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15. In der Roten Mühle

So schritt Wilhelmi auf dem Seitenweg aus dem Dorf hinaus, der zum Haingrund führte; doch ehe man diesen erreichte, kam man an eine Mühle, die als Rohbau aus roten Ziegeln errichtet war. Daher wurde sie in der Umgegend die Rote Mühle genannt.

Sie lag am Waldrand vor einem steilen Hang und war ein altes, halb verfallenes Gebäude. Der Müller hatte hier lange Jahre als Knappe gearbeitet und dann die Tochter seines Meisters geheiratet. So war die Mühle als Erbe auf ihn gekommen, allerdings mit allen Schulden, die darauf lasteten.

Der neue Müller war fleißig und geschickt und hatte bis vor etlichen Jahren die Hoffnung hegen dürfen, sich emporarbeiten zu können. Da aber hatte der Besitzer des Kohlenschachts ›Gottes Segen‹, Baron von Wildstein, ganz in der Nähe eine riesige Dampfmühle nach amerikanischem Muster errichtet, und seit dieser Zeit stand die Rote Mühle oft wochenlang unbeschäftigt.

Wilhelmi schritt das Tal entlang und sah bald den Rauch aus dem Schornstein des alten Bauwerks steigen.

Sie können sich wenigstens eine warme Stube leisten, dachte er bei sich.

Als er dann in den Flur des Hauses trat, stieg ihm ein angenehmer, verlockender Duft in die Nase.

Braten? wunderte er sich. Und noch dazu von Wild, wie es scheint. Wie kommt der Bruder dazu? Er wird doch nicht etwa ...

Wilhelmi klopfte an, und von drinnen erscholl ein lautes ›Herein‹! Der Besucher klinkte die Tür auf und fand seinen Bruder und dessen Frau beim Essen.

Der Müller war dem Zeichner ähnlich, aber viel besser genährt als jener; seine Frau war beinahe dick zu nennen. Dennoch sah man es den Gesichtern der beiden an, daß auch sie nicht von Sorgen verschont waren.

»Du kommst grad zur rechten Zeit!« rief der Müller. »Da, setz dich und iß mit uns!«

»Das duftet ja nach Wildbraten!«

»Rehkeule ist es!«

»Wie kommst du denn zu solch einem teuren Essen?«

»Ein Geschenk.«

»Von wem?«

»Das ist mein Geheimnis.«

»Dann – möchte ich doch lieber nicht ...«

»Unsinn! Ich bin nicht unter die Wilddiebe gegangen. Setz dich nur und greif zu!«

Der Zeichner gehorchte, freilich noch ein wenig zögernd. Die Müllerin holte einen Teller nebst einem Besteck für ihn und nahm dann wieder am Tisch Platz.

Wilhelmi hatte seine Bedenken wegen der Herkunft des Bratens bald überwunden. Er griff heißhungrig zu und schnitt sich ein Stück ab. Doch als er im Begriff stand, den ersten Bissen zum Mund zu sichren, zögerte er plötzlich wieder.

»Was denn?« fragte der Müller.

»Ich kann nicht. – Meine Frau und meine Kinder!«

Er legte Messer und Gabel wieder aus der Hand und lehnte sich seufzend zurück.

Der Müller schüttelte verwundert den Kopf, die Frau aber nickte vor sich hin.

»Ich glaube, ich weiß, was ihm fehlt. Er kann nicht essen, weil Frau und Kinder zu Haus nichts zu beißen haben. Nicht wahr, Schwager?«

»Ja«, gestand der Zeichner. »Ich würde an dem Bissen ersticken.«

Sein Bruder lachte verlegen.

»Ja, ja, so bist du! Äußerlich ein harter Kerl und innerlich weich wie Gänseschmalz. Aber wenn es nur das ist, so greif getrost zu! Wir haben auch für deine Frau und deine Kinder noch genug. Wir haben ein ganzes Reh geschenkt erhalten.«

»Ein ganzes Reh? Etwa vom Förster Wunderlich? Dem sähe eine solche Guttat ähnlich, und wenn er sich darum selber ein Paar leckre Mahlzeiten versagen müßte.«

»Ich sage jetzt nicht ja und nicht nein. Erst essen wir; und dann sollst du alles erfahren.«

Wilhelmi ließ sich nun nicht länger bitten, und in kurzer Zeit hatte er sein Stück Fleisch verzehrt.

