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Achtes Kapitel

Nach der Grenze empor

Man denke sich El Hadd als ein immerwährend ansteigendes Bergland, welches im Süden an Ardistan im weiteren Sinne und im Norden an Dschinnistan stößt. Früher hatten zwei Straßen durch El Hadd hinauf nach Dschinnistan geführt, eine Land- und eine Wasserstraße. Durch das südliche Grenzgebirge zwischen El Hadd und Ardistan führten nur zwei Tore, ein östliches und ein westliches. Dieses letztere hatte sich Ssul, der Fluß, gebrochen, dessen spätere, vollständige Austrocknung zu der Sage leitete, daß das Wasser sich umgedreht habe und nach Dschinnistan zurückgekehrt sei. Das östliche Tor öffnete sich dem Landweg, der breiten Straße, die über den Dschebel Allah ging. Früher hatte auf beiden Wegen ein sehr reger Verkehr zwischen Ardistan und Dschinnistan bestanden; später aber, als die Beherrscher des ersteren Landes immer ungerechter und gewalttätiger wurden, ging nicht nur die Flußschiffahrt, sondern auch der Landverkehr derart zurück, daß beide endlich vollständig aufhörten. Der Fluß hatte schließlich kein Wasser mehr, und der Landweg blieb nur für den Verkehr zwischen El Hadd und Dschinnistan offen, so daß sich nach und nach das Gerücht bildete, es sei den Bewohnern von Ardistan überhaupt verboten, den Dschebel Allah zu überschreiten.

Früher hatte man, wenn auch nicht Dschinnistan, so doch das Grenzland El Hadd ziemlich genau gekannt; jetzt aber war das nicht mehr der Fall. Es lebte niemand mehr, der dort gewesen war, und auf alte Beschreibungen konnte man sich nicht mehr verlassen, weil erzählt wurde, daß da oben in den Bergen in letzter Zeit sich viel verändert habe, wovon man unten im Niederlande nichts erfahre. Darum war die Absicht des Mirs von Ardistan, einen Krieg gegen Dschinnistan zu führen, eine Torheit, deren Größe er jetzt sehr deutlich erkannte. Und darum war es nicht etwa herzhaft oder mutig, sondern geradezu vermessen von dem Panther gewesen, diese Torheit dadurch zu verzehnfachen, daß er sie zu seiner eigenen machte und zuletzt gar der Meinung war, sich aus seiner mehr als schwierigen Lage durch sie retten zu können.

Jetzt war sein Heer vernichtet, bis auf ungefähr tausend Mann, mit denen er sich gerettet hatte. Diese Rettung war nur dadurch ermöglicht gewesen, daß die Schwarzgepanzerten ihm, um nicht selbst mit vernichtet zu werden, den Weg hatten freigeben müssen. Als sich dann, sobald es Morgen geworden war, sein Entkommen herausstellte, hatten sie ihm soviel Reiter nachgeschickt, wie nötig waren, ihn zu beobachten und nicht aus den Augen zu lassen. Es verstand sich von selbst, daß hierauf sofort die regelrechte Verfolgung angetreten wurde. Die Vorhut hierzu bildete eine Schar der ›Schwarzgepanzerten‹, denen in der Mitte das Garderegiment Ussul aus Ard folgte, befehligt von dem Dschirbani. Dieses hatte sich, solange der Panther dasselbe tat, auf der breiten Straße zu halten. Zu beiden Seiten derselben marschierten auf verborgenen Saum- und Nebenpfaden die Lanzenreiter von El Hadd, die sich hierzu ganz besonders eigneten, weil sie als Eingeborene diese Wege genau kannten. Den besonderen Befehl über sie führte neben dem Oberbefehl natürlich der Schech el Beled, um dessen Gebiet es sich von jetzt an besonders handelte. Er hatte nicht mehr Truppen für nötig erachtet als die soeben angeführten, und so waren die andern alle in dem Lager am Dschebel Allah zurückgeblieben, wo der Fürst von Halihm befehligte und seine Tochter mit Taldscha die Pflege der Verwundeten oder sonstwie Hilfsbedürftigen leitete. Wir vier, der Mir von Ardistan, Amihn, der Scheich der Ussul, Hadschi Halef und ich, hatten uns der Verfolgung des Panthers anschließen dürfen, über deren Resultat schon aus allgemeinen Gründen unter uns kein Zweifel herrschte. Im besonderen aber hatte der Schech el Beled uns versichert, daß für derartige Angriffe auf das Gebiet von El Hadd eine Falle bereitgestellt sei, der kein Feind, und sei er noch so vortrefflich ausgerüstet und noch so kühn, entgehen könne. Diese Falle wurde von ihm, dem gegenwärtigen Feind entsprechend, als ›Pantherfalle‹ bezeichnet.

Was die Ausrüstung und Verproviantierung unseres Gegners betrifft, so stand es mit ihr wohl nicht zum allerbesten; er war ja gezwungen gewesen, die Flucht ganz plötzlich und mit vollständig leerer Hand zu ergreifen. Er war also darauf angewiesen, seinen Unterhalt bei den Bewohnern des Landes zu suchen, und daß er da kein Entgegenkommen finden werde, verstand sich wohl von selbst. Den Beweis hiervon bekamen wir schon am zweiten Tage, nachdem wir die Verfolgung angetreten hatten. Wir erreichten da das erste große Dorf der El Hadd, welches an der Straße lag, und fanden es verwüstet. Der Panther hatte da nicht etwa nur requiriert, sondern das getan, was man als Morden, Sengen und Brennen bezeichnet. Die Häuser waren eingeäschert. Auch die Vorräte, die man nicht mitnehmen konnte, hatte man verbrannt. Wer nicht sofort hergegeben hatte, was er besaß, war mißhandelt und gemartert worden. Mehrere Personen waren getötet. Als der Schech el Beled das sah und hörte, beschloß er, der Verfolgung nicht nur ein anderes Tempo, sondern auch eine andere Art und Weise zu geben als bisher. Man mußte dem Panther die Gelegenheit nehmen, solche Missetaten zu wiederholen. Man mußte ihn nach Gegenden drängen, wo es weder Wohnstätten noch Menschen gab, die er plündern oder quälen konnte. Das war der westliche Teil des Landes, der sich infolge der Austrocknung des Flusses in eine Wüste verwandelt hatte. Dort gab es zwar jetzt wieder Wasser, was dem Panther jedenfalls höchst willkommen war, aber da lag auch, wie der Schech el Beled uns mitteilte, die Falle, in welcher die Feinde gefaßt und bestraft werden sollten.

Die Dorfbewohner hatten sich versteckt, weil ihnen gesagt war, daß in kürzester Zeit noch mehr Feinde kommen würden. Als sie aber ihre eigenen Lanzenreiter erkannten, kamen sie herbei und erstatteten ausführlich Bericht. Da hörten wir auch, daß sie ausgefragt worden waren. Und aus den Fragen, die ihnen der Panther vorgelegt hatte, konnten wir auf den Plan schließen, auf dessen Ausführung er seine Hoffnung setzte. Er wollte nach der seit uralter Zeit berühmten Wasserscheide und nach dem Wasserschloß von El Hadd, um das letztere durch einen Handstreich in seine Gewalt zu bringen. Befand er sich im Besitz dieses Schlosses, so glaubte er, das ganze Land in seiner Gewalt zu haben und dessen Herrscher absetzen zu können. Wenn dies der Fall war, so ergab das für ihn eine vortreffliche Basis zu einem Vergleich mit Dschinnistan und einem erneuten, aber siegreichen Vorgehen gegen den Mir von Ardistan. Es stellte sich aber schon aus der Art und Weise seiner Fragen heraus, daß er sich weder von der Wasserscheide noch von dem Wasserschloß des Schech el Beled eine Vorstellung machen konnte. Er wußte eben auch nur das, was die Sage von beiden erzählt, und das war nicht zum hundertsten Teil genügend, einen Kriegszug nach dort hinauf zu wagen.

Das einzige Vernünftige an dem ganzen Plan war, daß er ihn als Handstreich ausführen zu wollen schien, also so schnell wie möglich. Diese seine Eile kam dem Wunsch des Schech el Beled entgegen, ihn nach dem verödeten Westen abzulenken. Man brauchte ihm nur glaubhaft zu machen, daß dorthin der natürliche Weg nach der Wasserscheide und dem Wasserschloß gehe. Und dies war nicht etwa eine Lüge, sondern die reine Wahrheit, denn der Fluß kam direkt von da oben herab, und das Wasser, welches sich seit kurzer Zeit in seinem Bett zu zeigen begann, stammte aus der geheimnisvollen Quelle, deren Schlüssel nirgends anderswo als eben im Wasserschloß lag. Es wurden einige Lanzenreiter abkommandiert, welche sich in anderer Kleidung von dem Panther gefangennehmen lassen und ihm als Führer dienen sollten. Ihre Instruktion war eine ebenso ausführliche wie genaue. Und sodann mußten die Schwarzgepanzerten versuchen, auf Umwegen dem Panther voranzukommen, um sich ihm an einem bestimmten Punkt entgegenzustellen und ihn zu zwingen, nach Westen abzulenken. Dort führte nämlich eine Nebenstraße in dieser Richtung von der Hauptstraße ab, und wenn es gelang, den Feind zu dieser Schwenkung zu veranlassen, so war ihm die Gelegenheit entzogen, seine Greueltaten, so oft es ihm beliebte, zu wiederholen.

Und es gelang! Zwar trafen wir schon gegen Abend des nächsten Tages wieder auf ein Dorf, welches vollständig ausgeplündert worden war, aber schon am darauffolgenden Nachmittag, als wir die erwähnte Stelle erreichten, sahen wir, daß die Verfolgten hier ihre Richtung geändert hatten, und zwar in der Weise, wie wir es wünschten. Die Schwarzgepanzerten hatten gar nicht nötig gehabt, sich ihnen zu zeigen und sie dazu zu zwingen, denn der Panther hatte schon die ihm von uns gesandten Führer gefangengenommen und gezwungen, mit ihm zu marschieren und ihm den Weg nach der Wasserscheide und nach dem Wasserschloß zu zeigen.

Dieser Weg bildete eine Durchquerung des westlichen Landesteiles. Dort lagen, wie bereits gesagt, nicht die fruchtbaren Gegenden von El Hadd, und doch machten sie den Eindruck eines Wohlstandes, den wir nicht erwartet hatten. Man hielt durch ganz Ardistan dieses Grenzgebiet für wüst und unergiebig, und von seinen Bewohnern sprach man als von sehr armen Leuten. Das einfache, bescheidene Auftreten des Schech el Beled und seiner Begleiter hatte auch in mir, als ich sie zu Weihnacht kennenlernte, die Meinung erweckt, daß ihre Heimat ihnen wohl keine Reichtümer biete. Nun aber sah ich mehr und mehr ein, welch ein großer Irrtum dies war. Diese Berge zeigten sich nur auf der nach Ardistan gerichteten Seite als steril, auf der nach Dschinnistan liegenden aber als außerordentlich wohlbewässert. Es gab unzählige Kanäle und Kanälchen, welche das bewegende, treibende und befruchtende Naß allüberallhin leiteten, wo es vonnöten war. Es mußte hoch oben in den Bergen, woher diese Gräben und Kanäle kamen, einen unerschöpflichen Reichtum an Wasser geben. Wir ritten stundenlang durch Wälder, deren Bestand nur durch diese Leitungen ermöglicht wurde. Wir sahen grünende Wiesen und Weiden, die sich hoch über ihnen erhoben; sauber blinkende Häuser mit wohlgepflegten Gärten und Feldern; Bergwerke, welche Gold, Silber, Kupfer, Eisen und andere Metalle in Menge lieferten. Im Osten gab es Bäche, in denen man eine sehr lohnende Perlenfischerei betrieb. Die Seitenstraße, der wir jetzt folgten, vermied es, größere Ortschaften zu berühren, aber bewohnt, bebaut und benutzt war jeder Berg, jedes Tal, jede Stelle und jeder Winkel, wohin man nur immer schaute. Ruhiger Fleiß grüßte von rechts und links. Behaglicher Wohlstand glänzte von allen Seiten. Das Glück saß vor jedem Hause. Eintracht und Zufriedenheit wandelten Hand in Hand auf allen Wegen und Stegen. Aber sobald der Panther mit seiner Schar sich nahte, da flohen sie; da waren die Wege verlassen und die Wohnungen aufgegeben, denn der Schreck ging vor ihm her.

Ja, er ging vor ihm her. Wir folgten ihm nämlich nicht nur, sondern wir überholten ihn mit unsern Seitenflügeln und schickten Boten vor ihm her, ohne daß er es merkte. Wo unsere Truppen erschienen, waren sie die hellen, blinkenden Lanzenreiter, die man liebte, denen man gehorchte; ihm aber blieben sie infolge ihrer dunklen Mäntel immer unsichtbar.

