhr, daß ihr Vater ein Vetter des meinigen gewesen sei. Ich hatte weder Weib noch Kind und nahm alle drei bei mir auf. Kurz nach dieser Zeit mußte ich Hu-nan verlassen und zog in die Provinz Yu-nan, von wo ich erst seit kurzem zurückgekehrt bin.«

»Und die drei Personen sind mit zurückgekehrt und wohnen bei Ihnen?«

»Ja.«

»Hat man denn auch von dem Mann nichts vernommen?«

»Nie. Er ist gewiß zu Grunde gegangen.«

Die Spannung des Methusalem war immer höher und höher gestiegen. Jetzt wußte er sich seiner Sache so gewiß, daß er direkt fragte: »Ihr Stammname ist Seng-ho?«

»Ja.«

»Und Ihr Geschlechtsname Pang?«

Der Chinese sah erstaunt zu ihm auf und antwortete: »Ja, Herr. Wie kommt es, daß Sie als Fremder diesen Namen wissen?«

»Ich glaube, von diesem Falle vernommen zu haben. War der Mann nicht ein Kaufmann Namens Ye-kin-li?«

»So ist es.«

»Seine Frau hieß Hao-keu?«

»So heißt sie noch. Sie hat ihren Namen nicht verändert, obgleich dies die Nachforschung nach ihr, den Flüchtigen erleichterte.«

»Hießen die Söhne nicht Liang-ssi und Jin-tsian?«

»Herr, Sie wissen ja alles, alles!«

»Und die Töchter Méi-pao und Simming?«

Jetzt machte der Mann ein Gesicht, als ob er das größte Wunder vor sich sehe.

»Hoher Gebieter,« sagte er, »ich weiß wirklich nicht, wie ich es mir erklären soll, daß Sie als Fremdling alle diese Namen so genau kennen!«

»Sie brauchen sich nicht anzustrengen, es zu erraten; ich werde es Ihnen später mitteilen. Indem ich Sie nach diesen Verhältnissen und Namen fragte, hatte ich eine gewisse Absicht, von welcher jetzt noch nichts verlauten soll. Ich ersuche Sie infolgedessen, gegen keinen meiner Gefährten etwas von dem, was wir gesprochen haben, zu erwähnen. Es ist niemals gut, von vergangenen, unangenehmen Dingen zu sprechen.«

Dies schien den Chinesen, welcher wohl eine Erklärung erwartet hatte, nicht zu befriedigen; er wagte aber nicht, dem Gespräche eine Fortsetzung zu geben. Welche Freude aber empfand der brave Methusalem, die Gesuchten nun endlich, und zwar so ganz unerwartet, ohne alle Anstrengung, ohne sein Zuthun gefunden zu haben. Das war auch schon bei den beiden Söhnen des Händlers der Fall gewesen; er mußte es für Gottes Schickung nehmen.

Es stand bei ihm fest, daß der Mohammedaner den eigentlichen Stand der Sache nicht erraten werde, so lange er verhindert wurde, mit den beiden Brüdern über diesen Gegenstand zu sprechen, was ja nicht schwer erreicht werden konnte. Vielleicht wußte er bereits, daß der eine dieser Brüder Liang-ssi hieß, da dieser Name öfters genannt worden war; da aber dieser letztere in China sehr häufig ist, so brauchte nicht gerade gefolgert zu werden, daß der Träger desselben der verschwundene Liang-ssi sei.

Eigentlich trieb es den Methusalem innerlich, den Brüdern schleunigst mitzuteilen, daß ihre Mutter und ihre Schwestern am Leben und gefunden seien; aber er freute sich auf die außerordentlich freudige Ueberraschung, wenn die Verwandten sich gegenseitig erkannten, ohne vorher etwas davon geahnt zu haben. Daher war er entschlossen, seine Entdeckung einstweilen noch geheim zu halten, da es sich ja nur um höchstens zwei Tage handelte, welche Zeit man bedurfte, um die angegebene Gegend zu erreichen.

Er kannte die Namen der Familienglieder, weil Ne-kin-li sie ihm mitgeteilt hatte. Die Bedeutung derselben war folgende: Die Mutter Hao-keu = lieblicher Mund; die Söhne Liang-sii = gutes Geschäft, und Jin-tsian = Güte des Himmels; die Schwestern Méi-pao = schöne Gestalt, und Sim-ming = Herzenslicht. Es ergibt sich hieraus, in welcher Weise die chinesischen Eltern ihre Kinder nennen.

Kurz nach Mittag wurde die Stadt Kue-jang erreicht, durch welche man ritt, ohne sich aufzuhalten, da man kein Bedürfnis dazu hatte. Zwei Stunden später gelangten die Reisenden an den Fluß Lai-kiang, dessen Lauf sie aufwärts folgten, um dann die Nacht in einem an der am Ufer hinführenden Straße liegenden Einkehrhause zu verbringen. Am andern Morgen wurde die angegebene Richtung weiter verfolgt.

