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9. Es ist nichts so fein gesponnen ...

Erst nachdem die Schritte Angelikas in ihrem Kämmerchen verklungen waren, hatte es Fritz Seidelmann gewagt sein Versteck zu verlassen und sich hinauszuschleichen.

Schadenfreude und Rachsucht verzerrten sein Gesicht zur Fratze. Er war sehr zufrieden mit sich und seinem Einfall, dem verliebten Pärchen nachzuspüren. Nun hatte er allerlei Waffen gegen die beiden gewonnen, und sie sollten es büßen, daß sie ihm an diesem denkwürdigen Fastnachtsabend so übel mitgespielt hatten.

Sie sollten auch noch mehr büßen, wenigstens der junge Hauser. Nur über das Wie war sich Seidelmann einstweilen noch nicht klar. Die Gedanken bildeten in seinem Kopf fürs erste noch ein wirres Durcheinander.

In dieser Verfassung wollte Seidelmann soeben aus dem Schatten des Hauses hervortreten, als er ein Geflüster vernahm. Er fürchtete, auf seinen Feind zu stoßen, dessen Faust er, wenn es darauf ankam, bestimmt nicht gewachsen war, und duckte sich rasch. Dann kroch er vorsichtig dem Stimmenklang nach und bemerke nun Arndt im Gespräch mit Hauser.

Der Detektiv war dem jungen Seidelmann ein Fremder, und doch dämmerte bei seinem Anblick sogleich eine Ahnung in dem heimlichen Lauscher. War das nicht jener Tölpel, der ihm im Flur der Schenke so ungeschickt in die Quere gelaufen war und ihn grad zur Unzeit aufgehalten hatte? Seidelmann hatte den Fremden in jenem Augenblick nur ganz flüchtig gesehn. Dennoch glaubte er sich der Gestalt und der ganzen äußern Erscheinung, die er jetzt vor dem hellen Hintergrund der Schneelandschaft leidlich erkennen konnte, genau zu erinnern.

Jener Zusammenstoß im Wirtshausflur erschien Seidelmann plötzlich in einem ganz andern Licht. Sollte nicht Ungeschick, sondern wohlberechnete Absicht den Mann da in seinen Weg geführt haben? Hatte dieser Mensch etwa dem jungen Hauser den Rückzug gedeckt?

Was hatten denn die beiden hier in Nacht und Einsamkeit miteinander zu verhandeln? Seidelmann kam nach und nach auf die richtige Spur. Sollte dieser Unbekannte vielleicht gar der Fremde sein, von dem der Hungerleider Hauser vorhin dem hochmütigen Frauenzimmer vorgeschwärmt hatte? Fritz Seidelmann krallte wütend die Fingernägel in die Handflächen und beschloß, den Mann nicht aus den Augen zu lassen.

So verharrte er denn in seiner gebückten Haltung, bis der Fremde sich entfernte.

Jetzt erst wagte Fritz Seidelmann, sich aufzurichten und dem Mann nachzuschleichen. Der Unbekannte schlug die Straße nach Osten ein und folgte ihr eine Strecke weit bis dahin, wo der Weg sich teilte und gradaus zum Nachbardorf, rechts zum Forsthaus führte. Hier war der Fremde plötzlich verschwunden.

Wohin?

Seidelmann blieb stehn und lauschte. Doch vergeblich. Der Erdboden schien den Verdächtigen verschlungen zu haben. Dieser Vorgang war wie ein Wunder, erklärte sich aber ziemlich einfach. Franz Arndt war ein Gegner, dem sein Verfolger nicht gewachsen war. Er besaß ein außerordentlich scharfes Gehör. Kurz nachdem er Eduard verlassen hatte, war es ihm gewesen, als schlürften leise Schritte in einiger Entfernung hinter ihm über den hartgefrorenen Schnee. Und er war ein Mann der schnellen Überlegung; blieb er jetzt stehn, um zu lauschen, so verriet er seinen Verdacht – also schritt er langsam weiter. Nach einiger Zeit schnaubte er sich die Nase und ließ dabei wie versehentlich das Taschentuch fallen. Bei dieser Gelegenheit blickte er sich unauffällig um.