Der Mir von Ardistan verhielt sich ganz eigenartig zu dem Schech el Beled. Der letztere schien in den Augen des ersteren von Tag zu Tag zu wachsen. Der Mir behandelte ihn mit einer Hochachtung, fast möchte ich sagen, mit einer still lauschenden Scheu, die man bei ihm, dem einst so Rücksichtslosen und Stolzen, nicht für möglich gehalten hätte. Sie ritten fast stets nebeneinander, in Gespräche über Gegenstände vertieft, die einen jeden Fürsten, der es mit seinem Volk wohlmeint, interessieren. Wir andern störten sie dabei so wenig wie möglich, denn wir sahen, daß der Schech el Beled der Lehrer des Mirs geworden war, und freuten uns aufrichtig darüber.

Was den Dschirbani betrifft, so war er mit der Leitung und Verpflegung seiner Ussul fast vollauf beschäftigt; aber es gab auch freie Stunden, in denen es ihn ebenso wie den Mir zu dem Schech el Beled drängte. Er folgte diesem Drang in seiner unaufdringlichen, vornehm-bescheidenen Weise und war zufriedengestellt, wenn er den Mann, für den er eine so große, ganz ungewöhnliche Sympathie empfand, nur sprechen hörte, ohne daß dieser das Wort direkt an ihn richtete.

»Ich habe ihn lieb, ganz eigenartig lieb«, gestand er mir. »Oft ist es mir, als müsse ich ihn umarmen und mich fest, fest an ihn drücken. Und oft überkommt mich so eine tiefe Ehrfurcht vor ihm, daß es mir wie ein Vergehen erscheint, mich ihm in dieser rein körperlichen Weise zu nahen. Wenn er spricht, so ist es mir zuweilen, als hörte ich die Stimme meines Vaters. Wahrscheinlich ist das nur die Folge des Schleiers, welcher der Rede jenen vertraulich lieben Klang verleiht, der mir noch von meiner Kinderzeit her im innern Ohr klingt.«

Ich beobachtete mit großer Genugtuung dieses stete Wachsen der Zuneigung, dieses immer zwingender werdende Ahnen und seelische Erkennen. Darum ging es nicht unbemerkt an mir vorüber, daß dieses innere Zueinanderstreben nicht etwa ein einseitiges, sondern ein gegenseitiges war. Auch der Schech el Beled lauschte, so oft er den Dschirbani reden hörte. Und vieles, was er scheinbar zu dem Mir oder zu andern sagte, war darauf berechnet, von dem Dschirbani gehört und beachtet zu werden. Man sah, daß der Schech unausgesetzt bemüht war, den Dschirbani zu sich heranzuziehen, und daß es ihn herzlich freute, wenn er bemerkte, daß ihm dies gelang. Zu welchem Schluß dies führen mußte, war leicht vorauszusehen; um das Wann und Wo und Wie sorgte ich mich nicht.

Es war an einem späten Nachmittag, als wir das Bab Allah – Tor Gottes – erreichten. So hieß das hohe, breite Felsentor, durch welches sich früher die Wasser des Ssul ergossen hatten. Die vom Fluß in das harte Gestein gebohrte Öffnung war tief. Es ging sehr steil hinab. Die Spuren sagten uns, daß der Panther hier Beratung gehalten hatte, ehe er zu dem Entschluß gekommen war, sich dem nicht sehr verlockend aussehenden Bett des Stromes anzuvertrauen. Aber es gab jetzt Wasser darin, sogar fließendes, und das hatte ihn wahrscheinlich bestimmt, den Darstellungen seiner Führer Gehör zu geben.

»Hier ist er hinab«, sagte der Schech el Beled. »Er kommt nicht wieder herauf.«

»So ist das wohl schon die Falle?« fragte ich.

»Nein«, antwortete er. »Wir erreichen sie erst später. Aber der Weg zu ihr beginnt an dieser Stelle. Die Ufer sind nun zwei volle Tagesritte lang so steil und hoch, daß sich keine Stelle findet, an der die Feinde dieses Felsenbett verlassen könnten. Wir übernachten noch oben, um ihnen erst morgen früh da unten zu folgen.«

Ich muß erwähnen, daß wir auch hier im Gebiet von El Hadd von Tag zu Tag Etappen gelegt hatten, um unsere Verbindung nach rückwärts aufrecht zu halten. An der Stelle nun, die hinunter in das Flußbett führte, machte sich die Zurücklassung eines größeren Postens nötig. Das war die Meinung des Schech el Beled, und es stellte sich heraus, daß er recht gehabt hatte. Das Flußbett bildete eine wüste Anhäufung oder Abwechslung von Felsblöcken und vollständig totem Sand. Da gab es keine Spur von irgend einer Pflanze; da war kein Halm eines Grases zu sehen. Der bisherige, glatte Ritt wurde hier zu einem Stolpern und Klettern, welches außerordentlich ermüdete. Dazu die Hitze, welche stechend von oben heruntersengte und von den Felsen auf Mensch und Tier zurückgeworfen wurde. Wir konnten es wohl aushalten. Die Schimmel unserer Hilfstruppen waren solches Klettern schon gewohnt, und die Gäule der Ussul besaßen eine derartige Gutmütigkeit, daß sie ihre Geduld nicht verloren, wenn wir ihnen nur von Zeit zu Zeit für einige Augenblicke Gelegenheit gaben, zu verschnaufen. Und vor allen Dingen, Wasser war da; Futter für die Pferde und Proviant für uns hatten wir mit, so viel wir brauchten. Und wenn etwas zu Ende ging, so war es durch unsere Etappen sehr leicht und sehr schnell zu ergänzen. Bei dem Panther aber stand es anders. Wir wußten, daß er Not an Furage und Rationen litt, schon ehe er in das Flußbett hinabgestiegen war. Gewiß hatte man ihn überzeugt, daß diesem Mangel baldigst abzuhelfen sei; da dies aber keineswegs der Fall war, durften wir die Folgen bald erwarten.

Schon in der zweiten Hälfte des ersten Tages, den wir im Bett aufwärts ritten, trafen wir auf marode Menschen und Pferde, welche zurückgeblieben waren, weil sie nicht weiterkonnten oder -wollten. Gegen Abend wurde uns von unsern Seitenposten, die uns oben auf den hohen Ufern begleiteten, gemeldet, daß es unsern Führern des Panthers gelungen sei, seiner Rache zu entkommen! Dieser hatte sie, als des Weges kundig, vorausgeschickt, um dafür zu sorgen, daß man ihm alles, was er brauche, vom Wasserschloß aus sofort entgegensende, widrigenfalls er bei seiner Ankunft dort blutige Rache nehmen werde. Hieraus war zu ersehen, in welcher Lage er sich befand.

Am andern Morgen trafen wir auf eine Schar von über hundert Mann, die sich von ihm losgesagt und ihn verlassen hatte, und noch vor Mittag auf eine zweite, noch stärkere. Beide waren umgekehrt, aber bald darauf liegengeblieben, weil sie vor Hunger und Ermattung weder vor- noch rückwärts konnten. Wir betrachteten sie als Kriegsgefangene, nahmen uns ihrer an und erfuhren von ihnen alles, was wir wissen wollten. Dann wurden sie entwaffnet und unter hinreichender Bedeckung von Schwarzgewappneten nach unserer am hohen Flußufer errichteten Station zurücktransportiert. Dem Kommandierenden dieses Transportes aber wurde von dem Schech el Beled bedeutet, sich ja zu beeilen und ja nicht länger als zwei Tage unterwegs zu sein, weil dann der neue, lebendige Wasserstrom kommen und alles mit sich fortreißen werde, was sich noch zwischen den steilen Ufern befinde. Der Sinn dieser Warnung war uns nicht klar; der aber, an den sie gerichtet wurde, wußte, um was es sich handelte. Er antwortete, daß es nicht seine Absicht sei, den Tod des Panthers zu sterben; er werde, sobald das Wasser erscheine, mit seinen Leuten gewiß nicht mehr im Fluß sein.

Am Nachmittag ordnete der Schech el Beled an, daß alle unsere Schläuche zu füllen seien, weil von jetzt an das Wasser bis zu unserer Ankunft am Ziel verschwinden werde. Diesem Befehl wurde natürlich Folge geleistet. Niemand fragte dabei, woher er wissen könne, daß der Fluß wieder im Austrocknen sei. Was er vorausgesagt hatte, das bestätigte sich. Das Flußbett wurde noch vor Abend vollständig wieder trocken. Und nun erklärte sich der Schech el Beled deutlicher, indem er sagte:

»Der Panther soll wieder dürsten und dadurch um so sicherer in die Falle getrieben werden.«

»Ja, habt ihr es denn so in der Hand, dem Fluß Wasser zu geben oder zu nehmen, ganz wie es euch beliebt?« fragte Halef erstaunt.

»Ja«, antwortete der Schech el Beled einfach. »Du wirst es sehen. Es ist alles wohlerwogen und vorherbestimmt.«

Noch ehe es Abend wurde, kamen wir an eine Stelle, wo Pferde geschlachtet worden waren, und zwar zwölf Stück, wie wir aus den liegengebliebenen Resten erkannten. Es muß schlecht um eine Reitertruppe stehen, wenn sie, um nicht hungern zu müssen, sich ihrer eigenen Pferde beraubt.

Am dritten Tag bekam das Flußbett ein völlig anderes Aussehen. Die in ihm aufgehäuften Felsenstücke und Steintrümmer wurden weniger, bis es schließlich gar keine mehr gab. Die riesige Wasserrinne führte zwar noch ebenso wie vorher durch eine mächtige und vollständig kompakte Granitlagerung, aber ihr Boden war nicht mehr bedeckt, sondern frei und ebenso glatt wie ihre Wände. Das war Schliff; eine Folge der Reibung durch das sich fortbewegende Gestein. Das Wasser mußte hier eine ganz ungewöhnliche Druckkraft besessen haben, um Massen von solchem Gewicht vorwärtsschieben zu können. Als ich eine Bemerkung hierüber machte, antwortete der Schech el Beled:

»Diese Kraft kommt, wie überhaupt jede Kraft, von oben. Woher, das wirst du schon morgen sehen.«

Es gab in diesem öden, ungeheuren Felsengraben nicht einen Tropfen Wassers. Die Sonne brannte wie mit Nadelspitzen herein. Wie gut, daß wir uns mit Wasser versehen hatten! Und welche Qualen mußten die Leute des Panthers erlitten haben! Ihre Spuren zeigten uns die Stelle, an der sie des Nachts gelagert hatten. Und aus diesen Spuren ersahen wir, daß hier ein Ereignis eingetreten war, durch welches sich die Kavallerie in Infanterie verwandelt hatte. Die Pferde waren nämlich durchgegangen. Es hatte eine ›Stampede‹ stattgefunden, wie man sich in den amerikanischen Prärien auszudrücken pflegt, wenn die Pferde sich aus irgend einem Grund losreißen und davonrennen. Als wir uns fragten, welcher Grund das hier gewesen sein möge, sagte der Schech el Beled:

»Das Wasser. Sie waren fast verdurstet. Da kam ihnen während der Nacht eine kühle feuchte Luft entgegen. Was die Menschen nicht merken konnten, das merkten die Tiere, nämlich daß es da vorn, vorwärts von ihnen, Wasser in Menge gibt. Sie ließen sich nicht halten; sie gingen durch.«

Daß diese Darstellung richtig war, ersah ich aus dem Gebaren meines Syrr, der sein schönes, feines Köpfchen von jetzt an ganz anders trug als in den letzten Stunden und dem uns entgegenwehenden Lufthauch seine Nüstern weit und behaglich öffnete. Indem wir weiterritten, beobachteten wir den Boden genau. Wir sahen nur die Spuren galoppierender Pferde, nicht die eines langsam gehenden. Hieraus war zu schließen, daß sie alle entflohen waren; kein einziges war geblieben.

Unsere dicken Ussulgäule waren für Feuchtigkeit besonders empfindlich. Sie griffen jetzt ganz von selbst und ohne angetrieben zu werden, derart aus, daß wir, zumal uns keine Felsstücke mehr im Wege lagen, viel schneller vorwärtskamen als bisher. Dabei bemerkten wir, daß auch die hohen Ufer ein ganz anderes Aussehen bekamen. Sie begannen, sich mit Grün zu schmücken, erst mit Gräsern und Stauden, dann mit Büschen und Bäumen. Nach einiger Zeit gab es da oben sogar betretene Wege. Wir sahen nicht nur unsere Lanzenreiter, sondern auch andere Leute, die uns von den hohen Ufern aus mit großem Interesse betrachteten, aber still, ohne allen Lärm. Kein lautes, zudringliches Wort drang bis zu uns herunter.

Dann sahen wir, wenn wir hinaufblickten, Häuser stehen, die nach und nach zusammenrückten und sich in wohlbeschatteten und blumengeschmückten Reihen an beiden Ufern hinzogen. Hinter ihnen stiegen kräftig emporstrebende Höhen auf, wo schimmernde Wohnungen in früchtereichen Gärten lagen. Näherten wir uns vielleicht der Hauptstadt dieses Landes? Durften wir vielleicht hoffen, das Wasserschloß von El Hadd nun bald zu erreichen? Der Schech el Beled war still; so fragten wir also nicht. Die Antwort kam von selbst. Sie kam so plötzlich, daß unser Erstaunen keine Worte, ja nicht einmal einen kurzen Ausruf fand, um sich auszusprechen.

