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Sechstes Kapitel

Gegenzüge

Am Abend dieses Tages ging es am Maha-Lama-See ganz anders her, als in der früher und auch noch jüngst verflossenen Zeit. Der Herr von Ardistan hatte seine Residenz in der Stadt der Toten aufgeschlagen, und diese Stadt sah nun ganz plötzlich so lebendig aus, als ob der Tod für immer aus ihrem Bereich verschwunden sei. Die Herrscherin war mit ihren Kindern in einer Weise untergebracht, die ihrem Rang entsprach. Der Mir und wir andern ebenso. Denn wir sahen uns infolge der Anwesenheit der Truppen verpflichtet, auf die bescheidenen Ansprüche von Flüchtlingen zu verzichten, und auch äußerlich zu zeigen, daß wir innerlich vollständig ungebrochen waren und kein Recht, welches wir irgendwo und irgendwie besaßen, aufgegeben hatten.

Die höheren Ussul und Tschoban wohnten bei uns am See; folglich waren da auch ihre Pferde untergebracht. Alles, was in europäischen Verhältnissen als Hauptquartier, Generalstab, Verproviantierungsamt und mit ähnlichen Ausdrücken zu bezeichnen gewesen wäre, hatte hierher verlegt werden müssen. Das gab nun ein lautes Fragen und Antworten, Kommen und Gehen, welches keinen Augenblick zur Ruhe kam. Die Vorratskammern standen geöffnet, und während die Anhänger des Panthers überzeugt waren, daß wir alle dem Tode des Verhungerns und Verschmachtens geweiht seien, gab es bei uns Nahrung die Hülle und Fülle und so viel Wasser, wie wir nur immer brauchten.

Die Truppen waren in der Zitadelle und, da diese nicht ausreichte, in der obern Militärstadt untergebracht. Die Pferde all dieser Leute wurden am Fluß getränkt, dessen Wasser zu unserer Freude nicht etwa fiel, sondern immer höher und höher stieg. Nach Ard und der Wüste hin waren Posten gestellt, welche sich nicht sehen lassen durften und jede etwaige Annäherung zu melden hatten. Diese Posten wurden regelmäßig abgelöst. Wie das so schnell hatte kommen können, und wie so ohne alle Aufregung es angeordnet und ausgeführt worden war, darüber schien sich niemand eine Frage vorzulegen; für den aber, der offene Augen hatte, konnte kein Zweifel darüber obwalten, daß der bescheidene, stille, zurückhaltende Schech el Beled von El Hadd es war, welcher dafür sorgte, daß, um mich eines gewöhnlichen Ausdruckes zu bedienen, die anfängliche Unordnung sehr bald überwunden war und dann alles schnappte und klappte. Das merkte ich selbstverständlich nicht gleich am ersten Abend, sondern später. Als ich dann aber erst einmal entdeckt hatte, wie still ordnend er alle äußeren Dinge überwachte, verfolgte ich seinen Einfluß auch tiefer und kam auch da sehr bald zu der Überzeugung, daß er uns an Intelligenz gewiß alle weit überragte und an den Geschehnissen sehr wahrscheinlich größeren Anteil hatte, als er uns merken ließ.

Es hatte einen sehr tiefen Eindruck auf den Mir gemacht, daß alle durch die weißbeschriebenen schwarzen Zettel bestimmten Beisitzer der Dschemma der Lebenden eingetroffen waren, obgleich man das nur schwer für möglich hatte halten können. Er hatte sie zusammengerufen und ihnen mitgeteilt, um was es sich handelte. Sie waren dann mit uns in die beiden Dschemma-Säle gegangen, um die Situation kennenzulernen. Ihr Verhalten und ihre ganz nachherige Stimmung waren dieser Situation entsprechend, ernst, still, ergriffen. Abd el Fadl, Merhameh und der Schech el Beled sagten gar nichts. Der Scheich der Tschoban sprach dafür um so mehr. Er wollte alles mögliche wissen, um seiner Pflicht, die ihm sehr am Herzen lag, Genüge leisten zu können. Dabei hatte er wohl keinen Begriff von der eigentlichen, großen Bedeutung der heutigen Mitternacht. Für ihn handelte es sich gewiß nur um ein abergläubisches Schamanenspiel mit den Leichen der Verstorbenen. Aber das sagte er nicht, ebensowenig wie auch alle die andern etwas über ihre persönliche, innerliche Meinung verlauten ließen. Doch, mochte ein jeder denken, was und wie er wollte, in dem einen stimmten sie gewiß alle überein, nämlich, daß es sich um das Wohl oder Wehe des Mirs und seines ganzen Geschlechtes handele, und die Erwartung, was er tun werde, war so gespannt, daß beim Abendessen keiner von ihnen zulangte und nur diejenigen etwas genossen, die an der Dschemma nicht beteiligt waren.

Es war der Befehl erteilt worden, daß genau eine Stunde vor Mitternacht sich jedermann zur Ruhe gelegt haben müsse. Die Stunden wurden nämlich angesagt, um der Tschoban willen, die fast alle Mohammedaner waren und ihre regelmäßigen Gebete nicht versäumen durften. Es waren dazu Gebetsbretter vorhanden, die allstündlich angeschlagen wurden.

Ich gestehe aufrichtig, daß auch ich mich in sehr ungewöhnlicher Spannung befand. Die Gründe hierzu brauche ich wohl nicht aufzuführen; sie ergeben sich aus den Verhältnissen und Ereignissen ganz von selbst. Als nach europäischer Zeiteinteilung elf Uhr geschlagen wurde, herrschte rundumher die tiefste Ruhe. Eine halbe Stunde später ging ich mit dem Mir nach der Tür des Vorzimmers, aus dem man in die Dschemma der Toten kam. Er war nicht unruhig, sondern still und gefaßt. Die andern hatten sich schon eingestellt und warteten auf uns. Ich öffnete. Wir traten ein und zündeten einige Kerzen an, um uns in den großen Saal der Dschemma der Toten zu leuchten. Dort steckten wir die Lichter sämtlicher Kandelaber an und taten dasselbe dann auch draußen in der Dschemma der Lebenden. Da lagen noch alle Zettel, so daß ein jeder wußte, wo er seinen Platz zu suchen hatte. Die Sitze waren alle leer. Wir gingen in die Dschemma der Toten zurück, wo Abu Schalem und die beiden nächsten Ahnen des Mirs saßen, die an unserer Versammlung mit teilzunehmen hatten. Wir alle waren im höchsten Grade wißbegierig, von wem und auf welche Weise sich der Transport dieser drei Leichen ermöglichen lassen werde. Da wurden draußen die Gebetsbretter erst sechsmal und dann zwölfmal angeschlagen, und die halb singende Stimme des Muezzin ertönte:

»Es ist Mitternacht! Die sechste und die zwölfte Stunde für alle Sterblichen. Finsternis auf Erden; Licht über den Sternen. Der Mensch sei gerecht; Gott aber ist barmherzig!«

Sobald diese Stimme verklungen war, konnte Halef, der lebhafteste und ungeduldigste von uns allen, sich nicht mehr halten. Er holte tief, tief Atem und sagte:

»Jetzt muß es sich zeigen! Jetzt muß es sich lösen, das große Rätsel des Lebens! Jetzt müßten eigentlich die Toten lebendig werden, wenigstens drei von ihnen, um mit uns ...«

Er wurde unterbrochen. Es geschah etwas vollständig Unerwartetes, etwas geradezu Wunderbares. Nämlich in diesem Augenblick stand Abu Schalem, der berühmteste, gerechteste und gütigste aller Maha-Lamas, von seinem Sitz auf, öffnete die Lippen und sprach:

»Sie werden lebendig! Finsternis auf Erden; Licht über den Sternen! Ich gehe euch voran. Kommt alle; kommt mit mir!«

Er nahm das große Schuldbuch vom Tisch und kam mit ihm langsam und feierlich die Stufen herabgestiegen. Sein langgeflochtenes, silbernes Haar bewegte sich, wie er die Füße bewegte. Sein Bart, dessen Ende unter dem Tisch verborgen gewesen war, wallte bis auf die Knie herab. Seine großen, weit geöffneten Augen waren auf uns gerichtet und schienen uns mit ihrem Blick durchdringen zu wollen. So ging er mitten zwischen den andern Maha-Lamas hindurch, die unbeweglich sitzen blieben. So schritt er auch durch die ganze Zahl der angeschuldigten Herrscher von Ardistan. Vor den beiden letzten, dem Vater und dem Großvater des jetzigen Mirs, blieb er stehen, hob die Hand und forderte sie auf:

»Ihr kommt mit eurem Sohn!«

»Wir kommen!« antwortete auch der Großvater und stand auf.

»Wir kommen!« antwortete der Vater und stand auf.

Sie nahmen den Mir zwischen sich und folgten dem voranschreitenden Vorsitzenden nach dem Saal der lebenden Dschemma. Dort stieg Abu Schalem nach seinem hohen Stuhl empor, legte das Schuldbuch auf den Tisch vor sich hin und setzte sich. Der Mir war seinen Voreltern wie im Traum gehorsam gewesen. Er hatte sich von ihnen nach den drei Plätzen der Angeklagten führen lassen und setzte sich zwischen ihnen in einer Weise nieder, als ob er geistig vollständig abwesend sei. Und wir andern? Wir Richter? Ich kann nur von mir sprechen, und da muß ich gestehen, daß ich mich ganz und gar nicht als Richter fühlte, sondern als ein Mensch, der in Beziehung auf die gegenwärtige Situation und auf seine heutige Aufgabe überhaupt nicht wußte, woran er war. Ich glaube fast, ich wäre in meiner Verblüffung draußen stehengeblieben, wenn Merhameh nicht meinen Arm gefaßt und mir zugeflüstert hätte:

»Willst du dich vergessen, Effendi? Komm, und sammle dich!«

Sie begleitete mich aus dem einen Saal in den andern und ließ mich nicht eher los, als bis ich vor dem Platz stand, auf welchem der Zettel mit meinem Namen lag. Dann begab sie sich zu ihrem Vater. Ich glaube nicht, daß irgend einer von uns innerlich klarer gewesen ist, als ich es war. Ich hatte zunächst nur den einen Gedanken, daß ich unbedingt erfahren müsse, was es mit der Rückkehr dreier längst Verstorbener zum Leben für ein Bewandtnis habe. Es kostete mich die größte Anstrengung, diesen Gedanken so ganz beiseite zu schieben, daß ich fähig wurde, zunächst doch wenigstens den Anforderungen des Augenblickes gerecht zu werden. Ich nahm mich also zusammen und redete mir ein, den Vorsitzenden als einen Mann betrachten zu müssen, mit dessen gegenwärtigem Verhalten, nicht aber mit dessen längst vergangenem Vorleben ich mich hier zu beschäftigen habe.

Er saß jetzt ganz genau wieder so da, wie er drüben im andern Saal gesessen hatte, vollständig unbeweglich und die Augen unverrückt auf die drei Angeklagten gerichtet. Aber als anzunehmen war, daß die Aufregung, in der wir uns alle befunden hatten, einer wenigstens etwas ruhigen Stimmung gewichen sei, richtete er seinen Blick der Reihe nach auf uns, gab mit der Hand eine Aufforderung zur Aufmerksamkeit und sprach:

»Die Dschemma der Lebenden ist eröffnet! Sie übe Gerechtigkeit; die Gnade sendet uns Gott!«

Hier machte er eine Pause und fuhr dann fort:

»Angeklagt ist Schedid el Ghalabi, der jetzige Mir von Ardistan. Mitangeklagt sind seine beiden Vorväter, mit ihm die drei letzten Herrscher des Reiches Ardistan. Verteidiger ist Abd el Fadl, Fürst von Halihm. Verteidigerin ist Merhameh, Prinzessin von Halihm. So oft ein Mir von Ardistan in diesem Raum Angeklagter war, hat stets ein Abd el Fadl von Halihm und eine Merhameh von Halihm sich seiner angenommen. So auch heut!«

Und wieder machte er eine Pause, sah uns der Reihe nach, so wie wir saßen, prüfend an und sprach dann weiter:

»Und so oft über einen Mir von Ardistan hier ein Gericht versammelt war, hatte sich einer der Richter zu melden, um sich bereit zu erklären, die Anklage zu übernehmen. So frage ich auch heut: Wer von euch will Ankläger sein?«

Es erfolgte keine Antwort. Wir schwiegen alle.

»Ich frage zum zweiten Male«, erklang es aus dem Munde Abu Schalems.

