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Fünftes Kapitel

Wieder frei

Als ich hinunterkam, war Halef mit der Zubereitung des Essens noch lange nicht fertig. Er nahm sich heute Zeit. Dieses Abendmahl sollte eine kulinarische Leistung allerersten Ranges werden, und sie wurde es auch, natürlich nur den beduinischen Maßstab angelegt. Der Mir kam viel zu spät. Es wurde ihm das Beste, was wir hatten, aufgehoben. Ich sah und sprach ihn heute abend nicht mehr, denn als er sich endlich einstellte, war ich schon längst eingeschlafen.

Wir waren heut mit der einen Hälfte der Baulichkeiten fertig geworden und begannen am nächsten Tag mit der anderen. Von allem, was wir am Vormittag sahen, will ich nur die Bibliothek erwähnen. Sie war sehr interessant, obgleich sich ihr Inhalt nur auf die Geschichte und Ausbreitung der humanitären Bestrebungen ihrer Gründer bezog. Es gab da viele, viele Tontafeln und Tonzylinder mit Keilschrift. Die letztere war weniger babylonische und assyrische als vielmehr altpersische. Sodann gab es unzählige Holztafeln mit chinesischer, mongolischer und tibetanischer Schrift. Ferner sahen wir viele, viele Bücher, Hefte und Rollen von Papyrus. Wir entdeckten Land- und Sternkarten, Zeichnungen von Menschen, Tieren, Pflanzen, Mineralien, Waffen, Gefäßen, Geweben und ähnlichen Dingen. Ebenso fanden wir Malereien in allen Größen und Farben. Von allergrößtem Interesse für uns war eine große, starke, kostbare Mappe, auf deren Außenseite die Worte zu lesen waren ›Die Dschemma, ihre Richter und ihre Angeklagten‹. Als wir sie aufschlugen, sahen wir zwei voneinander geschiedene Pakete von Zeichnungen in chinesischer Tusche. Auf dem einem stand ›die Richter‹, auf dem andern ›die Angeklagten‹. Wir öffneten. Es waren lauter Porträts, und zwar in wahrhaft erstaunlich guter Auffassung und Ausführung. Einige durfte man getrost als Meisterwerke bezeichnen. Das ›Richterpaket‹ enthielt die wichtigsten und hervorragendsten Maha-Lamas, das ›Angeklagtenpaket‹ alle Emire, die es in Ardistan gegeben hatte. Die beste und wertvollste Zeichnung war jedenfalls das Porträt des berühmten Abu Schalem, ein Charakterkopf, wie man selten einen trifft, mit einer unvergleichlichen Licht- und Schattenverteilung, so daß die seelischen Eigenschaften dieses hochbedeutenden Mannes wenigstens ebenso deutlich und bestimmt hervortraten wie die äußeren Züge seines geistvollen, nur Güte strahlenden Angesichtes.

Während wir dieses Bild mit aufrichtiger Sympathie und wahrem Kunstgenuß betrachteten, durchflog der Mir den Inhalt des andern Pakets, um vor allen Dingen die Bilder seiner Ahnen kennenzulernen. Dabei rief er einmal kurz hintereinander:

»Maschallah! Mein Vater – und hier auch der Vater meines Vaters, den ich auch noch gekannt habe! Wie wunderbar sie getroffen sind! Genau, als ob sie lebten! Wer hat das getan? Wer hat das gemacht? Wer ist das gewesen? Niemand weiß etwas davon! Niemand hat das schon gesehen! Das ist heimlich angefertigt worden! Warum hat man uns nicht gefragt?«

Da brach wieder einmal der Herrscher bei ihm durch. Ich wollte antworten, da aber kam mir der Dschirbani zuvor:

»Du meinst, man hätte euch fragen müssen?«

»Natürlich!« antwortete der Mir.