Dieser Fluß kommt von einem schmalen, langgestreckten Höhenzuge, welcher vom Nan-ling-Gebirge ausläuft und sich bis nach der Stadt Kin-gan erstreckt. An seinem rechten Ufer steigt das Land als schiefe Ebene nach dem Höhenzuge empor, während das linke durch eine Bergkette von einem östlich liegenden weiten und fruchtbaren Becken getrennt wird, in welchem europäische Kenner unbedingt nach Kohle graben würden. Dieses Becken ist mit dem Flusse durch Querthäler verbunden, welche die erwähnte Bergkette durchbrechen. Es wird von dem Flüßchen Dschang durchströmt, an welchem der Wohnort des Onkels Daniel liegen sollte.

Daß in einem kohlenreichen Becken Petroleum gefunden wurde, war leicht erklärlich. Uebrigens ist die Meinung, daß man in China dieses Produkt gar nicht kenne, eine irrige, denn schon in einem Jahrhunderte alten chinesischen geographischen Werke, dem unseren Gelehrten noch wenig bekannten Schen-si-king, lautet eine Stelle: »In dieser Provinz liegt die Stadt Yen-gan-su, wo ein dunkles, übelriechendes Oel aus der Erde fließt, welches man in Lampen und Laternen brennt, da es ein besseres und billigeres Licht als dasjenige der Talgkerzen und gewöhnlichen Oellampen gibt.«

Kurz nach dem Mittage dieses zweiten Tages sah man ein kleines Dörfchen am Ufer des Flusses liegen, und der Hoei-hoei erklärte, daß dieses sein gegenwärtiger Wohnsitz sei, wo sich mit ihm noch mehrere Mohammedaner niedergelassen hätten.

Daß hier der Islam eine Stätte gefunden habe, wenn auch nur eine kleine, konnte man aus dem schlanken, hölzernen Türmchen ersehen, welches die Baumwipfel der Gärten überragte. Es war das Minareh der Li-pai-sse, Moschee. welche die Bekenner der Lehren Mohammeds sich hier errichtet hatten.

Der Methusalem hatte sich seit gestern früh alle Mühe gegeben, ein längeres Gespräch des Hoei-hoei mit den Brüdern zu verhindern. Diese letzteren hatten also nicht die Spur einer Ahnung, daß sie hier ihre Mutter und Geschwister finden würden.

Links von der Straße lag der Fluß, welcher sich hier seeartig erweiterte. Auf dem Wasser hielten Kähne mit Leuten, welche Fische fingen, wozu sie sich aber nicht der Angeln oder Netze, sondern der bekannten Vögel bedienten, welche Tschu-tsche oder Wasserraben heißen.

Rechts zogen sich die kleinen Häuser und hinter denselben die Gärten längs der Straße hin. Die Fensterhöhlen waren entweder ganz leer, oder sie hatten an Stelle der Glasscheiben jenes starke, sehr durchscheinende Papier, welches in bester Qualität aus Korea bezogen wird. Dennoch hatte das Dorf den Anschein ungewöhnlicher Wohlhabenheit. Die Sauberkeit desselben machte einen sehr guten Eindruck.

Damit stimmte freilich der an Kienöl erinnernde Geruch nicht überein, welcher sich bemerkbar machte. Er kam von mehreren dunklen, fettigen Kähnen, welche am Ufer lagen und mit ebenso dunklen Fässern beladen waren. Das waren Petroleumfässer, welche von hier aus in kleinen Booten nach Kin-gan oder Tschang-scha gingen, um von dort aus auf größeren Flußdschunken den Jang-tse-kiang hinabtransportiert zu werden. Dieser Petroleumgeruch war das erste Anzeichen, daß man sich dem Ziele der Reise, der Niederlassung des Onkels Daniel, genähert habe.

Der Hoei-hoei entschuldigte sich, daß er die Herrschaften nicht einladen könne, die Nacht bei ihm zu verbringen. Sein Häuschen war für so viele Gäste zu klein. Doch versicherte er ihnen, daß sie in dem hiesigen Einkehrhause sehr gut logieren würden, da es genug Raum besitze und die Familie des Wirtes eine ungemein aufmerksame und reinliche sei.

Aber das Mahl bei ihm einzunehmen, bat er, ihm ja nicht abzuschlagen. Man möge ihm nur ein kleines Stündchen Zeit gewähren, das dazu Nötige vorzubereiten. Es wurde ihm bereitwilligst zugesagt. Er brachte die Reisenden nach dem Sie-kia, worauf er sich nach seiner Wohnung begab.