»Du schlägst ja heut eine mordsmäßige Klinge!« lachte der Müller. »Hast wohl Fastenzeit gehabt?«

»Allerdings«, seufzte der Bruder. »Mir ists die letzte Zeit elend ergangen.«

»Und da kommst du nicht früher zu uns?«

»Was sollte ich bei euch? Ich weiß doch, ihr habt selber eure Sorgen.«

Die Müllerin musterte ihren Schwager mit einem teilnahmsvollen Blick.

»Geht es wirklich so schlecht zu Haus?« fragte sie leise.

»Leider«, nickte der Zeichner. »Uns ist es nicht so wohl geworden wie euch. Ihr habt einen Braten, eine warme Stube und – wie ich am Klappern der Mühle höre – auch Arbeit.« »Gott sei Dank, Arbeit haben wir!« sagte der Müller. »Wenn es nur so bliebe!«

Die Müllerin ließ den Kopf sinken, als wollte sie eine Bemerkung unterdrücken, die sich ihr auf die Lippen drängte.

In diesem Augenblick ertönte draußen die Klingel. Der Müller mußte hinaus, um frisch aufzuschütten.

»Dir liegt eine Sorge auf dem Herzen?« forschte der Zeichner, als er mit der Müllerin allein war.

»Und schwer!« seufzte die Frau.

»Darf man erfahren, was es ist?«

»Er wird es dir wohl selber sagen. Und ich bitte dich um Gottes willen, Schwager, rate ihm ab!«

»Plant der Bruder etwas Schlimmes?«

»Ja, ja! Tu mir den Gefallen und biete alles auf, ihn davon abzubringen!«

Gleich darauf wurde das Gespräch der beiden wieder unterbrochen; der Müller kam zurück und warf einen fragenden Blick auf seine Frau.

»Na, sie hat dir wahrscheinlich schon ihre Not geklagt«, meinte er gutmütig lächelnd. »Trag ab, Pauline, und komm bald wieder! Eheleute müssen aufrichtig sein gegeneinander. Du sollst auch hören, was der Bruder dazu sagt.«

Sie räumte ab und nahm dann wieder bei den beiden Männern Platz.

»Also daheim gehts schlecht?« begann der Müller.

»Schlechter als jemals.«

»Daß ihr nichts zu beißen habt, hast du schon gesagt. Bei uns wars übrigens auch so weit.«

»Und die Frau und die Kinder liegen krank auf den Tod.«

Der Müllerin traten die Tränen in die Augen. Wilhelmi sah es, und nun war es ihm nicht mehr möglich, sich selber zu beherrschen. Er legte die Arme auf den Tisch, bettete den Kopf darauf und weinte still in sich hinein.

Der Müller wollte ein tröstendes Wort sprechen, aber seine Frau winkte ihm ab. Sie hatte recht. Wenn man, sich einmal ausweint, wird das Herz leicht.

So ließen sie den Zeichner gewähren, bis er den Kopf von selber wieder hob und sich die Tränen trocknete.

»Ihr dürft euch nicht wundern, daß es hier einmal losbricht«, sagte er, als müßte er sich entschuldigen. »Daheim darf ich mir doch nichts merken lassen.«

»Recht so, Schwager«, nickte die Müllerin. »Schütte uns nur getrost dein Herz aus!«

So redete sich Wilhelmi denn seinen ganzen Jammer von der Seele. Zum Schluß erzählte er auch ausführlich, wie es ihm bei Martin Seidelmann ergangen war.

Da schlug der Müller plötzlich mit der Faust auf den Tisch.

»Das ist schlecht, grundschlecht! Das hätte ich ihm nicht zugetraut – denn zu uns ist er freundlich gewesen.«

»Zu euch? Inwiefern?«

»Er hat uns Arbeit geschickt. Wir mahlen für ihn; darum geht heut unsre Mühle nach langer Zeit einmal wieder.«

»Für Seidelmann?« staunte der Zeichner. »Wozu braucht er denn soviel Mehl, und woher nimmt er die Körner? Seine Familie ist doch nicht so groß, daß er wegen des Brotmehls zum Müller gehn muß.«

»Es ist Berechnung dabei. Er hat Getreide von jenseits der Grenze erhalten; ich mahle es, und er verkauft das Mehl im großen. Er sagt, er käme dabei gut auf seine Kosten.«

