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Arndt und Wunderlich waren aus der Kreisstadt ins Forsthaus zurückgekehrt. Christian, der Knecht, empfing ein reichliches Trinkgeld, das er schmunzelnd einsteckte. Den Betrag, den der Teichbauer für seine Gefälligkeit zu bekommen hatte, lieferte der Förster am Nachmittag selber ab. Er erbot sich zu diesem Gang, weil er schon merkte, daß es ihn daheim doch nicht leiden würde. Ihn quälte die Unruhe, die fieberhafte Erwartung des neuen Abenteuers, das ihm Arndt versprochen hatte.
Ein Stelldichein mit dem Buschgespenst! Heißa, das war so etwas nach des Försters Geschmack! Er konnte an gar nichts andres mehr denken. Und da bekanntlich das Wort gilt: Wes das Herz voll ist, des gehet der Mund über, wurde es dem biedern Ehemann reichlich schwer, vor seinem Bärbchen zu schweigen.
Da man noch im Februar stand, brach die Dunkelheit verhältnismäßig zeitig herein, denn der Himmel hatte sich obendrein mit einer leichten Wolkendecke überzogen, so daß weder Mond noch Sterne zu leuchten vermochten. Das Abendbrot wurde im Forsthaus diesmal ziemlich schweigsam und hastig verzehrt. Dann griff Wunderlich nach seiner Pfeife, setzte sie in Brand und lief ungeduldig im Zimmer auf und ab.
»Was du nur hast?« wunderte sich die Försterin. »Du bist ja heut das reine Quecksilber.«
»Das verstehst du nicht. Ich habe noch einen wichtigen Gang vor.«
»Ach du lieber Herrgott! Du bist doch nicht etwa einem Wilddieb auf der Spur? Nimm dich in acht, Alter! Wenn sie dich anschießen ...«
»Unsinn!« knurrte Wunderlich. »Denke nicht an Wilddiebe. Habe Wichtigeres zu tun. Ich gehe mit dem Herrn Vetter.«
»Ach so, das hätte ich eigentlich bald ahnen können. Der Herr Vetter ist ja mit einemmal die Hauptperson bei uns geworden.«
»Ist er auch. Bärbchen, ich sage dir, wenn du wüßtest, was ich weiß!« Der Förster tat einen tiefen Seufzer, so sehr quälte ihn das Geheimnis, das er nicht loswerden konnte. »Ich sage dir: das ist ein Mann! Du wirst staunen!«
»Worüber?«
»Hm! Worüber! Das ist nun so eine Frage. Darauf darf ich nicht antworten. Aber gib dich zufrieden, Bärbchen! Du wirst schon noch alles erfahren.«
In diesem Augenblick klopfte es an die Stubentür. Arndt, der seine Abendmahlzeit oben in seinem Zimmer verzehrt hatte, kam, um Wunderlich zu dem bedeutsamen Gang abzuholen. Im Nu war Wunderlich in der dicken Joppe und stülpte den Filzhut auf. Dann griff er nach seinem Gewehr.
»Soll ich's mitnehmen?« fragte er zu Arndt hinüber.
Der nickte nur und wandte sich hierauf mit ein paar kurzen Worten an die Försterin.
»Wenn in unsrer Abwesenheit jemand nach Ihrem Mann fragen sollte, so sagen Sie, bitte, nicht, daß er mit mir gegangen ist. Er ist im Wald und kommt vermutlich erst gegen Mitternacht heim. Diese Auskunft wird genügen.«
Darauf verließen die beiden Männer das Haus. Arndt gab die Richtung an. Er hielt auf die Gegend zu, wo das Bergwerk lag. Als der Förster das merkte, wunderte er sich.
»Wollen Sie nach den Kohlengruben, Herr Vetter?« erkundigte er sich.
»Ja, das will ich. Dort ist das Treffen vereinbart. Der Wächter Laube wird mich dem Buschgespenst melden.«
Wunderlich stieß einen halblauten Pfiff aus.
»Laube? Der alte Schleicher? Weiß der Kuckuck, den habe ich schon immer im Verdacht gehabt, daß er nicht ganz in reinen Schuhen geht. Aber daß er einer der ersten Vertrauten des Buschgespenstes ist, nein, das hätte ich denn doch nicht geahnt. – Also der Laube wird Sie melden! Darf man erfahren, was weiter bevorsteht, vor allen Dingen, welche Rolle ich heut abend zu spielen habe?«
»Ich wollte Ihnen sowieso jetzt die nötigen Verhaltungsmaßregeln geben«, erklärte Arndt. »Also hören Sie! Wenn wir uns dem Gelände des Bergwerks nähern, trennen wir uns. Es ist möglich, daß ich erwartet werde, und so könnte irgendwo ein Aufpasser stehn. Nun darf aber niemand ahnen, daß ich nicht allein komme. Ich gehe grad auf das Haus zu, wo Laube wohnt. Schräg gegenüber steht ein alter Schuppen ...«
»Kenne ich«, nickte Wunderlich. »Ich weiß da oben genau Bescheid.«
»Um so besser. Dieser Schuppen ist der vereinbarte Ort, wo ich mit dem Buschgespenst zusammentreffen will. Was meinen Sie? Werden Sie sich von der Rückseite her so an den Schuppen heranschleichen können, daß niemand Sie bemerkt?«
Und ob ich das fertigbringe! Eine Kleinigkeit für einen alten Pirschgänger!«
»Ich vertraue auf Ihre Geschicklichkeit, mein lieber Wunderlich. Sollte Sie wider Erwarten doch jemand entdecken und Sie anhalten, so können Sie sich vielleicht auf einen Dienstgang herausreden.«
»Kann ich, ganz gewiß, Herr Vetter. Ich brauche nur zu sagen, ich hätte da in der Nähe Schlingen gefunden, die vermutlich irgendein Spitzbube gelegt hat, um sich einen hungrigen Feldhasen zu fangen. Mir kann doch keiner dreinreden. Das Gelände gehört dem Herrn Baron, in dessen Diensten ich stehe. Also bin ich berechtigt, ja verpflichtet, da herumzulaufen.«
»Großartig!« lobte Arndt. »Und nun weiter! Während ich drin im Schuppen mit dem Buschgespenst verhandle, halten Sie an der Rückwand des Brettergebäudes Wache! Das hat mehrfachen Wert. Erstens sind Sie so voraussichtlich Zeuge unsrer Unterhaltung. Durch die dünnen Wände hören Sie vermutlich jedes halbwegs laut gesprochene Wort. Zweitens können Sie aufpassen, ob etwa irgendein verdächtiger Kerl den Schuppen umschleicht, um mir hinterher nachzuspüren und auszuschnüffeln, wohin ich mich wende. Einen solchen Burschen müßten Sie mir auf eine harmlose und unauffällige Weise vom Leib halten. Aber Vorsicht dabei! Es darf niemand die Absicht merken. Und drittens machen Sie Ihr Gewehr schußfertig! Man kann in solchen Lagen nie wissen, wie die Sache ausgeht. Hören Sie oder sehn Sie gar, daß man einen tätlichen Angriff auf mich unternehmen will, so greifen Sie ein! Dabei brauchen Sie noch immer nicht zu verraten, daß Sie mein Verbündeter sind. Sie können ja rein zufällig hinzugekommen sein. Aber das käme nur für den äußersten Notfall in Betracht. Wenn es irgend angeht, bleiben Sie im Hintergrund! Verstanden?«
»Der alte Wunderlich ist doch nicht auf den Kopf gefallen«, schmunzelte der Förster. »Ich weiß schon, was ich zu tun habe. Es fragt sich nur noch, wie und wo wir uns wieder zusammenfinden, wenn die Unterredung beendet ist.«
»Hm. Haben Sie einen Vorschlag?«
»Nun, ich denke, Sie werden nachher den Weg nach Hohenthal einschlagen?«
»Zunächst, ja. Später will ich nach der Straße abbiegen, die zur Stadt führt. Es soll aussehn, als wollte ich noch in der Nacht in die Stadt zurückkehren.«
»Ganz recht. Genau so dachte ich mir die Geschichte auch. Und nun passen Sie auf! Wenn Sie diese Straße ein Stück verfolgen, durchqueren Sie ein kleines Bauernwäldchen. Dort werde ich Sie erwarten. Ich schleiche mich gleich querfeldein hin. Also werde ich auf alle Fälle eher dort sein als Sie. Ich passe nur erst auf, ob Sie auf Ihrem Rückzug sicher sind, dann verschwinde ich.«
Somit war alles verabredet. Ein Dickicht am Weg benützte der Detektiv, um Perücke und Bart anzulegen, die er schon bei der ersten Begegnung mit dem Unbekannten verwendet hatte. Sie näherten sich jetzt dem Gelände des Bergwerks und trennten sich, wie verabredet. Wunderlich tauchte zur Rechten des Pfades im Dunkel der Nacht unter, Arndt aber schritt gerade auf die Schachtanlagen zu.
Zu seiner Verwunderung konnte er nirgends eine menschliche Gestalt entdecken, und er hatte doch bestimmt damit gerechnet, man würde ihn hier erwarten. So ging er schließlich hinüber nach der Wohnung des Wächters Laube und klopfte dort an die Tür. Bald darauf wurde geöffnet. Laube spähte in die Dunkelheit hinaus.
»Was gibt es?« fragte er kurz und mürrisch.