Sehr erklärlich waren auch hier die Bewohner zusammengelaufen, um die Fremden anzustaunen. Es war fast unerklärlich, daß in so wenigen Augenblicken, welche man brauchte, vom Anfange bis in die Mitte des Dorfes zu kommen, sich so viele Menschen versammeln konnten. Selbst die Fischer kamen an das Ufer gerudert, um sich vor dem Ruhehause aufzustellen.

Dieses letztere war wirklich weit sauberer gehalten als diejenigen, in die man bisher eingekehrt war. Der Wirt kam aus der Thür und hieß die Gäste unter fortgesetzten tiefen Verbeugungen willkommen. Er rief einige Schi-tse Dienende Knaben = Knechte. herbei, welche die Pferde versorgen sollten, und führte dann die Ankömmlinge in ein Gemach, welches augenscheinlich nur für bessere Gäste bestimmt war. Dann entfernte er sich, um sofort den Tscha Thee. des Willkommens zu besorgen. Liang-ssi, den er kannte, begleitete ihn; jedenfalls um ihm zu sagen, was für hohe Leute er bei sich habe, und ihn aufzufordern, dieselben mit größter Hochachtung zu behandeln.

Der Mijnheer ging, anstatt sich müde zu zeigen und zu setzen, in der Stube auf und ab, reckte und streckte sich und fragte: »Hoe is het, Mijnheer Methusalem? Kann ik niet goed rijden – wie ist es, Herr Methusalem? Kann ich nicht gut reiten?«

»Allerdings,« nickte der Gefragte. »Sie haben sich schneller eingerichtet als ich dachte.«

»Ja, het rijden is zeer goed voor den lichaam. Ben ik niet dick worden – ja das Reiten ist sehr gut für den Körper. Bin ich nicht dick geworden?«

»Es scheint ganz so, als ob Ihr Umfang auf dem Pferde zugenommen habe.«

»Zeer?«

»Ganz beträchtlich!«

Da glänzte das Gesicht des Dicken vor Freude, und er meinte: »Ben ik niet ook gewassen – bin ich nicht auch gewachsen?«

»Um einige Zentimeter, wie es scheint. Die hiesige Luft scheint Ihnen außerordentlich zu bekommen.«

»Ja, de lucht is goed, is zeer weldadig. Ik ben oneindig gezond; ik word gaarne hier blijven – ja, die Luft ist gut, ist sehr wohlthätig. Ich bin unendlich gesund; ich möchte gern hier bleiben.«

»Das können Sie. Sie wollen sich ja hier in China ankaufen.«

»Aanhijeu? Ja, maar wat en waar – ankaufen? Ja, aber was und wo?«

»Kaufen Sie dem Onkel Daniel sein Etablissement ab! Sie können da sich um China verdient machen und ein Millionär, ein Oelfürst werden.«

Der Dicke blieb stehen, öffnete vor Staunen den Mund und antwortete erst nach einer Weile: »Een olivorst, eert olieprins! Seldrement! De Mijnheer van Aardappelenbosch een olieprins! Dat ist goed; dat is zekerlijk goed – ein Oelfürst, ein Oelprinz! Potztausend! Der Mijnheer van Aardappelenbosch ein Oelprinz! Das ist gut; das ist gewißlich gut!«

Er setzte in sehr energischer Weise seinen Spaziergang fort, ohne das Gespräch fortzusetzen, brummte aber zuweilen ein Wort wie »olieprins« oder »zeer goed« vor sich hin. Der Gedanke des Methusalem schien auf einen sehr empfänglichen Boden gefallen zu sein, obgleich er nur im Scherze ausgesprochen worden war.

Die beiden Brüder befanden sich noch immer darüber im unklaren, welche Pläne der Methusalem in Beziehung der Nachforschung nach ihren Verwandten verfolge. Er hatte sich ihnen seit gestern ganz und gar entzogen, um zu verhüten, daß das Gespräch auf diesen Gegenstand komme. Darum benutzte Liang-ssi die jetzt eingetretene Pause der Unterhaltung zu der Erkundigung:

»Herr, wie lange werden wir hier verweilen, um dann vollends nach Ho-tsing-ting zu gehen?«

»Bis morgen früh nur.«

»Und wie lange bleiben wir dann dort bei dem Onkel Daniel?«

»Das ist unbestimmt.«

»Aber wird es lange dauern?«

»Es ist möglich, daß sich unser dortiger Aufenthalt auf einige Wochen erstrecken wird.«

»So werden wir Sie um einen Urlaub bitten müssen.«

»Warum?«

»Damit wir während dieser Zeit nach unsrer Mutter und unsren Schwestern forschen können.«

»Ich kann Sie nicht hindern. Aber wo wollen Sie suchen und wie wollen Sie es anfangen, um eine Spur von den Verlorenen zu entdecken?«

»Wir werden nach der Provinz Kwéi-tschou, unsrer Heimat gehen, wo wir gefangen waren und von wo sie damals entflohen sind. Das ist der einzige Ort, wo wir einen Anhalt finden können.«