»Wo liegt denn das Getreide?«

»Oben in der Dampfmühle. Die können es aber allein nicht schaffen, weil die Sache eilt, und deshalb soll ich helfen. So habe ich denn für längere Zeit zu tun, und er hat mir, um das Geschäft festzumachen, gleich hundert Mark Vorschuß gegeben.«

»Hundert ...? Unglaublich! Das sieht ihm doch gar nicht ähnlich!«

Die Müllerin warf ihrem Mann einen verstohlenen Blick zu, winkte mit den Augen zum Schwager hinüber und machte dann so, daß der Zeichner es nicht merkte, mit den Fingern die Gebärde des Geldzählens.

»Du siehst also«, fuhr der Müller daraufhin fort, »daß wir für die nächste Zeit keine Sorgen haben. Hm – vierzig Mark könnte ich schließlich entbehren. Wenn du sie brauchst, kannst du sie haben.«

Wilhelmi sprang vom Stuhl auf und starrte den Bruder und die Schwägerin an wie ein Träumender.

»Herr des Himmels – vierzig Mark! – Das kann – das kann doch nicht Wirklichkeit sein!«

Es hatte fast den Anschein, als wäre der Auftritt dem Müller peinlich.

»Nun?« fragte er. »Willst du?«

»Und ob ich will! Oh, das werde ich euch nie vergessen! Jetzt wird mir leichter ums Herz! Nun können wir essen und heizen und auch Arznei kaufen! – Ich bin wie neugeboren. Es ist mir, als wäre mir ein rettender Engel erschienen.«

»Na, na«, lächelte die Müllerin. »Wir sind auch nur Menschen, und überdies ists ja unsre Pflicht zu helfen, wenn es möglich ist.«

»O du gutes Herz! – Aber nun laßt mich fort! Daheim sind sie im Elend! – Ich darf sie keine Sekunde länger in Sorgen lassen!«

Der Zeichner wollte sich schon nach der Tür wenden, obwohl er ja die vierzig Mark noch gar nicht erhalten hatte; der Müller jedoch wehrte ab und deutete auf den Stuhl, von dem der Bruder aufgestanden war.

»Noch ein Weilchen!« bat er. »So schlimm es bei dir zu Haus auch aussehn mag, ein paar Minuten werden sie es schon noch aushalten. Ich muß dir etwas erzählen und dich dann um deinen Rat fragen, denn ich möchte gern wissen, was du zu der Sache meinst.«

Der Zeichner setzte sich wieder, und der Müller kratzte sich verlegen hinterm linken Ohr.

»Na, Pauline«, wendete er sich schließlich an seine Frau, »wie soll ich nun anfangen? 's ist doch eine sehr bedenkliche Geschichte!«

»Ja«, nickte sie, »eine sehr bedenkliche Geschichte!«

»Worum handelt es sich denn?« fragte Wilhelmi.

»Hm! Um ein Geschäft.«

»Mit wem?«

»Mit – hm! – na, heraus damit: mit dem Buschgespenst!«

Der Müller sah seinem Bruder erwartungsvoll ins Gesicht. Er meinte, sein Geständnis müsse auf den Zeichner wirken wie der bekannte Blitz aus heiterm Himmel. Aber er sah sich in dieser Erwartung getäuscht. Wilhelmi erschrak nicht, er schnellte nicht vom Stuhl auf, es kam auch kein Wort der Überraschung über seine Lippen. Nur ein kurzes Aufblitzen in seinen Augen verriet, daß die ungeheuerliche Mitteilung überhaupt Eindruck auf ihn gemacht hatte.

»So, so«, sagte er dann erstaunlich ruhig. »Hat dir der Anführer der Pascher einen Boten geschickt?«

»Nein; er ist selber zu mir gekommen.«

»Wann?«

»Am Sonntag.«

»Erzähl mir das, bitte, ausführlich!«

»Nun, du weißt, daß meine Frau und die Försterin gut bekannt sind miteinander. Am Sonntagabend ging Pauline ins Forsthaus, und ich blieb bis kurz vor Mitternacht allein. Da klopfte es plötzlich draußen an den Fensterladen. Ich dachte, es wäre Pauline, und wunderte mich darüber: denn sie hatte meines Wissens einen Hausschlüssel mitgenommen. Als ich aber dann die Haustür öffnete, stand zu meiner Überraschung ein Mann vor mir. Es war das Buschgespenst.«