Da stand der Dschirbani auf und sagte:

»Es wird sich keiner von uns bereit erklären, die Anklage zu erheben. Auch wir sind Sünder. Nur wer ohne Sünde ist, der klage an!«

Hierauf setzte er sich wieder nieder. Da ging es über das Gesicht des Vorsitzenden wie ein lieber, klarer, warmer Sonnenschein, doch war der Ton seiner Stimme sehr ernst, indem er sagte:

»Wenn sich kein Ankläger findet, löst sich die Dschemma auf, und unser Schicksal bleibt auch ferner unentschieden. Nur dreimal darf ich fragen. So frage ich also nun zum dritten und letzten Male: Wer von euch will Ankläger sein?«

Da stand einer auf, aber keiner von uns, sondern es war der Mir, er selbst. Er sprach:

»Ich kann nicht dulden, daß mein und euer Schicksal unentschieden bleibe. Es ist ein Ankläger da, der strengste, den es gibt!«

»Wer?« fragte Abu Schalem.

»Ich, Schedid el Ghalabi, Mir von Ardistan! Ich hoffe, nicht zurückgewiesen zu werden, obgleich ich keiner der geladenen Richter bin. Niemand kennt meine Sünden so gut und so genau wie ich selbst!«

Ein zweiter, fast noch wärmerer Sonnenstrahl ging über das Gesicht des Vorsitzenden. Er antwortete:

»Die Selbstanklage ist Menschheitsideal. Noch keiner von allen, die hier an deiner Stelle saßen, hat das begreifen können. Du bist der erste. Ich weise dich nicht zurück, sondern ich danke dir. Wessen klagst du dich und deine Vorfahren an?«

»Aller Sünden, die dort in deinem Buch stehen! Aller! Keine ausgenommen!«

»Und forderst Strafe?«

»Ja.«

»Welche?«

»Genau die, welche von dieser unserer Dschemma hier ausgesprochen wird.«

Er setzte sich. Da sprach Abu Schalem:

»Die Anklage ist erhoben. So hört, was hier im Buch steht, vom Anfang bis zum Ende! Ich lese vor.«

Er schlug das Schuldbuch auf. Da erhob der Mir sich schnell wieder von seinem Sitz und protestierte:

»Das ist nicht nötig! Ich spreche jetzt nicht mehr als Ankläger, sondern als Angeklagter. Ich gestehe alles ein, jede Seite, jede Zeile, jedes Wort!«

»Dieses Geständnis reicht nur für dich, nicht für die andern. Du bist nicht der einzige Angeklagte.«

»Wohl bin ich der einzige! Denn ich erkläre hiermit, daß ich die Sünden meines ganzen Stammes auf mich nehme, auf mich allein!«

Da stützte Abu Schalem seine beiden Hände auf den Tisch, stand langsam, langsam auf, ich möchte fast sagen, Zoll um Zoll, schob den Oberkörper weit vor und fragte:

»Weißt du, was du da sprichst und tust?«

»Ich weiß es!« versicherte der Mir.

»So wiederhole es! Du hast dieses große, schwere, folgenreiche Wort dreimal auszusprechen.«

»Ich erkläre zum zweiten und zum dritten Male, daß ich die Sünden meiner Väter auf mich nehme. Sie seien frei. Ich bin allein der Schuldige!«

»Nicht nur die Sünden, sondern auch die Strafen?«

»Auch die Strafen!«

Da ließ die Spannung im Gesicht und in der Haltung des Vorsitzenden nach. Sein Körper richtete sich wieder gerade auf. Seine Augen leuchteten, und seine Züge glänzten, als ob sie nun direkt im Sonnenschein lägen. Er rief aus:

»Das ist eine Dschemma, wie es noch nie eine gab! Ich frage dich noch einmal: Hast du dir wohlüberlegt, was du sagst? Bedenke nur allein die Kriege, das Blutvergießen, der ununterbrochene Menschenmord! Nur hierfür allein gehört vieltausend-, tausendmal die Todesstrafe! Bleibst du dennoch bei deinem Wort?«

»Ich bleibe dabei!«

»So bist du allerdings der einzige Angeklagte. Die andern können gehen!«

Da erhoben Vater und Großvater sich von ihren Sitzen und gingen hinaus, ganz sonder Eile, Schritt um Schritt, ohne ein Wort zu sagen. Der Mir aber selbst blieb stehen, obgleich Abu Schalem sich wieder niedersetzte und dann in frohbewegtem Ton fortfuhr:

»So oft gegen einen Mir von Ardistan an diesem Ort verhandelt wurde, mußte man ihn dreimal fragen, ob er die Sünden seiner Väter auf sich nehmen wollte, doch keiner von ihnen allen besaß den Glauben, die Liebe und den Mut, seine Vorfahren zu entlasten. Schedid el Ghalabi aber, der jetzige Mir, hat nicht gewartet, bis diese Frage ausgesprochen wurde, sondern er ist ihr zuvorgekommen wie ein Mann, ja wie ein Held, der Schweres tragen und noch Schwereres vollbringen kann. Darum soll er auch als Mann und Held behandelt werden, dem wir, seine Richter, Vertrauen schenken. Ich habe ihn zu fragen: Bereust du, was von all den Deinen, die vor dir waren, gegen Gott und Menschen geschehen ist?«

»Ich bereue es!«

Indem der Mir diese Versicherung gab, war ihm anzusehen und auch anzuhören, daß es ihm mit ihr im höchsten Grade ernst war. Abu Schalem fragte weiter:

»Und bist du bereit, es durch all die Deinen, die nach dir kommen, vor Gott und den Menschen zu sühnen?«

»Ich bin bereit!« beteuerte der Gefragte.

»Versprichst du dir selbst und uns, vor allen Dingen und von heute an in der Weise für den Frieden aller deiner Länder und Völker zu wirken, wie deine Ahnen nur immer gegen ihn handelten?«

»Ich verspreche es!«

Da stand der berühmteste, der gerechteste und der gütigste aller Maha-Lamas mit einem schnellen, energischen Ruck wieder auf, erhob die Hand, als ob er segnen wolle, und rief:

»So entlaste ich dich hiermit von aller Schuld und Strafe, die du auf dich genommen hast. Ich lege diese ganze Last in die Hand des höchsten Richters. Sie falle auf denjenigen von allen, die nach dir kommen, der gegen das Versprechen handelt, welches du uns hier und heut gegeben hast! Seid ihr einverstanden, ihr Richter, die ihr euch doch auch als ›Sünder‹ bezeichnen ließet?«

Diese Frage galt uns, die wir sofort von unsern Sitzen aufsprangen, um unsere Zustimmung auszudrücken.

»Einverstanden, einverstanden, einverstanden!« rief es aus unser aller Mund. Darauf wendete sich Abu Schalem an Abd el Fadl und Merhameh:

»Hat die Güte oder die Barmherzigkeit noch etwas zu fragen, zu erwähnen oder hinzuzufügen?«

»Nein, nein!« antworteten sie.

»So ist mein Urteil anerkannt, bestätigt und zum Urteil der Dschemma erhoben! Dieses Schuldbuch sei dein! Nimm es hin, doch vernichte es nicht, sondern hebe es dir und den Deinen heilig auf, damit ein jeder von ihnen wisse, welch eine ungeheure Last er auf sich nimmt, sobald er gegen dich und dein Versprechen und also gegen Gott und seine Menschheit handelt! Die Mitternacht ist vorüber! Licht nicht nur über den Sternen, sondern Licht auch hier auf Erden! Nicht nur Gott allein ist barmherzig, sondern auch der Mensch hat es zu sein! Die Dschemma löst sich auf. Ich grüße euch!«

Er nahm das Buch und stieg von seiner Erhöhung herab, ging zwischen uns hindurch bis hin zum Mir, gab es ihm und schritt dann weiter, langsam, feierlich und ohne sich nach uns umzusehn. Wir blieben nicht länger als wohl eine Minute stehen, um uns zu sammeln; dann folgten wir ihm, hinaus in den Saal der Dschemma der Toten. Dort war es dunkel; die Lichter brannten nicht mehr. Aber von daher, wo es nach dem hochstehenden Sessel Abu Schalems ging, erklang seine Stimme:

»Ihr, die ihr nicht ohne Kerzen sehen könnt, brennt sie euch an!«

Wir taten es, doch reichten einige allein nicht aus, und erst als viele brannten, drang ihr Licht bis zu ihm hinauf. Bei ihrem flackernden Schein sah es ganz so aus, als ob er sich erst noch rühre, dann aber saß er still, so still und unbeweglich, wie er stets gesessen hatte. Wir andern hätten wohl gern eine nähere Untersuchung seines Körpers veranstaltet, doch hielt uns eine leicht begreifliche Scheu davon zurück. Aber der Mir, um den es sich hier in allem handelte und der zu so einem Schritte gewiß berechtigter war als wir, betastete seinen Vater und seinen Großvater, die genau wie vorher auf ihren Plätzen saßen, sehr sorgfältig, versuchte, ihre Hände und Arme zu bewegen, und sagte dann:

»Sie sind tot, vollständig tot, auch wieder kühl, fast kalt! Aber als sie neben mir saßen, fühlte ich ganz deutlich ihre Wärme!«

Hierauf stieg er zu Abu Schalem empor, um dasselbe auch bei ihm zu tun. Es führte auch zu demselben Resultat.

»Auch tot! Ganz ohne jede Spur von Leben!« berichtete er. »So, wie er jetzt dasitzt, kann er es unmöglich sein, der die Dschemma geleitet und so wohlüberlegte, tiefsinnige Worte gesprochen hat. Das ist ganz unmöglich!«

»Und doch ist er es gewesen!« behauptete der Scheich der Tschoban. »Ich sah es ganz deutlich, wie er dort, wo du jetzt bei ihm stehst, hinaufkam und sich langsam niedersetzte. Er ist lebendig gewesen und nun wieder tot! Ich weiß es genau. Ich kann es bezeugen!«

In diesem Augenblick wurde draußen die Stunde angeschlagen, und der Muezzin rief mit halb singender Stimme:

»Nach Mitternacht! Die siebente und die erste Stunde für alle Sterblichen. Qual auf der Erde; Seligkeit nur im Himmel. Der Mensch sucht Trost bei der Hoffnung; aber erfüllen kann nur Gott allein!«

Da stieg der Mir wieder von der Erhöhung herab und griff nach dem einstweilen weggelegten Schuldbuch, um es mitzunehmen. Wir löschten die Lichter aus und entfernten uns. Es war zwischen unserm Kommen und Gehen genau eine Stunde verstrichen. Wir alle waren still. Keiner sagte ein Wort. Kaum, daß wir uns Gute Nacht wünschten, als wir auseinandergingen. Und als wir in die geräumige und wohl ausgestattete Stube kamen, in der ich mit Halef wohnte, bat mich dieser, ohne daß ich ihm Veranlassung dazu gegeben hatte:

»Schweig, Sihdi, schweig! Rede nicht! Es klingt etwas in mir. Das ist kein Lied, sondern eine Predigt; die darf ich mir nicht unterbrechen, nicht stören lassen. Es ist wahr: Mitternacht ist vorüber, wirklich vorüber! Ja, es wird Tag; es wird Tag!«

Ich legte mich nieder, ohne ihm zu antworten. Auch in mir erklangen Stimmen. Ich hörte sie noch lange, lange, und lauschte ihnen, bis der Schlaf sie mir oder, vielleicht richtiger, mich ihnen entzog.

Am andern Morgen wurde ich mit Halef eingeladen, das Frühstück bei dem Mir und seiner Familie einzunehmen. Auch der Dschirbani war geladen. Er kam. Sodann, als diese Frühmahlzeit vorüber war, stellte sich der Schech el Beled von El Hadd ein, der uns bat, ihn auf die Spitze des Tempels zu begleiten; er habe uns etwas sehr Wichtiges zu zeigen. Wir fragten ihn, was es sei, wurden aber von ihm ersucht, die Auskunft, welche wir wünschten, uns mit den Augen zu holen; eine Überraschung wie die, welche uns bevorstehe, kündige man nicht durch vorauseilende Worte an. So begaben wir uns also mit ihm nach dem Dom und stiegen den Spiralweg im Innern desselben hinauf. Als wir den Türstein aus der Öffnung stießen, um auf die freie Platte hinauszutreten, flutete uns ein warmes, goldenes Morgenlicht entgegen, und die Stadt der Toten lag in einem lebendig wogenden und lebendig atmenden Glanz zu unseren Füßen, als ob ihr von dem Herrn über Leben und Sterben, der alle Sonnen und alle Strahlen lenkt, erlaubt worden sei, heut Auferstehung zu feiern.

Der Schech el Beled hatte, wie jetzt immer, sein Gesicht mit dem Schleier verhüllt. Wir sahen es nicht; wir hörten nur seine Stimme. Er deutete zunächst nach dem Fluß hinab, den man von hier oben aus sehen konnte, und sagte:

»Seht zunächst, daß das Wasser kommt! Der Strom kehrt zurück. Es naht vielleicht die uns verheißene Zeit, in welcher der Herrgott wieder nach Ardistan kommt, um mit eigenem Mund das Heil zu verkünden. Das Wasser beginnt schon, zusammenhängend zu fließen.«

Wir sahen zu unserer Freude, daß dies richtig war. Die vereinzelten Tümpel hatten Zusammenhang gefunden. Sie flossen ineinander über und bildeten einen zusammenhängenden Wasserlauf von der Breite eines ansehnlichen Baches, der wie ein vielgewundenes, schimmerndes Band dem Lauf des trockenen Strombettes folgte.