»Aber Sie begeben sich dabei in große Gefahr, da auch Sie von dort entwichen sind. Wenn man Sie erkennt, so wird man Sie festhalten.«

»O, es sind seit jener Zeit nun acht Jahre vergangen, und wir waren damals sehr jung. Wir haben uns indessen so sehr verändert, daß es fast unmöglich ist. Uns zu erkennen.«

»Das mag sein; aber wie wollen Sie es anfangen, dort eine Spur zu finden? Sie müssen doch forschen und fragen. Dadurch werden Sie die Aufmerksamkeit der Behörde auf sich lenken.«

»Wir werden dabei auf das vorsichtigste verfahren.«

»Das glaube ich sehr wohl; dennoch hege ich keine Hoffnung, daß Sie zum Ziele gelangen werden. Denn, glauben Sie etwa nicht, daß die Polizei damals sehr eifrig nach den Entflohenen geforscht hat?«

»Das ist sicherlich geschehen.«

»Und doch hat man Sie nicht entdeckt. Wie wollen nun Sie nach so langer Zeit eine Spur auffinden, besonders, da Sie Ihre Nachforschungen nur heimlich anstellen können und dabin die größte Sorge tragen müssen, daß Sie nicht selbst ergriffen werden?«

»Herr, wollen Sie uns denn alle Hoffnung rauben? Sie haben ja recht, das muß ich zugeben; aber suchen müssen wir doch, Oder wissen Sie eine andre Art und Weise, zum Ziele zu gelangen? Sie hatten uns versprochen, uns behilflich zu sein. Ja, Sie sind ja auch mit zu dem Zwecke, die Familie unsres Vaters aufzusuchen, in das Land gekommen. Und nun bemerken wir, daß Sie sich gar nicht mehr mit dieser für uns so wichtigen Aufgabe beschäftigen.«

»Da irren Sie sich. Ich habe mich bis heute sehr eifrig mit derselben beschäftigt und thue es auch jetzt noch.«

»Ja, nachgedacht haben Sie vielleicht. Oder darf ich annehmen, daß Sie auf einen vorteilhafteren Plan gekommen sind, als der unsrige ist?«

»Ja, mein Plan ist besser als der Ihrige. Der Weg, den ich eingeschlagen habe, führt sicher und auch ohne alle Gefahr für Sie zum Ziele.«

»Wirklich? Dann, Herr, teilen Sie uns denselben doch mit! Verharren Sie nicht länger in dem Schweigen, welches uns in Sorge versetzt hat!«

»Nun, mein Plan ist sehr einfach, und dennoch werden Sie ihn nicht verstehen, da er sich daraus gründet, daß – wir werden weiter über diese Angelegenheit sprechen. Jetzt bringt der Wirt den Thee.«

Der Genannte brachte den duftenden Tscha in kleinen, zierlichen Tassen, von denen jeder nur eine leeren durfte, da es der Willkommenstrunk war. Dann bat er die Herren, die für sie bestimmten Schlafstuben in Augenschein zu nehmen, damit er erfahren könne, ob es ihm gelingen werde, ihre Zufriedenheit zu erlangen.

Dabei verging die Zeit, welche sich der Hoei-hoei für die Vorbereitung des Mittagsmahls erbeten hatte. Er kam selbst, um seine Gäste abzuholen. Da er ihnen nicht zumuten wollte, den Weg nach seinem Häuschen, so kurz derselbe war, zu Fuße zurückzulegen, so hatte er alle im Dorfe vorhandenen Sänften in Beschlag genommen, um die Herren zu sich tragen zu lassen. Um Träger brauchte er nicht verlegen zu sein. Jeder Bewohner des Dorfes hielt es als eine Ehre für sich, den »hohen Gebietern« diesen Dienst zu erweisen.

Aber dazu kam es gar nicht, denn der Gottfried sagte, als er die Sänften erblickte: »Ich habe keine Lust, mir auf den Händen tragen zu lassen. Es jibt ja keine Reise um die Welt, sondern es jeht nur hübsch von Haus zu Haus. Ich sehe jar nicht ein, warum wir auf unsern jewöhnlichen Festeinzug verzichten sollen. Jehen wir also nicht mit die Beine andrer Leute, sondern mit unsren eigenen! Nicht?«

»Mir ist es sehr recht,« antwortete der Blaurote.