Arndt griff mit der rechten Hand nach dem rechten Auge. Vorher hatte er sich so gestellt, daß er von dem schwachen Lichtschein getroffen wurde, der aus dem geöffneten Flur ins Freie drang. Laube sollte die Gebärde deutlich sehn.
»Ich werde erwartet«, sagte Arndt dabei.
»Ah, Sie sind's! Sie hatten doch schon für gestern zugesagt?«
»Hatte ich. Aber es war mir unmöglich zu kommen. Hoffentlich ist der Mann, mit dem ich verhandeln will, heute auch noch zu sprechen.«
»Will es versuchen. Sie müssen sich freilich eine Weile gedulden. Am besten ist es, Sie gehn gleich wieder nach dem Schuppen.«
»Gut, ich werde dort warten.«
Laube verschwand wieder im Haus, dessen Tür er sorgsam hinter sich verschloß, Arndt aber begab sich nach dem Strohschuppen. Unterwegs hielt er scharf die Augen offen, doch konnte er auch jetzt keinen Horcher oder Aufpasser entdecken. Im Schuppen dann machte er es sich auf dem Stroh bequem und lauschte in die Dunkelheit hinein. Einmal war es ihm, als hörte er ein kurzes Geräusch an der Rückwand des hölzernen Bauwerks. Das war vermutlich Wunderlich, der dort seinen Wachposten bezogen hatte. Arndt hütete sich, einen Verständigungsversuch zu wagen, denn er konnte nicht wissen, ob er hier etwa doch heimlich beobachtet wurde.
So verging wohl eine halbe Stunde. Dann öffnete sich die Schuppentür. Es trat jemand ein. Arndt rührte und räusperte sich, um sich bemerkbar zu machen.
»Wer ist da?« fragte der Mann, der soeben gekommen war.
»Der von vorgestern«, antwortete Arndt.
»Sie haben mich gestern vergeblich warten lassen«, kam es ziemlich ungnädig zurück.
»Leider. Es ging nicht anders. Ich hatte mir ja auch von vornherein einen Spielraum von zwei Tagen gelassen. Sonst wäre es mir nicht in den Sinn gekommen, mir die Ungnade des vielgewaltigen Buschgespenstes zuzuziehn.«
Der Unbekannte lachte kurz auf.
»So, so! Nun, ich nehme das nicht für bare Münze, sondern für Spott. Wollen uns überdies nicht bei langen Vorreden aufhalten! Ich habe gehört, daß Sie ziemlich gut über alles unterrichtet sind. Dennoch muß ich vorsichtig sein. Ich mißtraue Ihnen, und ich kann Ihnen sagen, daß Sie diesen Ort nicht lebend verlassen werden, wenn Sie mich nicht hinreichend davon überzeugen können, daß Sie nicht etwa ein Spitzel oder gar ein verkappter Detektiv sind, der es auf mich und meine Leute abgesehn hat.«
Donnerwetter dachte Arndt. Das klingt freilich anders als vorgestern. Das Buschgespenst selber ist ein wenig herzhafter als sein Beauftragter. Doch er ließ sich durch die Drohung nicht einschüchtern. Für alle Fälle hatte er einen geladnen Revolver in der Tasche, und außerdem stand ja Wunderlich mit schußfertigem Gewehr hinter dem Schuppen.
»Unter solchen Umständen«, sagte er, scheinbar verdrießlich, »tut es mir leid, mich mit Ihnen überhaupt in Verbindung gesetzt zu haben. Ich glaubte, bei Ihnen ein besseres Entgegenkommen zu finden.«
»Kann ich nicht ändern«, brummte das Buschgespenst, dessen Stimme merklich hinter einer Larve hervorklang; das hörte man am Tonfall. »Ich muß vorsichtiger sein als je. Ich habe herausgebracht, daß sich irgendein fremder Schuft hier umhertreibt, der mir auf den Fersen sitzt.«
»Ach so«, lachte Arndt mit gutgespielter Unbefangenheit. »Und nun fürchten Sie, ich könnte dieser Mann sein? Ja, mein Lieber, dann werden wir freilich nie unter einen Hut kommen. Ich hatte mir die Abwicklung unsres Geschäfts ganz anders vorgestellt. Ein Freund von mir, dessen Namen ich nicht nennen darf, ist mit einem gewissen Herrn Michalowski gut bekannt, der bisweilen in der Kreisstadt wohnt und ständig mit Ihnen in Geschäftsverbindung stehn soll. Dieser Michalowski ist es, der mich auf dem Weg über meinen Freund auf Sie aufmerksam gemacht hat, und so hatte ich gehofft ...«
»Was sagen Sie? Sie kennen Michalowski?«
»Mein Freund kennt ihn.«
»Ist ja dasselbe. Ich muß gestehn, jetzt schwinden meine Bedenken. Jetzt bin ich ernstlich geneigt, es mit Ihnen zu versuchen. Verzeihn Sie mein Mißtrauen! Sie werden zugeben, daß Leute unsres Handwerks nicht vorsichtig genug sein können. Also beginnen wir einmal mit den Verhandlungen! Für mich ist da die erste Frage: Wollen Sie liefern oder empfangen?«
»Liefern.«
»Die Ware soll also nach Böhmen hinübergebracht werden?«
»So ist es!«
»Worum handelt es sich dabei?«
»Um Arzneimittel und Farbstoffe.«
»Alle Wetter! Darauf ist der Einfuhrzoll drüben verdammt hoch!«
»Um so besser das Geschäft.«
»Was wäre dabei zu verdienen?«
»Sechstausend Mark.«
»Reiner Gewinn? Also doch! Das wäre ein Geschäft! Stimmt demnach, was mir mein – was mir der, der vorgestern mit Ihnen gesprochen hat, berichtete. Wann wollen Sie liefern?«
»Sobald es Ihnen paßt.«
»So bietet sich morgen eine sehr günstige Gelegenheit. Ich erhielt dieser Tage eine ansehnliche Lieferung von Böhmen zugesagt, die ich hier in Empfang nehme und durch meine Leute in Sicherheit bringen lasse. In der Nacht von morgen zu übermorgen, zwei Stunden nach Mitternacht, soll das geschehn.«
»Am diesseitigen Ende des Haingrunds.«
»Wo Sie kürzlich solches Pech gehabt haben, wie man sich weit und breit erzählt?«
»Ja, grad deshalb!«
»Das verstehe ich nicht.«
»Nun, die Sache ist doch sehr einfach. Die Grenzer meinen, daß wir uns nicht sogleich wieder nach dem Haingrund wagen werden. Deshalb sind wir dort verhältnismäßig sicher. Der Haingrund wird jetzt vermutlich am wenigsten scharf bewacht.«
»Sehr gut«, nickte Arndt.
»Außerdem«, fuhr der Maskierte fort, »werden die Grenzer vielleicht gar glauben, daß wir überhaupt nichts mehr unternehmen.«
»Weshalb?«
»Weil sie der Ansicht sind, das Buschgespenst, den Anführer der Schmuggler, schon gefangen zu haben. Die Angelegenheit ist Ihnen in der Stadt gewiß bereits zu Ohren gekommen. Sie ist auch den böhmischen Grenzern sicher schon gemeldet worden. Man hat einen jungen Weber aus Hohenthal namens Hauser erwischt und verhaftet ...«
»Ja, ja, es gehn da dunkle Gerüchte um, die ich allerdings für Übertreibungen hielt. Ich dachte, es handle sich um ein Mitglied Ihrer Gesellschaft.«
»O nein! Der Fall liegt ganz anders. Jener Bursche hat mit uns überhaupt nichts zu tun; er ist völlig unschuldig. Man hat ihn nur in eine Falle gelockt. Nun wird er für die Sünden des Buschgespenstes büßen müssen. Das lenkt die Aufmerksamkeit der behördlichen Spürhunde für einige Zeit von uns ab. – Doch genug davon! Wollen unsre Abmachungen zu Ende bringen! Sie sind also mit dem Haingrund einverstanden?«
»Ich habe nichts dagegen einzuwenden.«
»Und es wäre Ihnen recht, wenn wir morgen auch Ihre Sendung erledigten?«
»Gewiß«, pflichtete Arndt bei. »Nur muß ich noch dies und das wissen. Wieviel Leute bringen die andre Sendung?«
»Zehn Mann.«
»Das paßt ausgezeichnet. Meine Waren sind auch auf zehn Mann verteilt, also können Ihre Leute aus Böhmen mein Paschergut dann gleich übernehmen.«
»Wird erledigt. So reichen die zehn Mann, die ich bestelle, um die böhmische Ware für mich fortzuschaffen.«
»Das sind dann im ganzen dreißig Mann. Schön! Das wäre somit abgetan. Nun noch etwas andres! Wie steht es mit der Losung?«
»In letzter Zeit haben wir gar keine mehr ausgegeben.«
»Warum nicht? Man kann nie vorsichtig genug sein. Meine Träger werden die Ware jedenfalls nur gegen Losung aushändigen. Ich möchte keine Gefahr laufen.«
»Meinetwegen. Sagen wir also: Prag. Ich werde das Wort weitergeben.«
»An der Eiche?«
»Ja. Eine andre Möglichkeit der Verständigung steht mir bei der Kürze der Zeit nicht zur Verfügung.«
»So gehn Ihre Leute einzeln zur Eiche und kommen auch einzeln zum Haingrund?«
»Ja. Ist das nicht besser, als wenn sie sich vorher auffällig sammeln?«
»Sie haben recht. Also, morgen zwei Uhr nach Mitternacht am diesseitigen Ausgang des Haingrunds«, faßte Arndt nochmals die Vereinbarungen zusammen. »Werden Sie selber zur Stelle sein?«
»Bei der großen Wichtigkeit dieses Geschäfts – natürlich!«
»Auch ich werde selber kommen. Über die Grenze gehe ich freilich nicht mit. Deshalb möchte ich noch wissen, wie Sie mich sicherzustellen gedenken. Sie werden wohl nicht erwarten, daß ich Ihnen die Waren anvertraue, ohne einigermaßen gedeckt zu sein.«
»Hm«, machte das Buschgespenst. »Ich verstehe. Sie wollen bei der Sache gar nichts wagen. Das ist nun allerdings ein Fall, der mir noch nicht begegnet ist. Ich arbeite mit meinen Geschäftsfreunden sonst in gegenseitigem Vertrauen. Sehn Sie an! Abkaufen kann ich Ihnen die Waren nicht. Sonst trage ich allein den ganzen Verlust, wenn wir ertappt werden. Geht es aber gut, so muß ich den Gewinn mit Ihnen teilen. Das gefällt mir nicht.«
»Ich dachte ja nur an eine kleine Sicherheit«, erwiderte Arndt. »Sagen wir zweitausend Mark. Sie geben mir ein Papier darüber. Diese Summe wird dann bei der Teilung des Gewinns mit verrechnet.«
»Wie wollen Sie teilen?«
»Sie zwei und ich ein Drittel.«
»Das läßt sich hören. Sie sollen das Papier haben. Ich bringe es mit nach dem Haingrund. Am Abend darauf, etwa um zehn Uhr, erwarte ich Sie dann wieder hier zur Teilung des Gewinns.«
»Gut. So werde ich meinen Gewährsmann in Breitenau davon verständigen, daß meine Waren in der kommenden Nacht drüben eintreffen. Er kennt sich aus und weiß, wie er mir sagte, die Fühlung mit Ihren Leuten aufzunehmen. Haben Sie sonst noch eine Frage?«
»Nein.«
»So sind wir einig. Handschlag!«
Die beiden Männer reichten sich die Hände.