Dann deutete der Schech mit der Hand nach Nordwest und fragte:

»Und wer kommt dort?«

Indem wir unsere Blicke nach dieser Richtung wendeten, sahen wir einen zweiten Bach, der noch heller schimmerte, fast wie von goldenen Blitzen durchzucktes Silber, und sich auch in zahlreichen Windungen bewegte, aber von den jäh abfallenden Felsenhöhen in das tiefe Tal herab. Es konnte also kein Wasser sein, denn das hätte wohl stürmische Kaskaden, nicht aber so ruhige Windungen gebildet, und es wäre kontinuierlich geflossen, während wir aber sahen, daß dieses bewegliche, glänzende Band zuweilen unterbrochen wurde und dunkle Lücken bekam.

»Das sind Menschen!« sagte Halef.

»Und zwar Reiter!« fügte der Dschirbani hinzu. »Sie kommen in Trupps, in einzelnen Abteilungen, die in regelmäßiger Marschordnung aufeinander folgen. Aber lauter Schimmel! Kein einziges dunkles Pferd ist dabei!«

»Ja, lauter Schimmel«, bestätigte Halef. »Auch die Reiter sind weiß, ganz weiß. Jedoch mit funkelnden Helmen, wie es scheint.«

»Und mit Lanzen bewaffnet, an deren Spitzen sich die Morgensonne bricht.«

»Man hat mir gesagt, daß die Heerscharen des Mirs von Dschinnistan so blütenweiße Pferde und so helle Mäntel haben. Ob das wohl so ist?«

Da erklärte der Schech el Beled:

»Die ihr da kommen seht, sind die Lanzenreiter von El Hadd.«

»Also die deinigen?« fragte der Mir, indem er sich schnell zu ihm herumdrehte.

»Ja«, antwortete der Schech.

»Und wie kommen die nach Ardistan, nach der Stadt der Toten, von der doch ein jeder weiß, daß da kein einzelner Mensch genug Wasser für sich findet, viel weniger ein ganzes Heer?«

»Es geschieht auf meinen Befehl. Ich wußte, daß das Wasser kommen werde.«

»Auf deinen Befehl? Ich denke, hier habe nur ich zu befehlen!« Das klang in etwas scharfem Ton. »Dürfen deine Truppen die Grenze von Ardistan ohne meine Erlaubnis überschreiten?«

»Ich hoffe es, denn es geschah zu deinem Heil«, antwortete der Schech el Beled ruhig.

»Zu meinem Heil? Wieso?«

»Ich hörte von der Empörung gegen dich. Ja, man forderte mich sogar auf, mich den Verschwörern anzuschließen. Da reiste ich nach Ardistan zu dir und befahl meinen Truppen, mir, wenn ich keinen Gegenbefehl erteile, an einem bestimmten Tag zu folgen. Da sind sie nun. Ich stelle sie dir zur Verfügung gegen den Panther und alle, die von dir abgefallen sind. Brauchst du sie nicht, so bedarf es nur eines Winkes, und sie kehren sofort wieder um.«

Das klang so einfach, so bescheiden, so ehrlich! Der Mir sah ein, daß seine Aufwallung unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht nur eine unberechtigte, sondern sogar eine lächerliche gewesen war. Er antwortete in einem ganz andern, sogleich herzlichen Ton:

»O nein! Umkehren sollen sie nicht! Sie sind mir sehr, sehr willkommen. Gegen alles Erwarten ist ja nun Wasser genug für sie vorhanden, und zu essen finden sie auch, so viel sie nur immer brauchen; es wird ihnen gern gegeben!«

Diese letztere Versicherung klang etwas eigen. Der Schech el Beled brauchte das Lächeln, welches ganz gewiß dabei seine Lippen umspielte, nicht zu unterdrücken, weil der Schleier es verbarg. Indem ich dieses dachte, sah ich ihn an, nur für einen kurzen Augenblick; aber als ich dann wieder nach der Richtung schaute, in welcher sich die Lanzenreiter befunden hatten, waren sie verschwunden, man sah sie nicht mehr.

»Sie sind weg! So plötzlich! Wohin?« fragte der Dschirbani. »Können sich so viele Menschen so schnell verstecken? Eine so lange Linie von Reiterei? Das ist doch unmöglich!«

»Sie sind noch genau da, wo sie waren«, antwortete der Schech; »aber sie haben sich unsichtbar gemacht.«

»Wodurch?«

»Durch ihre weiten Mäntel, die zwar außen hell, innen aber dunkel sind.«

»Hatten sie einen Grund dazu?«

»Jedenfalls. Wahrscheinlich haben sie etwas gesehen, was ihnen verdächtig vorkommt.«

»Was mag das sein? Uns und unsere Truppen in der Stadt der Toten zu entdecken, ist ihnen noch nicht möglich, denn der Blick nach der Stadt wird ihnen durch den dazwischenliegenden Höhenzug verwehrt. Das, was sie zur Vorsicht mahnt, muß sich also außerhalb der Stadt befinden, und zwar in der Richtung, nach welcher sie während ihres Rittes schauten.«

»Also Ost«, sagte Halef. »Sollte jemand von der Hauptstadt und vom Brunnen her unterwegs sein? Der würde auch von unsern Posten bemerkt, welche, fünfzig Mann stark, da oben auf der Höhe liegen, von der wir bei unserer Ankunft herabgeritten sind. Ich denke ... Maschallah! Da, schau, Sihdi. Habe ich nicht recht? Da kommt einer von ihnen! Und zwar trotz des steilen Weges im schnellsten Gang! Also unsere Posten haben dasselbe bemerkt, was die Lanzenreiter gesehen haben! Sie schicken uns diesen Boten, es uns zu melden. Er hat Eile. Man muß ihm also entgegenreiten, denn es scheint keine Zeit zu verlieren zu sein.«

Wir andern waren derselben Ansicht. Ehe der Bote von da drüben herüberkam und uns erfragte, konnte über eine halbe Stunde vergehen. Darum stieg ich, weil wir die beiden schnellsten Pferde hatten, mit Halef rasch von unserm hohen Aussichtspunkt hinunter, und schon nach drei oder vier Minuten ritten wir zum hintern Ausgang hinaus, durch den Militärstadtteil, über die Brücke und dann durch den jenseitigen Teil der einstigen Residenz, bis wir auf den Mann trafen, der uns entgegenkam. Er meldete uns, daß von Osten, also aus der Richtung der Hauptstadt Ard, sich ein Reitertrupp auf Pferden und Kamelen der Stadt der Toten nähere. Wie viel Personen es seien, könne er nicht berichten. Er habe nicht warten können, bis man das zu unterscheiden vermochte, weil augenblickliche Benachrichtigung befohlen worden sei. Ich beorderte ihn, weiterzureiten und die Meldung auch dem Mir zu machen, sagte ihm, wo dieser zu finden sei, und setzte dann mit Halef unsern bisherigen Weg in derselben Richtung fort.

Als wir oben auf der Höhe ankamen, bot sich uns ein weiter Ausblick gegen Morgen. Wir sahen sofort den Reitertrupp, dessen einzelne Personen nun zu unterscheiden waren. Er bestand aus zehn Personen zu Pferde und dreien, die einen Zug von Kamelen leiteten, welche mit Wasserschläuchen beladen waren. Unser Posten war ihnen also an Zahl weit überlegen. Er setzte sich zur einen Hälfte aus Ussul, zur andern aus Tschoban zusammen und steckte hinter den Mauern eines geräumigen Gebäudes, zu dem vor Jahrtausenden die Bewohner der Residenz hinaufgestiegen waren, um die herrliche Aussicht zu genießen. Wir gesellten uns ihnen bei.

Als die Nahenden so weit herangekommen waren, daß wir ihre Gesichtszüge sehen konnten, erkannte ich in ihrem voranreitenden Anführer den vom Panther zum Oberst beförderten Major, der zu mir und dem Brunnenwärter in das Zisternenhaus gekommen war und dann dem Mir die lange, aufrichtige Rede gehalten hatte. Er war dann der Kommandeur der Schar gewesen,die uns nach der Stadt der Toten gebracht hatte. Was wollte er wieder hier? Als er die Stelle erreichte, wo wir hinter dem Gemäuer auf ihn warteten, ging ich hinaus zu ihm. Die andern blieben einstweilen noch versteckt.

»Maschallah!« rief er erstaunt, als er mich erblickte. Er hielt sein Pferd an und fügte hinzu: »Das ist ja der Fremde aus Dschermanistan! Du hast doch da unten im Gefängnis Nummer fünf zu stecken! Wie kommst du hierher?«

»Zu Pferde«, antwortete ich.

»Zu Pferde? Wo hast du das Pferd?«

»Da drin!«

Ich deutete bei diesen Worten auf das Gebäude.

»Hole es heraus! Ich arretiere dich! Ich muß dich wieder hinunterschaffen. Du hast mir zu zeigen, wie du entwichen bist. Wo sind die andern?«

»Die sind noch unten.«

»Alle?«

»Ja, alle, außer Hadschi Halef. Der ist mit hier oben.«

»Wo? Ich sehe ihn nicht!«

»Er ist mit da drin bei den Pferden.«

»So muß er auch mit heraus und hinunter. Vor allen Dingen: Ist der Mir noch unten?«

»Ja.«

»Die beiden Prinzen der Ussul?«

»Ja.«

»Habt ihr den Dschirbani und den ältesten Prinzen der Tschoban im Kanal getroffen?«

»Ja.«

»Leben sie noch?«

»Sie sind noch nicht ganz tot.«

»Wie konnte es geschehen, daß du mit deinem Halef entkamst?«

»Wir fanden ein Loch und krochen hindurch.«

»Dieses Loch hast du mir zu zeigen. Es wird zugemauert! Als es euch gelungen war, zu entkommen, seid ihr durch die Stadt geritten?«

»Ja.«

»Habt ihr da vielleicht Menschen gesehen?«

»Sogar sehr viele.«

»Wen?«

»Die Ussul und die Tschoban.«

»Das ganze Heer der Dschirbani?«

»Das ganze Heer. Es fehlte kein einziger.«

»Das ist gut, sehr gut. Sie stecken also alle in der Falle, alle, alle!«

Diese Worte sagte er, zu seinen Leuten gewendet, von denen auch die letzten, nämlich die mit den Kamelen, nun herangekommen waren. Dann wendete er sich mir wieder zu und fragte:

»Hast du noch mehr Leute gesehen? Etwa Frauen?«

»Ja, Frauen.«

»Welche?«

»Die Frau des Mirs und ihre Dienerinnen.«

»Also doch! Etwa auch Merhameh, die Prinzessin von Halihm?«

»Auch sie.«

»Und ihren Vater?«

»Ja.«

»Weißt du, wo diese beiden sich jetzt befinden?«

»Ja.«

»So sage es! Also wo?«

Ich war mit Absicht nicht nahe zu ihm hingegangen, sondern so weit von ihm stehengeblieben, daß er gezwungen war, seine Stimme zu erheben. Ich wollte, daß auch Halef und die Wache hörten, was er sagte. Das war geschehen, und so kam der kleine Hadschi heraus und antwortete an meiner Stelle:

»Du willst Major gewesen und jetzt sogar Oberst geworden sein und kannst nicht schärfer denken und keine geordneten Fragen stellen? Schäme dich! Wenn wir beide frei sind, müssen doch auch die andern frei sein!«

»Der Effendi sagte doch, sie seien noch unten!«

»Ja, unten in der Stadt, aber doch nicht mehr unten im Kanal! Und du willst uns wieder einsperren und hörst doch, daß das ganze Heer der Dschirbani vorhanden ist!«

»Aber jedenfalls schon dreiviertel verhungert oder verdurstet!« verteidigte sich der Offizier.

»Selbst wenn dies der Fall wäre, würdest du doch wohl nicht so schalten und walten können, wie es dir beliebt. Du bist ein Schaf, ein großes, dummes Schaf, und rennst dem Fleischer geraden Weges in die Hände. Ich will dir zeigen, wie verhungert und verdurstet die Ussul und Tschoban schon sind. Paß auf!«

Er gab einen Wink. Da kamen die Genannten auf ihren Pferden heraus und beeilten sich, die paar Männer mit samt ihren Pferden und Kamelen zu umringen. Der Oberst griff nach seinem Säbel. Da warnte ihn Halef:

»Laß ihn stecken! Du bist unser Gefangener. Sobald du dich wehrst, wirst du erschossen! Ich sage dir, es ist kein Spaß, in die Hände des obersten Scheichs der Haddedihn zu fallen! Gebt eure Waffen her! Und zwar schnell! Sonst helfen wir nach!«

Die andern gehorchten ohne Widerstreben; sie sahen, daß sie die Übermacht gegen sich hatten. Dem Offizier aber kam es vor allen Dingen auf seine Ehre an. Er zog trotz Halefs Drohung blank, ließ sein Pferd vorn steigen und holte aus, um sich durchzuschlagen. Doch während er nach der einen Seite den Säbel hob, sprang ich von der andern zu ihm heran und riß ihn aus dem Sattel. Er stürzte zur Erde, und ehe er wieder aufspringen konnte, war er entwaffnet.