Unsere Hauptrichtung war genau Nord. Wir hatten soeben einen Bogen nach Ost gemacht und waren in unsere vorige Richtung zurückgekehrt, da traten die Felsenwände des Flußbettes, in dessen Tiefe wir uns befanden, mit einem Male weit, weit auseinander, und rund, wie eine Arena, die nur für Giganten berechnet ist, lag ein Panorama vor uns, welches weder von der Hand eines Malers noch von der Feder eines Dichters wiedergegeben oder beschrieben werden kann. Man denke sich einen tiefen, gewaltigen Felsenkessel, der unten auf seinem Grund, wo wir jetzt waren, einen Durchmesser von wenigstens einer Wegesstunde hatte, oben aber noch viel mehr. Wir hielten an seinem südlichsten Punkt, wo die natürlichen Felsenmauern, die ihn umsäumten, am niedrigsten waren. Indem sie sich von uns aus auf beiden Seiten nach Norden rundeten, stiegen sie an diesen Seiten mehr und mehr an und traten, je höher sie wurden, um so mehr zurück, um eine ganze Folge von Stufen und Terrassen zu bilden, auf denen sich Garten an Garten reihte und in jedem Garten ein Landhaus eigenen Stiles stand. Dieser wunderbare Bergkessel war unten auf seinem Grund vollständig felsenkahl, doch nur bis zur Uferhöhe des Flusses. Da führte eine sehr breite Straße, an welcher Häuser standen, rundum. Die Lücke, welche durch das Flußbett in diese Runde geschnitten wurde, war durch steinerne Bogen überbrückt, welche aus so großen und so schweren Quadern bestand, daß man sich verwundert fragte, wie es möglich gewesen sei, sie zu heben und zu bewegen. Bis beinahe zu dieser Straße und zu diesen Häusern hinauf hatte früher das Wasser des Flusses gestanden. Aber woher war es gekommen? Man sah es noch heut, nach so vielen Jahrhunderten, daß Ssul, der »Fluß des Friedens«, gleich ganz und voll und fertig aus diesem Kessel herausgetreten war. Es gibt im Süden der Rocky Mountains in Nordamerika Wasserläufe, die allerdings auch gleich so fix und fertig aus dem Felsen treten, aber das sind nur kleine unbedeutende Flüßchen, deren plötzliches Erscheinen man sich sehr wohl erklären kann, doch Ssul war kein Flüßchen, sondern ein Fluß oder vielmehr ein Strom, der seine Entstehung nicht einer gewöhnlichen, unterirdischen Sammelquelle zu verdanken haben konnte.

Indem ich, dieses denkend, mit meinem Blick nach aufwärts suchte, sah ich genau am nordöstlichen und nordwestlichen Punkt des Kessels je einen Aquädukt, von denen mir schien, daß sie mit der Beantwortung dieser meiner Frage in Verbindung zu setzen seien. Sie waren nicht künstlich, sondern natürlich. Man hatte nur ein klein wenig nachzuhelfen gebraucht. Sie überspannten zwei gewaltige Öffnungen, welche, schwarzen Schlünden gleich, aus dem Fuß des Berges gähnten. Waren das vielleicht die Stellen, aus denen das Wasser einst gekommen war und nun wahrscheinlich wiederkommen sollte? Und standen mit diesem Wiederkommen vielleicht die großen Kähne oder vielmehr Flußschiffe in Verbindung, die wir am südöstlichen und südwestlichen Punkt des Kessels liegen sahen? Dort gab es nämlich je eine tiefe, hafenähnliche Ausbuchtung, auf deren Grund diese Fahrzeuge lagen. Sie hatten die Länge und Breite unserer großen Rhein- oder Elbkähne, waren aber nicht von derselben Gestalt und dabei orientalisch fremdartig verziert. Jeder hatte seinen Namen; ich konnte aber nur einen lesen, und der war »Marah Durimeh«.

Wenn man das Auge von unten nach oben, von einer Terrasse zur andern schweifen ließ, sah man auf jeder dieser Stufen auch freie, in den Berg hinein gerundete Plätze mit größeren Bauwerken, welche jedenfalls der Öffentlichkeit oder dem Gemeindewohl dienten. Hoch oben aber, uns gerade gegenüber, ragte ein Engel himmelan, der ganz genau die Gestalt der Wasserengel in der Stadt der Toten und an der Landenge von Chatar hatte, aber viel, viel größer als sie beide war. Er bildete den höchsten und zugleich auch den Höhepunkt des herrlichen Panoramas, welches vor uns lag. Zu seinen beiden Seiten standen Gebäude mit zahlreichen Balkonen, Erkern, Zinnen, Türmen und Spitzen. Diejenigen Teile von ihnen, welche dem Engel nahelagen, waren hoch, sehr hoch; die andern nahmen an Höhe ab, je weiter sie sich von ihm entfernten.

Es war ein ganz eigenartiger Eindruck, den dieser Anblick machte. Man fühlte sich so arm, so schwach, so klein, und doch wurde man erhoben, hoch erhoben. Unten der nackte Fels des einstigen Wasserbettes, der kein einziges Hälmchen trug, als solle er dokumentieren, daß die Seele des irdischen Gesteines kein anderes Verlangen habe als nur nach Wasser, Wasser, Wasser. Und dennoch auf ihm aufgebaut die sämtlichen Terrassen und Daseinsstufen des Erdentums bis hinauf zu dem Engelsbild, welches hoch in die Wolken ragt und das ersehnte Wasser nicht nur regelt, sondern auch spendet. Zwischen beiden, nämlich zwischen dem scheinbar leblosen Fels und dem Engel, den die schaffende Kunst aus ihm formte, ein ebenso reich gestaltetes wie reich bewegtes Menschenleben, welches auf allen Straßen und Plätzen hin- und her- und auf- und niederflutete. Überall, wohin wir sahen, standen diese Leute und schauten auf uns hernieder. Sie sahen so fest- und feiertäglich aus, so froh und glücklich gestimmt, wie die ganze, herrliche Natur, in der sie wohnten und lebten. Wir sahen, daß man von unserm Kommen unterrichtet gewesen war, daß man uns erwartet hatte. Das Erscheinen unserer Lanzenreiter auf beiden Seiten des Ufers war der Beweis gewesen, daß der Schech el Beled nun nahe sei. Und als er jetzt erschien, an unserer Spitze aus dem tiefen Flußbett hervorreitend, das Angesicht noch immer blau verschleiert, da brauste ein Jubel los, der laut, wie das donnernde Branden eines Ozeans von Stufe zu Stufe bis hinauf zum Engel stieg und dort wie nach dem Himmel zu verhallte. Das wirkte tief, unendlich tief ergreifend und wiederholte sich mehrere Male. Der Dschirbani trieb sein Pferd weiter vor, ergriff die Hand des Schech el Beled und zog sie an seine Lippen.

»Warum dieser Kuß?« fragte der Genannte.

»Ich konnte nicht anders; ich mußte«, antwortete der junge Mann mit Tränen in den Augen.

»So hast du mich lieb!«

»Ja, lieb, so lieb!«

»Ich dich auch. Warum, das wirst du schon morgen erfahren.«

Indem er dies sagte, zitterte seine Stimme vor Rührung. Dann fügte er, zu uns gewendet, hinzu: »Das ist das Wasserschloß von El Hadd, und das ist der Engel der Wasserscheide, von dem die Sage erzählt. Und das, da unten, da vorn, ist der Mensch, der Panther, der es wagt, hier Herr und Gebieter sein zu wollen!«

Wenn man sich auf dem Boden des Felsenkessels die Mitte dachte und den Weg von dieser Mitte nach der hintern, höchsten Wand des Kessels in zwei gleiche Hälften schied, so erhob sich auf dem Teilungspunkte dieser Hälften eine Art von Insel, welche mit Gebüsch und Bäumen bepflanzt war. Es mußte da Wasser geben. Diese Insel war von uns also dreiviertel Wegestunde entfernt, von dem Nordrand des Kessels aber nur eine Viertelstunde. Dort führte von der hohen Uferstraße eine breite, steinerne Treppe bis auf den Felsengrund des Flusses herab. Und von da ging ein betretener Weg gerade nach der Insel, auf welcher der Panther mit seiner Truppe jetzt lagerte.

»Das ist die Pantherfalle, in die er ging, weil ihm kein anderer Weg offenstand«, erklärte der Schech el Beled. »Die Insel ist nur die schützende Bekleidung einer Zisterne, welche tief hinuntergeht bis auf den natürlichen Wasserweg, der von hier aus nach dem Dschebel Allah und von dort aus zu allen Wasserengeln führt, die Abu Schalem, der große Maha-Lama, baute. Es gibt ihrer nämlich mehr, als ihr kennt. In diese Zisterne steigt man hinab, um zu prüfen, ob diese Wasserspender versorgt sind oder nicht. Den Panther hat der Durst hingeführt. Ihr seht, daß der ganze Kessel rundum mit Menschen besetzt ist. Es gibt keine andere Stelle, an der man vom Ufer herunter und von hier hinauf kann, als nur jene Treppe dort hinten am nördlichen Ufer. Seine Pferde sind gewiß schon früher hier angekommen. Man hat sie getränkt und dann über die Treppe auf das Ufer geschafft. Wir werden jetzt desselben Wegs gehen. Als er dann kam, mußte er mit dem ersten Blick erkennen, daß er sich in vollständiger Unwissenheit über unser Land und seine Bewohner befunden hat. Er konnte nirgends hinauf. Die Treppe wurde ihm verwehrt. Es wäre Wahnsinn gewesen, sie erzwingen zu wollen. Nun lagert er an der Zisterne. Der Fluß wird kommen. Er muß kommen, denn die verheißene Zeit ist da. Er wird steigen und die Insel mit allem, was sich auf ihr befindet, verschlingen, weil man ihrer Höhe absichtlich nicht die Höhe des Wasserstandes im Ssul gegeben hat. Wir reiten jetzt über den Grund des Kessels hinüber. Wir halten bei der Zisterne an. Wir fragen den Panther, ob er sich ergeben will oder nicht. Tut er es, so kann vielleicht noch Gnade walten. Tut er es aber nicht, so wird sein Nacken, den er nicht beugen will, durch ihn selbst gebrochen. Also wir ...«

Er hielt inne, denn es fiel da drüben auf der Insel ein Schuß; es folgten mehrere, ja viele Schüsse. Es erhob sich ein Rufen und Schreien, welches in das wütende Geheul eines Kampfes überging. Wir sahen, daß unsere Gegner in ein tödliches Handgemenge unter sich selbst geraten waren. Wir hatten die Absicht gehabt, schnell hinüberzureiten; nun aber rückten wir nur langsam vor. Die Schwarzgepanzerten voran, bildeten wir eine breite Linie, die Insel zu umfassen. Als man das sah, wurde der Kampf dort zunächst hitziger; die Schüsse fielen schneller, und das Toben und Brüllen verdoppelte sich. Dann aber wurde es plötzlich still. Es erscholl eine laute, befehlende Stimme; eine andere, ebenso befehlende, antwortete. Ein Mann kam unter den Bäumen der Insel hervor, mit dem Säbel in der Faust. Es folgten ihm mehrere, ja viele. Sie rannten uns entgegen. Es gab unter ihnen welche, die stürzten nieder und standen nicht wieder auf, weil sie verwundet waren oder gleich tot zusammenbrachen. Der ihnen Voraneilende blieb, als er weit genug herangekommen war, stehen und rief uns zu:

»Wir ergeben uns; wir ergeben uns! Der Panther ist verrückt geworden! Er schießt auf seine eigenen Leute!«

Wir kannten den, der das sagte, sehr genau. Es war der zum General gemachte Oberst, der auf dem Weg nach der Stadt der Toten sich mit dem Panther in unserer Gefangenschaft befunden hatte. Es wurde ihm von dem Schech el Beled bedeutet, mit denen, die ihm folgten, bis an die Treppe zu marschieren und dort zu warten, was bestimmt werde. Die Verwundeten habe er mitzunehmen. Er folgte dieser Weisung, ohne Bedingungen zu stellen. Dieses Beispiel blieb nicht ohne Wirkung auf die, welche auf der Insel zurückgeblieben waren. Es kamen ihrer noch viele, sehr viele, die ihren bisherigen Führer noch verließen und sich in der Richtung nach der Treppe von der Insel entfernten. Die beiden Stimmen, welche wir von weitem gehört hatten, waren diejenigen des Generals und des Panthers gewesen. Die letztere erschallte noch jetzt. Wir hörten sie um so deutlicher, je mehr wir uns der Insel näherten. Er brüllte allerdings wie ein Wahnsinniger, wie ein Tobender. Wir schlossen die Insel ein und schickten Irahd vor, um zu fragen, ob der Panther sich ergeben wolle oder nicht. Da wurde er still. Es dauerte einige Zeit, ehe er Antwort gab. Er schien Beratung zu halten. Das Resultat war das Eingehen auf eine kurze Unterredung mit dem Schech el Beled von El Hadd.