Da bemerkte er einen Mann hinter sich. Arndt dachte sogleich an Seidelmann, mit dessen Anwesenheit er ja rechnete. Er ging noch eine Streck weiter, stolperte über seinen Stock und schaute sich abermals um. Der Mann war noch immer hinter ihm, jetzt aber ein wenig näher.

Das war kein Zufall, das mußte er untersuchen. Es handelte sich bestimmt um einen Verfolger.

Arndt wartete, bis er an eine Stelle kam, wo dichtes Gebüsch zur Rechten sein Vorhaben begünstigte. Das war bei der obenerwähnten Wegteilung. Hier huschte er gedankenschnell nach rechts hinter die schützenden Sträucher, zog das Laken hervor, das er jederzeit zusammengefaltet bei sich trug, und warf es über. Dann streckte er sich lang in den verschneiten Graben, der dicht hinter dem Gebüsch verlief. So war er von der weißen Fläche nicht zu unterscheiden.

Jetzt blieb der Verfolger stehn und lauschte in die Nacht hinein. Er schien nicht zu wissen, woran er war.

Und in der Tat: Fritz Seidelmann war fürs erste ratlos. Als er keine Schritte mehr hörte und auch niemand mehr sah, nahm er schließlich an, der Fremde sei rascher ausgeschritten. Daher setzte er sich nach kurzem Zögern in Trab und hielt dabei den Blick suchend in die Ferne gerichtet.

Aber er kam nicht weit. Wie erwähnt, teilte sich der Weg gleich hinter den Büschen, und nun war wieder guter Rat teuer für Seidelmann. Spuren waren hier, wo doch tagsüber vielfach Menschen gingen, auch im Schnee nicht zu unterscheiden. Wohin hatte sich nun der Fremde gewandt? Lief er ins Nachbardorf, oder wollte er sich einstweilen im Wald verstecken?

Seidelmann kam zu keinem Entschluß, und so tat er schließlich, was ihm in dieser Lage allein übrigblieb. Er trat den Rückweg nach Hohenthal an. Dabei fiel es ihm nicht ein, etwa das Gebüsch, hinter dem Arndt im Graben lag, von dem weißen Bettuch völlig verdeckt, einer genaueren Betrachtung zu unterziehn. Verdrossen trottete er feldein, ohne sich auch nur einmal umzuschauen.

Hinter ihm erhob sich vorsichtig Franz Arndt. Er lugte um die Büsche. Richtig, Seidelmann war getäuscht worden und hatte die Verfolgung aufgegeben.

Arndt schmunzelte. Die Sache gefiel ihm. Jetzt war er außer Gefahr und beschloß, sogleich den Spieß umzudrehn und nun seinerseits dem jungen Seidelmann ein wenig nachzuspionieren. Die Achtlosigkeit des andern erleichterte ihm sein Vorhaben. Obendrein schützte ihn hier im freien, verschneiten Feld das weiße Tuch gegen Sicht. Und endlich hielt er sich wohlweislich in sorgsam abgemessener Entfernung von Seidelmann, während er ihm bedächtig folgte.

So erreichte er schließlich wieder den Ort Hohenthal. Hinter der Ecke des ersten Hauses nahm er seine Umhüllung ab und schlich Fritz Seidelmann weiter nach. Es war keine Gefahr dabei; denn es war gegen Mitternacht, und niemand zeigte sich auf der Straße.

Bei Hausers Anwesen blieb Seidelmann stehn und pirschte sich dann hinter das Haus.

Vergebens suchte Arndt zu ergrübeln, was er damit bezwecken könnte.

Er folgte vorsichtig und gewahrte, daß Fritz Seidelmann wohl eine Viertelstunde still und unbeweglich vor einem Fensterladen der Wohnstube stand und zu horchen schien; dann entfernte er sich. Auch jetzt hielt sich Arndt in immer gleichem Abstand hinter Seidelmann, bis der andere seine Wohnung erreichte und in der Haustür verschwand.