»Allah will es nicht, daß ich euch entkomme«, rief er aus. »Aber ihr werdet es bereuen! Und du, Effendi, du wirst mir bezeugen, daß ich mich euch nicht ohne Kampf ergeben wollte!«

»Das werde ich tun, und zwar gern«, antwortete ich. »Du hast deiner Pflicht und deiner Ehre genügt und kannst offenen Auges vor den Herrscher treten.«

»Welchen Herrscher meinst du?« erkundigte er sich.

»Den Mir natürlich.«

»Den Mir? Es gibt nur einen einzigen Mir, nämlich den neuen!«

»Du irrst. Es gibt nur einen einzigen Mir, nämlich den alten, vor den wir dich bringen werden.«

»Zu dem will ich nicht!«

»Zu wem sonst?«

»Zu Abd el Fadl, dem Fürsten von Halihm.«

»Wirst du zu ihm gesendet?«

»Ja.«

»Von wem?«

»Vom neuen Mir von Ardistan.«

»Den gibt es nicht. Du meinst jedenfalls den zweitgeborenen Prinzen der Tschoban, den man den Panther zu nennen pflegt. Wo befindet er sich jetzt?«

»Ich bin nicht beauftragt, es dir zu sagen!«

»So wirst du es einem andern sagen! Ich habe dich als einen ehrenwerten, mutigen Mann kennengelernt; aber neben dem Mut hat auch die Vernunft zu walten. Eure Pläne waren unvernünftig, und der Panther handelt geradezu verrückt! Hattet ihr in Ardistan keinen andern, bessern Ersatz für den bisherigen Mir als nur diesen fremden, leidenschaftlichen, unerfahrenen Knaben? Konntet ihr diesem Undankbarsten aller Undankbaren euer Vertrauen schenken, nachdem er das Vertrauen des Mirs so gewissenlos betrogen hatte ...?«

»Uns wird er nicht betrügen!« unterbrach mich der Oberst.

»Er hat euch schon betrogen!«

»Wieso?«

»Das sollst du bald erfahren. Jedes Volk ist den Herrscher wert, den es hat. Wenn euer Mir euch nicht gefiel, so kannst du sicher sein, daß auch ihr ihm nicht gefallen habt. Es wäre jedenfalls vorteilhafter gewesen, euch einander zu nähern, euch einander zu erziehen, euch einander zu bessern, als ihn vom Thron stoßen und euer Schicksal in die Hand des Panthers legen zu wollen!«

Er lachte ungläubig auf und sagte:

»Der Mir wäre nie zu bessern und nie zu erziehen gewesen!«

»Leichter als du und leichter als ihr alle! Du hast ihn erst noch kennenzulernen. Ihr alle kanntest ihn nicht. Ich bringe dich zu ihm.«

»Aber ich will doch nicht zu ihm!«

»Wohin du willst, ist gleichgültig. Er ist oberster Kommandeur der Stadt der Toten, und ich bin verpflichtet, dich nur ihm, keinem andern auszuliefern.«

»Oberster Kommandeur! Der Stadt der Toten!« lachte der Offizier wieder, diesmal aber fast höhnisch. »Der Titel klingt zwar schön, aber das Wasser fehlt, und es ist wohl kein Vergnügen, der Befehlshaber von nur Toten oder Sterbenden zu sein! Übrigens habe ich das Wasser, welches sich hier in unsern Schläuchen befindet, nur dem Fürsten von Halihm abzuliefern. Hoffentlich hindert man mich nicht, dies zu tun!«

»Wer sollte dich hindern wollen?«

»Ihr alle, die ihr vor Durst am Verschmachten seid!«

Da rief Halef aus:

»Du bist wirklich ein Schaf, ein sehr, sehr großes Schaf! Schau uns doch an! Sehe ich etwa verdurstet aus? Und betrachtet diese dicken, runden Urgäule der Ussul! Wer da vom Verschmachten reden kann, der ist schon selbst verschmachtet, und zwar da oben im Gehirn! Da helfen keine Worte; da nützt nur die Tat! Effendi, ich schlage vor, unsern Rückzug anzutreten. Wieviel Begleitung nehmen wir mit?«

»Begleitung?« fragte ich. »Wozu?«

»Diese Gefangenen zu transportieren.«

»Pah! Die reißen uns nicht aus! Die Waffen, die wir ihnen abgenommen haben, bleiben einstweilen hier. Bring unsere beiden Pferde; das genügt!«

Unsere Rappen waren im Gemäuer stehengeblieben. Halef holte sie. Wir stiegen auf, nahmen den Oberst in die Mitte und ritten fort. Seine Leute folgten uns mit ihren Pferden und Kamelen, ohne sich zu weigern. Sie waren müd und willenlos; ihm aber durften wir noch nicht ganz trauen, wenigstens so lange nicht, als er an dem Vorurteil festhielt, daß es mit uns schlecht stehe. Dies währte aber nur wenige Schritte, bis wir den Rand der Höhe erreichten und nun die Stadt vor unsern Augen lag. Da sah er den Fluß, und er sah auch die Menschen, die sich in den Straßen und Gassen bewegten.

»Allah beschütze mich!« rief er aus, indem er sein Pferd anhielt. »Das ist ja Wasser!«

Wir hielten mit an, sagten aber nichts. Nach einer Weile fuhr er halblaut, wie zu sich selbst, fort:

»Wasser – viel, viel Wasser ...!«

Auch jetzt antworteten wir nicht. Er strich sich mit der Hand einige Male über die Stirn, als ob er seine Gedanken ordnen müsse, und wendete sich dann an mich:

»Sag, Effendi, ist das auch wirklich Wasser? Wahres, richtiges Wasser?«

»Ja, wirkliches!« antwortete ich.

»So muß ich es glauben. Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Aber wenn das wirkliches Wasser ist, so sind ja alle unsere Berechnungen, die wir auf die Stadt der Toten stützten, zu schanden!«

»Das sind sie allerdings.«

»Ihr habt Wasser, mehr Wasser als genug, und könnt also nicht verdursten. Aber der Hunger wird euch töten!«

»Auch dieser nicht, denn auch da haben wir mehr, als wir brauchen.«

»Wo?«

»Das wirst du bald sehen. Komm!«

Wir ritten weiter, den Berg hinab, durch den östlichen Stadtteil, über die Brücke und dann durch die Militärstadt, bis wir durch den westlichen Ein- und Ausgang das Innere des Platzes am Maha-Lama-See erreichten. Da wurden wir bereits erwartet. Man hatte unsern Ritt mit den Augen verfolgt, und nun stand der Mir mit all den andern hier, um zu sehen, wer es war, den wir da brachten. Noch ehe wir bei ihm anhielten, erkannte er den Offizier.

»Allah, Wallah, Tallah!« rief er verwundert aus. »Unser Wohltäter! Der uns hierherbrachte, damit wir verschmachten sollten! Der es so gut mit uns meinte! Wir haben ihm viel, sehr viel zu verdanken! Und wir werden dankbar sein – gewiß, gewiß – sehr dankbar!«

Der arme Teufel befand sich in größter Verlegenheit. Er starrte zu Boden und wagte nicht, die Augen wieder aufzuschlagen. Der Ton, in dem der Mir gesprochen hatte, war ironisch gewesen; jetzt aber klang er streng und befehlend, als der Herrscher fragte:

»Was sollst du hier?«

»Ich bin zu Abd el Fadl geschickt, dem Herrscher von Halihm.«

»Von wem?«

»Vom – vom – vom Mir.«

»Vom Mir! Du wagst es, diesen Lügner und Verräter in meiner Gegenwart so zu nennen?«

Der Gefragte antwortete nicht. Da fragte der Mir weiter:

»Was sollst du bei Abd el Fadl?«

»Ihm ein Schreiben übergeben.«

»Und was noch?«

»Ihn und seine Tochter Merhameh nach der Hauptstadt geleiten.«

»Diese beiden allein? Keinen andern Menschen dabei?«

»Ja.«

»Ah! Sie sollten gerettet werden! Aber nur sie allein?«

»Ja.«

»Du solltest also suchen, sie heimlich zu treffen?«

»Ja.«

»Kennst du den Inhalt dieses Briefes?«

»Seinen Wortlaut nicht; aber was er enthält, das weiß ich.«

»Gib ihn her!«

Der Mir streckte die Hand aus. Der Offizier schüttelte den Kopf und sagte:

»Verzeih! Das tue ich nicht. Ich habe den Brief an Abd el Fadl abzugeben, und wenn ich das nicht darf, so bringe ich ihn dem zurück, der ihn geschrieben hat.«

»Ich kann dich sofort erschießen lassen, wenn du dich weigerst!«

»Tue es! Ich habe dem neuen Mir von Ardistan meine Treue zugesagt, und so lange du mir nicht bewiesen hast, daß er ein Lügner und Betrüger ist, werde ich ihm gehorchen!«

Da trat der Mir nahe zu ihm heran, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte:

»Das habe ich erwartet. Wehe dir, wenn du dich anders verhalten hättest. Da steht Abd el Fadl mit seiner Tochter. Gib ihm den Brief!«

Der Offizier führte diesen Befehl aus. Abd el Fadl nahm den Brief, öffnete ihn aber nicht, sondern gab ihn dem Mir und sagte:

»Lies du ihn! Es gibt nichts, was ich dir zu verbergen habe.«

Man sah dem Brief an, daß er nicht in der Hauptstadt, sondern unterwegs geschrieben war, auf zerknittertes, vielleicht gar beschmutztes Papier, wie es jeder Offizier in seiner Satteltasche bei sich führt. Der Mir brach ihn auf und las. Er las ihn noch einmal und gab ihn dann dem Fürsten von Halihm zurück. Dieser überflog ihn schnell und las ihn dann laut vor, so daß wir alle es hörten. Der Panther erinnerte Abd el Fadl an jene letzte Szene an der Landenge von Chatar, wo er erklärt habe, daß er Merhameh als seine Braut betrachte. Er forderte sie jetzt zur Frau. Es gebe keinen Grund, sie ihm zu verweigern. Er sei jetzt Mir von Ardistan und stehe Abd el Fadl nicht nur im Rang gleich, sondern sogar hoch über ihm. Abd el Fadl könne sich und seine Tochter vom Tode des Verschmachtens retten, indem er sein Jawort auf den unbenutzten Teil dieses Briefes schreibe und dem Überbringer desselben heimlich aus der Stadt der Toten in die Freiheit folge.

»Du wußtest also, was jetzt vorgelesen worden ist?« fragte ich den Offizier.

»Ja«, antwortete er.

»Und hättest es ausgeführt?«

Der Gefragte nickte. Da es mir darauf ankam, ihn so schnell wie möglich für uns zu gewinnen, zögerte ich nicht, mich zu erkundigen:

»Hast du denn das Abkommen, welches der Panther mit euerm Basch Islami getroffen hat, nicht gekannt?«

»Welches Abkommen? Ich kenne es heut noch nicht«, antwortete er.

»Der Basch Islami hat den Panther zum Mir von Ardistan zu machen, und der Panther hat, sobald er es geworden ist, der Schwiegersohn des Basch Islami zu werden; dann regieren beide.«

Da sah der Offizier erst mich und dann auch die andern groß an.

»Wenn – wenn – wenn das wahr wäre«, sagte er, vor Schreck fast stammelnd, »dann – dann ...«

»Es ist wahr«, versicherte ich, als er hier innehielt.

»Es ist wahr!« versicherte auch der Mir.

»Es ist wahr; es ist wahr!« versicherten auch die andern.

»Verzeiht!« rief der Überraschte. »Es genügt mir, wenn es nur einer sagt, nämlich dieser da!«

Indem er dies sagte, zeigte er auf mich und fuhr dann, zu mir gewendet, fort:

»Effendi, weißt du ganz gewiß, daß es so ist, wie du sagst?«

»Ganz gewiß!« antwortete ich. »Ich war dabei, als der Panther mit der Tochter des Basch Islami sprach. Und noch eines will ich dir sagen: Der Basch Islami hat mir in meiner eigenen Wohnung in Ard mitgeteilt, daß der Mir von Ardistan abgesetzt werden soll. Der Mir befand sich ungesehen dabei. Er hörte diese Worte. Er konnte den Basch Islami sofort ergreifen, ließ ihn aber entkommen, weil ich ihn darum bat.«

»Ist das wahr?« fragte der Offizier, indem er den Mir mit großen Augen wie fremd anschaute.