Jeder der beiden Hauptpersonen wurden zwei Begleiter zugestanden; sie alle mußten unbewaffnet sein. Die Unterredung hatte zwischen der Insel und unserer Aufstellung stattzufinden. Der Schech el Beled wählte den Mir von Ardistan und mich, ihn zu begleiten. Der Panther kam mit zweien, die ich kannte, nämlich mit dem Schwert des Prinzen und der Feder des Prinzen, jenen beiden Tschoban, die mit ihm unsere Gefangenen gewesen waren. Wenn bestimmt war, daß die Unterredung auf dem Platz, der zwischen der Insel und unserer Aufstellung lag, stattfinden solle, so nahm ich an, daß der Mittelpunkt dieser Entfernung gemeint sei. Es fiel mir daher auf, daß der Panther mit seinen beiden Kumpanen schon stehenblieb, noch ehe er diesen Punkt erreichte. Er wünschte uns also so nahe wie möglich an der Insel zu haben. Das erregte meinen Verdacht. Ich teilte das dem Schech el Beled und dem Mir mit, und so gingen wir also nicht weiter, als wir verpflichtet waren. Dadurch wurde der Panther gezwungen, zu uns heranzukommen. Sein Gesicht hatte das Aussehen einer unbeweglichen Larve; aber seine Augen glühten. Das war wohl vor Zorn darüber, daß wir uns nicht hatten verleiten lassen, uns von unserer Truppe weiter zu entfernen. Er blieb stehen; er setzte sich nicht; also folgten wir diesem Beispiel. Ich musterte ihn und die beiden andern, ob sie vielleicht eine versteckte Waffe bei sich trügen, konnte aber nichts entdecken, was diese Vermutung bestätigte. Doch fiel mir auf, wie die drei sich stellten und bewegten. Sie vermieden es nämlich ganz auffällig, uns mit ihren Gestalten nach der Insel hin zu decken. Um dies zu prüfen, veränderte ich während der Unterredung, so kurz diese war, meine Stellung mehrere Male, aber immer veränderten sie hierauf nun auch die ihrige sofort und derart mit, daß ich die gesuchte Deckung wieder verlor. Man hatte also vor, von der Insel aus auf uns zu schießen, und darum nahm ich diese scharf in die Augen, obgleich ich es war, der mit dem Panther sprechen sollte; der Schech und der Mir wollten schweigen.

»Was wollt ihr?« zischte er uns an, sobald er uns erreichte. Ich antwortete: »Dich fragen, ob ...«

»Mich fragen?« unterbrach er mich. »Hier habe nur ich allein zu fragen, nicht ihr! Am allerwenigsten aber du! Also: Was wollt ihr hier? Was habt ihr hier zu suchen? Was schaust du mich wegen dieser Frage an? Wenn du sie nicht beantworten kannst, werde ich es an deiner Stelle tun! Euer Geschick hat sich erfüllt. Es treibt euch in meine Hände! Du stehst am Tode; du hast ihn reichlich verdient. Der Mir ebenso! Und der Schech el Beled wird mein Gefangener. Ich zwinge ihn, abzudanken und mich an seine Stelle zu setzen. Er wird gezwungen, dies zu befehlen, um sein Leben zu retten, und sein Volk wird ihm gehorchen.«

War dies Wahnsinn? War dies ein soeben schnell überlegter Plan? Oder war es beides? In seinen Augen flackerte ein unruhiges, starkwilliges, außerordentlich gefährliches Licht. Er fuhr allen Ernstes fort:

»Ich frage euch: Wollt ihr euch freiwillig ergeben oder nicht?«

»Wir uns euch? Oder ihr euch uns?« fragte ich dagegen.

»Wir uns euch?« donnerte er mich an. »Bist du verrückt geworden? Meinst du, daß wir uns vor euch fürchten? Oder vor diesem nackten Felsen? Oder vor den Menschen, die rundum da oben stehen, als ob sie uns zurückweisen könnten? Ich sage dir, ihr befindet euch in meiner Gewalt. Eure Berechnung, daß ich verdursten werde, war falsch, denn hier in dieser Zisterne gibt es mehr Wasser, als ich brauche. Und das Volk, welches jetzt so stolz auf mich niederblickt, wird mir schon morgen zujubeln, mir, seinem Herrscher und Gebieter!«

Er sprach mit der Überzeugung eines Mannes, der felsenfest an seine Halluzinationen glaubt. War das eine Folge der Schreckensnacht am Dschebel Allah? Oder war es überhaupt eine psychologische Folgerichtigkeit, daß der Wahngedanke seines ganzen Lebens, ein großer Herrscher zu werden, unter den gegenwärtigen Verhältnissen zum Überschnappen kommen mußte?

»Du irrst«, antwortete ich. »Du wirst allerdings nicht aus Mangel an Wasser sterben, sondern am Gegenteil, am Überfluß. Du wirst ertrinken!«

»Wo? Wann?« fragte er.

»Jetzt! Hier! Der Fluß wird kommen und wird steigen. Und das Wasser in der Zisterne wird steigen. Beides wird die Insel überströmen und sie mit sich fortschwemmen!«

»Überströmen? Fortschwemmen?« rief er mit einem unbeschreiblich häßlichen und abstoßenden Lachen aus. »Willst du mich etwa dadurch zu der Dummheit verlocken, mich euch auszuliefern? Ich sage dir: Lieber tausendmal in den Tod und lieber millionenmal die ärgsten Qualen erdulden, als mich in eure Hände zu geben! Ich fürchte nie den Tod; ich fürchte ihn auch jetzt nicht, sondern ich lache über ihn. Euch aber wird er – jetzt, jetzt, jetzt!«

»Nein, uns wird er nicht!« antwortete ich. »Dich aber wird er fassen, genau so, wie ich dich jetzt fasse!«

Da ich scharf aufpaßte, so sah ich, daß mehrere seiner Leute hinter schützende Baumstämme getreten waren und, als er ihnen durch den Ausruf »Jetzt, jetzt, jetzt« das Zeichen dazu gab, ihre Gewehre auf uns anlegten, um auf uns zu schießen. Ich griff schnell zu, faßte ihn, zog ihn an mich heran, drückte ihn so an mich, daß er sich nicht bewegen konnte und forderte den Mir und den Schech el Beled auf:

»Tretet schnell hinter mich! Da seid ihr gedeckt!«

»Gedeckt?« fragte der Schech. »Mich decken? Vor wem?«

Er ballte die Faust und holte aus. Zwei Hiebe, und das Schwert des Prinzen stürzte samt der Feder des Prinzen wie von einer Axt getroffen zu Boden.

»Der Schech el Beled von El Fladd sucht niemals Schutz hinter dem Rücken eines Menschen!« fügte er dann hinzu. »Daß er es nicht nötig hat, seht ihr hier und dort!«

Er deutete dabei auf die Schwarzgewappneten, welche herbeieilten, uns schützend zu umringen, und auf die Insel, wo das Handgemenge wieder ausgebrochen war, und zwar zwischen denen, die der Panther mit seinem jetzigen Anschlag gegen uns beauftragt hatte, und denen, die nichts davon wußten. Die letzteren hinderten die ersteren, auf uns zu schießen, die wir in der großen Überzahl waren, und so entspann sich zwischen ihnen ein Kampf, der uns Gelegenheit gab, uns unbelästigt zurückzuziehen. Ich hielt den Panther mit unwiderstehlichem Nackengriff fest und stieß ihn vor mir her, bis wir uns außer sicherer Treffweite von der Insel befanden. Dort schüttelte ich ihn kräftig zusammen und fragte:

»Ergibst du dich uns freiwillig?«

»Nein!« hauchte er, obgleich ihm beide Arme kraftlos herabhingen und ihm mein Faustgriff das Blut in die Augen trieb.

»Du wirst ersaufen, elend ersaufen, Mensch!«

»Das tue ich mit Wonne!« versuchte er höhnisch zu lachen; es ging aber nicht.

»Wenn du dich ergibst, so wird dir verziehen werden!«

»Allah verdamme dich und deine Verzeihung! Hunde haben nichts zu verzeihen! Laß mich los! Gib mich frei!«

»Ja! Hier, sei frei!«

Ich stieß ihn von mir, daß er zu Boden flog und sich überschlug. Er raffte sich schnell wieder auf, blieb aber nicht, wie ich erwartet hatte, fluchend und drohend stehen, sondern rannte stracks fort, der Insel zu. Wir aber ritten weg, mochte dort geschehen, was da wollte. Wir sahen, daß man dort wieder aufeinander schoß, kümmerten uns aber nicht darum, bis wir merkten, daß eine ganze Anzahl der Leute des Panthers hinter uns herkam und uns einzuholen strebte. Da beorderten wir eine Abteilung der Schwarzgewappneten, auf sie zu warten und sie uns nachzubringen. Nun hatte der Aufrührer von seinen tausend Mann höchstens noch zweihundert bei sich. Wir erfuhren von diesen letzten, die uns folgten, daß ich und der Mir von der Insel aus während der Unterredung hatten niedergeschossen werden sollen. Der Panther wollte, sobald diese Schüsse gefallen waren, mit Hilfe seiner beiden Kumpane den Schech el Beled ergreifen und nach der Insel schaffen. Hatte er diesen in seiner Gewalt, so konnte er seine Freiheit und auch noch mehr von ihm erzwingen, sich vielleicht gar mit ihm verbinden. Auf alle Fälle aber war dann Ardistan wieder ohne Herrscher und das Intrigieren und Verwirren konnte von neuem beginnen. Gewiß nicht übel ausgedacht von einem Menschen, der den Verstand vollständig verloren zu haben schien!

Als wir die steinerne Treppe erreichten, wurde der Schech nicht laut, sondern von einer tiefen, ehrfurchtsvollen Stille empfangen. Wenn ein Herrscher von El Hadd sein Angesicht verhüllt, so hat er den Schwur von Dschinnistan getan und wird als tabu betrachtet, bis er den Schwur erfüllt hat und den Schleier wieder entfernt. Daher dieses Schweigen und diese Ruhe, welche an jeder Stelle sofort eintrat, sobald wir uns ihr näherten. Übrigens gab es gleich bei unserer Ankunft ein kleines Intermezzo, welches ein heiteres Lächeln über diesen Ernst der Stimmung warf. Es wurde hervorgerufen durch unsern guten, dicken Smihk, der seinen Herrn trug und sich so viel wie möglich an meiner Seite hielt, obgleich mein Rappe die Zuneigung nicht erwiderte. Auch bis jetzt war Amihn neben mir und Halef geritten; nun aber trennte er sich von uns. Er sah, welche Aufmerksamkeit die oben auf den Terrassen stehenden Leute von El Hadd auf die riesigen Ussul und ihre noch riesenhafteren Urgäule richteten. Das tat ihm wohl, und da er der Allergrößten einer war, beschloß er, nicht da im Zug zu reiten, wo wir uns mit dem Schech el Beled befanden, sondern an der Spitze seiner Landsleute, der Garde von Ard. Er blieb also zurück, als wir unsere Pferde veranlaßten, die hohe, breite Treppe emporzusteigen. Oben wurden wir von unsern Lanzenreitern erwartet, die uns auf den beiden Ufern des Flusses begleitet hatten und rechts und links um den Kessel geritten waren, um an der Treppe wieder miteinander zusammenzutreffen. Von hier aus sollte zum Schloß emporgeritten werden. Voran der Schech el Beled mit dem Mir von Ardistan, hinter ihnen die Hälfte der Lanzenreiter, hierauf die Ussul und dann zum Schluß die andere Hälfte der Lanzenreiter. Die Schwarzgewappneten konnten nicht an diesem Zug teilnehmen, weil sie beauftragt waren, die gefangenen Leute des Panthers zu beaufsichtigen und unterzubringen.