Arndt blieb überlegend stehn.

Soll ich umkehren oder nicht? fragte er sich. Da oben brannte noch Licht. Man wartete also auf den Sohn und Neffen. Wahrscheinlich rechnete man damit, daß der junge Seidelmann vom Maskenball allerlei Neuigkeiten mit nach Haus bringen würde. Also gab es für den Detektiv hier eigentlich nichts mehr zu erkunden. Er hätte gehn können. Aber er blieb. Eine unerklärliche innere Spannung hielt ihn zurück. Ihm war es, als müsse nun erst noch etwas ganz Wichtiges kommen.

Nach einer Weile erlosch das Licht im Vorderzimmer des Obergeschosses; dafür erhellte sich zur ebenen Erde ein Fenster an der Gartenseite.

Arndt stutzte. Was hatte das zu bedeuten? Im Erdgeschoß lagen doch die Geschäftsräume, wie ihm Eduard Hauser einmal erzählt hatte. Sollte hier jetzt, so spät in der Nacht, ein Plauderstündchen stattfinden? Das war doch wohl kaum anzunehmen.

Arndt stieg kurz entschlossen über den Zaun. Er wollte der Sache auf den Grund gehn. Hier war sicherlich etwas Wichtiges zu erfahren. Ohne besondern Anlaß begab sich jetzt bestimmt keiner der Seidelmanns in die Geschäftsräume.

Es wurde dem gewandten Detektiv nicht schwer, das Dach eines niedrigen Schuppens zu erklettern, der dicht bei dem erleuchteten Fenster rechtwinklig an das Hauptgebäude stieß. Ein Schneerutsch hatte offenbar vor kurzem fast die Hälfte der leicht geneigten Fläche von ihrer weißen Last befreit. So konnte es Arndt wagen, das Dach zu betreten und in den Raum, der hinter dem eigentlichen Kontor lag und für gewöhnlich abgeschlossen war, hineinzusehn. Er erblickte in dem Zimmer die drei Seidelmanns, Vater, Sohn und Oheim. Fritz Seidelmann saß neben dem Rentner am Tisch und schien irgendeine Angelegenheit mit Eifer zu erörtern. Der Vater stand auf einem Stuhl an der Wand und nahm soeben ein Bild herab.

Hinter dem Bild zeigte sich ein großes, tiefes Loch in der Mauer, eine Art Geheimschrank. Seidelmann holte daraus eine Schachtel hervor und stellte sie auf den Tisch.

Zunächst entnahm er ihr einen glänzenden Gegenstand, den er beiseitelegte, ein Schmuckstück, bei dessen Anblick die Augen des heimlichen Beobachters draußen auf dem Schuppendach jäh aufleuchteten. Dann kramte der Kaufmann aus der Schachtel etwas Schwarzes heraus. Mit Verwunderung stellte Arndt fest, daß es Spitzen waren, kostbare Spitzen, die Seidelmann dem Bruder und dem Sohn prüfend vor Augen hielt.

Weiter kam Arndt nicht mit seinen Beobachtungen. Aus irgendeinem Grund – vermutlich, weil drinnen allerlei geheime Dinge verhandelt wurden – sprang der Rentner plötzlich auf und trat hastig ans Fenster. Arndt glaubte sich schon entdeckt und duckte sich im ersten Schreck. Da sah er, daß sich die Seidelmanns offenbar jetzt erst darauf besonnen hatten, die Fenstervorhänge zuzuziehn. August Seidelmann besorgte das soeben schnell und ungeduldig und entzog damit die weitern Vorgänge im Zimmer den Blicken des Detektivs.

Also kletterte Arndt von seinem Beobachtungsposten herab und machte sich auf den Heimweg zum Forsthaus. Er konnte mit dem Ergebnis der Bemühungen dieses Tages zufrieden sein und war es auch. Während er rüstig ausschritt, gingen ihm allerlei Gedanken durch den Kopf. Die erste Rolle darin spielte jenes Schmuckstück auf dem Tisch der Seidelmanns.