»Es ist wahr«, nickte dieser. »Ich hörte alles, was der Basch Islami sagte, und erlaubte ihm aber, zu fliehen.«

»Dann – dann – dann bist du ...«

Er sprach nicht weiter, sondern er eilte hin zu dem Mir, der wieder von ihm zurückgetreten war, ließ sich auf ein Knie vor ihm nieder, ergriff seine Hand, küßte sie und rief:

»Dann bist du doch besser, als wir dachten, bist gütiger und edler, als es schien! Verzeih mir, Herr, verzeih!«

»Steh auf!« gebot der Mir. »Soeben hast du gesagt, daß deine Treue dem neuen Mir gehöre.«

»Ich wußte nichts von dem, was ich vom Effendi erfuhr! Nun aber weiß ich, daß der Panther ein Unwürdiger ist, der um seines Vorteiles willen seine Freunde täuscht und betrügt. Und so einem Mann kann ich mich und meinen Säbel nicht zur Verfügung stellen!«

»So trittst du also von dem Panther zurück?«

»Ja. Denn ich glaube dem Effendi. Was er sagt, ist wahr. Der Panther hat dich belogen und betrogen, doch geht das nicht mich etwas an, sondern dich. Aber er betrügt und belügt auch den Basch Islami, seinen höchsten und besten Verbündeten. Das geht mich sehr viel an, weil ich der Freund und Vertraute des Basch Islami bin ...«

»Wenn du das bist, solltest du aber doch wissen, daß seine Tochter für den Panther bestimmt ist!« fiel ich ein.

»Das wird ein so verschwiegener Punkt ihres Abkommens sein, daß der Basch Islami sich verpflichtet gefühlt hat, sogar mir gegenüber hiervon zu schweigen«, antwortete der Offizier, um sich dann mit der Bitte an den Mir zu wenden: »Herr, gib mir eine kurze Zeit zum Überlegen! Ich muß mein Gewissen befragen, ob ich das, was ich weiß, dir sagen darf oder nicht. Dann magst du mit mir verfahren, wie die Gerechtigkeit es erfordert. Ich habe mich gegen dich empört; darauf steht der Tod!«

Der Mir antwortete ernst, aber nicht gehässig:

»Diese Bedenkzeit sei dir gewährt. Ich übergebe dich unserm Freund Hadschi Halef, dem Scheich der Haddedihn. Er mag dich hier herumführen, um dir zu zeigen, daß wir weder zu verdursten noch zu verhungern brauchen. Wenn zwei Stunden vorüber sind, will ich dann hören, ob du mir etwas zu sagen hast oder nicht.«

Das war etwas für meinen kleinen Halef! Es gab gar keinen geeigneteren Mann, den Offizier in seinem Innern schnell und völlig umzustimmen. Er nahm ihn auch sofort bei der Hand und entfernte sich mit ihm, um die Führung zu beginnen. Grad in diesem Augenblick erhob sich ein vielfacher, tiefer, langgezogener Ton, der von dem höchsten Punkt der Zitadelle ausging und hoch über dem Maha-Lama-See dahin nach auswärts schwebte. Er erklang aus den schon früher beschriebenen, langen Kriegshörnern der Ussul.

»Das ist das Zeichen, daß die Lanzenreiter von El Hadd in der Nähe eingetroffen sind«, erklärte mir der Herrscher. »Während du mit Halef nach der Höhe rittest, ließ ich ihren Empfang und ihre Unterbringung vorbereiten. Begeben wir uns wieder auf die Höhe des Tempels, um ihre Ankunft besser als von hier aus zu überschauen.«

Wir alle, die wir soeben beisammen waren, stiegen wieder auf die Platte des Domes, von der es die beste Aussicht über die ganze Gegend gab. Es war wirklich so, wie wir vermutet hatten; die Lanzenreiter hatten die kleine Karawane des Obersts kommen sehen und sich sofort unsichtbar gemacht, weil sie nicht wußten, ob sie Freunde oder Feinde vor sich hatten. Jetzt aber hatten sie ihre Mäntel wieder gewendet. Sie kamen nun grad von Norden her, ritten am Fuß des inneren Höhenzuges um den westlichen Stadtteil herum und schwenkten dann links genau nach der Stelle ein, an welcher der von uns benutzte Ausgang lag. Es war ein ganz eigener, ergreifender Anblick, den wir da vor uns hatten. Wir befanden uns inmitten eines öden, weiten Städte-, Völker-, vielleicht sogar Menschheitsgrabes, in dessen Tiefe auch wir hatten verschwinden sollen. Der Tod hatte uns von allen Seiten entgegengegrinst; aber als wir ihn genauer betrachteten, war er zum Verkünder des Lebens für uns geworden. Wir hatten das Grab gesprengt. Wir strebten aus ihm heraus, und kaum hatten wir diesen Willen bekundet, so kam uns auch Hilfe von außen, von den Bergen herab, die gen Himmel ragen, in Gestalt des klaren, reinen, hellschimmernden Wassers und des sich von den Felswänden milchweiß abhebenden Reiterzuges, dessen Helme und Lanzenspitzen goldene Strahlen zu uns sandten. Der Anblick dieser Truppe hatte an diesem Ort und an diesem sonnigen Morgen etwas Unirdisches, ich will nicht sagen, Überirdisches. Man mußte an die »Heerscharen Gottes« denken, von denen in so vielen, alten, frommen Büchern die Rede ist. Wie gesagt, es war mir ganz eigenartig, fromm, ja mehr als fromm zumute.

Als die Spitze des Zuges den Punkt erreichte, der, nur durch die schon beschriebene Senkung von ihm getrennt, unserm Eingang gegenüberlag, hielt sie an. Wir sahen Posaunen und Trompeten glänzen, die nicht wie heut, sondern wie vor Jahrtausenden gestaltet waren. Sie bliesen eine lange, weithin schallende, feierliche Fanfare, die wie eine Anfrage höherer Wesen klang, ob ihnen der Einzug gestattet oder verweigert sei. Vom höchsten Punkt der Zitadelle herab antworteten die Riesenhörner der Ussul, indem sie ein tief aufatmendes Willkommen jubelten. dann setzte sich der Zug der weißen Reiter von neuem in Bewegung, die jenseitige Halde hinab, die diesseitige wieder herauf und dann durch den offenstehenden Eingangsraum auf den weiten Platz des Maha-Lama-Sees herein.

Sie waren alle genauso gekleidet wie der Schech el Beled, nämlich in eng anliegende, aus Lederriemen geflochtene Anzüge, welche von weitem das Aussehen von Ritterrüstungen hatten. Diese Riemen waren gegerbt, doch nicht gefärbt, also naturfarben. Die prächtigen Helme bestanden aus leichten, goldig schimmernden Metallteilen. Sie waren hinten mit einem Nackenschutz aus Stoff versehen, welcher, nach vorn geschlagen, den Helm für jeden fernen Beobachter unsichtbar machte. Die Mäntel habe ich schon erwähnt. Die Bewaffnung bestand nur in einer sehr langen, aber sehr gefährlichen Lanze und einem in lederner Scheide steckenden Gürtelmesser. Etwas anderes war nicht vorhanden, weder zum Schießen noch zum Hauen oder Stechen. Und auch diese beiden schienen mehr friedlichen als kriegerischen Zwecken dienen zu sollen. Die Pferde waren, wie bereits gesagt, lauter Schimmel, von edler Abkunft, persisch aufgezäumt, mit langen, ungekünstelten Schweifen und Mähnen.

Voraus ritt ein starker, stolzer, silberbärtiger Riese, der keinen einzigen fragenden Blick um sich warf und sich ganz so benahm, als ob er mit der Örtlichkeit und allem, was hier geschehen war und noch geschehen sollte, vollständig vertraut sei. Ihm folgten, vier Mann hoch, eine Schar von Offizieren, wohl der Stab. Dann kam, auch zu vieren, die eigentliche Truppe, je hundert Mann von einem einzelnen angeführt. Indem sie so, wie sie zum Tor hereinkamen, langsam und in prächtiger Haltung, der Rundung des Platzes folgend, längs der nördlichen Säulenhalle hinritten, sahen wir, nach auswärts schauend, daß ihnen ein langer aber wohlgeordneter Zug von Maultieren folgte, welche die Bagage, also Zelte usw. zu tragen hatten.

Aber wir sahen da auch noch mehr, nämlich daß hinter diesen Maultieren eine neue, andere Truppe kam, die auch auf lauter Schimmeln ritt und ganz genauso ausgerüstet war, wie die vorige, nur daß, wie wir später bemerkten, ihre ledernen Anzüge nicht naturfarbig sondern blau waren, und zwar von jenem tiefen, beruhigenden, ein wenig violetten Blau, welches der Himmel zeigt, wenn man aus einer tiefen, schmalen Schlucht zu ihm aufschaut und nur einen Streifen von ihm sieht.

»Ein zweites Heer!« rief der Mir verwundert aus. »Wer mag das sein?«

Da antwortete Abd el Fadl:

»Das sind die Lanzenreiter von Halihm.«

»Also die deinigen?«

»Ja. Ich stelle sie dir zur Verfügung gegen alle deine Feinde.«

»Auch du, auch du! Was seid ihr doch für Leute, für Menschen, für Helfer und Retter, du und der Schech el Beled! Aber ich danke dir. Ich nehme auch deine Hilfe an. Doch erlaube mir eine Frage: Wo habt ihr die Infanterie, die Artillerie, die Gewehre, die Säbel, die Kanonen?«

»Auf die verzichten wir.«

»Warum?«

»Weil wir sie da oben in den Bergen, wo sich der Kampf entscheiden wird, für überflüssig halten.«

»Warum da oben? Ich bin entschlossen, auf meinen Kampf mit Dschinnistan zu verzichten. Es handelt sich für mich also nur darum, die Revolution niederzuwerfen. Und das kann doch nur hier geschehen.«

»Nein. Auch das wird da oben geschehen, wo alle eure hiesigen Waffen ihren Wert vollständig verlieren. Wir sprechen später hiervon. Jetzt haben wir unsere Aufmerksamkeit auf das zu richten, was da unten vor unsern Augen geschieht. Ich schlage vor, wir steigen hinab, denn wir müssen unsere Leute begrüßen, und bitte um die Erlaubnis, sie dir vorstellen zu dürfen.«

Sie verließen die Plattform des Tempels. Ich allein blieb oben. Ich beobachtete, daß sie, unten angekommen, ihre Pferde bestiegen und zu den Offizieren von El Hadd hinüberritten. Diese hatten soeben den östlichsten Punkt des riesigen Platzes erreicht, als die letzten von ihnen im Westen zum Tor hereinkamen. Die Lanzenreiter des Schech el Beled bildeten also eine ununterbrochene vierfache Linie, welche genau so lang wie die ganze nördliche Riesenbalustrade war. Man mag hieraus auf die Zahlenstärke dieser Hilfstruppen schließen. Die Maultiere, also das, was wir als Train und Bagage bezeichnen würden, kamen nicht mit herein. Sie schwenkten draußen zwischen den Böschungen links ab, um das Lager im Freien herzurichten.

Hierauf folgten sofort die Reiter von Halihm. Auch sie ließen an dem gegenüberliegenden Punkt eine Fanfare erklingen, auf welche die tiefklingenden Hörner der Ussul ihre Antwort gaben. Ich sah, daß Merhameh nach dem Tor galoppierte und, als ihre Heerscharen dort erschienen, sich an ihre Spitze setzte, um sie dem Mir selbst vorzuführen. Sie wendete sich mit ihnen nach der Südseite des Platzes, wo auch ich mich befand. Darum konnte ich die Bewegungen der Neuangekommenen nicht mit meinen Augen verfolgen und zog es vor, die Plattform zu verlassen und mir unten einen besseren Platz zu suchen. Ich sah nur noch, daß auch die Reiter von Halihm eine ganze Menge von Bagagemaultieren bei sich hatten, die aber draußen rechts abschwenkten, um nach dieser Seite hin die heutige Lagerstätte zu erreichen.

Als ich hinunterkam, hielt der Mir mit dem Dschirbani, Abd el Fadl und den andern in der Mitte des Platzes vor den Stufen des Wasserengels. Ich eilte zu meinem Pferd, stieg auf und ritt zu ihnen hin. Auch Halef gesellte sich zu uns. Der ihm anvertraute Offizier befand sich bei ihm, konnte aber jetzt nicht beachtet werden.

Es stellte sich heraus, daß die Schar von Halihm genau so groß war wie die von El Hadd. Als ihre beiden Spitzen sich am östlichen Punkt des Platzes berührten, kamen grad die letzten der ersteren der Truppe im Westen herein, und nun bildeten die uns zu Hilfe gekommenen Retter zwei aneinanderstoßende, vierfache Halbringe, deren nördlicher aus El Hadd und deren südlicher aus Halihm stammte. In der Mitte hielt mit seinen Freunden der Mann, zu dessen Unterstützung sie herbeigezogen waren, obwohl er es weder verdient, noch sie darum gebeten hatte.