»Hast du das sogleich erkannt? Wie sah es denn aus?«

»Zuerst konnte ich allerdings nichts unterscheiden, denn der Fremde schob sich ohne weiteres an mir vorbei ins Haus, und ich hatte kein Licht im Flur. ›Sie sind allein?‹ fragte er mich. ›Ich weiß, Ihre Frau ist beim Förster, und ich benutze diese Gelegenheit, mit Ihnen zu reden. Lassen Sie mich hinein in die Stube!‹ Er ging voran, und ich folgte ihm. Da stand er denn vor mir, grad so, wie er immer beschrieben wird: die Hosen in den Schaftstiefeln; kurze Joppe und Hut; vor dem Gesicht eine schwarze Maske. Seine Stimme klang hohl unter der Larve hervor.«

»So, so!« machte Wilhelmi wieder, noch immer so unbegreiflich ruhig. »Was wollte er denn von dir? Fast ahne ich es schon.«

»Nein, das kannst du nicht ahnen. Er verlangte etwas ganz Sonderbares von mir: den hinteren Keller!«

»Und du bist auf den Vorschlag, eingegangen?«

»Es war kein Vorschlag, sondern eine Forderung. Denkst du etwa, daß er mich groß gefragt oder gebeten hat?«

»Nun, fragen mußte er dich doch.«

»Ist ihm nicht eingefallen. Er hat verlangt, daß ich ihm den Keller abtrete, und hat mir dafür zweihundert Mark Pacht jährlich geboten. Er hat mir auch sogleich die Hälfte der Pachtsumme ausgezahlt.«

»Aha! Dann ist also das Geld, das du mir borgen willst, vom Buschgespenst?«

»Nein. Du kannst es ruhig nehmen. Es ist von Seidelmann. Die hundert Mark vom Buschgespenst liegen noch unangerührt.«

»Aber weißt du denn auch, in welche Gefahr du dich begibst? Er wird deinen Keller als Niederlage für Pascherwaren benutzen wollen. Das ist doch klar.«

»O nein! Durchaus nicht! Und das ist mir eben das Unbegreifliche: er zahlt mir jährlich zweihundert Mark dafür, daß er meinen Keller – zuschütten darf! Später, wenn unser Übereinkommen abgelaufen ist, kann ich ihn mir wieder ausgraben lassen.«

»Das begreife ich allerdings nicht«, gestand der Zeichner. »Vielleicht täuscht er dich?«

»Nein«, versicherte ihm der Bruder. »Er schüttet den Keller tatsächlich zu. Ich muß ihn bis heut abend geräumt haben und dann den Schlüssel steckenlassen. In vierzehn Tagen, so erklärte mir der unheimliche Besucher, kann ich mich davon überzeugen, daß der Keller wirklich zugeschüttet ist, und dann soll ich den Schlüssel wieder an mich nehmen. Du siehst also, daß Gefahr überhaupt nicht besteht.«

Der Musterzeichner schüttelte langsam den Kopf.

»Das wird sich erst zeigen müssen, meinte er nachdenklich. »Aber ich sehe ein, daß du dich vielleicht nicht weigern konntest. Das Buschgespenst pflegt seine Forderungen durch harte Drohungen zu unterstreichen. Und wehe dem, der dem geheimnisvollen Scheusal zu trotzen wagt!«

»Das ist es ja!« rief der Müller. »Das Buschgespenst drohte mir mit dem Tod, wenn ich mich weigern sollte, den Keller herzugeben; andernfalls aber würde ich bald merken, daß es sich mir nur zum Besten wende. Ich schlug also ein, nachdem er mir versprochen hatte, die Sache so einzurichten. daß ich auf keinen Fall irgendwelche Ungelegenheiten davon hätte. Und nun kommt das Erstaunlichste an dem ganzen Erlebnis. Bereits am nächsten Tag erschien Seidelmann in der Mühle und brachte mir Arbeit. Ist das nicht wie ein Märchen?«

»Hm«, brummte der Zeichner. »Ich glaube nicht an Märchen. Die passen besser für Kinder als für unsereinen. Du sagst, Seidelmann sei zu dir gekommen, und zwar der Vater?«