»Soll ich die Pipe anzünden?«

»Ja.«

»Schön! Dat wird mehr Eindruck machen als dat ›Laufen in die Sänfte‹, wie wir es in Hongkong von einem jewissen Jemand jesehen haben.«

»Schweigen Sie!« gebot ihm Turnerstick. »Konnte ich denn dafür, daß der Fußboden unter mir flöten ging?«

»Nein. Aber dafür konnten Sie, dat jerade Sie sich in die Weltjejend befanden, wo die Sänfte flötete. Ich habe allen Respekt vor solchen Kastens. Also jehen wir lieber, als dat wir in den Palankins jegangen werden!«

Das geschah. Der kleine Zug setzte sich vor dem Hause in der schon oft erwähnten Weise und Reihenfolge in Bewegung, was auf die draußen Versammelten einen außerordentlichen Eindruck machte. Sie hatten die Mäuler ebensoweit offen wie die Schlitzaugen und wagten kein lautes Wort zu sprechen. Schweigend und in ehrfurchtsvoller Weise folgten sie den Fremden, um, als dieselben in das Häuschen des Mohammedaners getreten waren, sich vor demselben aufzustellen.

Das kleine Gebäude enthielt ein sehr sauber sich präsentierendes Vordergemach und einen kleineren Hinterraum, welcher zugleich Frauenstube und Küche zu sein schien. Von den weiblichen Bewohnern zeigte sich keine. Dies ist überhaupt chinesische Sitte, an welcher hier um so mehr festgehalten wurde, als der Besitzer des Hauses zum Islam übergetreten war.

Trotz dieses letzteren Umstandes zeigte der Hoei-hoei von den Gebräuchen, welche den Mohammedanern für die Mahlzeiten vorgeschrieben sind, nicht die geringste Spur. Es geschah alles in chinesischer Weise. Er nahm nicht mit an dem Tische Platz, sondern blieb stehen, um seine Gäste zu bedienen.

Es gab das Mahl eines armen Mannes, welcher einmal, wenn er einen Reichen bei sich bewirtet, einen tieferen Griff in seinen Beutel machen muß. Eine große Auswahl hatte das kleine Dorf nicht bieten können, und da die Zeit zur Zubereitung warmer Gerichte zu kurz gewesen war, so waren nur kalte Speisen aufgetragen worden.

Eine lebhafte Unterhaltung würzte das frugale Mahl. Der Wirt sah, daß seine Gäste mit ihm zufrieden seien, und war darüber so entzückt, daß er sich entschloß, den Beutel vollends für sie zu leeren. Er sagte: »Gern hätte ich die hohen Herren besser bewirtet, aber es war mir nur eine sehr kurze Frist zur Vorbereitung gewährt. Doch wenn die hoch Willkommenen mein Haus heute abend abermals beehren wollen, so werden sie ein Mahl finden, welches ihrer würdiger ist.«

»Ja. wir werden kommen.« antwortete der Methusalem. »Aber ich stelle dabei eine Bedingung, welche Sie zu erfüllen haben.«

»Welche ist es?«

»Daß Sie alles aufbieten, dieses Mahl zu einem wirklichen Fest- und Freudenmahle zu machen.«

Da wurde dem guten Manne angst. Er blickte verlegen vor sich nieder und sagte dann: »Herr, Sie wissen, daß ich arm bin, und ich weiß nicht, welche Ansprüche in Ihrem Lande an ein solches Festmahl gemacht werden.«

»Unsre Ansprüche werden befriedigt werden, trotzdem Sie arm sind. Wir werden mit dem Wirte des Einkehrhauses sprechen. Er soll alles, was wir essen und trinken werden, bei sich bereiten und zu Ihnen senden. Nur unter dieser Bedingung nehmen wir Ihre Einladung an.«

Man sah dem Hoei-hoei an, daß ihm ein Stein vom Herzen fiel. Er stimmte schleunigst zu. Noch größer aber als diese gehabte Verlegenheit war diejenige, welche ihm nach dem Essen von dem Methusalem bereitet wurde, denn dieser sagte: »Wir sehen, daß wir Ihnen wirklich willkommen gewesen sind, und sagen Ihnen herzlichen Dank dafür. Bei solchen Gelegenheiten schreibt uns die Sitte unsrer Heimat eine Höflichkeit vor, welche wir auch hier befolgen möchten, wenn Sie uns das erlauben.«

»Erlauben? O Herr, Sie haben doch nur zu befehlen, und ich werde gehorchen.«

»Wirklich?«

»Ja, augenblicklich.«

»Gut, ich verlasse mich auf Ihr Wort. Es ist nämlich bei uns Vorschrift, sich nach dem Mahle bei den Frauen und Töchtern des Hauses persönlich zu bedanken. Wollen Sie darum die drei Blumen Ihrer Familie ersuchen, uns durch ihr Erscheinen zu erfreuen, damit wir ihnen sagen können, welche Dankbarkeit und Ehrerbietung wir ihnen widmen!«

Der Schreck zuckte über das Gesicht des Wirtes.

»Herr, das nicht, nur das nicht!« bat er.