Dann tauchten zwei Fragen auf: Weshalb hatte Fritz Seidelmann vorhin so lange an dem Häuschen der Hausers gelauscht? Und was bezweckten die drei da drüben mit den schwarzen Spitzen?

Es wollte dem Detektiv keine Lösung dieser Rätsel einfallen. Vielleicht lag das daran, daß er immer wieder alles zwangsläufig in Verbindung brachte mit dem Buschgespenst, um das nun einmal in diesen Tagen all sein Sinnen kreiste.

Ja wahrhaftig, all sein Sinnen.

Als er im Wald, der tief die Zweige der schneebeladenen Fichten hängen ließ, einmal kurz zur Seite schaute, glaubte er wieder eine weiße Gestalt zu erblicken, die ihn anstarrte. Aber es war nur ein mannshoher, verschneiter Busch. Dahinter stand schweigend die breite Wand des Waldes, von der sich soeben ein Schatten ablöste. Der schwebte lautlos zu einem einzelnen Baum, aus dem alsbald das Krächzen eines Raben zu dem nächtlichen Wanderer herüberschallte.

*

Fritz Seidelmann hatte bei seiner Heimkehr von dem Maskenfest und der mißlungenen Verfolgung den Vater und den Oheim in der Tat noch wach gefunden.

Der Vater empfing ihn mit verdrießlicher Miene.

»Na, da bist du ja endlich!«

»Ja«, nickte Fritz. »Es hat lange gedauert. Ich wundere mich, daß ihr noch wach seid und auf mich wartet.«

»Hat seine Gründe«, knurrte der Kaufmann. »Ich wollte noch ein Wort mit dir reden. Sag mal, was hast du denn heut abend für dummes Zeug gemacht?«

»Dummes Zeug?« entrüstete sich der Sohn.

»Ja, ich meine den Auftritt mit dem jungen Hauser.«

»Das war allerdings eine dumme Sache, für die ich aber nicht verantwortlich bin. Woher wißt ihr denn schon davon?«

»Das fragst du noch? Das ganze Nest weiß es bereits, vom Pfarrer an bis herab zum Nachtwächter. Es sind ja genug Leute dabeigewesen. Ich ging in der neunten Stunde noch auf einen Sprung zum Bürgermeister, um etwas mit ihm zu besprechen. Dort wurde ich aufgehalten. Die Zeit verstrich. Wie das so ist. Aus dem Heimweg traf ich den Mühlbauer. Er kam aus der Schenke und berichtete mir haarklein die Sache von dir, Hauser und der kleinen Hofmann. Kannst dir denken, wie schadenfroh der Halunke grinste. Und ich mußte mir alles schweigend anhören. War eine Dummheit von dir, mein Junge, eine riesengroße Dummheit. Ich hätte dich für gescheiter gehalten.«

Fritz Seidelmann biß sich auf die Lippen, dann fuhr er zornig auf.

»Hätte sich dieser Schuft, der Hauser, nicht eingeschlichen, so wäre alles anders gekommen!«

Aber der Vater ließ die Widerrede nicht gelten.

»Die erste Schuld liegt bei dir«, beharrte er. »Wie konntest du auch auf den verrückten Einfall kommen, die Tochter eines armseligen Webers zum Maskenball einzuladen! Wenn du schon in diese dumme Puppe vernarrt bist, mußtest du sie noch lange nicht ins ›Kasino‹ führen. Das war heller Blödsinn. Es gab andre Gelegenheiten, mit ihr schön zu tun. Jetzt bist du im ganzen Ort der Hansnarr.«

»Ich habe dich vorher von allem unterrichtet, und du hast mir nicht dagegen gesprochen. Vergiß das nicht! Und der Onkel wußte doch ebenfalls darum!«

Jetzt endlich, da er mit ins Spiel gezogen wurde, mischte sich der Rentner August Seidelmann ein.