Als Merhameh an der Spitze ihrer Truppen die Offiziere von El Hadd erreichte, begrüßte sie sie und galoppierte dann nach dem Engel des Wassers, um sich uns zuzugesellen. Hierbei fiel mir erst auf, daß sie ganz anders gekleidet war als gewöhnlich, nämlich genau in das violettierende Blau ihrer Reiterschar. Was war da natürlicher, als daß ich mich im stillen fragte, wie doch alles so trefflich passen, klappen und zusammenstimmen konnte. Ich faßte den Schech El Beled scharf in das Auge, doch ohne daß es ihm auffallen konnte, und bemerkte da sehr bald, daß er es war, der alles wußte, alles ordnete und nach dem sich alles richtete.

In dem Augenblick, als die beiden Truppenkörper sich im Westen und im Osten vereinigt hatten und der Ring also geschlossen war, sah ich, daß er sein Pferd einige Lançaden machen ließ, zu denen es gar keine Veranlassung gab. Sollte das etwa ein Zeichen sein? Ja, richtig! Nämlich sobald man das sah, erhoben die Posaunen und Trompeten auf beiden Seiten ihre Stimmen, und zu gleicher Zeit erschien der Bläserchor der Ussul auf den stärksten aller Urgäule und kam auf uns zugeritten. Ich sah den Dschirbani fragend an. Er antwortete lächelnd:

»Der Schech el Beled bat mich darum; ich sagte ja. Der Mir hat unter Musik die Aufstellung abzureiten.«

Auch die beiden andern Chöre kamen herbei, sie vereinigten sich auf der Mitte des Platzes mit den Ussul, und als wir uns mit dem Mir in Bewegung gesetzt hatten, um den Rund- und Ehrenritt auszuführen, hörte ich sehr bald, daß es Musikstücke gab, die es ermöglichten, die Ausdrucksweise dieser so verschiedenen Leute und dieser ebenso verschiedenen Instrumente harmonisch auszugleichen. Sie musizierten, bis unser Ritt zu Ende war, und das dauerte eine ziemlich lange Zeit. Dann stellten sie sich am Ausgang auf, um die Truppen, wie Halef sich in drastischer Weise ausdrückte, »wieder hinauszublasen«. Sie ritten in derselben Reihenfolge hinaus, wie sie hereingekommen waren. Dann verschwand der Schech el Beled für uns. Das heißt, er war zwar überall zu sehen, aber nirgends zu fassen. Die vielen, vielen Menschen, die nun vorhanden waren, wurden untergebracht, befriedigt und verpflegt, ohne daß sich jemand von uns hierum zu bekümmern und zu bemühen brauchte.

Während dieses alles geschah, waren die zwei Stunden Frist, die der Oberst bekommen hatte, natürlich längst vorüber. Es war Mittag geworden. Es wurde ein Mittagsmahl bereitet, zu dem der Mir alle Personen einladen ließ, die ihm Grund gegeben hatten, sie dazu herbeizuziehen. Da brachte Halef mir seinen Schutzbefohlenen und fragte mich, ob er es wohl wagen dürfe, den Mir jetzt zu belästigen. Die ihm angegebene Zeit sei ja längst vorüber.

»Er wird sich wundern«, sagte er, »sehr wundern, wenn er erfährt, was der Oberst mir gesagt hat. Ahnst du, wo der Panther sich jetzt befindet?«

»Nicht mehr in Ard? Oder noch nicht in Ard?« fragte ich.

»Nicht mehr! Er ist hin, um nur einen einzigen Tag dort zu bleiben. Er hatte es dabei weniger auf die Stadt als auf Merhameh abgesehen, die mit ihrem Vater in seine Hände fallen sollte. Die Stadt fällt ihm, sobald er als Sieger heimkehrt, ganz von selbst zu, dachte er. Die Verbindung mit dem Fürstenhaus war ihm wichtiger. Der Oberst mußte ihn vom Wüstenbrunnen nach Ard begleiten. Unterwegs erfuhren sie, daß es der Frau des Mirs gelungen sei, nach der Stadt der Toten zu entkommen, und daß Abd el Fadl sich mit seiner Tochter bei ihr befunden habe. Hierauf ...«

»Ah, nun ahne ich alles!« unterbrach ich Halef.

»Nein, noch nicht alles!« widersprach er mir. »Er erfuhr nämlich zu gleicher Zeit, daß der Mir von Dschinnistan auf die Kriegserklärung des Mirs von Ardistan dadurch geantwortet hat, daß er mit seinen Scharen in Ardistan eingebrochen ist und in Eilmärschen versucht, die Hauptstadt Ard zu überrumpeln. Da gilt kein Zaudern. Man muß ihm schleunigst entgegenziehen, um ihn mitten im Marsch, noch ehe er seine Truppen zur Schlacht entwickeln kann, zu schlagen. Darum ist der Panther nur für einige Stunden nach Ard, um alle dort noch vorhandenen Krieger schnell zusammenzuraffen und mit ihnen den vorausgesandten Truppen nachzueilen.«

»Und was geschieht mit der Stadt? Glaubt er, sie sei ihm sicher?«

»Ja; das glaubt er fest. Er läßt den alten Basch Islami als Kommandanten zurück. Der soll, während der Panther sich im Feld befindet, die neue Regierung organisieren und für Truppennachschübe, Lieferungen von Proviant, Munition und alles andere sorgen.«

»Weißt du das aus seinem eigenen Mund?« fragte ich den Oberst.

»Ja, er selbst hat es mir gesagt, und niemand war dabei«, antwortete er.

»Und glaubst du, daß er bei diesem Plan bleiben und nicht auf einen andern verfallen wird?«

»Ich bin überzeugt davon, vollständig überzeugt. Er hat mir diesen Plan entwickelt, und zwar bis in alle Einzelheiten hinein. Der einsame Ritt durch die Wüste zurück gab ihm die nötige Zeit dazu.«

»Weißt du, wo die vorausgesandten Truppen jetzt stehen und auf welchem Wege von Ard aus er sie erreichen will?«

»Ja. Er will sich auf seinem Zug nach Norden so fern wie möglich vom Fluß halten, in dessen Nähe nur das Verschmachten lauert. Er ahnt nicht, daß inzwischen genugsam Wasser erschienen ist, um ganze Heere zu tränken.«

»Das ist wichtig, höchst wichtig! Wir müssen schnell zum Mir. Es muß sofort eine Beratung gehalten werden, noch vor dem Mittagessen! Ich habe nur noch eine Frage, nämlich die: Was gedenkst du zu tun? Wem gehört deine Treue? Dem alten Mir oder dem, den du als den neuen bezeichnest?«

»Dem alten natürlich, dem alten! Ich habe doch offene Augen und ebenso offene Ohren! Die Augen, um zu sehen, daß sich hier in ganz ungeahnter Weise eine neue, hoffnungsreiche Zukunft zu entwickeln beginnt, und die Ohren, um zu hören, was mir Hadschi Halef, der Scheich der Haddedihn, erzählte. Er hat mich umgewandelt. Ich bin bereit, dem Mir alles zu erzählen, was ich weiß. Mag er dann mit mir tun, was ihm beliebt.«

»So komm! Es ist keine Zeit zu verlieren. Wir suchen ihn auf.«

Der Herrscher war schnell gefunden. Er schenkte dem, was ihm der Oberst berichtete, die größte Aufmerksamkeit und stimmte mit mir darin überein, daß man sofort beraten müsse. Das Ergebnis dieser Beratung sollte dann während des Mittagessens allen dabei anwesenden Truppenführern mitgeteilt werden. Ich kann über beide, sowohl über die Beratung wie auch über das Mittagessen, hinweggehen; es genügt, daß ich berichte, was beschlossen wurde. Das war folgendes:

Heut war Ruhetag, morgen aber der Tag des Aufbruches aus der Stadt der Toten. Unsere strategische Aufgabe war eine zweifache. Erstens hatten wir uns so schnell wie möglich der Hauptstadt zu bemächtigen, um sie dem Mir zurückzugewinnen und in ihr einen festen Stützpunkt für unsere ferneren Operationen zu erhalten. Dadurch verlor der Panther allen festen Boden und schwebte fortan nur noch in der Luft. Und zweitens galt es, sodann den Panther und seinen Anhang derart nach Norden zu treiben, daß er zwischen uns und die Truppen des Mirs von Dschinnistan geriet und sich ergeben mußte, wenn er nicht aufgerieben werden wollte. Denn daß der Mir von Dschinnistan nicht über die Grenze herabgekommen war, um den Empörern zu helfen, das wurde uns von dem Schech el Beled wie auch von Abd el Fadl und Merhameh heilig versichert, und wir glaubten das sofort, weil wir uns sagten, daß diese beiden Männer, der Herr von El Hadd und der Fürst von Halihm, uns wohl nicht zu Hilfe gekommen wären, wenn der Mir von Dschinnistan nicht damit einverstanden gewesen wäre. Sie waren viel besser unterrichtet als wir und wußten jedenfalls mehr, viel mehr, als sie uns sagen durften.

Hierzu war eine Dreigliederung unseres Heeres nötig, nämlich in das Zentrum, den rechten Hügel und den linken Hügel. Das von dem Dschirbani zu kommandierende Zentrum sollte aus den Ussul und Tschoban bestehen, eine feste, schwere, kompakte Masse, der die Aufgabe zufiel, nur allein durch ihre Schwere den Panther vorwärtszuschieben. Den rechten Flügel sollten die Lanzenreiter aus Halihm bilden. Sie hatten unter dem Befehl ihres Fürsten Abd el Fadl zu verhindern, daß der Panther von seiner genau nördlichen Richtung abwich, um nach dem fruchtbaren und wohlbewässerten östlichen Gelände auszubrechen und sich dort zu erholen und neu zu verproviantieren. Der linke Flügel wurde den Lanzenreitern von El Hadd unter ihrem unvergleichlichen Schech el Beled angewiesen. Sie hatten das Heer der Empörer vom Fluß fernzuhalten und immer auf sich selbst zurückzudrängen. Denn die Hauptwaffen, mit denen wir den Feind zu schlagen hatten, waren der Hunger und vor allen Dingen der Durst. Oberfeldherr dieser drei Gliederungen war natürlich der Mir von Ardistan, um dessen Land, Volk und Herrschaft, um dessen Wohl und Wehe es sich ja handelte.

Zur Ausführung des ersten Teiles unsers Planes mußten die beiden Flügel unseres Heeres vorausgesandt werden. Sie waren schneller beweglich als das schwerberittene Zentrum, und es handelte sich um größte Eile. Sie sollten also morgen früh zuerst aufbrechen, schon gleich bei Tagesgrauen. Der Dschirbani hatte ihnen dann sofort zu folgen. Es wurde gerechnet, daß er Ard einen vollen Tag später erreichen würde, was aber keineswegs ein Fehler war, weil wir wenigstens so viel Zeit brauchten, um uns die Hauptstadt zu sichern. Ihm wurden auch die Frau und die Kinder des Mirs anvertraut, denen man die Beschwerden eines Eilrittes nicht zumuten durfte. Merhameh aber, welche von der ersteren gebeten wurde, bei ihr zu bleiben, erklärte, daß es ihr unmöglich sei, diesen Wunsch zu erfüllen; die Pflicht halte sie bei ihrem Vater und seinen Truppen fest.

Am Abend dieses Tages gab es für mich ein kurzes, aber so eigenartiges Erlebnis, daß ich nicht darauf verzichten möchte, es mit zu erzählen. Es war wegen des frühen Aufbruches der Befehl gegeben worden, zeitig schlafen zu gehen und sich möglichst ruhig zu verhalten. Darum war es schon gleich nach dem Abendessen sehr still auf dem weiten Platz des Maha-Lama-Sees. Ich legte mich zeitig zur Ruhe. Halef auch. Wir schliefen schnell ein, denn die Ereignisse waren heut ja förmlich auf uns eingestürmt und hatten uns ermüdet. Grad als der Muezzin die Mitternachtsstunde abrief, wachte ich wieder auf. Mir war, als ob ich völlig ausgeschlafen hatte. Ich schloß zwar die Augen, blieb aber wach. Da stand ich auf und ging hinaus. Das erste Viertel des Mondes hatte sich während der letzten Tage vergrößert. Es warf einen klaren und doch geheimnisvollen Schimmer über den Riesenengel, der sich da drüben vor mir erhob und die Hand wie zum Abschied zu bewegen schien. Um seine Gestalt meinem Gedächtnis noch einmal einzuprägen, tat ich einige Schritte zu meiner offenen Tür hinaus, grad als jemand an ihr vorüber wollte, ganz leise, huschend, wie ein Rätsel, welches sich nicht lösen lassen will. Hätte ich nicht schnell einen halben Schritt zurückgetan, so wäre die Gestalt mit mir zusammengestoßen. Sie ließ einen halblauten Ruf des Schreckens hören und huschte nach der nächsten Säule, um sich hinter ihr zu verbergen. Ich verspürte einen feinen, süßen Duft, ähnlich dem Hauch der Kätzchenblüten zur Osterzeit, denselben, den ich in der Dschemma der Toten bemerkt hatte, als sie an mir vorüberkam. Schon hob ich den Fuß, um ihr nach der Säule zu folgen, ließ ihn aber wieder sinken, denn ich sagte mir, daß es ein weibliches Wesen sei, welches ich da vor mir hatte, und daß ich es nicht vornehm nennen dürfe, mich in ihre Geheimnisse einzuweihen. Darum wendete ich mich nach meinem Raum zurück, war aber noch nicht hinein, so erklang die Aufforderung:

»Halt! Bleib noch stehen!«

Ich drehte mich also wieder um. Da hörte ich: »Ich kann dich nicht erkennen; aber du scheinst der Fremde aus Dschermanistan zu sein?«

»Ja, der bin ich«, antwortete ich.