»Warum nicht?«

»Es ist gegen die hiesige Sitte.«

»Doch nicht, denn der mächtige Tong-tschi von Kuang-tschéu-fu hat uns auch seine Gemahlin zugeführt.«

»So ist es gegen die Satzung meines Glaubens.«

»Sind Ihre Damen auch mit zum Islam übergetreten?«

»Nein.«

»Nun, so ist auch dieser Grund nicht stichhaltig. Sie haben sich bis jetzt als wirklich gastfreundlich erwiesen. Wollen Sie diesen Ruhm vernichten und uns damit beleidigen, daß Sie uns diese Bitte abschlagen?«

Der Mann antwortete nicht sogleich. Er kämpfte mit sich selbst. Dann sagte er unter einem tiefen Atemzuge: »Nein, mein Gebieter, beleidigen will ich Sie nicht. Lieber entschließe ich mich, gegen die Vorschriften unsres Landes zu handeln. Ich werde also die Frauen herbeibringen.«

Er entfernte sich in das hintere Gemach.

»Das hätten Sie nicht von ihm verlangen sollen,« sagte Liang-ssi im Tone sanften, bescheidenen Vorwurfs. »Es ist ganz und gar gegen die hiesigen Gewohnheiten.«

»Das weiß ich auch sehr gut,« lächelte der Methusalem.

»Und dennoch thaten Sie es?«

»Ja. Ich habe triftige Gründe dazu, denen Sie später ganz sicher Ihre Zustimmung erteilen werden.«

Diese kurze Wechselrede war in deutscher Sprache geführt und also von den andern verstanden worden.

»Was soll denn geschehen?« fragte Turnerstick. »Was hätten Sie nicht thun sollen?«

»Ich habe verlangt, die weiblichen Bewohner dieses Hauses zu sehen, damit wir uns bei ihnen bedanken können.«

»Und ist das hier eine Sünde? Will er sie bringen?«

»Ja.«

»Dat is sehr hübsch,« meinte der Gottfried. »Wir werden uns gegen sie natürlich als jewandte Kavaliere benehmen. Nicht wahr, Mijnheer?«

»Ja. Ook ik word haar mijne komplimenten maken. Ik kan dat zeer fraai en bij uitstek maken – Ja. Auch ich werde sie bekomplimentieren. Ich kann das sehr schön und ausgezeichnet machen.«

Es dauerte längere Zeit, bevor der Chinese wiederkehrte. Die Damen mußten ja ihre besten Gewänder anlegen. Endlich trat er mit ihnen ein und stellte sich an die Seite der Thür, um ihnen Platz zu geben.

Ihre Gesichter zeigten den chinesischen Schnitt und waren nach der Sitte der besseren Stände weiß und rot geschminkt. Die Augenbrauen hatten sie mit Hilfe des Pinsels und schwarzer Farbe so verlängert, daß sie über der Nasenwurzel zusammenliefen. Das Haar war durch Kämme und viele Nadeln hoch und fast in Form eines Schmetterlings gesteckt. Das Obergewand schloß eng am Halse an und fiel in weiten Falten bis auf den Boden herab. Die Hände waren tief in den Aermeln verborgen. Die Füße konnte man nicht sehen, aber verkrüppelt waren sie nicht, wie man aus dem Gange der Damen und ihrer Haltung ersehen konnte, obgleich sie nur wenige Schritte gemacht hatten.

Sie verneigten sich tief vor den Gästen, ohne aber ein Wort dazu zu sagen. Trotz der Schminke erkannte man die jugendlichen Züge der Töchter. Das Gesicht der Mutter zeigte deutliche Spuren des Grams und der Sorgen.

Die Anwesenden waren alle aufgestanden. Noch bevor Degenfeld zu Worte kam, trat Turnerstick vor, verbeugte sich möglichst chevaleresk und sagte: »Myladies und Mademoiselles, wir fühleng uns außerordangtlich beglückt über ihr Erscheinung. Wir habeng gegessing und getrunkeng und sagung hiermit – – –«

»Ik ook, ik ook,« unterbrach ihn der Mijnheer eifrig, indem auch er sich verneigte, soweit seine Körperform dies zuließ. »Ook ik heb gegeten en gedronken.«

»Schweigen Sie und stören Sie mich nicht in meinem besten Chinesisch!« fuhr der Kapitän ihn mißmutig an.

Er wollte fortfahren, doch diesmal war der Methusalem schneller als er, indem er rasch das Wort ergriff, natürlich in chinesischer Sprache: »Ich weiß, daß ich außerordentlich gegen die Sitte Ihrer Heimat verstoßen habe, als ich Sie zu sehen verlangte. Aber ich wollte Ihnen unsern Dank bringen und unsre Entschuldigung für die Sorgen, welche wir Ihnen bereitet haben. Außerdem aber gibt es noch einen zweiten Grund, welcher mich veranlaßt, persönlich mit Ihnen zu sprechen. Ich habe nämlich einen Brief an Sie abzugeben.«

Diese letzten Worte richtete er direkt an die Mutter, welche verwundert zu ihm aufschaute.