»Bitte, Fritz, lade mir keine Verantwortung auf! Du hast mir die Angelegenheit vorgetragen, gewiß, und ich hatte sogar nicht übel Lust, selber mit zu dem Vergnügen zu gehn. Gebe ich alles zu. Sonst aber kümmert mich die Sache nicht. Was hättest du mir wohl auch geantwortet, wenn ich über die Wahl deiner Dame für diesen Abend Bedenken geäußert hätte?«

Fritz Seidelmann wollte etwas erwidern. Aber der Vater kam ihm zuvor.

»Streitet euch nicht um müßige Dinge! Was geschehn ist, ist geschehn; daran läßt sich nichts mehr ändern. Hoffentlich hat die dumme Geschichte unserm Ansehn nicht geschadet. Ihr wißt ...«

»Keine Sorge!« fiel ihm der Sohn in die Rede. »Wir werden dem jungen Hauser den Hieb zurückgeben mit Zinsen sogar. Der erste Schritt dazu ist schon getan.«

Der Vater schaute ihn mißtrauisch von der Seite an.

»Hoffentlich nicht eine neue Dummheit!«

»O nein!« Fritz lachte überlegen. »Ich habe ein Gespräch zwischen dem Burschen und seinem Schätzchen belauscht und dabei allerlei wichtige Dinge in Erfahrung gebracht.«

»Wird auch viel Gescheites sein«, brummte der Kaufmann.

»Verliebtes Jungvolk schwatzt überhaupt nur törichtes Zeug«, fügte der Rentner hinzu.

Aber Fritz ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Hm«, meinte er, »töricht war es allerdings von Hauser, daß er so arglos drauflosredete, ohne sich zu vergewissern, ob nicht etwa unberufene Ohren alles mit anhörten. Er hat uns damit eine prächtige Waffe in die Hand gegeben.«

Und nun erzählte er zunächst von dem Kasino-Abzeichen, das Hauser vom Maskenverleiher ausgehändigt bekommen hatte, sowie von dem Brief, den Eduard an Strauch geschrieben und mit der verhängnisvollen Unterschrift ›Das Buschgespenst‹ versehn hatte. Der Vater und der Onkel hörten ihm mit wachsender Spannung zu. Sie sagten zunächst kein Wort, aber in ihren Augen spiegelte sich der helle Triumph über den unbesonnenen Streich, den der verhaßte junge Hauser da vollführt hatte.

»Und du bist deiner Sache auch sicher?« fragte Martin Seidelmann, als Fritz endlich schwieg. »Der Brief ist wirklich vorhanden?«

»Gewiß, sonst hätte Hauser ja nicht an Stelle meines Freundes Strauch beim Fest erscheinen können. Übrigens, du sagst: vorhanden. Ich weiß natürlich nicht, ob Strauch das Schreiben aufbewahrt hat. Aber das ist wohl als sicher anzunehmen.«

»Sicher ist nichts. Du mußt morgen sofort in die Stadt gehn und feststellen, ob Strauch den Brief noch besitzt.«

»Das ist das Richtige«, nickte August Seidelmann bedächtig. »Hier ist in der Tat eine glänzende Handhabe gegen diesen Eduard Hauser gegeben. Er hat sich selber als Buschgespenst bekannt. Großartig! Also ist er der Anführer der Pascher. Das schon kann ihm das Genick brechen. Noch besser wäre es, wenn man ihn auch noch anderweit in den Verdacht einer Schmugglertat bringen, ihm scheinbar etwas dergleichen nachweisen könnte ...«

»Was nützt uns ein bloßer Verdacht?« unterbrach ihn Fritz. »Paschen muß er, tatsächlich paschen!«

»Das tut er nicht«, hieß es dagegen.