Nun war es uns zwar nicht schwer geworden, unsere hochintelligenten Rassepferde zum Ersteigen der Treppe zu bewegen, den Urgäulen aber kam eine solche Zumutung ganz ungeheuerlich vor. Sie entsetzten sich vor der hohen Stufenreihe. Sie weigerten sich, zu gehorchen. Die größte Angst schien Smihk, der Dicke, zu haben. Er stieß ganz unbeschreibliche Jammertöne aus. Er war weder durch gütiges, noch durch strenges Zureden zu bewegen, die Möglichkeit zu versuchen. Er ging nur bis zur untersten Stufe, betastete diese mit dem Vorderhuf, streckte diesen auch nach der zweiten Stufe aus, aber sobald er sich überzeugte, daß diese höher als die erste lag, stieß er ein Geheul des Schreckens aus und rannte wieder zurück. Da kam der Anführer der Schwarzgewappneten auf den klugen Gedanken, den dicken Gaul durch das Beispiel zu überzeugen. Sein eigenes Pferd war Treppenstufen gewohnt, weil sie hier in dem bergigen Gelände häufig vorkamen. Er ritt also die Treppe hinauf und hinunter und wieder hinauf und hinunter. Smihk sah und beobachtete das. Er war für so vernünftige Beweise nicht unzugänglich. Er ging, ohne von seinem Herrn dazu angetrieben zu werden, ganz von selbst wieder bis an die Treppe und setzte seine Vorderfüße zunächst auf die erste und dann auch auf die zweite Stufe. Sobald er aber merkte, daß die dritte wieder höher war als die zweite, drehte er sich laut zeternd um und riß aus. Der Schwarzgewappnete wiederholte den Anschauungsunterricht und hatte dieses Mal bessern Erfolg. Smihk versuchte, es nachzumachen und kam bis zur sechsten Stufe. Hier aber blieb er halten und schaute nach oben. Da wurde ihm himmelangst. Er kletterte schnell wieder herab, und zwar mit den Hinterfüßen voran, also verkehrt. Dieses Experiment schien ihm zu gefallen, denn er rannte nicht wieder davon, sondern blieb stehen, spielte mit den Ohren, rang das Schwänzlein und erhob ein wohlgefälliges, ja beinahe triumphierendes Geschrei. Währenddem blieb Amihn, der Scheich, ganz ruhig im Sattel und hütete sich, den Dicken im Überlegen und Versuchen zu stören. Der Gewappnete ritt zum dritten Male wiederholt hinauf und herunter. Da besann sich Smihk auf sein Ehrgefühl, an welches er jetzt gar nicht gedacht hatte. Er avancierte jetzt ganz von selbst bis an die unterste Stufe, warf den Kopf empor und ließ einen schmetternden Trompetenton erschallen, dessen Sinn ein jeder, der ihn hörte, verstehen und begreifen mußte: »Paß auf; jetzt geht es aber los; mag daraus werden, was da will!« Er nahm die erste und zweite, die dritte, vierte und fünfte Stufe, nicht etwa hastig und überstürzt, sondern sehr langsam und bedächtig. Da blieb er stehen und tat einen tiefen, erleichterten Atemzug. Dann ging es weiter und weiter, ganz genau, wie abgezählt und abgemessen, immer höher und höher, bis er oben ankam. Er wurde von der dortstehenden Menge mit Jubel empfangen. Er stimmte in diesen Jubel ein, indem er ein Wiehern hören ließ, in dem alle chromatischen und nichtchromatischen Tonleitern mit einem Male erschollen. Und hierauf geschah etwas, was niemand vermutet hatte. Nämlich Smihk stieg ganz aus eigenem Antrieb genau so wieder hinunter, wie er heraufgekommen war, mit dem Kopf nach oben, also nun rückwärts. Als er unten ankam, war ein allgemeines Händeklatschen sein Lohn. Da brüllte er vor Vergnügen. Die Sache schien ihm zu gefallen. Er stieg wieder hinauf und wieder hinunter; er tat es wieder und wieder. Er versuchte den Abstieg auch von der Seite; es ging. Er versuchte ihn mit dem Kopf voran; auch das ging. Da geriet er vor Entzücken fast außer sich. Er rannte nur immer wieder hinauf und wieder hinunter. Er schrie, brüllte, wieherte, meckerte, schnatterte und blökte in einem fort. Es war, als ob er sich in allen möglichen Tierstimmen hören lassen wolle. Bald aber war ihm anzumerken, daß er eine ganz andere und lobenswerte Absicht hatte. Er wollte die anderen Urgäule anregen, es ihm nachzutun, und das war nicht ohne Erfolg. Der eine und der andere Reiter machte den Versuch, der zwar nicht gleich, aber endlich doch gelang. Andere folgten, erst einzeln, dann gleich neben- und hintereinander, bis die noch zurückstehenden Pferde ganz von selbst einsahen, daß es gar nicht schwer sein könne, die Stufen zu überwinden. Als so die Angst beseitigt war, dauerte es gar nicht lange, bis auch das letzte von ihnen die Schwierigkeit überwunden hatte. Smihk, der Dicke, aber hatte mehr erreicht als alle die anderen Gäule: man sprach überall von ihm; er war von jetzt an der erklärte Liebling aller Bewohner von El Hadd und wurde, wo man seiner nur habhaft werden konnte, mit Leckerbissen bestürmt, die oft wohl kaum für ein Pferd geeignet waren.

Der Zug berührte alle übereinanderliegenden Terrassen, bis wir auf der obersten angekommen waren und nun in sanfter Steigung nur noch die eigentliche Kuppe des Berges zu nehmen hatten. So nämlich dachte ich. In Wirklichkeit aber war, wie ich bald sehen konnte, von einer Bergeskuppe gar keine Rede. Es gab hier weder das, was man im eigentlichen Sinne einen Berg, noch das, was man eine Kuppe nennt. Der Kessel, der nun unter uns lag, war nichts als der wohlterrassierte, plötzliche Absturz der weit vorherrschenden Ecke eines Hochplateaus, an dessen Südseite sich das eigentliche Dschinnistan nun erst zu erheben begann. Die Füße aller der Berge, die man da sah, standen im Wasser. Ungefähr so, aber in gigantischer Vergrößerung, wie der Vierwaldstädter See sich derart innig um die Fundamente des Rigi, des Pilatus und anderer Berühmtheiten legt, daß sehr oft zwischen Wasser und Fels kein gangbarer Pfad zu ermöglichen ist, so windet sich auch da oben im südlichen Grenzgebiet von Dschinnistan eine vom tiefsten Blau bis zum hellsten Grün zu den Menschen sprechende Flut in der Weise zwischen den hochstrebenden Felskolossen hin, daß man behaupten möchte, diese letzteren seien nicht durch die Füße der Sterblichen, sondern nur auf ähnliche Weise zu erreichen, wie der Gegensatz von diesen Bergen, nämlich die Unterwelt, einst nur durch Charons Kahn zu erreichen war.

Diese Wasser, deren Weite und Tiefe bisher noch nie ergründet worden sind, flossen einst nach drei Seiten hin in die Täler und Ebenen der angrenzenden Länder nieder, nämlich nach Ost, nach West und nach Süd. Dieser letztere Fluß war der Ssul, der durch El Hadd nach Ardistan ging und am Küstenland der Ussul das Meer erreichte. Warum er einst versiegte und warum die von ihm befruchteten Gegenden zur Wüste wurden, das hat man versucht, mit Hilfe der Sage zu erklären. Es wird die Zeit kommen, in der die exakte Wissenschaft es für ihre Aufgaben hält, diese Fragen zu erörtern. Bis heut ist nur erwiesen, daß der Ssul sich aus jenen Wasserfluten erzeugte, welche von Dschinnistan bis herüber an das Schloß von El Hadd geflossen kommen und damals von Abu Schalem, dem berühmtesten und gütigsten aller Maha-Lamas, durch ebenso geheimnisvolle wie umfangreiche Uferbauten geregelt wurden.

Hiervon aber hatte ich, als wir jetzt aus dem Kessel heraufgeritten kamen, keine Ahnung. Ich glaubte, sobald wir die Höhe erreichten, jenseits wieder tief in abfallende Täler schauen zu können, und der Schech el Beled, der das wohl wußte, sagte kein einziges Wort, mich von diesem Irrtum zu befreien. Die Stadt, welche unterhalb des Schlosses lag, ging nicht ganz bis zu diesem hinauf. Man hatte von ihren letzten Häusern aus noch volle vier Terrassen höher zu steigen. Genau so weit, also genau vier Terrassen tief, reichte das äußere Fundament des Engels nieder, während rechts und links davon die Fundamente des Schloßbaues nur zwei Terrassen tief gründeten, aber auch auf festem, unerschütterlichem Felsen. Diese ungeheuer starken Mauerwerke schlossen große, geräumige Erd- und Kellergeschosse ein, die nach Süden, also nach der Sonnenseite lagen und neben gesunden Wohnungen auch eine unübertreffliche Aussicht boten. Hier wurden die Ussul untergebracht. Sie wohnten da besser als in Ard, und vortreffliche Stallungen gab es für ihre Pferde mehr als genug. Für die Lanzenreiter und die Schwarzgepanzerten standen ganz oben besondere Gebäude.

Als wir die letzte Vorterrasse hinter uns hatten und, auf dem Plateau anlangend, unter herrlichen, tausendjährigen Zedern hervorritten, bot sich uns ein Anblick, der so vollständig unerwartet und zugleich so überwältigend war, daß man hätte glauben können zu träumen. Das war ja keine Bergesspitze, wie ich erwartet hatte, sondern ein ganzes, neues, großes, herrliches Land, welches in wunderbarer, nie geahnter Schönheit sich vor uns breitete. Wir hatten die weite Fläche eines Sees, welcher fast ein Meer war, vor uns liegen, nach Ost und West vollständig unbegrenzt, während im Norden aus seiner Flut die Berge von Dschinnistan stiegen, in leichte Schleier gehüllt, zu Stein gewordenen Wahrsagerinnen gleich, die ihre Häupter aus dem See erheben, um nachzuschauen, ob sich bald erfüllen werde, was die Tiefe da unten schon seit Jahrtausenden predigte. Und hier, auf der Südseite des Sees, die fast übernatürlich hohe Gestalt des Engels, der, die Hand wie zum Segnen erhebend, von dem Hochland hinunter über die Grenze schaute, hinter sich eine unendliche und unerschöpfliche Fülle des Wassers, nach welchem die Menschen da unten und da draußen schon viele Jahrhunderte lang vergeblich dürsteten. Diesen Engel nach Ost und West flankierend die hochragenden und weit ausladenden Gebäude des Schlosses, dessen Stil in seiner sichern Schwere und doch so leichten, anmutig bewegten Gliederung nicht die geringste Spur der abendländischen Baukunst an sich hatte. Vor sich eine ganze Menge blühender, duftender Gärten, welche durch tiefe Kanäle getrennt waren und in ihrer Gesamtheit doch einen Park von so eigenartiger Anlage und Schönheit bildeten, daß es seinesgleichen gewiß nicht weiter gab. Und tief, wie diese Kanäle, war auch der eigentliche Zweck dieser Gärten und der fächer- und kulissenartigen Anordnung, in der sie sich von dem Schloß aus weit in den See hinaus erstreckten. Diese Gärten bildeten nämlich die verhüllende Verkleidung natürlicher Felsenmauern, welche, sich zwischeneinander schiebend, weit, weit hinaus in den See verliefen, um den ungeheuern Druck seines Wassers in Null zu verwandeln und den Wellen aber trotzdem zu erlauben, bis ganz nahe an das Schloß heranzutreten.

Diese seltsame Anordnung der Felsen, Mauern, Durchbrüche und Kanäle hatte aber noch einen zweiten Grund, der mit dem Innern des Engels in Beziehung stand. Es gab noch einen andern Druck, dessen Wirkung hierdurch genau geregelt und dessen Gefährlichkeit in Nutzen verwandelt werden sollte. Diese Felsenfächer und Felsenkulissen bildeten nämlich die berühmte und zugleich sagenhafte Wasserscheide von El Hadd, und im Innern des Engels lag für die wenigen berufenen Hände, die es gab, der Schlüssel, dieses Geheimnis in Wirkung treten zu lassen. Es war mir beschieden, das sehr bald zu erfahren.

Wir hatten unsere Pferde angehalten und sogen dieses köstliche Bild nicht nur in unsere Augen, sondern noch viel, viel tiefer auch in unsere Seelen ein. Die Sonne war im Scheiden. Sie hatte nur noch drei oder vier ihrer Durchmesser niederzusteigen, um dann im See zu verschwinden. Schon begannen einzelne Funken, über das klare, unbewegliche Kristall der Oberfläche zu zucken. Die Atmosphäre aber war bewegter als das Wasser. Das sahen wir an einem weißen Doppelsegel, welches, aus Nordwest kommend, sich näherte. Das Boot, welches von diesen beiden Segeln getrieben wurde, lag in ruhiger Fahrt ein wenig auf die Seite geneigt. Wie groß es war und wen es trug, das konnte man noch nicht sehen; aber Bug und Heck waren fremdartig hoch erhoben, und in dem Leinen zeigte sich nicht die geringste Spur eines Fleckes oder einer durch Gewalt erzwungenen Naht.

Wir waren vor Erstaunen und Bewunderung still gewesen; keiner hatte ein Wort gesprochen. Jetzt aber sagte der Schech el Beled, indem er nach dem Boot deutete:

»Wie pünktlich! Unendlich pünktlich! Sie liebt es, daß auch wir es sind! Sie kommt!«

»Wer?« fragte Halef.

»Du wirst dich wundern«, antwortete der Schech, ohne einen Namen zu nennen; aber seine Stimme klang sehr frohbewegt. »Dort bringt man schon die Pferde. Man hat sie kommen sehen. Sie lieben nicht die Sänfte; sie reiten beide gern.«

Man brachte zwei köstliche Schimmel aus dem Schloß, welche Damensättel trugen.

»Wir reiten mit, sie zu empfangen. Kommt!« forderte uns der Schech auf, indem er sich in Bewegung setzte.