»Du irrst. Schau die Aufschrift: ›Die Angeklagten‹! Wo gibt es einen Richter, der seinen Angeklagten um die Erlaubnis bittet, ihn mit den andern Angeklagten zusammenstecken zu dürfen, gleichviel ob in wirklicher Person oder auch nur im Bild? Keine Dschemma fragt; sie tut, was sie beschlossen hat, also, was ihr beliebt!«

Eine solche Zurechtweisung hatte der Mir nicht erwartet, zumal von dem jüngern Mann, den man den Räudigen, den Wahnsinnigen genannt hatte und dessen Benehmen gegen ihn ein bisher so höfliches, rücksichtsvolles, ja beinahe dienstwilliges und fügsames gewesen war. Diesesmal aber stand dieser junge Mann hochaufgerichtet vor ihm und in seinem sonst so freundlichen Auge lag eine zurück- und zurechtweisende Strenge, von welcher der Zorn des Mirs ganz unbedingt abzuprallen hatte. Als sie jetzt ihre Blicke ineinandertauchten, als ob es eine gegenseitige Prüfung der tiefsten Seelentiefe gelte, hob sich der Dschirbani ganz unbedingt hoch über den Mir, und es war, als ob dieser letztere dies auch wirklich fühle und empfinde, denn er legte die Bilder seiner Vorfahren in unsanfter, ärgerlicher Weise aus der Hand und sagte:

»Weg mit ihnen! Wenn die, von denen man Freude, Stolz und Ehre verlangt, nur Enttäuschung, Scham und Ärger bringen, so verliert man die Geduld und hört am liebsten auf, ein Sohn und Enkel zu sein!«

Er ging hinaus, und wir folgten ihm, weil wir keine Zeit hatten, uns für diesesmal länger mit der Bibliothek zu beschäftigen.

Nach den beiden Sälen, denen unsere Wißbegierde schon lange im voraus entgegeneilte, gelangten wir erst im Verlauf des Nachmittags. Wie gespannt wir alle waren, als wir vor der Seitentür standen, über der wir die Inschrift »Dschemma der Toten« lasen! Besonders wir beide, Halef und ich, wir hatten doch sehr viel gesehen und sehr viel erlebt und erfahren, aber es fällt mir jetzt, indem ich dieses schreibe, wirklich keine Situation und keine Gelegenheit ein, bei der unsere innere Spannung eine größere gewesen wäre als in dem Augenblick, an welchem wir vor dem Eingang zu diesem ebenso großen wie gedankentiefen Geheimnis standen.

Die Deutlichkeit erfordert, zu sagen, daß diese beiden Säle keine direkten Türen nach dem außen rundherumführenden Säulengang hatten. Sie waren nur durch die Räume, die neben ihnen lagen, zu erreichen, und darum habe ich nicht von einer Tür, sondern von einer Seitentür gesprochen. Diese führte aus dem Nebenraum nach der Dschemma der Toten. Von da kam man wieder durch eine Seitentür in die Dschemma der Lebenden, und von da führte eine dritte Seitentür in den jenseitigen Nebenraum, aus welchem man dann wieder in das Freie gelangte. Diese Seitentüren waren ebenso zu öffnen wie die Haupttüren.

Als wir in die Dschemma der Toten traten, sahen wir uns von einem mystischen Halbdunkel umfangen, welches uns zwar erlaubte, Gestalten zu sehen, nicht aber auch, ihre Umrisse unterscheiden zu können. Der Saal war groß, sehr groß und auch sehr hoch. Durch die kleinen Fenster konnte nicht genug Licht herein, um die nötige Helle zu geben; aber es waren Kandelaber aufgestellt, deren Arme viele, starke Lichter trugen. Wir brannten sie an, und nun wurde es mehr als hell genug, so daß wir alles nicht nur deutlich sehen, sondern auch genau betrachten konnten.