»Er muß einfach. Und wenn er es selber auch nicht weiß!«

»Das ist albernes Gerede.«

»Nicht doch! Ich habe bereits vorhin auf dem Heimweg darüber nachgedacht. Mein Plan ist fertig. Paßt auf! – Haben wir vielleicht feine Spitzen im Haus?«

»Gewiß. Was soll es damit?«

»Das will ich euch erklären. Ich sah vorhin bei den Hausers durch den Fensterladen. Der Bursche ging zu Bett. Seinen Werktagsrock sah ich in der Stube hängen.«

»Nun? Und?«

»Sehr einfach. Man schleicht sich bei den Hausers ein und steckt dem Schuft eine Partie Spitzen unter das Futter des Rocks. Auf den Verlust einiger Ellen darf es uns dabei nicht ankommen. Die Sache lohnt sich. Die Spitzen sind überaus fein, er bemerkt sie gar nicht. Dann schickt man ihn irgendwie über die Grenze und erstattet Anzeige gegen ihn. Er wird abgefaßt. Es kommt heraus, daß er sich in jenem Brief als Buschgespenst unterschrieben hat –«

Der Onkel spreizte die Arme gegen die Decke und fuhr von seinem Stuhl auf.

»Alle Wetter, du bist ein gescheiter Kopf!« rief er. »Ja, so wirds gemacht! Nicht wahr?«

Das galt seinem Bruder Martin, der denn auch sogleich zustimmte.

»Der Plan ist gut, gewiß. Nur hat die Sache einige Schwierigkeiten, die bedacht sein wollen. Kommt vor allen Dingen einmal mit hinunter ins Kontor! Dort besprechen wir die Angelegenheit weiter.«

Sie verlöschten das Licht und begaben sich in die Stube im Erdgeschoß, wo sie von Arndt beobachtet wurden.

Hier nahm Vater Seidelmann seine Rede wieder auf.

»Vor allem eine Frage: Kann man denn so ohne weiteres in die Wohnung der Hausers gelangen?«

»Nichts leichter als das«, versicherte Fritz. »Die Hintertür macht keine Schwierigkeiten. Sie ist, wie üblich bei den Weberhäusern, nur mit einer Holzklinke versehn, die man von außen mit Hilfe einer Schnur heben kann. Und an der Stubentür befindet sich ein Schraubendrücker, wie wir auch einige haben. Das alles nehme ich schon auf mich. Aber es muß bald geschehn, möglichst noch diese Nacht.«

Der Rentner war so begeistert, daß er schon über die erste Vorarbeit für den Streich hinausdachte.

»Kann man es nicht so einrichten, daß Hauser im entscheidenden Augenblick vor den Grenzern flieht oder sich gar an ihnen vergreift?« drängte er.

»Auch das wäre zu erwägen«, nickte sein Neffe. »Die Hauptsache aber sind erst einmal die Spitzen. Ich schlage vor, daß wir sofort ans Werk gehn.«

Der Vater gab seine Einwilligung auf bedachtsamere Art.

»Dich treibt zwar nur der Haß wegen dieses dummen Frauenzimmers, aber du hast recht. Eduard Hauser als Buschgespenst beim Paschen ertappt! Der Einfall ist köstlich. Beeile dich und versuche dein Glück! Mir juckt es in allen Gliedern, dieser Sippe eins auszuwischen.«

»Auge um Auge, Zahn um Zahn!« faselte der Rentner mit unangebrachter Feierlichkeit, indem er lauernd auf seinen Neffen schielte.

Martin Seidelmann schob indessen einen Stuhl an die Wand und entnahm dem geheimen Behältnis hinter dem Bild die Schachtel und stellte sie auf den Tisch. Nachdem er den Deckel entfernt hatte, kramte er zunächst den Schmuck hervor, bei dessen Anblick Arndts Augen so seltsam aufleuchteten.

»Auch so ein Ding, an das sich allerlei Erinnerungen knüpfen«, meinte er nachdenklich.