Wir folgten ihm, und sämtliche Lanzenreiter kamen hinter uns her. Das sah aus, als gelte es, eine Fürstin zu empfangen. Wir ritten zunächst nach der Mitte des Schloßplatzes, von wo aus der breite Hauptweg des Kanal- und Gärtenfächers in schnurgerader Linie hinaus nach dem Landungsplatz führte. Dort angekommen, sahen wir, daß das Boot Veranstaltung traf, die Segel fallen zu lassen. Dies geschah. Nun sahen wir vier Personen, zwei Männer und zwei Frauen. Die Männer banden das Leinen fest und griffen dann zu den Rudern. Von den Frauen saß die eine am Steuer. Die andere stand hoch aufgerichtet vorn am Bug und gab an, zwischen welchen Felsen, Kanten und Klippen nach dem Landungsplatz zu steuern sei. Sie war ernst und dunkel gekleidet, aber ein weißer Schleier wehte von ihrem Haupt, und ihr Haar hing vorn in zwei silberhellen Zöpfen fast bis zur Erde herab.

»Maschallah!« rief Halef aus. »Ist das eine Vision? Oder ist es Wahrheit? Effendi, siehst du sie?«

»Marah Durimeh!« antwortete ich.

»Und Schakara am Steuer! Erkennst du sie?«

»Ja; sie ist es!«

Was ich empfand war nicht Überraschung, sondern es war mehr, viel mehr. Doch behielt ich es still im Innern. Sie kamen. Sie legten an. Sie stiegen aus. Der Schech el Beled griff dabei nach Marah Durimehs Hand, um sie zu stützen. Ich tat dasselbe bei Schakara.

»Kommen wir zur rechten Zeit?« fragte mich die letztere.

»Wenn ihr zugleich mit uns hier eintreffen wolltet, dann ja«, antwortete ich.

Sie war so ernst und doch so seelenlieb. Sie hatte das Boot gesteuert und besaß doch die guten, weichen Augen eines Kindes, welches noch nichts von Schicksalswillen und Schicksalslenkung weiß! Marah Durimeh reichte mir ihre Rechte, begrüßte mich mit einem Kuß auf die Stirn und sprach:

»Wem mein Erscheinen hier ein Rätsel ist, dem wird es sich bald lösen. Wir reiten direkt zum Engel.«

Der Mir von Ardistan stand unbeweglich da, kein Auge von ihr wendend. Er machte den Eindruck eines Mannes, der fast nicht wagte, Atem zu holen. So tief fühlte er sich von der Erscheinung meiner königlichen Freundin ergriffen. Er kam in Bewegung, als sie zu dem für sie bestimmten Pferd trat. Da eilte er hin, kniete vor ihr nieder und bot ihr Hand und Schulter an, sich in den Sattel zu schwingen. Sie tat dies mit jugendlicher Behendigkeit und sagte dann zu ihm:

»Ich danke dir! Kommt beide mir zur Seite, du und der Schech! Machen wir einen Umweg! Wir reiten ein Stück am Wasser hin, und ihr erstattet mir Bericht.« Und den Lanzenreitern befahl sie: »Eilt zur Herrin, und meldet ihr, daß ich angekommen bin!«

Dann zügelte sie ihren Zelter nach West, der untergehenden Sonne entgegen, die jetzt dem Horizont so nahe stand, daß strahlende Feuergarben über das Wasser zuckten und der ganze dortige Himmel in Flammengluten stand. Schakara ritt zwischen dem Dschirbani und mir. Halef und der Scheich der Ussul kamen hinter uns. Wir folgten dem Ufer in langsamem Schritt. Der Schech el Beled erzählte. Marah Durimeh hörte zu. Der Mir von Ardistan sagte fast kein Wort. Es war, als ob ein vollständig überwältigendes Gefühl oder eine Art Zauber ihn umfange. Auch der Dschirbani war still. Wir standen ja alle jetzt unter der außerordentlichen, seltsamen Empfindung, als ob hier oben auf dieser Höhe die Grenzen der Gewöhnlichkeit überschritten seien und nur noch Erstaunlichkeiten oder gar Wunder sich ereignen könnten. Der Schech el Beled faßte sich kurz. Darum hatte er seinen Bericht soeben beendet, als die Sonne verschwand und das strahlende Gold sich in glühendes Rot und abschiednehmendes Violett zu verwandeln begann. Da lenkte Marah Durimeh dem Schloß zu, indem sie sagte:

»So weiß ich nun, was geschehen ist. Es war grad so und nicht anders vorauszusehen. Die Zeit dieser Menschen ist dahin. Sie verschwindet, wie die Sonne da vorn verschwunden ist und wie die letzten Farben des irdischen Himmels verschwinden werden. Zwar kommt morgen ein neuer Tag, unaufhaltsam und unwiderstehlich, aber er ist ein ganz andrer Tag als der heutige. Die Erde sehnt sich nach Ruhe, die Menschheit nach Frieden, und die Geschichte will nicht mehr Taten der Gewalt und des Hasses, sondern Taten der Liebe verzeichnen. Sie beginnt, sich ihres bisherigen rohen, blutigen Heldentums zu schämen. Sie schmiedet neue, goldene und diamantene Reisen, um von nun an nur noch Helden der Wissenschaft und der Kunst, des wahren Glaubens und der edlen Menschlichkeit, der ehrlichen Arbeit und des begeisterten Bürgersinnes zu krönen. Die Gewalt herrsche nur noch heut, länger aber nicht. Es sei ihr nur noch diese eine Nacht vergönnt, die Seelen der Menschen zu erschrecken und zu quälen, wie das Wölkchen, welches sich dort von Norden her über den See uns nähern will, seine Blitze und Donner nur bis gegen Mitternacht versenden wird. Schon morgen früh aber sollen diese Menschen aufatmen und jubeln, wie hoch über uns das Wort Gottes in der Bibel jubelt: Der gestrige Tag ist vergangen; es ist alles neu geworden!«

Das Wölkchen, nach dem sie mit der Hand deutete, war in dem Augenblick des Sonnenunterganges entstanden und schien sich schnell vergrößern zu wollen. Es lag in ihm mehr Bewegung, als in der Atmosphäre rundum. Wir ritten nach dem Schloß, kamen an seinem westlichen Flügel vorüber und blieben vor dem hohen, breiten Postament des Engels halten. Es führte eine Freitreppe hinauf, zu deren beiden Seiten die Lanzenreiter Aufstellung genommen hatten. Oben an der letzten Stufe stand eine Frauengestalt in weißem Gewand. Ihr Angesicht war, genau wie das des Schech el Beled, von einem blauen Schleier verhüllt.

»Die Schloßherrin!« sagte Schakara zu mir.

Marah Durimeh winkte mit der Hand hinauf und rief ihr freudig zu:

»Wir kommen schnell! Und wir kommen gern! Sei gegrüßt!«

Sie stieg an der Hand des rasch abgesprungenen Mir von Ardistan vom Pferd und schritt die Treppe empor, jugendlich leicht, und dennoch mit der gewohnten Würde einer Herrscherin. Wir folgten ihr. Die drei Frauen umarmten einander. Der Schleier wurde zum Kuß nur ein wenig gelüpft. Als wir oben ankamen und der Schloßherrin gegenüberstanden, nannte ihr der Schech el Beled unsere Namen. Sie begrüßte uns mit der Hand und sprach einige kurze, freundliche Worte. Es ging von ihr ein feiner, süßer Duft aus, ähnlich dem Duft der Kätzchenblüten zur Osterzeit, wenn sie an Altären die Palmenweihe erhalten. Als der Dschirbani diesen Duft verspürte, zuckte er zusammen. Er machte eine Bewegung, als ob er zu ihren Füßen niederknien wolle; da aber kam Marah Durimeh ihm schnell zuvor. Sie nahm die Schloßherrin bei der Hand, schritt mit ihr nach der Vorderseite des Engels und sagte:

»So kommt, und laßt uns nach den Ebenen schauen und nach den Menschen, die Frieden und Segen von uns erwarten. Noch ist es hell genug, die Hilfe kommen zu sehen, die ihnen der Engel der Wasserscheide spendet. Inzwischen mögen die Offiziere der Lanzenreiter die Treppe öffnen.«

Ich wollte mitgehen, blieb aber stehen, als ich sah, daß der Dschirbani wie gebannt an seiner Stelle verharrte.

»Fasse dich!« bat ich ihn. »Es kommt so, wie es kommen muß.«

»Dieser Duft, dieser Duft! Und diese Stimme!« sagte er. »Vor allen Dingen aber dieses mächtige Ahnen meines Innern, also meiner Seele! Glaubst du, daß dieses Ahnen mir die Wahrheit sagt?«

»Ich glaube es«, antwortete ich.

»Aber dann wäre der Schech el Beled ...! Er ist doch wohl der Herr des Schlosses?«

»Jedenfalls.«

»Und sie die Schloßherrin?«

»Ja.«

»Aber dann wäre er doch mein – mein – mein ...«

Er konnte seiner Vermutung nicht weitere Worte geben, weil die Offiziere kamen, um die Stelle, wo man hinunter in das Innere des Postamentes stieg, zu öffnen. Das geschah genau in derselben Weise wie bei dem Engel der Stadt der Toten und des Engpasses Chatar. Nicht lange, so kam Marah Durimeh zurück und stieg, von uns begleitet, hinab. Die Einrichtung des oberen Gemaches war dieselbe wie bei den soeben genannten beiden Engeln. Es gab dasselbe Räderwerk, aber viel, viel größer und stärker, und keine Schöpfgefäße und Tröge. Auch gab es zwei Türen rechts und links in den Mauern. Sie schienen nach dem Innern des Schlosses zu führen. Und die Außenwand war nicht geschlossen, sondern weit und hoch geöffnet. Es drang eine Fülle des Lichtes herein, und draußen setzte sich der Fußboden in einem breiten, geräumigen Söller fort, der zum Schutz für die Hinabschauenden mit einer hohen, starken Brüstung versehen war. Marah Durimeh schien dieses Gemach, welches außerordentlich sauber gehalten war, zu kennen. Sie berührte den Doppelgriff des Rades und nickte sehr ernst dazu. Dann trat sie hinaus auf den Altan. Wir folgten ihr.

Wir befanden uns in schwindelnder Höhe. Unter uns gähnte die Tiefe des Kessels. Aber das besorgte Auge wurde durch den Anblick der Häuser und Gärten sofort beruhigt. Auf den Straßen und Plätzen der Stadt herrschte festtägliche Bewegung. Die Pantherfalle hatte, von hier oben aus gesehen, die Größe von nur einigen, wenigen Sträuchern. Ein paar Leute des Panthers, die außerhalb dieser Büsche standen, waren jetzt nur kleine Punkte, die hinweggeschwemmt werden sollten. Das Land senkte sich, so weit das Auge reichte, unaufhörlich nach Süden. Es schien ein Paradies zu sein und harrte doch der Erlösung von der Dürre. Am Himmel floh das verschwindende Abendrot vor den dunkleren, östlichen Tinten. Grad über uns stand jetzt plötzlich eine große, weiße Wolke, in der es innerlich wallte. Das konnte doch nicht schon das Wölkchen sein, auf welches Marah Durimeh gedeutet hatte! Da klangen die Glocken einer Kirche von unten herauf zu uns, noch einer und noch einer. Marah Durimeh faltete die Hände.

»Laßt uns beten!« forderte sie uns auf. »Gib Frieden, Herr, gib Frieden! Dieser Erde, diesen Menschen, uns allen! Allen denen, die nach uns kommen, und«, fügte sie hinzu, »auch allen denen, die vor uns waren! Der Strom deines Friedens, deines Segens ist von neuem erwacht. Er ergieße sich von heute an über alle, die da leben und leben werden, damit, wenn sich dein Paradies bald morgen oder übermorgen öffnet und die allhundertjährige Engelsfrage in die Ohren und Herzen aller Irdischen schallt, die Antwort ertönen darf: Ja, es ist Friede auf Erden; Gott aber sei Ehre, Ruhm und Preis!«

Die Glocken erklangen weiter, und auch Marah Durimehs Gebet wirkte in uns weiter. Wir beteten still. Ein jeder von uns machte seine persönliche Abrechnung mit sich selbst, mit der Menschheit, mit dem Geschick, mit dem Leben. Darauf richtete Marah Durimeh ihre Worte an den Schech el Beled:

»Nun an das Rad! Du und der Mir von Ardistan!«

Beide folgten dieser Aufforderung, der Schech schnell und bewußt, der Mir aber langsam, wie ein Träumender.

»Es darf keine Speiche dieses Rades bewegt werden, ohne daß der Mir von Dschinnistan es gestattet«, fuhr sie fort. »Weiß er von heut?«

»Er weiß alles und billigt es«, antwortete der Schech, und es klang, als ob er dabei lächle.

Auch über ihr liebes, schönes, altes und doch so junges Gesicht zuckte eine kleine, kaum bemerkbare Schalkhaftigkeit, worauf sie, schnell wieder ernst, befahl:

»So beginne du! Der Mir von Ardistan aber helfe!«

Die beiden gehorchten. Das Rad drehte sich, ganz leicht, ohne alles Geräusch, als ob es sich nur um etwas Kleines, Gewöhnliches handle.