»Abgemacht?«
»Abgemacht!«
Das Buschgespenst entfernte sich langsamen Schritts. Arndt sah ihm durch den Türspalt nach und merkte, daß der Unheimliche noch mit Laube sprach, der draußen Wache gestanden hatte. Zum Glück war jener dabei nicht um den Bretterbau herumgegangen. Sonst wäre er vielleicht auf Wunderlich gestoßen. Als beide um die nächste Ecke verschwunden waren, verließ auch Arndt den Schuppen.
Er tat, als fände er sich in der Dunkelheit nicht sogleich zurecht, ging ein Stück nach links und dann wieder ein paar Schritte nach rechts. Dabei verfolgte er einzig den Zweck, einen Blick hinter den Schuppen zu werfen, um sich davon zu überzeugen, daß Wunderlich noch auf seinem Posten war. Schließlich hielt er auf die Straße zu und bog, als er sie erreicht hatte, in der Richtung nach der Stadt ein. Auf diese Weise berührte er den Ort Hohenthal gar nicht, sondern näherte sich, gemächlich ausschreitend, dem Wäldchen, von dem der Förster gesprochen hatte.
Sich auffällig umzusehn und zu prüfen, ob ihm etwa heimlich jemand nachschlich, wagte er nicht, weil er darauf bedacht sein mußte, sich den Anschein unbedingter Arglosigkeit zu geben. Zudem hatte er solche Vorsicht auch nicht nötig, denn er konnte darauf rechnen, daß Wunderlich Wort hielt und seinerseits über der Sicherheit des Herrn Vetter wachte.
Weiterhin ging dann alles vereinbarungsgemäß. In dem Wäldchen nahm Arndt zunächst erst einmal die Perücke und den falschen Bart ab, die er für die Unterredung mit dem Buschgespenst angelegt hatte, um sich für den Fall einer zufälligen Wiederbegegnung mit dem Pascherkönig in Hohenthal unkenntlich zu machen. Kaum war er damit fertig, so wurde er auch schon halblaut angerufen. Der Förster stieß zu ihm und meldete, der Mann in Schaftstiefeln, Joppe und Hut, der aus dem Schuppen gekommen sei, habe sich mitsamt dem Wächter Laube entfernt, ohne sich weiter um den unbekannten Geschäftsfreund zu kümmern. Das Wort Geschäftsfreund brachte Wunderlich mit einem unbeschreiblichen Schmunzeln hervor. Es bewies dem Detektiv, daß die feinen Ohren des Alten den Gang der Unterredung hinter der Bretterwand genau verfolgt hatten.
Während die beiden nun einen Feldweg einschlugen, der in einem Bogen nach Hohenthal hinabführte, redete sich Wunderlich alles, was ihn beschäftigte, vom Herzen herunter.
»Meine Hochachtung vor Ihnen, Herr Vetter, wächst beinahe von Stunde zu Stunde. Der Streich, den Sie dem Buschgespenst soeben gespielt haben, ist einzig. Ich muß gestehn, daß ich anfangs allerlei Befürchtungen hegte. Ein Stelldichein mit diesem Kerl ist doch keine ungefährliche Sache. Und mir wurde denn auch ziemlich schwül unter meinem alten Filzhut, als der Mann Sie so anknurrte und drohte, Sie würden den Schuppen nicht lebend verlassen, wenn Sie seine Bedenken nicht zerstreuen könnten. Dann aber kam alles ganz anders, dann haben Sie den Burschen so großartig auf den Leim geführt. Ich ahne, was nun kommt. Soll ich einmal raten?«
»Raten Sie, mein lieber Wunderlich! Ich bin überzeugt, Sie treffen das Richtige.«
»Nun, das ist ja auch nicht allzu schwer nach allem, was ich gehört habe. Die Pascher werden in der kommenden Nacht am Ausgang des Haingrunds zusammentreffen in der Erwartung, ein ganz besonders glänzendes Geschäft zu machen. Aber sie werden sich täuschen, denn sie werden dort auf ein handfestes Aufgebot von Grenzbeamten und Polizisten unter Ihrer Führung stoßen. Ist das richtig?«
»Genau so soll es geschehn«, nickte Arndt. »Ich muß mich morgen in aller Frühe rühren.«
»Des heißt, wieder in die Stadt fahren?«
»Ja. Abermals zur Kriminalpolizei. Ich denke, es wird mir glücken, in kurzer Frist endgültig die Aufgabe zu lösen, die ich mir gestellt habe.«
Unter solchen Gesprächen erreichten die beiden das Dorf, das sie in seiner ganzen Länge durchqueren mußten, um am andern Ende den Weg nach dem Forsthaus zu gewinnen. Unmittelbar vom Bergwerksgelände aus dorthin zu gehn, wäre für sie zu gefährlich gewesen. Ein versteckter Beobachter hätte dann mit Leichtigkeit feststellen können, wer der Unbekannte gewesen war, der dem Buschgespenst einen so lockenden Auftrag für die Schmugglerbande zugesichert hatte.
Sie schritten die Dorfstraße entlang. Die Häuser rechts und links vom Weg lagen zum größten Teil schon im Dunkel. Es war bereits spät, und die Bewohner von Hohenthal, die mit allem sparen mußten, auch mit dem Licht, pflegten in den Wintermonaten zeitig zur Ruhe zu gehn.
So kam es, daß jeder Lampenschein, der hier oder da doch noch aus einem Fenster leuchtete, die Blicke der beiden nächtlichen Wanderer auf sich lenkte.
Wunderlich musterte soeben ein kleines, windschiefes, baufälliges Gebäude, das kaum noch tauglich schien als menschliche Behausung.
»Hm«, brummte er vor sich hin: »Schulze oder seine Frau haben auch noch Licht. Könnten längst in den Federn liegen. Ich dächte, die beiden müßten jeden Pfennig berechnen, der sich sparen läßt.«
»Wer ist Schulze?« fragte Arndt.
»Der größte Hungerleider vielleicht im ganzen Ort, abgesehn von den Insassen des Armenhauses. Er bedient die Hunde Hunde nennt der Bergmann die kleinen Wagen, die unten im Bergwerk auf Schienen laufen und die Kohlen von der Abbaustelle zum Förderschacht bringen. im Kohlenschacht und kriegt dafür einen Lohn, der buchstäblich nur zu Salz, Brot und Kartoffeln langt.«
Arndt wollte etwas erwidern, aber er kam nicht dazu. Er machte nämlich im selben Augenblick eine Wahrnehmung, die ihn alles andre vergessen ließ und ihn veranlaßte, seinen Begleiter beim Arm zu fassen und hastig beiseitezuziehen.
»Schnell, Wunderlich! Kommen Sie!«
Damit drückte sich Arndt in die schützende Ausbuchtung einer Hecke am Straßenrand. Der Förster war ihm ohne Widerstreben gefolgt. Nun aber wollte er wissen, was es gäbe.
Der Detektiv deutete vorsichtig hinüber nach dem armseligen Häuschen, wo jener Schulze wohnte, von dem Wunderlich gesprochen hatte.