»Zum Kuckuck mit den Erinnerungen!« murrte der Rentner. »Ich an deiner Stelle hätte das Schmuckstück schon längst verkauft. Es liegt dir doch bloß im Weg herum.«

»Daß ich ein Narr wäre! Es ist so viel davon gesprochen worden, daß ich es nicht wagen möchte, das Ding wegzugeben.«

»Dann würde ich es wenigstens einschmelzen lassen.«

»Unsinn! Es ist altdeutsche Goldschmiedekunst und hat so, wie es ist, dreimal mehr als Goldwert. Nein, für mich liegt es gut in dem Versteck!«

Nun holte der alte Seidelmann die schwarzen Spitzen hervor und zeigte sie prüfend Fritz und dem Bruder. Das war der Augenblick, da der Rentner aufsprang und die Fenstervorhänge zuzog, so daß Arndt die Vorgänge im Zimmer nicht weiter beobachten konnte. Es war ein Glück für die Seidelmanns und ein Schaden für Arndt und seinen Schützling Eduard Hauser, denn auf diese Weise blieben die dunklen Machenschaften der Seidelmanns in dieser Nacht unentdeckt.

Als die Fenstervorhänge geschlossen waren, ließ sich der Kaufmann von Fritz eine Schere reichen und schnitt von den schwarzen Spitzen einige Ellen ab. Inzwischen versah sich der junge Seidelmann mit einer kleinen Laterne und allem, was ihm nötig erschien; auch Schere, Nähnadel und Zwirn vergaß er nicht, um das losgetrennte Futter wieder annähen zu können. Vor allem steckte er die Spitzen ein. Nach diesen Vorbereitungen machte er sich auf den Weg, nur ein wenig später, nachdem Arndt das Seidelmannsche Grundstück verlassen hatte.

Fritz glaubte, Vater und Oheim würden sich zur Ruhe begeben; aber die Angelegenheit war ihnen zu wichtig, und darum beschlossen sie, seine Rückkehr abzuwarten.

Es verging wohl über eine Stunde, bis er wiederkam.

»Nun, ists geglückt?« fragten beide wie aus einem Mund.

»Oh, ganz gut!« berichtete er. »Nur der Rock machte mir zu schaffen. Ich bin kein Schneider und verstehe nicht viel vom Nähen.«

Er gab noch eine kurze Schilderung vom Verlauf seines Unternehmens, dann setzte wieder der drängende Eifer des Rentners ein, der schmunzelnd und händereibend in der Hinterstube auf und ab ging.

»Das wäre also besorgt. Nun kommt die andre Frage: Wie bringen wir den Burschen über die Grenze? Hat er nicht Verwandte drüben?«

»Ja. Warum fragst du?«

»Man müßte einen Brief an ihn schreiben, worin er von diesen Verwandten eingeladen wird, hinüberzukommen.«

»Das ist zu umständlich. Der Brief müßte doch von der Post gebracht werden; wir wären also gezwungen, vorher über die Grenze zu gehn, um ihn drüben aufzugeben. Das kostete uns drei Tage.«

»Und Briefschreiben ist immer gefährlich«, erklärte der Vater. »Wer kann die Handschrift so verstellen, daß man ihr nichts anzumerken vermag?«

»Ich!« sagte der Rentner stolz.

»Täusche dich nicht! Es gibt vereidigte Sachverständige, die auch dir hinter die Schliche kämen. Außerdem: woher einen Verwandtenbrief Hausers kriegen, dessen Schrift du nachmachen könntest?«

»Gut! So sendet dem Burschen einen Boten, der angeblich von Hausers Verwandten kommt!«

»Auch das ist zu gefährlich. Wir haben da drüben niemand, auf den man sich unbedingt verlassen kann.«

Der Rentner stieß ein kurzes, überlegnes Lachen aus.