»Komm und sieh!« flüsterte Schakara mir zu.

Sie nahm meine Hand und führte mich hinaus auf den Söller. Ich schaute hinab. Welch ein Wunder! Ganz unten, auf dem Grund des Kessels, brachen jetzt plötzlich unter den Aquädukten schäumende Wasserwogen hervor, deren Masse sich vergrößerte, je weiter man hier oben am Rad drehte. Noch klangen die Glocken. Sie wurden aber von dem brausenden Jubel übertönt, der von allen Lippen der Bewohner von El Hadd erschallte.

»Noch ist es Zeit, innezuhalten«, sagte Marah Durimeh; »dann aber können wir nicht mehr zurück. Sind die Menschen wirklich gewarnt? Wenn nicht, so muß dieser Strom Verderben bringen anstatt Segen.«

»Sie sind gewarnt«, antwortete der Schech. »Ich habe den Befehl dazu schon am Dschebel Allah gegeben, und schneller, als das Wasser ist, haben unsere Posten die Kunde bis in das Land der Ussul getragen. Hier in El Hadd aber weiß jedermann, was heut und morgen geschieht. Nur der Panther weiß von nichts!«

»So führt das Werk zu Ende!«

Das Rad bewegte sich weiter, und der Doppelstrom, der sich in das Felsenbecken ergoß, wurde immer mächtiger. Ein tiefes, eintönig-dröhnendes Brausen drang zu uns herauf. Es vergingen Minuten, eine Viertelstunde, eine halbe Stunde. Da meldete der Schech:

»Fertig! Das Rad steht!«

»So stehe es von jetzt an bis in Ewigkeit, nach irdischer Zeit gerechnet!« sprach Marah Durimeh. »In diesem Augenblick ist der Schwur von Dschinnistan gelöst. Die Eltern dürfen sich dem Sohn zeigen. Laßt froh die Schleier fallen!«

Ich schaute noch in die Tiefe hinab, als ich diese Worte hörte. Man sah die Wasser nicht mehr; man vernahm nur noch ihr Brausen. Das Dunkel des Abends kam emporgestiegen.

»Komm!« bat Schakara.

»Wohin?« fragte ich.

»Nach dem Schloß. Wir wollen hier nicht stören. Diese heiligen Augenblicke sind nicht unser Eigentum.«

Sie nahm mich wieder bei der Hand und führte mich vom Söller durch den Raum nach einer der erwähnten beiden Türen, die sie öffnete. Im Vorübergehen sah ich, daß die Schloßherrin sich soeben entschleierte. Ich erkannte das Gesicht, welches ich in der Dschemma der Toten beobachtet hatte.

»Mutter!« rief der Dschirbani, indem er die Arme ausbreitete, um auf sie zuzueilen.

Sie deutete nach dem Schech el Beled, der soeben auch den Schleier von sich warf.

»Vater, mein Vater!« jubelte der Dschirbani.

Mehr aber hörte und sah ich nicht, denn Schakara zog mich hinter sich her, durch zwei verdeckte Gänge, eine Treppe empor, wieder einen Gang und wieder eine Treppe, bis wir auf Dienerschaft trafen, von der wir zurechtgewiesen wurden. Schakara war, ebenso wie ihre Herrin, hier bekannt. Der Schech el Beled hatte auf dem geraden Weg, noch ehe wir von demselben in westlicher Richtung abgewichen waren, um nach dem Fluß zu reiten, einen Boten nach dem Schloß von El Hadd gesandt, um unsere Ankunft anzusagen und unsere Zimmer vorbereiten zu lassen. Man wußte also, wo Schakara und auch wo ich wohnen sollte. Es wurden mir zwei Räume gegeben, neben denen auch zwei für Hadschi Halef lagen. Ich hatte einen großen, überdeckten Balkon nach Süden zu, also nach der Stadt. Die Einrichtung war orientalisch und ebenso reich wie bequem. Man fragte mich, ob ich essen wolle, und ich genierte mich gar nicht, ja zu sagen. Ich bestellte sogar für meinen kleinen Halef mit, weil ich mir sagte, daß zu einem vereinten, langewährenden und offiziellen Abendessen heute wohl keine Stimmung sei. Ein jeder hatte zunächst mit sich selbst und mit dem, was ihn besonders berührte, zu tun. Den Eltern, die sich soeben erst ihrem Sohn hatten offenbaren dürfen, konnte man nicht zumuten, diesen Abend für andere zu verwenden.

Bevor man mir das Essen brachte, bekümmerte ich mich um unsere beiden Pferde. Sie waren bei den Vollblutlieblingen des Schech el Beled untergebracht und befanden sich in bester, aufmerksamster Pflege. Als ich mich dann zum Abendbrot niedergesetzt hatte, stellte sich der Hadschi ein. Er glänzte vor Glück und Freude.

»Effendi«, sagte er, »heute ist einer der schönsten Tage, die ich erlebte. Wie schade, daß du gingst! Wärest du geblieben, so hättest du gesehen, daß ...«

»... daß du einer der rücksichtslosesten und ungezogensten Menschen bist, die es gibt!« fiel ich ihm in die Rede.

»Was? Wie? Rücksichtslos und ungezogen? Willst du mich beleidigen?«

»Nein, sondern nur aufmerksam machen und unterrichten. Wo solche Dinge geschehen, ist es nicht Sitte, stehenzubleiben und sich als mit zur Familie gehörig zu betrachten!«

»Was für Dinge? Was für eine Familie? Meinst du etwa, daß ich nicht wissen dürfte, was da gesprochen wurde und wie zärtlich die drei miteinander waren?«

»Ja, das meine ich, eben das!«

»Aber ich bin doch ihr Freund! Ich bin doch Hadschi Halef Omar, der oberste Scheich der Haddedihn vom großen Stamm der Schammar!«

»Das zu sein, ist in diesem Falle nichts, gar nichts! Denke dir, du seist mit Hanneh, deinem Weib, über zehn Jahre lang von Kara Ben Halef, deinem Sohn, getrennt gewesen, und grad in dem Augenblick, wo ihr ihn wiederfindet und eure Herzen vor Wonne überfließen, stellt sich jemand hin und paßt genau auf, was ihr sagt, was ihr tut und wie ihr euch benehmt!«

»Das kann er; das darf er; das soll er! Denn erstens fällt es uns gar nicht ein, uns zehn Jahre lang voneinander zu trennen, und zweitens werden wir uns dann beim Wiedersehen so benehmen, daß jedermann dabeistehen kann, um sich zu überzeugen, was wir sagen und was wir tun.«

»Blieb denn der Mir von Ardistan auch stehen?«

»Nein, der ging auch.«

»Und der Scheich der Ussul?«

»Als der sah, daß der Mir sich entfernte, folgte er ihm.«

»Nur du bliebst also stehen?«

»Nein! Nicht ich allein, sondern auch Marah Durimeh! Und diese ist nicht nur dein Vorbild, sondern auch das meinige. Was sie tut, darf getrost auch jeder andere tun! Und, Effendi, du gingst doch wohl mit Schakara hinaus?«

»Allerdings.«

»Sie ging voran, du hinterher?«

»Ja.

»Und sie hatte dich dabei an der Hand?«

»Ja.«

»Du gingst also nicht hinaus, sondern du wurdest hinausgeführt oder gar hinausgebracht. Sag die Wahrheit! Von wem ist die Aufforderung ausgegangen, den Raum zu verlassen? Von dir oder von ihr?«

»Von ihr!«

»Schön! So bist du erwischt; so bist du ertappt; so bist du verurteilt und überfuhrt! Wenn Schakara dich hätte stehenlassen, so ständest du höchstwahrscheinlich jetzt noch dort und gingst nicht von der Stelle! Mich aber nennst du rücksichtslos und ungezogen. Daß ich das nicht bin, sondern daß man ganz im Gegenteil meine gute Erziehung und meine Verdienste anerkennt, magst du daraus ersehen, daß ich von der Schloßherrin in eigener Person bis hierher vor diese Tür gebracht worden bin. Und nun du offenbar unrecht hast, laß uns wieder einig sein und miteinander essen!«

Nach dem Essen setzten wir uns hinaus auf den Balkon. Das Wasser rauschte nicht mehr so stark herauf wie vorher. Es hatte den Boden des Kessels ausgefüllt und stieg nun immer stiller und stiller. Der Himmel sah aus wie ein schwarzes Tuch, welches bis auf die Dächer des Schlosses niederhing. Die Lichter der Stadt schimmerten nur wie kleine, verschwindende Pünktchen zu uns herauf. Plötzlich strich ein so starker Windstoß an uns vorüber, als wolle er uns hinunter in die Tiefe fegen. Ihm folgte ein Blitz, ein Krach und ein dröhnendes Rollen, nach dem sofort ein starker, schwer aufschlagender Regen niederstürzte.

»Marah Durimeh hatte recht«, sagte Halef. »Das Unwetter ist da. Gehen wir hinein!«

Kaum hatten wir dies getan, so begann es draußen derart zu wüten und zu toben, zu rasseln und zu prasseln, daß es unmöglich war, unsere eigenen Stimmen zu hören. Blitz folgte auf Blitz, Schlag auf Schlag, als dürfe nicht die geringste Pause zwischen ihnen liegen. Der fallende Regen war schon mehr eine stürzende Flut. Es war, als ob das Schloß in allen seinen Grundfesten erbebe. Ein ängstliches Gefühl ließ jedermann wünschen, nicht allein zu sein. Darum fanden wir es begreiflich, daß ein Diener kam, der uns meldete, in welchem Raum unsere Gefährten auf uns warteten.

Es war ein ziemlich großer, hell erleuchteter Saal. Wir fanden da den Mir von Ardistan, den Scheich der Ussul, seinen braven Unteranführer Irahd und einige höhere Offiziere der Schwarzgewappneten und der Lanzenreiter. Diese letzteren hatten Dienst für die ganze Nacht. Kalte Speisen waren aufgetragen, nach Belieben davon zu nehmen. Frauen sahen wir keine. Zuweilen kam der Schech oder der Dschirbani herein, doch nur für kurze Zeit. Der letztere zog mich an sich und küßte mich auf die Wange, gab aber seinem Glück keine Worte, die doch nur schwer zu hören gewesen wären.

So ging es bis fast eine halbe Stunde vor Mitternacht. Da gab es noch eine alle möglichen Detonationen zusammenfassende Entladung, wie ich wohl noch niemals eine erlebt hatte, und dann war es plötzlich still, so still, daß ich den Mir von Ardistan, der in diesem Augenblick neben mir stand, vernehmlich atmen hörte.

»Allah 'l Allah!« sagte Halef. »Wieder hat Marah Durimeh recht. Es ist vorüber. Kurz vor Mitternacht!«

Wir horchten hinaus und hinunter. Es fiel kein Tropfen mehr. Der Himmel war noch dunkel, aber hoch, nicht mehr so niedrig. Aus der Tiefe klangen jammernde Töne. Einzelne Schreie stiegen empor, scharf, angstvoll, wie in höchster Not und Gefahr. Kam das vom Panther und seinen Leuten? Er hatte doch behauptet, daß er den Tod nicht fürchte! Da kam der Schech, um uns zu sagen, daß die Frauen in einem andern, nach dem See hinaus liegenden Saal auf uns warteten. Wir machten ihn auf die Hilferufe aufmerksam, die wir hörten. Er antwortete:

»Bitte, sorgt euch nicht um diese Menschen, denen Gott mit Donner und Blitz und vernichtenden Wogen kommen muß, um den letzten Rest von Herz in ihnen zu rühren! Der Hafen ist eng umstellt. Man hält scharfe Wacht. Hat die Not den Grad erreicht, auf den ich warte, wird es uns gemeldet werden. Jetzt kommt!«

Wir folgten ihm nach einem Saal, von dessen Größe und Beschaffenheit wir nichts sehen konnten, weil er vollständig unerleuchtet war. Aber der Tür gegenüber, durch welche wir eintraten, gab es einen lichten, von senkrechten Säulen durchbrochenen Streifen, auf welchen zu wir uns bewegten. Das war eine offene Galerie, auf der die Frauen mit dem Dschirbani soeben erst Platz genommen hatten. Von dort aus verwandelte sich der helle Streifen für uns in den See und die auf ihm ruhende Atmosphäre. Nach dieser Seite hin war der Himmel schon nicht mehr schwarz. Er begann, sich aufzuklären. Er zeigte bereits Konturen. Das waren die Konturen der Vulkane von Dschinnistan. Sie waren nicht dunkel, sondern hell liniiert. Und diese Linien gingen nach und nach in die Breite. Sie verwandelten sich in Flächen, Kuppen, Gipfel, Scheitel und Spitzen, die im Begriff standen, zu erröten und zu glühen.