»Du hast mich jetzt gesehen und wolltest mich dennoch passieren lassen, ohne mich festzuhalten?«

»Ja.«

»Warum?«

»Ich bin dein Freund.«

»Mein Freund!«

Sie sagte das langsam und wie fragend. Und sie trat dabei wieder hinter der Säule hervor und kam ebenso langsam auf mich zu.

»Kennst du mich denn?« fragte sie.

»Nein, sicher nicht; aber ich ahne.«

»Was ahnst du?«

»Daß ich an deinem leeren Grab stand.«

»Was noch?«

»Daß der Schech el Beled der Vater deines Sohnes ist.«

Nun stand sie vor mir, hob die Hände abwehrend empor und sagte:

»Halt ein! Ahne nicht weiter! Deine Ahnung sagt dir Wahrheiten, die noch nicht sprechen dürfen. Ich muß schweigen, und ich weiß, daß auch du schweigen kannst. Darum rief ich dich jetzt, obgleich mich niemand sehen soll.«

»Ich sah dich schon!«

»Wo?«

»In der Dschemma der Toten, als du den Mir unterwiesest.«

»Wem hast du davon erzählt?«

»Noch keinem.«

»Du tatest recht. Ich kenne dich. Marah Durimeh hat dich uns empfohlen. Du wirst sie wiedersehen, viel eher als du denkst. Und nun muß ich gehen, doch nicht, ohne dir zu danken.«

Sie ergriff meine Hand, hob sie an ihr Gesicht empor, legte ihre Wange hinein, hielt sie eine kurze Zeit da fest, so daß ich ihre Wärme deutlich spürte, und sprach:

»Ich fühle deinen Puls. So sollen wir die Herzensschläge aller Sterblichen und der ganzen Menschheit fühlen. Ich liebe dich, denn du bist ein Mensch, ein wirklicher Mensch. Und ich liebe dich, denn du hast ihn lieb, den ich meine. Leb wohl! Doch nicht für lange. Wir sehen uns wieder!«

Sie entließ meine Hand und entfernte sich. Ich schaute ihr nach, bis sie im Dunkel der Säulenhalle, wohin ihr der Strahl des Mondes nicht folgen konnte, verschwand. Dann kehrte ich in mein Zimmer zurück, legte mich nieder und schlief sofort ein. Es war, als ob ich nur aufgewacht sei, um diese vermeintlich Tote zu sehen und zu sprechen.

Kurz vor Tagesanbruch wurde ich von Halef geweckt. Wir fütterten und tränkten unsere Pferde und Hunde, frühstückten auch selbst und füllten dann unsere Satteltaschen mit allem, was wir mitzunehmen hatten. Inzwischen ertönte der Weckruf auch für die andern. Die Zeit des Abschieds von diesem geheimnisvollen, unvergeßlichen Ort war gekommen. Wir hatten uns auch von den beiden Prinzen der Ussul und von den beiden Tschoban zu trennen, weil sie sich den Truppen des Dschirbani anschlossen. Von der Frau des Mirs und seinen Kindern verabschiedeten wir uns ganz besonders. Als wir dann mit ihm den Maha-Lama-See durch das bekannte Tor verließen, fanden wir, daß die Lanzenreiter von El Hadd und Halihm schon aufgebrochen waren. Wir eilten ihnen über die Brücke nach und ritten, als wir sie erreichten, an ihnen vorüber, um an ihre Spitze zu kommen, wo sich der Schech el Beled, Abd el Fadl und Merhameh befanden. Wir hatten den Oberst bei uns, der mit dem Brief des Panthers gekommen war. Er wurde nicht als Gefangener, sondern als freier Mann betrachtet, doch hing sein Leben und sein Schicksal natürlich nur von der Entscheidung des Mirs ab, die noch nicht getroffen war. Er hatte ein anderes, besseres Pferd bekommen und hinderte uns also nicht an der Schnelligkeit, die zu entwickeln war, wenn wir unsern Zweck erreichen wollten.

Ich lasse die Einzelheiten dieses Eilrittes unberührt. Die Pferde der Lanzenreiter bewährten sich in geradezu erstaunlicher Weise. Ebenso auch die Maultiere, welche neben dem Gepäck auch noch so viel Wasser, als die Truppe brauchte, zu tragen hatten. Freilich etwas mußte unsere Schnelligkeit hierdurch vermindert werden, aber wir legten den Weg bis zum Brunnen, zu dem die Kamele bekanntlich zwei Tage brauchten, in genau vierundzwanzig Stunden zurück, so daß es eben Tag zu werden begann, als wir ihn erreichten.

Wir trafen da eine kleine Schar von Reitern, welche schliefen. Sie gehörten zu den Leuten des Panthers, welchen befohlen war, den Weg nach der Stadt der Toten zu versperren. Wir nahmen sie einfach gefangen und ließen sie von einer kleinen Abteilung von El Hadd bewachen, die sie dem Dschirbani zu übergeben und uns dann nachzufolgen hatte.

Hier wurde natürlich alles getränkt, was Durst hatte. Dabei ruhten wir uns und unsere Tiere so weit aus, daß wir ihnen zumuten durften, dann bis heute abend wieder auf den Beinen zu sein. Von da an führte der Weg zunächst durch Steppenland, in dem sich nur selten eine menschliche Wohnung zeigte. Dann aber, als die Steppe zur grasigen Weide wurde, an die sich nach und nach immer mehr Felder schlossen, mehrten sich die Hütten und Häuser. Wir trafen sogar schon auf geschlossene Ortschaften, und da war es natürlich unmöglich, vereint weiterzumarschieren; wir mußten uns trennen. Es lag ja überhaupt im Plan, die Stadt nicht von einer Seite, sondern von zwei entgegengesetzten Seiten anzugreifen, nämlich von Süden und Norden zu gleicher Zeit. Wir teilten uns also. Der Schech el Beled von El Hadd schlug mit seinen Reitern eine nördlichere Richtung ein, um dort vor allen Dingen die Verbindung des Panthers mit der Stadt zu durchschneiden und dann zu einer Stunde, welche fest bestimmt wurde, von Norden her in die Straßen einzudringen und am Schloß mit uns, die wir von Süden kamen, zusammenzutreffen.

Von jetzt an mehrten sich die Wohnstätten, die Dörfer. Wo man uns sah, war man erstaunt oder gar erschrocken. Im letzteren Fall ergriff man sogar die Flucht. Je weiter von der Hauptstadt entfernt, desto weniger hatte man sich um die Politik gekümmert und an dem Aufstand direkt beteiligt. Aber je näher wir kamen, desto unsicherer fühlte man sich, sobald man uns sah, und um so häufiger beeilte man sich, vor unsern Augen zu verschwinden. Ein Grund hierzu lag wohl auch in dem Umstand, daß Reiter wie die von Halihm hier eine vollständig unbekannte Erscheinung waren. Ihre enganliegenden, rhomboidisch geflochtenen Lederanzüge schienen blaustählerne Panzer zu sein. Helme, wie sie trugen, gab es hier noch nie, und auch Pferde von der Rasse und Farbe, die sie ritten, waren in Ardistan noch nicht gesehen worden.

Einmal aber geschah es doch, daß man nicht vor uns floh, sondern ganz im Gegenteil uns entgegenkam. Das war am zweiten Spätnachmittag, ungefähr sechs Reitstunden von der Stadt entfernt, auf einer Ebene, die von einem einzelnen, hohen, turmähnlichen Felsen beherrscht wurde, von welchem aus man uns sogar erwartet zu haben schien. Denn da oben gab es Leute, die, sobald sie uns kommen sahen, schnell herunterstiegen und uns entgegeneilten. Als uns der erste von ihnen erreichte, erkannte ich in ihm den Ministranten unsers alten, guten, ehrwürdigen Basch Nasrani, des christlichen Oberpriesters. Die andern waren Handwerker, welche zu Weihnacht mit an unserm Christbaumschmuck gearbeitet hatten. Der erstere rief uns, noch ehe er uns erreichte, freudig zu:

»Gott sei gepriesen, daß ihr grad diesen Weg geritten seid, an dem wir warten! Freilich unbemerkt konntet ihr wohl nicht bleiben, weil auch die andern Wege besetzt worden sind.«

»Von Freunden?« fragte der Mir.

»Ja, nur von Freunden. Die Feinde wissen nichts davon, weil wir es heimlich tun.«

»Wer hat das angeordnet?«

»Mein frommer, ehrwürdiger Herr, der Basch Nasrani. Er wußte, daß ihr kommen würdet. Und er wünschte, daß ihr, noch ehe ihr die Stadt erreicht, erfahrt, wie es in ihr steht. Darum stellte er Wachen aus. Ich bitte euch, abzusteigen und auszuruhen. Der Platz ist dazu geeignet wie kein anderer. Er ist abgelegen und niemand wird euch beobachten.«

»Warum absteigen und bleiben? Wir wollen weiter.«

»Das sollt ihr auch, doch nicht jetzt. Gewiß wolltet ihr noch reiten, bis es dunkel geworden ist, um dann Lager zu machen bis morgen früh?«

»Allerdings.«

»Das geht nicht; das wäre falsch. Da würdet ihr erst zur Mittagszeit dort eintreffen; die richtige Zeit aber ist gleich früh, wenn es Tag geworden ist.«

»Warum?«

»Weil die Verschwörung es so beschlossen hat.«

»Welche Verschwörung?«

»Du brauchst nicht zu erschrecken; ich meine nicht die mohammedanische Verschwörung, sondern die christliche. Die Mohammedaner und Lamaisten haben sich gegen dich verschworen, um dich abzusetzen; da haben sich nun sämtliche Christen gegen den Panther verschworen, um dich wieder einzusetzen. Alle Christen der Stadt und alle Christen des weiten Landes sind bereit, auf ein bestimmtes Zeichen wie mit einem einzigen Schlag für dich aufzutreten, doch ohne Blutvergießen und andere Taten, die verboten sind. Wir haben es so geheim gehalten, daß kein Mensch es ahnt, dem wir nicht trauen. Aber wir wissen, daß eigentlich nur der Pöbel zu dem Panther hält, sowohl der niedrige als auch der vornehme Pöbel, der sich durch den Aufruhr gegen dich bereichern will. Und wir sind überzeugt, daß alle Mohammedaner und Lamagläubigen, die nicht zu diesem Pöbel gehören, sich uns beigesellen werden, sobald wir unser Werk beginnen. Das Weihnachtsfest hat dir nicht nur alle christlichen, sondern auch viele tausend andere Herzen erobert. Und als man hörte, daß du nach der Stadt der Toten gelockt worden seist, um dort elend zu verschmachten, trat auch das Mitleid aller unverdorbenen Menschen für dich ein. Dann verbreitete sich die Kunde, daß die Herrscherin mit ihren Kindern zu dir geflohen sei, um dort mit dir zu sterben; auch das hat viele deiner Feinde in Freunde verwandelt. Ich darf dir also wohl sagen, daß du Unzähligen willkommen bist, wenn du morgen früh in Ard deinen Einzug hältst.«

Der Mann sprach mit Begeisterung; er ging ganz in seiner Sache auf. Die Lippen des Mirs zuckten; seine Augen füllten sich mit Tränen, die er nicht zurückhalten konnte. Er mußte diese Rührung erst niederkämpfen, ehe es ihm möglich war zu antworten.

»Also morgen früh?« fragte er. »Wie konntet ihr das so fest und genau bestimmen? Wenn ihr auch glaubt, daß ich dem Untergang in der Stadt der Toten entgehen werde, so war es euch doch unmöglich, meine Wiederkehr auf die Stunde zu bestimmen!«

»Auf die Stunde, ja doch, wenn auch nicht auf den Tag! Ob du heut oder morgen oder übermorgen kommst, ist gleich, aber deinen Einzug hältst du auf alle Fälle früh, unter Glockengeläut, wenn die Sonne sich über die östlichen Berge hebt, um unsern angestammten Mir, den wir nicht hergeben wollen, zu begrüßen.«

Wieder kämpfte der Herrscher mit seiner Rührung, und darum fragte ich an seiner Stelle: »Wer hat das angeordnet?«

»Der Mir von Dschinnistan«, antwortete der Ministrant.