Man hatte beim Aushauen des Saales riesige Säulen und Pfeiler stehenlassen, auf denen die hochgewölbte Decke ruhte. Sie standen in zwei Reihen, durch welche drei Abteilungen gebildet wurden, nämlich eine sehr breite und geräumige in der Mitte und zwei schmälere rechts und links von ihr. In der großen Mittelabteilung war die Dschemma versammelt. Die Seitenabteilungen enthielten die Plätze für das Publikum; sie waren natürlich leer. Die in der Mittelabteilung Versammelten saßen alle auf ihren Plätzen, doch lagen diese Plätze nicht in gleicher Ebene. Am höchsten saß der Vorsitzende, fast wie auf einem Thron. Vor ihm stand ein Tisch, welcher die Form von zwei, die Platte tragenden Amdschaspands – altpersische Engel – hatte. Auf diesem Tisch lag ein Buch, wahrscheinlich das im Traum erwähnte Hauptschuldbuch der sämtlichen Emire von Ardistan. Abu Schalem war in ein sehr bescheidenes, ungebleichtes Hanfgewebe gekleidet, hatte Strohsandalen an den Füßen und trug auf dem Kopf nicht die wohlbekannte, häßliche Lamamütze, sondern ein ebenso einfaches, weißes Tuch, unter dem das silberglänzende Stirnhaar nicht etwa mongolisch schlicht, sondern in krausen Wellen hervorgebrochen und dann im Tode weitergewachsen war. Es hatte sich in der Mitte geteilt und hing in zwei geflochtenen Strähnen bis auf den Gürtel nieder. Auch der Bart war stark und besaß denselben silbernen Glanz. Er wallte über Brust und Leib herab, bis er unter dem Tisch verschwand. Auch die Gesichtszüge waren nicht mongolisch, sondern so, wie man sich die alten Perser denkt. Ich habe einmal ein Gemälde gesehen, welches Kyros, den Großen, darstellte, in der Vollkraft des ersten Mannesalters und auf der Höhe seines Ruhmes. Als ich nun jetzt vor dem berühmtesten, gerechtesten und gütigsten der Maha-Lamas stand und seinen herrlichen Kopf auf mich wirken ließ, hätte ich in die Worte ausbrechen mögen: »Das sind die Züge des großen Perserkönigs! So, genau so würde er ausgesehen haben, wenn er das Alter erreicht hätte, in dem dieser Maha-Lama gestorben ist!«

Ich stieg zu ihm hinauf und betastete seine Hände, seine Wangen. Sie waren kühl und weich. Ich erstreckte diese Untersuchung auch auf die Arme, auf die Beine, auf den Leib. Fast kam mir das wie eine Entweihung, wie eine Beleidigung vor. Es war mir, als ob ich das eigentlich gar nicht wagen dürfe, und es wallte in mir wie eine Bitte der Verzeihung auf, daß ich, das kleine Menschlein, mich für berechtigt hielt, den Gedanken nachzuspüren, die einst von diesem Körper ausgegangen waren. Die Augen bestanden aus drei verschiedenen Steinen, welche die bläulich weiße Hornhaut, die blauschwarze Iris und die kohlschwarze und doch durchsichtige Pupille bildete. Die Zusammensetzung und der Schliff dieser Steine waren so vorzüglich gelungen, daß man glauben konnte, wirkliche Augen zu sehen, wenn man nicht gewußt hätte, daß man vor dem präparierten Körper eines längst Verstorbenen stand. Der Blick dieser Augen war hinunter auf die Anklagebank gerichtet, also nicht auf mich, dennoch aber hatte ich den Eindruck, als ob hinter ihnen ein volles, seelisches Leben tätig sei. Das verstärkte die rücksichtsvolle Scheu, mit der ich den Körper des Vorsitzenden der Dschemma untersuchte.