»Da, sehn Sie!«
Die Tür des kleinen Gebäudes hatte sich geöffnet. In ihrem Rahmen erschienen zwei Männer. Der eine, der eine brennende Lampe in der Hand hielt, um dem andern zu leuchten, war so dürftig gekleidet und sah auch sonst so ärmlich aus, daß er wohl der Bewohner des windschiefen Häuschens sein mußte. Der andre nahm sich eher wohlhabend aus. Er trug Schaftstiefel, Joppe und Hut und hatte eine schwarze Maske vorm Gesicht.
»Alle Wetter, das Buschgespenst!« flüsterte der Förster, denn er meinte, wieder den vor sich zu haben, der vorhin den Schuppen beim Bergwerk verlassen hatte.
»Das Buschgespenst!« nickte Arndt. »Oder auch nicht! Es ist nämlich nicht derselbe Mann, mit dem ich vorhin oben am Bergwerk verhandelt habe. Der hier ist schmächtiger und auch etwas kleiner. Ich habe für solche Unterschiede einen scharfen Blick und irre mich bestimmt nicht. Aber die Kleidung ist bei beiden dieselbe. So tritt das Buschgespenst auf, wenn es nicht gerade im verschneiten Wald spuken will.«
»Dann gäbe es ja zwei Buschgespenster?« fragte Wunderlich betroffen.
»Ganz recht. Zwei Männer, die natürlich Hand in Hand arbeiten, treten in der Maske des Buschgespenstes auf. Doch still jetzt! Wollen sehn, was da drüben vorgeht!«
Der mit der Lampe in der Hand verabschiedete den andern mit einer ehrfürchtigen Verbeugung. Dieser andre senkte darauf zum Gegengruß nur flüchtig den Kopf. Dann schloß sich die Tür. Das Buschgespenst schritt die Straße aufwärts, kam also nicht an Arndt und Wunderlich vorüber, die ihm aus ihrem Versteck gespannt nachblickten.
»Wir müssen feststellen, wohin sich der Maskierte wendet«, sagte der Detektiv leise. »Vorsicht! Immer am Straßenrand in Deckung bleiben! Wenn er sich zufällig umdreht, darf er uns nicht bemerken. Vorwärts jetzt, bevor er uns aus den Augen kommt!«
So schlichen sie hinter dem Unbekannten her, der ständig nach allen Seiten, nur nicht nach rückwärts Ausschau hielt. Offenbar fühlte sich das Buschgespenst trotz der späten Nachtstunde nicht ganz sicher hier im Ort und hielt sich bereit, im Fall einer überraschenden Begegnung irgendwo zwischen den Hecken und Zäunen zu verschwinden und das Weite zu suchen.
Lange währte diese Verfolgung nicht. Arndt und Wunderlich mußten plötzlich wieder haltmachen, weil der mit der Maske vor einem Haus stehnblieb, das nicht viel besser aussah als die Hütte jenes Schulze.
Das Buschgespenst schien hier genau Bescheid zu wissen. Es klopfte an ein Fenster, aus dem der matte Schein einer Petroleumlampe in die Nacht hinausleuchtete. Die Scheiben waren mit einem alten Tuch nur notdürftig verhängt. Dieses Tuch wurde auf das Klopfzeichen beiseite geschoben, und die Gestalt eines Mannes erschien in dem kleinen Lichtkreis. »Da soll doch gleich der Hase den Hund beißen!« fluchte Wunderlich auf seine Art mit gedämpfter Stimme und äugte neugierig über den Bretterzaun hinweg, hinter dem er sich mit Arndt rasch versteckt hatte. »Ist denn ganz Hohenthal eine einzige Verbrecherhöhle? Erst der Laube, dann der Schulze und nun auch noch der Zeichner Wilhelmi!«
»Still!« mahnte Arndt und machte dazu eine abwehrende Geste. Er wollte hören, was da drüben voraussichtlich gesprochen wurde.
Doch seine Erwartung wurde getäuscht. Das Fenster öffnete sich nicht. Es gab nichts zu erlauschen. Der Kopf des Mannes hinter den Scheiben zuckte wie in heftigem Schreck zurück. Das Buschgespenst aber deutete gebieterisch auf die Haustür zu seiner Linken. Das hieß wohl soviel wie: Aufmachen!
Und wirklich, der Bewohner des kleinen Hauses gehorchte. Dabei verfuhr er so hastig und verwirrt, daß er vergaß, das Tuch wieder an das Fenster zu hängen. Der Blick in die Stube blieb frei.
Nun ging die Haustür auf. Das Buschgespenst huschte in den Flur hinein. Die Tür schloß sich wieder.
Sogleich schob sich Arndt ein Stück weiter vor, an dem Bretterzaun entlang. Jetzt konnte er die Stube leidlich übersehn, in der vermutlich die Unterredung des Buschgespenstes mit dem Hausbewohner stattfinden würde. Wunderlich, der sich dicht an der Seite des Detektivs hielt, machte einen langen Hals. So warteten sie eine ganze Weile.
Aber sie warteten vergeblich. Sie überschauten eine ärmliche Stube, das heißt, nur einen Teil davon, die Mitte, wo ein Tisch stand und davor ein Stuhl. Auf dem Tisch lagen große Papierbogen, eine Reißschiene und sonstiges Zeichengerät aller Art. Menschen aber tauchten nicht auf, weder das Buschgespenst noch der Hausherr.
Schließlich ging die Haustür abermals auf. Das Buschgespenst trat ins Freie. Es wurde diesmal weniger unterwürfig verabschiedet und schritt die Dorfstraße weiter aufwärts.
Arndt und Wunderlich hatten sich beim Erscheinen des Maskierten rasch hinter den Bretterzaun geduckt. Bald aber richteten sie sich behutsam wieder auf. Der erste Blick des Detektivs galt dem Fenster. Dabei machte er eine wichtige Entdeckung.
Der Mann, den das Buschgespenst besucht hatte, stand jetzt an dem Zeichentisch und hielt etwas Weißes, offenbar einen verschlossenen Brief, in der Hand. Er drehte ihn hin und her und steckte ihn schließlich in die linke Brusttasche seines Rocks. Das sagte Arndt genug. Er glaubte zu wissen, woran er war, und wollte diese Sache noch genauer untersuchen. Vorläufig aber gab er seinem Begleiter einen kurzen Wink, mit ihm die Verfolgung des Buschgespenstes wieder aufzunehmen.
Im weitern Verlauf dieses Abenteuers gab es eine neue Überraschung, wenigstens für Wunderlich. Der brave Förster traute seinen Augen nicht, als er sah, daß das Buschgespenst plötzlich von der Straße abbog und auf das Haus zuschritt, das den Seidelmanns gehörte. Hier wendete sich der Unbekannte nach einer kleinen Pforte, die an der Rückseite des Grundstücks im Gartenzaun angebracht war.
Das Buschgespenst langte über den Zaun hinweg, schob innen einen Riegel beiseite und betrat auf diese Weise den Garten der Seidelmanns. Hier schaute es sich zum erstenmal um, und es war ein Glück, daß Arndt von Anfang an mit einer solchen Möglichkeit gerechnet und sich samt dem Förster ständig in Deckung gehalten hatte. War diese Deckung auch nicht überall vollkommen, so bot doch schon die nächtliche Dunkelheit an sich den beiden einen gewissen Schutz. Darum bemerkte das Buschgespenst die Verfolger nicht. Es riegelte hinter sich die Gartenpforte ab und wendete sich dem Seidelmannschen Haus zu.
»Jetzt bleibt mir wahrhaftig der Verstand stehn«, sagte der Förster und ließ dieser Erklärung einen gewaltigen Seufzer folgen. »Sogar bei den Seidelmanns geht dieser Schurke ein und aus! Die Seidelmanns sind mir zwar nie als besondre Tugendhelden erschienen, aber das – nein, das hätte ich ihnen nun doch nicht zugetraut. Sie verkehren mit dem Buschgespenst, mit dem Pascherkönig, mit dem größten Verbrecher weit und breit! Herr Vetter, was sagen Sie dazu?«
»Tja«, meinte Arndt, der alles bedeutend gefaßter hinnahm als Wunderlich, »dieses Buschgespenst ist bis zur Stunde wirklich der Herr und Gebieter von Hohenthal. Der Anführer der Schmuggler macht vor keiner Tür halt. Alle müssen ihm zu Willen sein, selbst die reichen, unabhängigen Seidelmanns ... Aber lassen Sie es gut sein, lieber Wunderlich! Das Buschgespenst wird auf alle Fälle bald entthront sein. Kommen Sie! Wir wollen umkehren.«
»Nicht warten, bis der mit der Maske wieder herauskommt?«
»Nein. Ich habe meine Gründe, lieber wieder ins Dorf hinabzugehn. Ich möchte nämlich so bald wie möglich ein ernstes Wort mit dem Mann reden, den Sie vorhin Wilhelmi nannten. Was für ein Mensch ist das? Sie kennen ihn offenbar.«
Die beiden schritten jetzt den Weg zurück, den sie gerade gekommen waren. Sie brauchten sich nun nicht mehr in acht zu nehmen, hielten sich mitten auf der Straße und sprachen nicht mehr im Flüsterton miteinander.