»Setzt euch zu uns, und seht, wie die alte Paradiessage sich verabschiedet«, forderte Marah Durimeh uns auf. »Sie geht, um der Wirklichkeit Platz zu machen. Die Mitternacht ist vorüber; der neue Tag beginnt. Ich ahne, daß heut der Dschebel Muchallis seine unhörbare, aber leuchtende Stimme erhebt, um uns zu sagen, daß das Begonnene sich vollendete und das Gehoffte sich erfüllte. Man sagt, er glühe nur ein einzigesmal, von Mitternacht bis zum Morgen; dann sei für jeden, der es sieht, der Friede auf Erden und der Friede mit Gott gekommen. Seht! Schon bildet sich das Paradies!«

Es zeigten sich jene Lichterscheinungen, die ich vom Tempel der Ussul aus zuerst gesehen hatte. Sie entwickelten sich in genau derselben Reihenfolge und genau derselben Weise, ein Beweis, daß die Kräfte und Gesetze, denen sie ihre Entstehung verdankten, immer genau dieselben waren. Aber der Schluß gestaltete sich heut ganz anders als bisher. Daher war es plötzlich dunkel, vollständig dunkel rundum.

»Jetzt, jetzt entscheidet es sich!« sagte Marah Durimeh mit fast bebender Stimme, indem sie die Hände faltete. »Wird er sich zeigen oder nicht?«

Es vergingen mehrere lange, sehr lange Minuten. Unsere Blicke waren erwartungsvoll nach Norden gerichtet; aber wir sahen nichts, gar nichts. Dennoch rief Marah Durimeh jetzt:

»Er kommt! Er kommt! Da ist er!«

»Wo, wo?« fragten wir andern, weil sich unsern Augen noch immer nichts bot.

»Höher, höher!« belehrte sie uns. »Fast über euch!«

Und nun ereignete sich, was mir vorher nur ein einzigesmal, aber fast in derselben Weise begegnet war, nämlich im Lauterbrunnertal, beim Alpenglühen, wo ich den Gipfel der Jungfrau zuerst nicht fand und nicht sah, weil er nicht da, wo ich ihn suchte, sondern scheinbar grad über meinem Kopf erglänzte. So auch hier im Schloß von El Hadd. Nämlich wenn auch nicht ganz, aber doch so ziemlich, natürlich nur scheinbar, zu unsern Häuptern, erschien eine erst dämmernd und dann fast hellstrahlende Bergeskuppe, deren goldene Konturen langsam abwärts liefen und sich wie niederfallende Feuerwerksfäden verzweigten, um die ganze plastische Gestalt dieses Berges zu zeichnen und aus dem nächtlichen Hintergrund hervorzuheben. Die lichtlosen Felder, die zwischen diesen goldenen Umrissen lagen, wurden nach und nach ausgefüllt, und zwar auch von oben herab, von Farben, die nicht der Erde, sondern einer ganz andern Welt zu entstammen schienen, so daß ich, ohne es zu wollen, ausrief:

»Wie ein Alpenglühen im Himmelreich!«

»Fast richtig, fast!« antwortete Marah Durimeh. »Das ist er; ja, das ist er, der herrliche Dschebel Muchallis, der Traum meiner Jugend, die Hoffnung meiner Jahre, die letzte Stufe, von welcher aus ich hinüberzugehen wünsche zu den Seligen auch der andern Gotteswelten! Er erscheint um Mitternacht und glüht bis gegen Morgen. So spricht die Sage, und so wird es heut sein. Sitzen wir still, und sprechen wir nicht!«

Das geschah. Wir saßen eine Stunde und dann fast noch eine zweite. Nur zuweilen stand jemand auf und schritt für kurze Zeit in den dunklen Saal hinein, um vom Schauen und Denken auszuruhen. Draußen aber war es nicht mehr dunkel, sondern da lag, so weit man sehen konnte, ein helldämmernder, farbiger Schein, wie wenn das Tageslicht, nicht direkt von der Sonne kommend, durch rubinrotes Glas gebrochen wird. Man konnte dabei fast lesen. Da kam ein Diener und meldete, es sei Zeit. Nur noch eine halbe Stunde, so werde der Fluß die Insel überfluten. Da stand der Dschirbani von seinem Sitz auf, küßte dem Vater und der Mutter die Hand und sagte zu dem ersteren:

»Ich danke dir, daß du das keinem andern, sondern mir selbst erlaubst!«

»Aber meine Bedingungen!« mahnte der Schech. »Nimm Kara Ben Nemsi, den Scheich der Ussul und Irahd mit! Dann weiß ich dich bewahrt vor jeder Gefahr.«

Und Marah Durimeh sprach:

»Der begonnene Tag ist Dankestag. Sobald die Sonne erscheint, werden die Hörner der Ussul von den Zinnen dieses Hauses ertönen, und die Kirchenposaunen von El Hadd werden Antwort geben. Dann kommt das Volk der Stadt, von seinen Priestern geführt, zu euch heraufgezogen, um den Frieden zu feiern, der von hier aus durch alle Länder fließt. Dir aber ist die erste Tat dieses Friedens aufgetragen: Liebet eure Feinde; tut Gutes denen, die euch hassen! Geht hin, rettet sie! Es gibt nur einen einzigen Sieg, der wirklich Sieg bedeutet; das ist der Sieg der Liebe. Geht hinab, und verzeiht! Und vor euch her gehe Gottes Segen!«

»Und komm so wieder, wie du von mir gehst!« bat seine Mutter. »Ich will dich nicht am Abend gewonnen haben, um dich am Morgen schon wieder zu verlieren!«

Wir, die wir vom Schech genannt worden waren, verließen mit ihm den Saal und das Schloß. Draußen vor dem Tor standen vier gesattelte Ussulpferde; eines davon war Smihk, der Dicke. Unser Ritt war also vorbereitet. Die drei andern stiegen auf, ich aber nicht. Ich sagte zum Dschirbani:

»Vorerst bitte ich, mir mitzuteilen, wie du dir die Rettung dieser Leute denkst. Es gibt keine Boote.«

»Aber es gibt Pferde«, antwortete er. »Pferde der Ussul, die sich vor keiner Wasserflut fürchten. Es reiten zweihundert von uns schwimmend hinüber, ein jeder ein lediges Pferd an der Hand. Das reicht aus für alle, die drüben sind. Meinst du nicht?«

»Allerdings. Doch warte! Ich hole die Hunde.«

»Wozu?«

»Für unvorhergesehene Fälle. Gleich komme ich wieder.«

Als ich nicht nur mit meinen, sondern auch mit Halefs Hunden zurückkam, schüttelte er den Kopf und sagte:

»Der Sorge wohl allzuviel!«

Dann ritten wir hinunter nach den Wohnungen seiner Landsleute, deren zweihundert mit ebensoviel ledigen Pferden auf uns warteten. Sie schlossen sich uns an. In dem gedämpften, mystisch roten Licht des Dschebel Muchallis hatte unser Zug ein ungeheuerliches Aussehen. Überall standen Leute. Es war bekannt, was wir wollten, zugleich aber auch verboten, uns zu fragen oder sonstwie zu belästigen. Als wir unten an der Treppe ankamen, konnten wir die Insel sehr deutlich sehen, obgleich es nachts vielleicht um halb drei Uhr war und keinen Mondschein gab. Schon war das ganz ungeheure Becken mit Wasser gefüllt. Die Treppe war noch nicht ganz verschwunden, aber über die Insel ging die Flut bereits in dünnen Stößen hinweg. Die Leute des Panthers schrien ununterbrochen um Hilfe und wimmerten vor Angst.

Unser Unternehmen war gar nicht gefährlich: nur mußte man sich hüten, über die Insel hinausgetrieben zu werden, weil das Wasser dort noch in zahlreichen Trichtern bohrte und drehte. Wer da hineingeriet und in das Strombett getrieben wurde, war unbedingt verloren. Die Treppe hinunter ging es heut viel leichter als gestern die Treppe hinauf. Die Urgäule sprangen freiwillig ins Wasser. Der Dschirbani war der erste; die andern folgten. Wir drei sollten am Ufer zurückbleiben. Ich war aber anderen Sinnes. Als schon gegen hundert Personen gerettet worden waren und der Dschirbani noch immer nicht kam, ließ ich mir von Amihn seinen Smihk geben und ging mit ihm und den vier Hunden in das Wasser. Die Leute des Panthers behaupteten, er sei durch das Gewitter vollständig verrückt geworden; er rede irr. Das stellte sich als wahr heraus. Bis ich hinüberkam, hatte er sich geweigert, sich retten zu lassen. Sobald er aber Smihk sah, den er kannte, rief er, sich in die Brust werfend, mir zu:

»Dieses Pferd kenne ich. Es ist das Schlachtroß des Kaisers der Ussul und also meiner würdig. Ihm vertraue ich mich an. Steig ab!«

Um ihn schnell fortzubringen, gehorchte ich diesem Befehl und nahm mir ein anderes Pferd, welches ich aber nicht sogleich bekommen konnte.

»Und du bist mein Gefangener, hast mir zu folgen. Vorwärts!« schrie der Panther den Dschirbani an.

Dieser letztere ging, ganz so wie ich, scheinbar darauf ein und folgte dem Smihk, der mit dem Panther in das Wasser ging und eifrig zurückzurudern begann.

»Halt!« rief der Panther ihm zu. »Nicht dorthin! Ich will dort hinunter, in den Fluß! Ich muß nach dem Dschebel Allah, zu meiner Armee!«

Er wollte Smihk nach abwärts lenken; der gehorchte aber nicht. Und der Dschirbani riß dem Panther den Zügel aus der Hand. Es begann ein Kampf. Der Dschirbani war unbewaffnet, aber der Stärkere. Da riß der Panther seine Doppelpistole aus dem Gürtel und schoß zweimal auf den ersteren. Dann bearbeitete er Smihk mit Sporen und Messerstichen, um ihn zu zwingen, abwärts zu schwimmen.

»Hinein, hinein in das Wasser!« befahl ich den vier Hunden. »Holt ihn, holt!«

Ich deutete auf den Dschirbani, den die Schüsse vom Pferd geworfen hatten. Er konnte nur einen Arm bewegen; der andere war verwundet. Sie erreichten ihn grad noch im letzten Augenblick, als die Strömung ihn eben fassen und in die Wirbel treiben wollte. Es gelang ihnen, ihn zu halten und nach der Insel zu bringen, als ich eben ein anderes Pferd bekommen hatte. Auch der Panther näherte sich den Strudeln. Smihk erkannte das und empörte sich gegen die Spornhiebe und Messerstiche, durch die er in den Tod getrieben werden sollte. Er brüllte laut auf, schoß mit dem Kopf in die Tiefe und überschlug sich im Wasser, um seinen Reiter abzuwerfen. Es gelang. Der Dicke kam unter Triumphgeschrei zu uns zurückgeschwommen. Den Panther aber sah kein Auge jemals wieder.

Die beiden Schüsse hatten getroffen, doch nur ungefährlich. Es gab zwei Fleischwunden im Arm, weiter nichts. Aber das Blutstillen und vorläufige Verbinden erforderte doch soviel Zeit, daß wir uns dann beeilen mußten, nicht zu spät im Schloß zu erscheinen. Die Geretteten waren sofort abgeführt worden. Das Wasser überschwemmte die Insel nun ganz und gar. Es war die allerhöchste, die letzte Zeit gewesen!

Inzwischen war das rote Licht des Dschebel Muchallis verschwunden und der Morgen angebrochen. Als wir droben auf dem Plateau unter den Zedern hervorgeritten kamen, ging grad die Sonne im Osten auf, und von den Zinnen des Schlosses ertönten die tiefen, mächtigen Stimmen der langen Hörner der Ussul; die uralten Naturtrompeten der Lanzenreiter schmetterten, und aus der Stadt empor antworteten die Bläser der Kirchenposaunen. Der Tag des Dankes begann. Die Kunde von der Verwundung des Dschirbani war uns vorausgeeilt, doch auch die Beruhigung, daß man sich nicht darüber zu ängstigen brauche. Halef kam uns entgegengeeilt und jammerte darüber, daß man ihn nicht auch mit auserlesen habe, beim Ende des Panthers zugegen zu sein. Am Portal des Schlosses wurde der Dschirbani von seinen Eltern empfangen. Er stellte ihnen Hu und Hi und Aacht und Uucht als die Retter des zukünftigen Schech el Beled von El Hadd vor und bat um Dankbarkeit. Dann zogen wir uns schleunigst in unsere Zimmer zurück, denn wir kamen ja aus dem Wasser, und der Festzug war schon unterwegs.

Eine Woche später kehrte der Mir von Ardistan mit Amihn und den Ussul zunächst nach dem Dschebel Allah und dann mit dem ganzen Heer nach Ard zurück. Der Friede war geschlossen, und zwar für ewige Zeit.

Einige Monate hierauf ging das erste Schiff den Fluß hinab. Es hieß, wie bereits gesagt, »Marah Durimeh« und leitete die neue, von jetzt an nicht wieder unterbrochene Verbindung zwischen El Hadd und den abwärtsliegenden Gegenden ein. Wir aber wendeten unsern weitern Aufstieg nun den Bergen, über deren Pässe der Weg nach Dschinnistan führte, und unsrem hohen, weiteren Ziel zu.


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