»Sie haben ein Recht, zu zweifeln,« fuhr er fort; »aber ich sage die Wahrheit. Ich habe wirklich einen Brief aus fernem Lande mitgebracht, welcher an Sie gerichtet ist.«

»Einen Brief? Von wem?« fragte sie.

»Von demjenigen, welchen Sie wohl schon längst verloren glaubten.«

Ihre Augen waren einige Zeitlang starr auf ihn gerichtet, dann stützte sie sich mit beiden Händen auf ihre Töchter und hauchte, die Wahrheit ahnend: »Von meinem – meinem Gemahl und Herrn!«

»Ja,« antwortete der Methusalem. »Sind Sie stark genug, den Inhalt dieses Briefes zu hören? Bitte, setzen Sie sich!«

Er stellte ihr seinen Stuhl hin, auf welchem Sie sofort Platz nahm. Diese Höflichkeit fand schnell zwei Nachahmer, welche zeigen wollten, daß auch sie gelernt hätten, zuvorkommend gegen Damen zu sein. Turnerstick schob seinen Stuhl der einen Tochter hin und sagte: »Bitte, Fräulein, sich auch zu setzing! Lassong Sie sich angenehme Ruhe wünscheng!«

Und der Mijnheer trug den seinigen der andern Tochter hin, indem er mit seinem süßesten Lächeln bat: »Mejuffrouw, ik bid, dat ook gij op eenen stoel zitten, op mijnen stoel. Ik geef u dezen stoel zeer gaerne. – Fräulein, ich bitte, daß auch Sie auf einem Stuhle sitzen, auf meinem Stuhle. Ich gebe Ihnen diesen Stuhl sehr gern.«

Die beiden Mädchen verstanden kein Wort von dem Gesagten, wußten aber natürlich, wie es gemeint war. Sie setzten sich zu beiden Seiten ihrer Mutter nieder, und die beiden galanten Salonherren traten höchst befriedigt zurück, wobei Turnerstick dem Dicken zuraunte: »Prächtiges Mädchen, wirklich! Hat mich Wort für Wort verstanden. Es scheint, daß man in diesem Hause ein ausgezeichnetes Chinesisch spricht.«

Degenfeld hatte seine Brieftasche hervorgezogen und aus derselben ein Couvert genommen, welches den erwähnten, von Ye-kin-li geschriebenen Brief enthielt, für den Fall, daß seine Frau gefunden wurde. Auf seinem Gesichte war der Ausdruck freudigster Genugthuung zu lesen. Da in China selbst die Frauen höherer Stände nicht schreiben und lesen können, weil sie keinen Unterricht erhalten, gab er dem Hausherrn den Brief und sagte: »Bitte, lesen Sie ihn vor!«

Der Mann besah das Couvert, welches unbeschrieben war, und fragte erwartungsvoll: »Das soll ich öffnen?«

»Ja, bitte!«

»Und es ist wirklich ein Brief darin?«

»Gewiß!«

»An diese Frau?«

»Wie ich bereits sagte!«

»Sie müssen irren, Herr.«

»Nein; ich bin meiner Sache vollständig sicher. Hier ist ein Messer. Schneiden Sie den Umschlag auf!«

Der Mann ergriff das Messer, fragte aber, ehe er der Aufforderung Folge leistete: »Und der Brief soll in Wahrheit von – von Ye-kin-li sein?«

»Ganz sicher. Ich war dabei, als er ihn in den Umschlag steckte, und habe vorher sogar den Brief lesen dürfen.«

Nun schnitt der Wirt das Couvert auf. Während der dadurch entstehenden Pause flüsterte Jin-tsian seinem Bruder zu: »Von Ye-kin-li? Das ist doch unser Vater!«

»Wohl nur ein Mann, der denselben Namen trägt.«

»Aber diese Frau kommt mir so bekannt vor! Ich muß sie schon gesehen haben!«

»Mir auch. Es ist mir ganz –«

Er wurde unterbrochen, denn der Hausherr hatte den Brief aufgeschlagen, welcher natürlich in chinesischer Schrift und Sprache verfaßt war, und einen Blick auf die ersten Zeilen geworfen. Er rief mit lauter Stimme: »O Allmacht der Vorsehung! O Güte des Himmels! O Allah, Allah! Es ist wirklich so; dieser hohe Herr hat die Wahrheit gesagt. Soll ich lesen?«

Er hatte diese Frage an die Frau gerichtet, welche sich in größter Aufregung befand. Sie zitterte am ganzen Körper; sie konnte kein lautes Ja hervorbringen; darum gab sie ihm nur durch ein Kopfnicken ihre Zustimmung zu erkennen. Er las: »An Hao-keu, vom Geschlechte der Pang, aus dem Stamme Seng-ho, dem verschwundenen Weibe meiner Seele und der Mutter meiner verlorenen Söhne und Töchter – – – von Ye-kin-li, dem aus Tschin Entflohenen.«

Das war die Ueberschrift des Briefes. Der Vorleser kam nicht weiter; vier Schreie erschollen – – von den beiden Söhnen und den zwei Töchtern. Die Mutter hätte wohl auch einen Ruf des Entzückens ausgestoßen, aber sie konnte nicht, denn sie war ohnmächtig geworden.