»Der Vater. Ich habe dir ja schon ausführlich erzählt, daß er das Getreide so schnell gemahlen haben will, um das Mehl günstig verkaufen zu können, und so fort.«

»Und du denkst wirklich, daß Dieser Auftrag irgendwie mit dem Buschgespenst zusammenhängt?«

»Das ist doch gar keine Frage. In der Nacht erhalte ich das Versprechen, es würde mir wirtschaftlich besser gehn, wenn ich den Keller hergebe, und am andern Tag schon kommt dieser prächtige Auftrag. Das ist doch kein zufälliges Zusammentreffen.«

»Hm! Und wie erklärst du dir den Zusammenhang?«

»Darüber habe ich mir reichlich den Kopf zerbrochen, und dann kam mir mit einemmal die Erleuchtung. Wenn man die Sache recht besieht, ist sie eigentlich gar nicht so rätselhaft. Das Buschgespenst übt einen unerhörten Druck aus auf alle Menschen in Hohenthal und Umgebung. Es ist eine Art ungekrönter König hier im Gebirge. Die armen Leute sind ihm hörig als Pascher, als Hehler, als Boten oder sonstwie, soweit das Buschgespenst sie eben braucht. Die andern läßt es in Frieden. Die es aber braucht, müssen ihm unbedingt zu Willen sein, sonst geht es ihnen so schlecht, daß sie gleich einen Strick nehmen und sich aufhängen können. Wohlgemerkt: die armen Leute! So dachte ich immer. Mein Fall aber hat mich eines andern belehrt. Daß Seidelmann so umgehend zu mir kam und mir den Auftrag brachte, muß bestimmt unter dem Druck des Buschgespenstes geschehn sein. Auch die Seidelmanns, die Reichsten im Ort und weit darüber hinaus, abgesehn vom Baron von Wildstein, auch diese Seidelmanns sind offenbar gezwungen, sich dem Willen des geheimnisvollen Buschgespenstes zu beugen. Wer weiß, welche Druckmittel der Pascherkönig selbst gegen den unabhängigen Unternehmer in der Hand hat. Wenn man das richtig durchdenkt, wird einem angst und bange. Und von diesem Gesichtspunkt aus gesehn, kann man es einem armen Teufel wie mir, dem Besitzer der Roten Mühle, nicht verdenken, wenn er sich dem Drängen des Buschgespenstes nicht widersetzt hat.«

Der Müller schwieg und schaute erwartungsvoll auf seinen Bruder. Auch die Frau, die ängstlich der Unterhaltung gefolgt war, horchte nun nach dem Zeichner und seiner Entgegnung hinüber. Der aber starrte vor sich hin und tat den Mund nicht auf. Da rief ihn der andre an, als müßte er ihn aus einem Traum wecken.

»Du, so sag doch ein Wort! Was meinst du zu der Sache?«

Wilhelmi richtete sich auf.

»Was ich dazu meine? Ach so! Nun ja, du magst ja recht haben. Oder auch nicht. Die Hauptsache ist für dich, daß es dir besser geht. Erzähl nur weiter!«

»Da ist nicht mehr viel zu erzählen«, brummte der Müller. »Höchstens noch das von dem Reh. Ich fand es gestern abend vor der Haustür mit einem Zettel, darauf stand: ›Geschenk vom Buschgespenst‹. – Dumm war es übrigens«, fügte der Sprecher mit einem verlegenen Lächeln hinzu, »daß Pauline dazukam, als ich mit dem Buschgespenst verhandelte. Sie war leise in die Küche gehuscht und hörte von drüben alles mit an. Erst als das Buschgespenst fort war, kam sie hervor. Sie ist nun voller Angst. Aber ich meine, da haben Frauen nichts dreinzureden. So etwas ist Männersache.«

»O doch!« widersprach Frau Pauline. »Das Buschgespenst handelt gegen das Gesetz. Dieser Mensch ist nicht nur ein Pascher, sondern auch ein Mörder, und wer mit ihm ein Abkommen eingeht, der macht sich mit strafbar.«

»Aber, Frau! Nimm doch Vernunft an! Du magst ja ganz recht haben, nur mußt du bedenken, welche Drohungen das Buschgespenst gegen mich ausgestoßen hat! Wäre ich auf seinen Vorschlag nicht eingegangen, so hätte ich mir diesen Mann zum Feind gemacht, und das hätte mich das Leben kosten können. Das Buschgespenst scheut sich nicht, einen Widersacher kaltzumachen.«

Die Frau seufzte und schwieg. Dafür aber begann der Zeichner plötzlich unaufgefordert zu sprechen.