»Möchte wissen, wen ich hier in Hohenthal nicht kenne«, erklärte Wunderlich. »Der Ort ist ja nicht groß. Da bleibt einem keiner fremd, der halbwegs einige Zeit hier lebt; und der Zeichner Wilhelmi ist ein Hohenthaler Kind von Geburt.«
»So, so. Zeichner ist er?«
»Ja, Musterzeichner. Er arbeitet für die Seidelmanns.«
»Er scheint in sehr ärmlichen Verhältnissen zu leben?«
»Wer von den Seidelmanns abhängig ist, wird bestimmt nicht fett. Die lassen schon keinem einen anständigen Verdienst zukommen.«
»Ist der Mann verheiratet?«
»Ja, er hat Frau und Kinder, die schon seit Tagen schwerkrank sind. Hat obendrein auch noch seine alte Schwiegermutter zu erhalten. Sein Bruder hat in die Rote Mühle eingeheiratet, die oben am Wald liegt.«
»Dann müßte dieser Bruder, dem es doch vermutlich wirtschaftlich besser geht, den Zeichner von Rechts wegen unterstützen können.«
»Kann er nicht, Herr Vetter. Der hat selber nichts zu brechen und zu beißen. Der Baron von Wildstein hat ihn durch den Bau der neuen Dampfmühle so gründlich kaltgestellt, daß er fast nichts mehr zu tun hat. Vorher nahm sein Geschäft einen guten Aufschwung. Der Müller ist ein fleißiger Mann, ebenso wie der Zeichner. Er brachte die Mühle, die er verschuldet erbte, langsam wieder hoch. Aber das ist nun vorbei.«
»Also ein fleißiger Mann ist auch dieser Zeichner Wilhelmi. Auch ein braver Mann?«
»Gewiß! Ehrlich, rechtschaffen, anständig. Nur verbittert ist er. Das Elend hat ihn so gemacht.«
»Dann weiß ich Bescheid. Es ist ja ganz erklärlich, daß ein solcher Mann, auch wenn er an sich die Rechtlichkeit liebt, den Lockungen des Buschgespenstes leicht verfällt. Not bricht Eisen. Not bricht oft auch die besten Grundsätze der Menschen. Wie gesagt, ich werde mit diesem Wilhelmi reden. Ich werde ihn dem Pascherkönig abspenstig machen und auf diese Weise von ihm auch noch das Letzte erfahren, was ich über das Buschgespenst wissen muß, um dem gesetzwidrigen Treiben dieses Schurken ein Ende zu bereiten.«
»Hm«, brummte Wunderlich. »Eigentlich müßten Sie von zwei Schurken sprechen. Sie haben doch vorhin selber erklärt, es wären zwei Männer, die hier die Rolle des Buschgespenstes spielen.«
»Ganz recht«, lächelte Arndt. »Ich werde sie beide fangen und unschädlich machen.«
Die zwei Männer waren inzwischen wieder im unteren Teil des Ortes angelangt. Wenige Minuten später standen sie vor der Tür des kleinen Hauses, worin der Zeichner Wilhelmi wohnte. Arndt ahmte, ohne sich lange zu besinnen, das Verfahren des Buschgespenstes nach und klopfte an das erleuchtete Fenster, das jetzt wieder verhängt war. Dann schob er den Förster vor.
»Reden Sie mit dem Mann! Sie kennt er. Wir bitten um eine kurze Rücksprache in wichtiger Angelegenheit.«
So geschah es denn auch. Der Zeichner öffnete diesmal das Fenster, hörte von Wunderlich, was die beiden wollten, und ließ sie ein.
»Das ist mein Vetter Arndt«, stellte Wunderlich den Detektiv vor. »Er möchte Sie dringend Verschiedenes fragen.«
Der Zeichner musterte den Vetter mit unruhig prüfendem Blick. Es war ihm anzusehn, daß er kein ganz reines Gewissen hatte.
»Ich kann die Herren leider nicht in die Stube führen«, entschuldigte er sich, »denn sie ist Wohn-, Schlaf- und Arbeitsraum zugleich. Meine Frau und die Kinder liegen drinnen; sie sind krank. Wenn wir vielleicht in der Küche ...«
»Schon gut«, nickte Arndt freundlich. »Gehn wir in die Küche!«
Das kleine Haus, das kein Obergeschoß hatte, bestand nur aus zwei Räumen, rechts die große Stube, links die Küche, die nicht weniger geräumig war. Zwischen beiden lag der Flur.
Wunderlich setzte sich auf die Ofenbank. Er richtete sich sichtlich darauf ein, bei der bevorstehenden Unterhaltung den Zuhörer zu spielen. Wilhelmi schob dem Detektiv einen Stuhl hin und nahm ihm gegenüber am Tisch Platz.
»Darf ich fragen, was der Herr von mir wünscht?« begann er unsicher.
»Nur einige Auskünfte«, entgegnete Arndt, der sich bemühte, durch Ton und Verhalten das Mißtrauen Wilhelmis zu zerstreuen. »Ich habe gehört, daß Sie für das Haus Seidelmann & Sohn arbeiten. Verdienen Sie dort gut?«
Ein tiefer Atemzug der Erleichterung hob die Brust des Zeichners.
»Ach so«, sagte er, ohne zunächst auf die Frage Arndts zu antworten. »Jetzt verstehe ich. Sie sind vermutlich auch Verleger oder gar Fabrikant und wollen mir Arbeit anbieten, vielleicht zu günstigeren Bedingungen, als man sie bei Seidelmann hat.«
»Jedenfalls will ich Ihnen helfen«, wich Arndt aus. »Ich glaube zu wissen, daß es Ihnen zur Zeit nicht gut geht.«
»Herr«, gestand der Zeichner, »ich könnte Ihnen ein Lied singen von Not und Elend, worüber Sie sich entsetzen würden. Gestern noch stand mir das Wasser bis an die Kehle, und ich wußte mir keinen Rat. Frau und Kinder todkrank, kein warmes Zimmer, nichts zu essen, keine Arznei, kein Geld und Schulden obendrein. Es war zum Verzweifeln. In meiner höchsten Bedrängnis ging ich zu Seidelmann. Ich bat um Vorschuß. Nichts gab es. Ich bat um eine Unterstützung aus der Hilfskasse des Rentners Seidelmann. Nichts gab es. Ich wollte einige fertige Muster verkaufen. Da hieß es, ich hätte die Entwürfe einem andern gestohlen, der vor kurzem seine Blätter bei Seidelmanns eingereicht hatte; und daran war kein wahres Wort. Wenn ich an diese Stunde denke, steigt es heiß und bitter hoch in mir. So gepeinigt hat mich Seidelmann.«
Hier unterbrach Arndt den Zeichner.
»Bitte«, sagte er, »das verstehe ich nicht recht.«
»Was verstehn Sie nicht?«
»Daß Sie in so dringende Not geraten konnten. Sie haben doch noch einen Nebenverdienst, der sicher allerlei einbringt.«
»Ich einen Nebenverdienst? Wieso?«
»Ich meine, Sie besorgen doch Briefe für das Buschgespenst, und diese Botengänge werden bestimmt nicht schlecht entlohnt.«
Wunderlich auf seiner Ofenbank kratzte sich hinterm Ohr. Es wurde ihm wieder beträchtlich schwül, weil es jetzt voraussichtlich hart auf hart gehn würde. Fürs erste freilich war Wilhelmi völlig entwaffnet. Er erbleichte bis unter die Stirnhaare und starrte den Detektiv an wie einen bösen Geist.
»Briefe für das ... für das Buschgespenst ... sagen Sie?«
»Nun ja«, erklärte Arndt ruhig, ohne jeden Vorwurf im Ton, ganz sachlich. »Da in Ihrer linken Rocktasche steckt ein solcher Brief. Das weiß ich.«
Wilhelmi sprang auf. Dann stand er starr und steif.
»Herr«, stammelte er, »woher ...«
»Woher ich das weiß? Das erkläre ich Ihnen vielleicht später einmal, wenn wir gute Freunde geworden sind. Erst aber muß ich mich davon überzeugen, daß Sie ehrlich und offen gegen mich sind. Geben Sie zu, daß ich recht habe?«
Der Zeichner sank auf seinen Stuhl zurück. Die Arme glitten ihm schlaff zu beiden Seiten herab. Der Kopf hing ihm tief auf die Brust. Er war am Ende seiner Kraft.
»Das erstemal«, stöhnte er. »und schon bin ich ertappt! Nun ist alles aus, alles aus!«
Da legte ihm Arndt über den Tisch hinweg die Hand auf die Schulter.
»Beruhigen Sie sich, Herr Wilhelmi! Sie irren sich. Nichts ist aus. Ich bin als Freund zu Ihnen gekommen, nicht in der Absicht, Sie noch weiter ins Unglück zu bringen. Lassen wir erst einmal die Sache mit dem Brief! Sie sagten, Seidelmann habe alle Ihre Bitten abgelehnt und Sie gepeinigt?«
Darauf hob der Zeichner jäh den Kopf. Seine Augen leuchteten in Haß und Zorn.
»Ja, Seidelmann ist ein Scheusal, ein Teufel in Menschengestalt!«
»Sie scheinen Herrn Seidelmann nicht sonderlich zu schätzen«, sagte Arndt. Dabei zog er seine Brieftasche, entnahm ihr einen Geldschein und legte ihn vor Wilhelmi auf den Tisch. »Einstweilen ein Ersatz für den verweigerten Vorschuß! Es wird eine Weile reichen für Nahrung, Heizung, Arznei und alles, was Sie sonst dringend brauchen.«
Wilhelmi starrte überrascht erst auf den Schein und dann auf den Geber.