Der wackere Methusalem hatte nicht daran gedacht, daß man zarten Frauen solche Nachrichten nicht so unvorbereitet geben darf. Die beiden Töchter schlangen ihre Arme um die Mutter und weinten.

»Es kam zu rasch; es ist zu viel für sie. Kommt heraus mit ihr in euer Gemach,« sagte der Hoei-Hoei.

Er hob die Ohnmächtige in seinen Armen auf und trug sie hinaus. Die Mädchen folgten ihm. Die Söhne aber stürzten auf den Methusalem zu, und Liang-ssi fragte ihn in stürmischer Weise: »Herr, der Brief ist von unserm Vater?«

»Ja,« antwortete der Gefragte.

»Und dieses Weib heißt Hao-keu?«

»So ist ihr Name.«

»Dann ist sie unsre Mutter?«

»Sie ist es. Und ihre Töchter sind Méi-pao und Sim-ming, Ihre Schwestern.«

»O Himmel, o Allmacht! Unsre Mutter und unsre Schwestern! Komm, Bruder, komm hinaus zu ihnen!«

Sie eilten ihren Anverwandten nach. Die andern wußten nicht, was geschehen war. Degenfeld erklärte es ihnen mit kurzen Worten. Sein Bericht erfüllte sie mit großer Freude und tiefer Rührung, der sie in fröhlichen Worten Ausdruck gaben. Turnerstick meinte, indem er den Klemmer abnahm und sich die Augen wischte: »Welch ein Wiederfinden! Welch eine Scene! Aber von Ihnen, Methusalem, war es sehr unrecht und hinterlistig, uns zu verschweigen, was Sie wußten. Auch wir waren ganz unvorbereitet; wie leicht konnten wir da aus lauter Rührung auch in Ohnmacht fallen!«

»Wenn auch dat nicht,« sagte der Gottfried, »denn ich bin kein Freund von Ohnmacht; überhaupt von allen Wörtern, welche in die erste Silbe mit ›ohne‹ bejinnen, aberst dennoch bin ich ebenso unzufrieden mit Ihnen, oller Methusalem. Wenn Sie mir bei die Joldjeschichte zu Ihren Vertrauten machten, so konnten Sie mich auch in diese weitere Angelegenheit einen jeheimnisvollen, vielsagenden Wink jeben. Es ist janz unverantwortlich, einen erwachsenen Menschen so mich nichts, dich nichts aus die eine Empfindung in die andre zu stürzen! Wie leicht kann da ein weiches Jemüt zu Schaden kommen. Man hat doch auch ein Herz! Nicht wahr, Mijnheer?«

»Ja,« antwortete der Dicke, welcher seine schottische Mütze in der Hand hielt und sich mit derselben die Zähren der Teilnahme aus den kleinen Aeuglein wischte. »Ik heb ook een hart, een mijn hart is goed, zeer goed. Ik moet snuivm en snuiten, dat deze menschen zich gekregen hebben. Ik ben daardoor zoo zwak geworden, dat ik zitten moet – ja, ich habe auch ein Herz, und mein Herz ist gut, sehr gut. Ich muß schnauben und schneuzen, daß diese Menschen sich bekommen haben. Ich bin dadurch so schwach geworden, daß ich sitzen muß.«

Er wollte sich niederlassen, aber der Methusalem sagte: »Nicht wieder niedersetzen, Mijnheer! Unsre Gegenwart würde jetzt hier nur belästigen. Ueberlassen wir diese guten Leute vielmehr sich selbst, indem wir uns leise entfernen. Solche Scenen dürfen keine fremden Zeugen haben.«

»Schön, jehen wir!« stimmte der Gottfried bei. »Dat wird ihnen einen Beweis liefern, dat wir von diejeniger zartsinnige Noblesse sind, welche bei dergleichen Wiedersehen und sonstige Bejegnungen dat Zeichen einer juten Erziehung ist. Aberst die Pipe muß anjesteckt werden. Sie soll dat Freudenfeuer bedeuten, dat wir dem neubejründeten Glücke unsrer Nebenmenschen bringen.«

Er that es nicht anders, der Methusalem mußte das Mundstück nehmen. Dann, als der Tabak glimmte, verließen sie das Haus, um sich nach dem Einkehrhause zurückzubegeben.

Noch immer standen viele Leute draußen, welche ihnen ehrerbietig Platz machten und sie so lange begleiteten, bis die Thür sich hinter ihnen geschlossen hatte.


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