»Ich habe euch wirklich für klüger gehalten. Muß dieser Bote denn ein Mann sein, der drüben wohnt? Hier habt ihr doch genug Leute, die ihr genau kennt, und denen ihr vertrauen dürft.«

»Richtig. Aber der Bote muß die Verwandten Hausers kennen. Es wäre doch bestimmt damit zu rechnen, daß die Hausers tausend Fragen an ihn stellen, wenn er plötzlich mit der Einladung ins Haus schneit. Das ist der Übelstand. Und selbst wenn wir einen geeigneten Mann finden, so müßte er wieder den Hausers als einer bekannt sein, der mit ihren Verwandten jenseits der Grenze Fühlung hat. Das ist ein endloses Hin und Her von Bedingungen und Voraussetzungen, und wenn es zur Sache kommt, haben wir doch irgend etwas übersehn und fahren uns fest. Nein«, der Kaufmann Seidelmann sann einen Augenblick nach, »nein, wir müssen einen andern, einen ganz sichern Weg ausfindig machen. Wie wäre es, Fritz, wenn du morgen früh, sobald du mit Strauch gesprochen hast, einmal unsern Freund Spengler aufsuchtest? Er hält sich, wie ich genau weiß, zur Zeit vorübergehend in der Kreisstadt auf und ...«

»Großartig!« fiel ihm der Sohn ins Wort. »Spengler! An den habe ich in diesem Augenblick gar nicht gedacht! Natürlich ist er der geeignete Mann. Er hat seinen Wohnsitz drüben und ist außerdem ...«

... und ist vor allem sehr umsichtig und gewandt, ein Mensch, der sich in jeder Lage zurechtfindet«, ergänzte der Vater.

Der Rentner, der den erwähnten Spengler nicht kannte, warf seinen Verwandten einen forschenden Seitenblick zu.

»Ist dieser Spengler ein ... ein Geschäftsfreund?«

»Ganz recht, ein Geschäftsfreund«, nickte Martin Seidelmann.

»Er ist Agent für dies und das«, fügte Fritz erklärend hinzu. »Er macht alles, wobei Geld zu verdienen ist.«

»Dann scheint er mir in der Tat der richtige Mann.«

»Gewiß. Ihm trage ich die Sache vor. Er ist durchaus vertrauenswürdig. Vor ihm brauche ich mich in nichts zu verstecken. Ist er denn wie üblich anzutreffen?«

Diese Frage galt dem Vater.

»Wie üblich«, meinte er bedeutungsvoll.

»Dann werde ich mich beizeiten auf den Weg machen, damit er nicht erst in Geschäften ausgeht. Das wird einen kurzen Schlaf geben diese Nacht.« Fritz Seidelmann gähnte, dann aber leuchtete etwas in seinen Augen auf, und er sprach lebhaft weiter. »Vorher habe ich euch nur noch eine weitere Mitteilung zu machen, mit der ich bisher absichtlich zurückgehalten habe. Ihr werdet staunen. Es ist also jetzt ausgemacht, daß Eduard Hauser als Buschgespenst entlarvt wird. So haben wir unsre Rache. Nun fragt es sich nur, was aus dem richtigen Buschgespenst wird.«

Verblüffte, verständnislose Blicke prüften Fritz Seidelmann. Der aber lachte.

»Versteht ihr mich nicht? Hauser ist doch nicht in Wahrheit das Buschgespenst.«

»Das wissen wir«, brummte der Rentner.

»Aber«, fuhr der junge Seidelmann triumphierend fort, »er hat es sich in den Kopf gesetzt, das Buschgespenst zu fangen.«

Der Rentner lachte nur. Sein Bruder aber, der Kaufmann Martin, knurrte:

»Was hat er?«

Darauf erzählte Fritz, was er über das Verhältnis Eduard Hausers zu seinem unbekannten Gönner und über die geheimen Absichten der beiden erlauscht hatte. Er sprach in diesem Zusammenhang endlich auch von seiner Begegnung mit dem Fremden im Flur der Schenke und von seinen letzten Beobachtungen draußen bei den Weberhäusern, besonders von der ergebnislosen Verfolgung des Fremden.

Diese Mitteilungen entfesselten eine gewaltige Erregung bei den beiden Zuhörern. Die nächtliche Unterredung hatte plötzlich einen neuen Antrieb gewonnen und dehnte sich nun so lange aus, daß Fritz fast gar nicht ins Bett kam und sich schließlich beim Tagesgrauen müde und verschlafen auf den Weg zur Stadt machte.


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