»Fünfzig Mark? – Herr, wie kommen Sie dazu, mir eine solche Summe anzubieten?«
»Weil ich Ihnen helfen möchte, von dem Buschgespenst loszukommen, das Sie höchstens noch tiefer ins Verderben führt.«
Der Zeichner schüttelte zweifelnd den Kopf.
»An soviel Menschenfreundlichkeit kann ich nicht glauben. Ich muß immer wieder fragen: Wie kommen Sie dazu?«
»So will ich versuchen, Ihnen eine Erklärung zu geben«, lächelte Arndt liebenswürdig. »Mein Beruf, den ich freilich etwas eigenartig auffasse und handhabe, treibt mich dazu. Ich bin Geheimpolizist.«
Die fahlen Wangen des Musterzeichners wurden noch um einen Schein bleicher.
»Ein – Polizist?« Es war dem geängstigten Mann anzusehn, daß er sich innerlich zu verzweifelter Gegenwehr rüstete. »Was wünschen Sie von mir?«
»Die Wahrheit über das Buschgespenst.«
»Ich weiß nichts von ihm.«
»Es war soeben bei Ihnen. Oder nicht?«
»Das war nicht das Buschgespenst.«
»Wer denn sonst?«
»Ein guter Freund.«
»Wohnt er hier im Ort?«
»Ja.«
»Wie heißt er?«
»Warum fragen Sie?«
»Weil ich zu ihm gehn will, um mich zu erkundigen, weshalb er mitten in einem friedlichen Ort unnötigerweise eine Larve aufsetzt, wenn er seinen Freund Wilhelmi besucht.«
Noch lag der Geldschein auf dem Tisch. Wilhelmi schob ihn empört zurück.
»Selbst ein Geheimpolizist sollte sich nicht so niedriger Mittel bedienen, sich einem armen Menschen gegenüber als Wohltäter auszugeben und einem Hungernden Geld anzubieten, nur um ihn zu überführen und ins Unglück zu stoßen.«
»Sie irren sich«, wehrte Arndt ruhig ab. »Ich bin zwar Detektiv, aber ich komme als Mensch zu Ihnen. Ich will nicht Ihr Unglück. Im Gegenteil, ich möchte Ihnen helfen, sich von dem Buschgespenst freizumachen. Das erklärte ich Ihnen ja schon einmal.«
»Wer sagt Ihnen, daß ich zum Buschgespenst gehöre?«
Abermals machte Arndt eine abwehrende Geste.
»Lassen Sie doch das sinnlose Leugnen, Herr Wilhelmi! Ich meine es gut, und Sie erschweren mir unnütz die Ausführung meiner Absichten. Sie können mich nicht täuschen. Unsereiner hat durch jahrelange Übung sozusagen einen sechsten Sinn gewonnen. Ich sehe es Ihnen an, daß Sie kein Verbrecher sind. Sie arbeiten Ihrer kranken Familie wegen sogar des Nachts, Sie sind in Not, und ich schätze, aus dieser Not heraus tun Sie gegen Bezahlung und vielleicht auch unter Zwang Botengänge für einen Menschen, den Sie unter gesunden Umständen meiden würden. Stimmt das?«
Wilhelmi machte große Augen.
»Weiß Gott«, sagte er leise, »ich habe vor der hiesigen Polizei bisher nie große Achtung empfunden. Aber wenn sie solche Männer in ihrem Dienst hat ...«
»... dann wäre es Wahnsinn, sich länger zu sträuben«, lächelte Arndt. »Sehn Sie, so ist es recht! Reden wir offen miteinander! Das Buschgespenst kommt zu Ihnen. Es will Sie zu seinem Sklaven machen.«
»So ists, ganz so!«
»Ich dachte es mir. Und nun betrachten Sie mich einmal als Ihren Freund, Herr Wilhelmi, und geben Sie mir ehrlich Bescheid auf meine Fragen! Dann kann ich Ihnen voraussichtlich auch einige Sorgen abnehmen.«
»Fragen Sie! Ich werde rückhaltlos antworten.«
Wunderlich in seinem Ofenwinkel atmete auf. Diese Wendung der Dinge gefiel ihm. Er bewunderte wieder einmal den Herrn Vetter. Der aber begann ruhig und bedachtsam sein Verhör.
»Wie sind Sie in den Dienst des Buschgespenstes gekommen?«
»In seinem Dienst stehe ich eigentlich nicht«, erklärte Wilhelmi. Ich habe schon mehrmals die Besorgung von Briefen abgelehnt. Heute endlich hat mich der Unbekannte durch Drohungen gezwungen, ihm ein Schreiben zu bestellen und gab mir dafür einen Taler.«
»Ein Schreiben, an wen?«
»An den Schmiedemeister Görner in Lichtenberg.«
»Wissen Sie, was der Brief enthält?«
»Nein. Ich habe keine Ahnung.«
»So werden wir einmal nachsehn. Bitte, zeigen Sie mir das Schreiben!«
Wilhelmi brachte zaghaft den Brief hervor. Arndt öffnete ihn; es war ein halber Bogen, worauf in mehreren Reihen viele Ziffern standen.
»Eine Geheimschrift«, sagte der Musterzeichner, der dem Detektiv über die Schulter blickte.
»Ja, aber sie ist nicht allzu geistreich erfunden. Ich habe bereits den Schlüssel dazu. Wollen einmal prüfen, was diese Ziffern besagen.«
Arndt nahm einen Bleistift und ein Stück Papier aus seiner Brieftasche, schrieb das Abc auf und setzte von A bis Z die Ziffern 25 bis 1 unter die Buchstaben, so wie er es bereits beim Entziffern der Botschaft an der Eiche getan hatte. Dann begann das Zusammenstellen der Buchstaben.
Wilhelmi trat vor Erregung von einem Bein aufs andre. Auch Wunderlich hatte sich erhoben und schaute gespannt auf jeden Bleistiftstrich Arndts.
»Da haben wir's schon!« sagte Arndt endlich. »Es ist ein Befehl.«
Er reichte Wilhelmi den Zettel, worauf unter den Ziffern und dem Abc eine lange Buchstabenreihe stand, die, in Worte abgeteilt, folgenden Sinn ergab: ›In der kommenden Nacht ein großer Streich im Haingrund. Ziehn Sie die Grenzaufseher möglichst zu sich hinüber!‹
Wilhelmi überließ das Blatt dem Förster und schaute in ernstem Sinnen vor sich hin. Wunderlich aber mußte seinem übervollen Herzen Luft machen.
»Kreuztürken«, brach er los, »das ist eine Entdeckung! Dieses Buschgespenst ist doch wirklich mit allen Hunden gehetzt! Der Kerl ist listiger als ein Fuchs!«
»Pst, pst!« lächelte der Detektiv. »Sagen Sie nicht zuviel! Wenn das ein Fuchs hörte, würde er es Ihnen sehr übelnehmen. Das Buschgespenst ist letzten Endes ein Dummkopf!«
Der Zeichner war inzwischen wieder an den Küchentisch herangetreten. Ohne sich aus seinem starren Grübeln herauszureißen, ließ er die Finger seiner Linken gedankenlos mit dem Fünfzigmarkschein spielen. Als der Förster jetzt auf die letzte schroffe Behauptung Arndts hin brummend den Mund verzog, zum Zeichen, daß er noch immer nicht geneigt sei, das Buschgespenst für dumm zu halten, hob Wilhelmi plötzlich den Kopf, tat zwei Schritte auf den Detektiv zu und legte ihm die Hand auf den Arm.
»Sie glauben mir nun?«
»Ich glaube Ihnen. Ich sehe klar in allem, was Ihre Lage und Ihr Verhalten betrifft, und ich werde alles Weitere so erledigen, daß man Ihnen wegen der einmaligen Nachgiebigkeit dem Drängen des Buschgespenstes gegenüber keine Schwierigkeiten macht.«
»Sie sind ein wahrer Menschenfreund«, nickte Wilhelmi, und es war fast, als spräche er mehr zu sich selbst als zu dem Detektiv. Offenbar wollte er jetzt das Ergebnis seines stillen Nachdenkens in Worte kleiden. »Darum muß ich auch das andre noch beichten. Ich denke, Sie werden gegen meinen Bruder ebenso menschlich verfahren wie gegen mich.«
»Gegen Ihren Bruder?« fragte Arndt. »Meinen Sie den Besitzer der Roten Mühle? Was ist mit ihm?«
»Ich war bei ihm, nachdem ich bei Seidelmann auf keine Weise etwas erreichen konnte. Helfen, so dachte ich, kann er dir zwar nicht, aber er hat auf alle Fälle ein Wort des Trostes für dich. Zu meiner Überraschung fand ich jedoch die Lage in der Mühle ganz verändert. Es ging meinem Bruder gut, und er borgte mir bereitwillig vierzig Mark.«
Hierauf erzählte der Zeichner ausführlich, was er in der Mühle gehört hatte. Er sprach von dem Rehbraten, von dem Besuch des Buschgespenstes, von dem Keller, der auf Verlangen des Paschers zugeschüttet werden sollte, und von dem überraschenden Auftrag, den Seidelmann gebracht hatte.
Wunderlich nahm inzwischen wieder auf der Ofenbank Platz und begleitete den Bericht des Zeichners mit allerlei Ausrufen des Staunens und der Teilnahme, bisweilen auch mit einem kurzen Kraftwort. Arndt hatte die Brauen zusammengezogen; im Zuhören dachte er angestrengt nach. Als Wilhelmi geendet hatte, sah er den Zeichner prüfend an.