Da rief der Herrscher trotz seiner Rührung schnell und laut:

»Wie? Wer? Der Mir von Dschinnistan? Woher weißt du das?«

»Vom Basch Nasrani.«

»Steht der denn in Beziehung zu ihm?«

»O, schon seit langer, langer Zeit! Er liebt und verehrt ihn sondergleichen. Er tut nichts Wichtiges, ohne sich vorher an diesen Herrn zu wenden, der dein bester Freund ist, den du hast, so weit dein Land und so weit die Erde reicht. Ist doch der Gedanke der Verschwörung gegen den Panther auch nicht eigentlich von uns, sondern nur von dem Mir von Dschinnistan ausgegangen! Er sagt, er wolle keinen andern Herrscher über Ardistan als nur dich allein – du seist der richtige!«

Es kämpfte im Gesicht des Mirs. Er richtete seinen Blick in die Ferne, starr und scheinbar ausdruckslos. In Wirklichkeit aber schaute er in sich hinein. Dann wich die Starrheit. Ein mattes, fast verlegenes Lächeln erschien, und er richtete an Abd el Fadl, Merhameh, mich und Halef die Worte:

»Habt ihr es gehört? Mein oberster Priester gehorcht nicht mir, sondern dem, den ich für meinen größten und unerbittlichsten Feind gehalten habe! Und er tut recht daran, ganz recht! Denn dieser vermeintliche Feind hat nie etwas anderes als nur mein Glück und das Glück meines Volkes gewollt. Ich war ein Tor, ein sinn- und gedankenloses Ungetüm, und werde nun durch seinen Edelmut viel strenger und viel schwerer bestraft, als wenn er mich und meine Heere durch seine Scharen gewaltsam niederschlüge. Das soll mir eine Lehre sein, so lange ich leben werde!«

»Sie ist nicht nur für dich, sondern ebenso auch für alle, die nach dir kommen«, mahnte der sonst gern stille Fürst von Halihm in fast bittendem Ton. »Denk an die Dschemma der Toten und der Lebenden. Und denke an das, was du für dich und alle Zukünftigen deines Hauses versprochen hast!«

»Ich denke daran, zu aller Zeit, an jedem Augenblick, den ich mit offenen Augen lebe. Nie werde ich jene Szene und jenes Versprechen vergessen – nie, niemals, nie!«

Er stieg vom Pferd und fuhr fort:

»Gehorchen wir also dem Mir von Dschinnistan! Bleiben wir hier, und machen wir Lager! Wir wollen gehorsam sein!«

Das war nicht etwa Ironie oder Sarkasmus, oder gar Hohn, sondern aufrichtige Selbstüberwältigung. Er ahnte nicht, wie sehr er uns durch diese Demut, die für uns aber Seelengröße war, imponierte! Halef, der sich mehr für naheliegende praktische als für psychologische Erwägung eignete, erkundigte sich, sobald er aus dem Sattel gesprungen war, sofort bei dem Ministranten:

»Nun sag einmal, warum sollen wir grad hier lagern und grad hier warten? Warum nicht an einer andern Stelle?«

»Weil sie abgelegen ist und ihr also hier verborgener seid als anderswo«, lautete die Antwort. »Und weil dies die festgesetzte Stelle ist, die von der Stadt und den andern Stationen aus immerfort beobachtet wird.«

»Was für Stationen?«

»Zum Sprechen in die Ferne. Sobald es dunkel geworden ist, melden wir dem Oberpriester nach der Stadt, daß ihr hier eingetroffen seid. Er wünscht, daß ihr bis gegen Mitternacht wartet, um seine Antwort zu bekommen. Nämlich in dem Augenblick, an welchem er unser Zeichen erhält, wird unsere Revolution beginnen, die nur darin besteht, daß wir alle wichtigen Personen und Beamten, die es mit dem Panther halten, einfach einsperren. Die Polizei, die ihr vor Weihnacht gründetet, besteht noch heut und wurde bedeutend vermehrt. Sie ist es, welche die Vorbereitungen in aller Stille getroffen hat. Die Stadt wird als angebliche Residenz des neuen Mirs einschlafen und morgen früh als wirkliche Residenz des alten Mirs erwachen. Sie wird sich zwar die Augen reiben, aber dann, so hoffen wir, dieser ebenso schnellen wie friedlichen Änderung ihre mehr oder weniger ruhige oder freudige Zustimmung geben.«

»Und der Basch Islami? Ist er wirklich der Oberkommandant der Stadt?«

»Ja. Aber er wird der erste sein, den man arretiert.«

»Wie steht es im Schloß?«

»Genau so wie vorher. Der Panther hatte nicht gewagt, es zu betreten oder da irgend etwas zu ändern. Die treue Ussulgarde hielt es bis heut besetzt und hätte jeden Eingriff mit den Waffen zurückgewiesen. Der Panther hatte keine Zeit, sie mit Gewalt zu entfernen. Wahrscheinlich ist nun der Basch Islami beauftragt, dies mit List zu tun.«

»Diese Menschen sind von einer geradezu wahnsinnigen Unvorsichtigkeit!« rief der Mir aus. »Was ich erst für blutig ernst, für eine wirkliche Revolution, für eine durchgreifende Umwälzung alles Bestehenden hielt, kommt mir jetzt fast wie eine Faxe, wie die Luftspringerei einer Affengesellschaft vor. Ich fürchte, es wird uns morgen ekeln! Der erste, mit dem ich zu sprechen habe, wird der Basch Islami sein. Der Brief, in dem der Panther die Prinzessin von Halihm begehrt, wird schneller, sicherer und tiefer auf ihn wirken als alles andere. Befindet sich die Station, von der aus ihr eure Zeichen gebt, da oben auf dem Felsen?«

»Ja«, antwortete der Ministrant, an den diese Frage gerichtet worden war. »Wünschst du, daß ich dir sie zeige?«

»Später. Einstweilen danke ich dir!«

Er reichte ihm die Hand. Das war für den bescheidenen, treuen Mann ein größerer Lohn als jede andere gewöhnliche Gabe.

Der Platz, auf dem wir hielten, war groß und mit frischem, nahrhaftem Gras bestanden. Ein schmales, aber vollfließendes Wasser schlängelte sich über ihn hin. Das gab eine gute Weide- und Lagerstelle für unsere Pferde. Wir gönnten ihnen diese Ruhe und Erholung gern, weil wir, um die Stadt in einer Tour zu erreichen, noch sechs volle Stunden zu reiten hatten.

Als es zu dunkeln begann, ließen wir uns auf die Höhe des Felsens führen, den der Ministrant als Telegraphenstation bezeichnet hatte. Man genoß von da oben aus einen weiten Rundblick. Der Apparat, den er uns zeigte, bestand aus einem in die Erde geschlagenen Pfahl und einer Anzahl von Raketen, welche je nach dem, was mit ihnen gesagt werden sollte, verschiedene Füllung hatten. Die Dämmerung ist in jenen Gegenden eine sehr kurze. So brauchten wir also nicht lange zu warten, bis es vollständig dunkel geworden war. Da ließ man die erste Rakete steigen. Es bedurfte keiner zweiten. Ard lag von uns aus genau nach Osten. Indem wir nach dieser Richtung schauten, sahen wir schon nach kaum einer Minute einen ganz gleichen Feuerstrahl sich erheben. Man hatte sehr gut aufgepaßt. Nach wieder einer Minute bemerkten wir eine weitere Feuergarbe, aber in so großer Entfernung, daß sie uns sehr klein erschien und nur deshalb erkannt werden konnte, weil wir die genaue Richtung scharf im Auge hielten. Die Botschaft ging also weiter.

»In einer Viertelstunde weiß der Basch Nasrani, daß ihr hier angekommen seid«, sagte der Ministrant. »Eine Viertelstunde später ist der Basch Islami schon gefangen. Bis eine Stunde vor Mitternacht wird man uns sagen, ob ihr weiterreiten könnt oder nicht.«

»Weiterreiten! Oder nicht?« fragte der Mir. »Wir werden auf alle Fälle weiterreiten. Öffnet sich mir die Stadt nicht in eurer Weise, so werden wir sie zwingen, sich in der unserigen zu öffnen! Ihr paßt also hier oben sehr scharf auf?«

»Ja. Es kann uns kein Zeichen entgehen, welches uns gegeben wird.«

»So können wir ruhig schlafen?«

»Ja. Wir werden wecken, sobald die Zeit gekommen ist.«

Wir stiegen also wieder hinab, verzehrten unser Abendbrot und legten uns dann nieder. Ob der Mir so ruhig schlief, wie er gesagt hatte, das weiß ich nicht; daß aber ich es tat, das weiß ich ganz genau. Ich fühlte ein sehr großes Vertrauen zu der eigenartigen, mich fast kindlich anmutenden Gegenrevolution des wackeren Oberpriesters, und selbst wenn sie nicht zum Ziel geführt hätte, besaßen wir doch unser zahlreiches Heer, also Leute genug, um den Gegnern unsern Willen aufzuzwingen. Es gab also gar keine Sorge, die mir den Schlaf hätte rauben können, und ich wachte erst auf, als ich von Halef, der neben mir gelegen hatte, geweckt wurde.

»Steh auf, Sihdi!« sagte er. »Das Zeichen ist nunmehr da.«

»Welches?« fragte ich.

»Das weiß ich noch nicht. Aber die Leute da oben auf dem Felsen jubilierten, als es kam. Es muß also ein gutes sein. Schau, da antworten sie schon!«

Der Ministrant ließ gleich drei Raketen hintereinander steigen und rief dann zu uns herab:

»Wacht auf! Steht auf! Wir haben gesiegt! Es ist alles gut, sehr gut gegangen, ja, wohl besser, als wir dachten.«

Wir folgten seinem Ruf, tränkten die Pferde und brachen dann auf. Er bekam ein Reservepferd, um als Führer mit uns zu reiten. Seine Gefährten aber wendeten sich auf näheren Richtwegen der Stadt entgegen, deren Nähe wir erreichten, als die steigende Helle des Morgens das Nahen der Sonne verkündete.

Als ich mit Halef Ard zum ersten Male vor uns liegen sah, waren wir aus Süden gekommen. Heut kamen wir aus Westen. Wir befanden uns also auf einer andern Seite der Stadt, doch war das Terrain ganz dasselbe. Wir ritten eine Höhe hinauf und hatten dann die Stadt ganz ebenso wie damals vor uns liegen. Aber etwas war doch anders, ganz anders. Nämlich auf dieser Höhe war eine große, fast lückenlose Menschenmenge versammelt, welche den Mir mit lautem Jubel bewillkommnete. Doch trotz dieser Menge stand die breite Hauptstraße, welche von da hinabführte, vollständig frei und offen, wenn auch zu beiden Seiten eingefaßt von dem Publikum, welches sich da Kopf an Kopf zusammengefunden hatte. Und auf diesem freien Straßeneingang hielten die Offiziere der Schloßwache und die hervorragenden christlichen Beamten und Abgeordneten der Residenzgemeinde, an ihrer Spitze der ehrwürdige Basch Nasrani auf einem weißen, köstlich aufgeschirrten Maultier, um sich an die Spitze des Zuges zu setzen. Der Oberpriester ritt, als wir an dieser Stelle erschienen, zu dem Mir heran und hieß ihn mit lauten, frohen, weithinschallenden Worten willkommen. Der Herrscher senkte demütig das Haupt, um die Hand des Geistlichen ein-, zwei-, ja dreimal zu küssen. In diesem Augenblick stieg die Sonne ganz plötzlich, wie mit einem schnellen freudigen Sprung, hinter den jenseitigen Bergen empor; Millionen und Abermillionen goldener Strahlen überfluteten die Stadt; das Volk brach in weiter und weiter klingenden Jubel aus, und von dem hohen Dom herab erklang das Geläute der Glocken. Der Mir weinte; Abd el Fadl weinte, Merhameh weinte; Halef weinte, und ich – na, ich – weinte auch! Auch in den Augen des Oberpriesters standen Tränen, aber auf seinem milden, schönen Angesicht glänzte ein sonniges, wonniges Leuchten, der erste, aber zuversichtliche, prophetische Schimmer einer neuen, glücklichen Zeit.

Der Zug setzte sich in Bewegung. Voran ging ihm das Frohlocken der von frohen Hoffnungen erfüllten Menschenherzen. Über ihm schwebte, wogte und wallte der ehernklingende Segen des Gottesglaubens. Und hinter den weiß und goldig schimmernden Scharen der Panzerreiter reichten Tausende und Abertausende sich die Hände, ohne einander zu fragen, welcher politischen Farbe sie noch vorgestern und gestern angehört hatten, und wie es gekommen sei, daß dem noch vor kurzem so sehr Gehaßten und Gefürchteten heut eine so allgemeine und herzliche Liebe entgegenflutete. Man begnügte sich mit dem einen Gedanken, der aber alle, alle erfüllte: Er war wieder da – wieder da!


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