»Ja, das traue ich ihm allerdings zu«, stimmte er dem Bruder bei. »Das Buschgespenst ist rücksichtslos und grausam; das habe ich an mir erfahren.«

Der Müller warf einen erstaunten Blick auf den Sprecher.

»Du an dir?« fragte er. »Hast du denn Beziehungen zu ihm?«

Der Zeichner nickte vor sich hin und zog die Mundwinkel herab.

»So halb und halb! Leider! Dieser Schurke verlangt, ich soll ihm Botendienste leisten. Bis jetzt ists ihm ja noch nicht gelungen, mich so weit zu bringen, obgleich er sich alle Mühe gegeben hat.«

»So hat er mit dir gesprochen?«

»Ja. Er hat mich mehrmals abgefangen, wenn ich mal zwischen Arbeit und Arbeit abends eine halbe Stunde an die Luft ging. Dieser Mensch ist zugleich frech und schlau und versteht es, günstige Gelegenheiten auszunützen. Er weiß, daß ich in Not bin, und Not bricht bekanntlich Eisen. Damit rechnet er. Wenn man im Elend steckt, wenn man Frau und Kinder hungern und hinsiechen sieht, greift man zu, sobald sich Hilfe bietet, und ist leicht geneigt, die Stimme des Gewissens zu überhören, auf die man doch sonst als rechtlicher Mensch achtet. Ihr könnt euch vorstellen, wie schwer es mir geworden ist, das Angebot des Versuchers dreimal auszuschlagen. Er versprach mir jeweils einen blanken Taler nur für die Besorgung eines Briefs in der nächsten Umgebung. Aber ich bin fest geblieben.«

»Wohl dir!« nickte die Müllerin. »Ein gutes Gewissen ist ...«

Doch sie kam nicht weiter. Ihr Mann brachte sie mit einer ärgerlichen Geste zum Schweigen.

»Rede nicht, Frau! Ich bin gewiß kein Lump und habe allezeit auf eine weiße Weste gehalten. Aber leben muß der Mensch, und zumal ein Familienvater hat Pflichten gegen die Seinen. Du siehst ja, was dem Bruder seine Standhaftigkeit eingebracht hat. Das helle Elend! Wer weiß, wie das Buschgespenst gegen ihn gewühlt hat, vor allem bei Seidelmann. Und das wird so weitergehn, wenn er bei der Weigerung bleibt. Ich dächte, ich hätte euch vorhin die Sache klargelegt. Rechtlichkeit hin, Rechtlichkeit her – ich bin zu der Erkenntnis gekommen, daß man sich dem Buschgespenst nicht versagen darf, wenn es winkt. Anders kann man hier in Hohenthal und Umgegend nicht durchkommen. Wenn den Behörden diese Zustände unerträglich scheinen, so mögen sie für Abhilfe sorgen und dem Pascherkönig das Handwerk legen. Aber das bringen sie ja nicht fertig. Sie sind unfähig, uns gegen den rücksichtslosen Mann zu schützen. Also müssen wir sehn, wo wir bleiben. Wenn du klug bist, Bruder, handelst du in Zukunft danach!«

Die Frau sagte nichts mehr, und der Zeichner war sehr nachdenklich geworden.

»Ja, ja«, murmelte er vor sich hin. »Ich werde mir die Sache überlegen.« Dann stand er plötzlich auf. »Und nun muß ich gehn. Die Meinen warten mit Schmerzen auf mich.«

»So will ich dir das Geld holen«, sagte der Müller.

Er ging und brachte nach kurzer Zeit die versprochnen vierzig Mark. Die Augen des Musterzeichners glänzten vor Rührung und Freude, als er sie einsteckte.

»Bruder, das ist Hilfe in der höchsten Not!« sagte er. »Jetzt können wir essen! Und die Meinen können gesund werden.«

»Vielleicht langt es auch noch weiter.«

»Ich werde äußerst sparsam sein und vor allem diese Nacht im geheizten Zimmer einige neue Muster entwerfen, die bestimmt etwas taugen.«


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