»Ich sagte vorhin, ich sähe klar in allem, was Ihre Lage und Ihr Verhalten angeht, Herr Wilhelmi. Das gilt aber in diesem Augenblick nicht mehr. Jetzt muß ich an Sie die Frage richten: Weshalb haben Sie dem Drängen und Drohen des Buschgespenstes widerstanden, solange Sie in Not waren und jeden Taler für einen Botengang wirklich brauchten, um dann plötzlich nachzugeben, als die ärgste Not durch die Hilfe Ihres Bruders gebannt war? Das verstehe ich nicht. Das spricht nicht zu Ihren Gunsten, wie ich offen erklären muß.«
»Ich bin dabei dem Rat meines Bruders gefolgt«, gestand der Zeichner und senkte den Blick vor den forschenden Augen des Detektivs. »Mein Bruder bewies mir haarscharf, daß ein Mensch, dessen Mitarbeit das Buschgespenst einmal fordert, in Hohenthal nicht leben kann, sobald er diese Mitarbeit ablehnt. Umgekehrt erwachse aus einer Bereitwilligkeit Vorteil über Vorteil, wie sein eigner Fall in der Tat beweist.«
»Und das Gesetz? Die Behörden?«
»Die möchten, so führte mein Bruder aus, dem Buschgespenst das Handwerk legen, wenn ihnen solche Zustände nicht gefielen. Die armen, abhängigen Einwohner von Hohenthal seien außerstande, von sich aus dem Treiben und dem unerbittlichen Willen des unbekannten Verbrechers zu wehren.«
»Na«, meinte Arndt, »dieser Standpunkt ist nicht haltbar. Jeder Bürger ist verpflichtet, aus eigenem Antrieb alles zu tun, um dem Recht Geltung zu verschaffen. Immerhin beweist die Folgerung Ihres Bruders, daß die erste Voraussetzung für gesunde Zustände in Volk und Staat das Vorhandensein einer starken Staatsgewalt ist, einer Staatsgewalt, die ihren Anordnungen unbedingten Nachdruck zu verleihen weiß.«
»Soll das heißen«, fragte Wilhelmi betreten, »daß Sie das Tun und Denken meines Bruders verurteilen? Daß Sie nun vielleicht auch mich nicht mehr zu schützen bereit sind?«
»Wie weit ich jetzt noch für Sie und darüber hinaus auch für Ihren Bruder eintrete, hängt davon ab, wie Sie beide sich in Zukunft verhalten. Ich brauche Ihre und Ihres Bruders Hilfe, um das Buschgespenst zu fangen.«
»Dieser Hilfe können Sie gewiß sein. Ich darf mich da getrost auch für meinen Bruder verpflichten.«
»Soll mir lieb sein, schon um Ihretwillen. Den Beweis können Sie mir sogleich liefern. Ich möchte wegen des Kellers einige Auskünfte haben. Wissen Sie, was für eine Art Schloß die Kellertür Ihres Bruders hat?«
»Ein Kastenschloß.«
»Sie waren selber bereits in diesem Keller?«
»Oft schon.«
»Das genügt. Ihr Bruder hat den Schlüssel an das Buschgespenst abgegeben?«
»Ja. Er wird es inzwischen getan haben.«
»Schade. Ich hätte mir den Keller gern einmal angesehn.«
»Das können Sie noch immer. Der Keller kann auch mit dem Schlüssel einer Kammertür geöffnet werden. Das hat mein Bruder dem Buschgespenst absichtlich verschwiegen. Er wollte sich die Möglichkeit offenhalten, ab und zu zu prüfen, was in seinem Keller vorgeht. Verbrechern gegenüber, meinte er, sei das gerechtfertigt.«
»Ist es auch«, nickte Arndt. »Ich freue mich, daß Sie wirklich offen zu mir sind, und möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Führen Sie mich zu Ihrem Bruder!«
»Gern. Aber wann?«
»Jetzt gleich; wir haben keine Zeit zu verlieren. Morgen wird der Pascherstreich ausgeführt. Das Buschgespenst hat den Keller in irgendeiner Absicht gepachtet, die mit der Schmuggelei in Verbindung steht. Ich muß wissen, ob dieser Raum morgen eine Rolle spielt, und da ich am Tag vielleicht keine Zeit dazu finde, muß ich mich noch in der Nacht da draußen umsehn.«
»Mir recht. Der Nachtspaziergang wird mir guttun nach dem ewigen Hocken am Zeichenbrett.«
»So wollen wir aufbrechen!« sagte Arndt zu dem Förster, der sich sogleich von seinem Platz auf der Ofenbank erhob. »Und Sie«, fuhr er fort, zu dem Zeichner gewendet. »Sie nehmen endlich den Schein an sich! Er ist Ihr Eigentum! Betrachten Sie das Geld meinetwegen als eine vorausgezahlte Belohnung für Ihre Dienste beim Fang des Buschgespenstes!«
»Wenn Sie die Sache so darstellen«, seufzte Wilhelmi erleichtert, »dann greife ich freilich zu. Viel von Dank will ich dabei nicht sprechen. Ich hoffe, Ihnen meinen redlichen Willen durch die Tat beweisen zu können.«
Er kramte eine alte, arg zerschlissene Brieftasche hervor und legte das wertvolle Stück Papier sorgsam hinein.
»So«, sagte er dann, »nun stehe ich zur Verfügung. Einen Augenblick höchstens noch! Ich muß erst meine Schwiegermutter wecken; sie soll bei den Kranken wachen, während wir zu meinem Bruder gehn.«
Arndt war einverstanden.
»Tun Sie das! Aber halten Sie den Mund über alles, was hier verhandelt worden ist!«
»Auch über das viele Geld?«
»Auch darüber. Ich verstehe, daß Sie den Ihrigen gern die frohe Botschaft bringen möchten, aber ich warne Sie! Wir müssen sehr vorsichtig sein. Spricht sich das Geringste über unsre Absichten herum, so haben wir womöglich das Nachsehn. Und nun beeilen Sie sich! Es ist schon reichlich spät. Obendrein werden wir nicht unmittelbar nach der Mühle gehn, sondern vorher noch dem Bergwerksarbeiter Schulze einen Besuch abstatten. Ich hoffe, daß er noch wach ist.«
»Dem Schulze? Dem ›Hundejungen‹, wie er im Dorf genannt wird?« fragte Wilhelmi erstaunt.
»Ja, dem. Ich erkläre Ihnen die Sache nachher. Rasch jetzt!«
Wenige Minuten später verließen die drei das Haus. Unterwegs begann der Detektiv seine Erläuterung.
»Das Buschgespenst war bei Schulze, bevor es zu Ihnen kam«, belehrte er den Zeichner, der jedem Wort gespannt lauschte.
Auch Wunderlich hörte aufmerksam zu.
»Ich vermute«, fuhr der Detektiv fort, »Schulze hat einen ähnlichen Auftrag bekommen wie Sie. Darüber muß ich mir Gewißheit verschaffen.«
»Sie meinen, daß Schulze auch einen Brief für das Buschgespenst besorgen soll?« erkundigte sich Wilhelmi. »Wohin denn?«
»Das weiß ich nicht, möchte jedoch fast wetten, daß ich es annähernd errate.«
»Hoho!« rief der Förster dazwischen. »Ihre Pfiffigkeit in Ehren, Herr Vetter, aber eine solche Nuß ist nicht so leicht zu knacken!«
»Wollen einmal sehn!« lächelte der Detektiv. »Hier muß man nur nachdenken. Das Buschgespenst plant einen Streich im Haingrund. Um freie Hand zu gewinnen, schickt der Anführer der Pascher Herrn Wilhelmi nach Lichtenberg. Der Schmiedemeister Görner soll die Grenzbeamten da hinüberlocken. Lichtenberg liegt im Westen von hier. Läßt es sich da nicht vermuten, daß ein zweiter Bote, also jener Schulze, nach Osten geschickt wird, an einen Mann, der seinerseits die Aufmerksamkeit der Grenzer nach Osten ablenken soll? So zieht das Buschgespenst die Beamten auseinander, und in der Mitte, grad dort, wo die Pascher vorgehn wollen, bleibt die Luft rein.«
Inzwischen waren sie vor dem windschiefen Häuschen Schulzes angelangt. Ein Fenster war noch erleuchtet. Wunderlich, der auch hier bekannt war, drückte auf die Türklinke. Die Tür ließ sich öffnen; sie war noch unverschlossen. Ein Klingeln ertönte. Die drei Männer traten in den dunklen Flur.
Aus einem Zimmer zur Linken klang ein lauter Ruf.
»Ist jemand da?«
»Ja, ich bin's, Nachbar – der Förster Wunderlich!«
»Mitten in der Nacht? Was gibts denn?«
Eine Stubentür tat sich auf. Schulze schaute verwundert auf die Besucher.
»Ich bringe jemand, der mit Ihnen sprechen will«, erklärte Wunderlich.
»Na, da kommt herein!«
Die drei folgten der Aufforderung.
»Setzen Sie sich!« brummte Schulze nicht allzu freundlich. »Und nun schießen Sie los! Ich bin neugierig, was es heut noch mit dem Hundejungen zu besprechen gibt.«
»Sind wir ungestört?« fragte Arndt.
»Ja, ganz unter uns. Meine Frau ist schon im Bett. Sie ist vor Erschöpfung eingeschlafen. Ich bin munter geblieben, denn ich habe noch etwas zu erledigen.«
»So ist es gut«, sagte Arndt scheinbar leichthin, »daß wir kommen und Sie abhalten, etwas zu tun, was Sie in Verlegenheit bringen könnte.«
»So? Was denn?« fuhr Schulze auf. »Ich möchte es mir doch sehr verbitten ...«
»Regen Sie sich nicht auf, Schulze!« fiel Wunderlich beruhigend ein. »Dieser Herr meint es gut mit Ihnen. Er ist nur zu Ihrem Besten gekommen.«
»Wer das glaubt!« murrte Schulze. »In diesem gemeinen Nest kennt jeder nur seinen eignen Vorteil.«
»Es gibt auch Ausnahmen«, sagte Arndt ruhig. »Sie dürfen nicht allzu schlecht von den Menschen denken!«
»Ach, gehn Sie mir mit den Menschen! Das ist ein Luderzeug oben und unten. Bestien sind's, reißende Tiere!«
»Na, na, Herr Schulze!«
Aber Schulze ließ sich nicht beruhigen; er fuchtelte mit dem Arm in der Luft herum.
»Aasgeier und Giftschlangen! – Ich werd's Ihnen beweisen! Sehn Sie, ich verdiene sechs Mark, und meine Frau nicht viel über zwei, das macht acht Mark in der Woche. Sie können sich's selber ausrechnen: zuwenig zum Leben und zuviel zum Sterben! Und da ist weit und breit kein Mensch, der einem hilft; sie schauen unsereinen nur über die Achsel an und schimpfen mich ›Hundejunge‹.
»So dürfen Sie nicht sprechen!« tadelte Arndt. »Sie müssen bedenken, daß es keine Not gibt, aus der nicht Hilfe möglich wäre.«
»Das betet mir meine Frau auch immer vor – und kocht Suppe von Kartoffelschalen. Hahaha!«
»Sie werden bald etwas Kräftiges bekommen. Ich will Ihr Arzt sein und Ihnen Ihre Krankenkost vorschreiben. Was meinen Sie, Herr Wilhelmi, soll ich ihm auch eine solche Arznei geben wie Ihnen?«
Der Zeichner nickte lachend.
»Das würde ich ihm schon gönnen. Ein besseres Heilmittel hat wohl noch kein Arzt verabreicht.«
»Nun, so wollen wir sehn, ob es auch ihm Hilfe bringt!«
Mit diesen Worten nahm der Detektiv einige Geldstücke aus seiner Börse und bot sie Schulze auf der flachen Hand dar. Dieser betrachtete das Geld mit weit aufgerissenen Augen.
»Was soll das?« fragte er mißtrauisch.
»Das soll Ihr Lohn dafür sein, daß Sie sich vom Buschgespenst lossagen und mir helfen, den Verbrecher zu fangen.«
»Den fängt keiner«, knurrte Schulze. »Außerdem weiß ich überhaupt nicht, was mich das angeht. Ich glaube, Sie möchten mich aufs Eis führen. Ich habe mit dem Buschgespenst nichts zu schaffen. Wenn Sie es ertappen wollen, so müssen Sie sich anderswo kümmern. Ich kann Ihnen dabei nicht behilflich sein.«
Arndt lachte dem Mann vergnügt ins Gesicht.
»Mein Lieber, jetzt haben Sie geschwindelt.«
»Oho!«
»Doch! Geschwindelt! Das Buschgespenst war ja erst vor einer Stunde bei Ihnen. Wo haben Sie denn den Brief, den es Ihnen zur Besorgung übergeben hat?«
Schulze fuhr betroffen zurück.
»Herr, wer sind Sie? Was soll Ihr Besuch bei mir? Sie sind wohl einer von der Polizei?«
Da mischte sich der Förster ein, der ein langes Hin und Her verhindern wollte.
»Ruhe, Nachbar!« begütigte er. »Dieser Herr, ist in der Tat Geheimpolizist. Er weiß alles. Auch Wilhelmi hat ihm eingestanden, daß er für das Buschgespenst einen Botengang machen sollte. Die Polizei wird den Verbrecher fangen und uns von ihm befreien.«
»Das heißt«, fügte Arndt hinzu, »allein bringe ich das nicht fertig; ich muß mir Ihre Mithilfe erbitten. Wollen Sie?«
Der Bergmann blickte den Detektiv zögernd an.
»Aber«, sagte er dann, »wenn das Buschgespenst es nun erfährt?«
»Pah!« lachte Arndt. »Sie überschätzen diesen Menschen. Was man sich von ihm erzählt, ist entweder erfunden oder stark übertrieben. Ich begreife, daß Sie sich von ihm einschüchtern ließen, jetzt aber liegen die Dinge anders. Jetzt stehn Sie unter meinem Schutz. Wollen Sie mir nicht einmal den Brief zeigen, den Sie zur Besorgung erhalten haben?«
Schulze zog ein bedenkliches Gesicht. Er schüttelte stumm den Kopf; mit Worten mochte er sich offenbar nicht festlegen.
»Immer her damit!« rief Arndt. »Seien Sie kein Feigling! Ich gebe Ihnen mein Wort, daß Sie nicht den kleinsten Schaden haben sollen!«
So brachte Schulze schließlich den Brief, erschrak aber doch, als Arndt den Umschlag öffnete. Das Schreiben hatte den gleichen Inhalt wie der andre Brief. Das stellte Arndt mit einem kurzen Blick fest.
»Und nun werden Sie mir sagen, an wen diese Zeilen gerichtet sind,« erklärte er kurz.
»An den Sattlermeister Krüger in Weißkirch«, gestand Schulze nach einigem Zögern.
Arndt nickte, steckte den Bogen in einen neuen Umschlag und gab ihn Schulze zurück.
»Sie händigen den Brief dem Sattler Krüger aus, als wäre nichts geschehn. Es ist vermutlich nicht der erste, den Sie besorgen. Ihren Brief, Wilhelmi, mache ich nachher fertig. Wir haben noch Zeit und kommen ja wieder in Ihre Wohnung. Sie bringen ihn dann zum Schmied Görner, lassen aber ja nicht merken, daß die Verhältnisse andre geworden sind!«
»Und ich? Wie verhalte ich mich, wenn das Buschgespenst Rechenschaft von mir fordert?« fragte Schulze.
»Es wird gar nicht wieder zu Ihnen kommen. Morgen ist alles erledigt. Im Notfall tun Sie einfach, als ob Sie von nichts wüßten.«
Damit drückte Arndt dem Bergmann die Geldstücke in die Hand, entfernte sich mit kurzem Gruß und machte sich mit Wilhelmi und Wunderlich auf den Weg zur Mühle.
Als sie dort laut an die Tür des Wohnhauses pochten, öffnete Frau Pauline. Sie leuchtete die drei in tiefem Erschrecken mit der Laterne an.
»Du, Schwager? Um Gottes willen – es ist doch daheim nichts Schlimmes geschehn?«
»Keine Sorge! Es steht alles gut. Ist der Bruder zu sprechen?«
»Ja. Er ist schon in der Mühle. Wir müssen jetzt bereits vor Tau und Tag anfangen.«
»Recht so! Rufe ihn! Wir haben Wichtiges mit ihm zu reden.«
»So geht hinein in die Stube! Ich werde ihn holen.«
Der Müller kam, grüßte und betrachtete verwundert die Anwesenden. Sein Blick blieb an seinem Bruder haften.
»Gott sei Dank!« meinte er dann im Ton der Erleichterung. »Ich hatte schon Sorge um dich. Aber du machst ein so glückliches Gesicht, daß ich beinahe denke, es ist dir etwas Gutes zugestoßen.«
»Du hast recht. Da schau her!«
Wilhelmi warf seinen Fünfzigmarkschein mit der Miene eines Millionärs auf den Tisch.
»Du hast mir gestern vierzig. Mark geborgt, Bruder. Hier hast du sie wieder. Gib mir zehn heraus!«
»Fünfzig Mark?« staunte der Müller. Mensch, wie kommst du zu soviel Geld?«
»Hier steht mein Säckelmeister! Dieser Herr hier hat mir den Schein geschenkt.«
Wilhelmi gab dem Bruder eine kurze Erklärung, der eine lange freudige Aufregung folgte. Besonders die Müllerin strahlte, als sie hörte, daß es dem Buschgespenst nun an den Kragen gehn sollte. Dadurch kam ja ihr Mann von dem seltsamen, geheimnisvollen Vertrag los.
Arndt ließ sich den Keller zeigen; die Tür wurde mit dem Kammerschlüssel geöffnet.
Dieser Keller war ein langer, viereckiger Raum, den man hinter der Mühle aus dem Felsen herausgehauen hatte. Arndt sah sich einigermaßen enttäuscht; dennoch musterte er jeden Zollbreit der Örtlichkeit, leider ohne Erfolg.
»Was suchen Sie?« fragte der Müller.
»Ich hatte eine Vermutung, die sich jedoch nicht bestätigt hat; darum brauchen wir auch nicht weiter drüber zu sprechen. Gehn wir wieder!«
»Und was raten Sie mir?«
»Lassen Sie die Sache so, wie sie ist. In zwei oder drei Tagen werden wir wissen, woran wir sind.«
Das war der einzige Bescheid, den Arndt gab.
Als er mit dem Musterzeichner die Mühle wieder verließ, ahnte er nicht, welche Bedeutung dieser Keller für ihn noch erlangen sollte.