Rechts und links von ihm, doch einige Fuß tiefer, saßen die andern Maha-Lamas an ebenso orientalisch niedrigen Einzeltischen, die aber so nahe aneinanderstanden, daß sie zu beiden Seiten je eine viertelkreisförmige Tafel zu bilden schienen. Diese Toten stellten also einen Halbkreis dar, über dessen Halbierungspunkt der Oberrichter thronte. Sie waren genau so einfach und anspruchslos gekleidet wie er, einige von ihnen sogar noch ärmer, und lenkten ihre Blicke in dieselbe Richtung, wie er die seinigen. Es waren das nicht alle Maha-Lamas, die es gegeben hatte, sondern nur die bedeutendsten von ihnen, lauter in hohem Alter gestorbene Männer, deren stumpf oder glänzend schneeige Kopf- und Barthaare auch im Tode nachgewachsen und dann in Zöpfe geflochten waren. Die Wirkung, welcher dieser eigenartige Kriminalsenat auf mich machte, kann nicht beschrieben werden. Fast möchte ich sagen, sie war faszinierend. Diese Gestalten schienen keineswegs Leichen zu sein. Man fühlte sich versucht, anzunehmen, daß einst zur Zeit, als es noch Elfen, Feen und Zauberer gab, hier eine hochwichtige Dschemma abgehalten und von einem wunderkräftigen Magier überrascht und hypnotisiert worden sei. Es war, als ob ein jeder von diesen Richtern sich plötzlich erheben könne, um sich zu bewegen und laut zu sprechen. Unterstützt wurde diese Imagination durch die gänzliche Abwesenheit jeden Leichengeruches. Die Luft war so rein, als ob sie keinen Augenblick lang nicht erneuert worden sei.

Und noch tiefer saßen, als Inquisiten und arme Sünder, die sämtlichen Emire von Ardistan, die es gegeben hatte; es fehlte keiner von ihnen. Und doch saßen sie höher als ihre Richter, nämlich auf Thronsesseln, welche in edlen Steinen und Metallen prangten. Sie waren köstlich gekleidet und mit herrlichen Ringen, Ketten und Rangesauszeichnungen geschmückt. Aber wenn man genauer hinsah, so erkannte man, daß alle diese Metalle und Steine unecht waren. Es gab alte, mitteljährige und junge unter ihnen, je nach den Jahren, in denen sie gestorben waren. Man sah, daß auf die Behandlung und Erhaltung ihrer Körper nicht weniger Sorgfalt verwendet worden war als bei den Lamas, und doch standen sie in Beziehung auf den Eindruck, den sie machten, trotz all ihres Putzwerkes, Prunkes und Geschmeides weit hinter ihren Richtern zurück, die so anspruchslos, fast dürftig gekleidet waren. Es fehlte ihnen die Majestät des Todes. Sie hatten während ihres Lebens so viel Majestät ausgegeben, daß sie nun für die Zeit nach dem Tode keine mehr besaßen. Sie hatten ihre Blicke nicht erhoben. Sie schauten alle nieder, ein jeder auf das Buch oder Heft, welches er auf den Knien vor sich liegen hatte, sein Konto aus dem großen Schuldbuch des ganzen Geschlechtes, dem er angehört hatte und auch jetzt noch angehörte. Sie waren alle gefesselt, an den Händen und an den Füßen, mit Stricken und mit Ketten. Einige von ihnen trugen sogar Nackenhölzer, was in den Zeiten, in denen sie lebten, ein Zeichen tierischer Grausamkeit und ehrloser Gesinnung war.

Ich bin in manchem Panoptikum gewesen und habe da viele hundert Nachbildungen von verstorbenen Menschen gesehen. Stets fühlte ich mich da abgestoßen, hier aber nicht, obgleich es sich in dieser Dschemma nicht um künstlich hergestellte Figuren, sondern um wirkliche Leichen handelte. Der Ekel, der mich bei jenen Schaustellungen stets und unausbleiblich überkam, blieb hier vollständig aus. Was war der Grund hiervon? War die Ursache eine körperlich sinnliche oder eine psychologische? Wie jede Lüge abstoßender wirkt als selbst eine häßliche Wahrheit, so erscheint ganz besonders auch ein vorgelogenes oder vorgetäuschtes Leben widerlicher als die zwar grausame, aber natürliche Wahrheit des Todes. Und der Tod, den wir hier vor uns sahen, schien gar kein Tod zu sein, sondern vielmehr eine plötzliche, augenblickliche Stockung des Lebens, die wohl schnell vorübergehen werde.

Aus diesen Gedanken und Betrachtungen wurde ich durch die laute Stimme des Mirs gerissen. Wir andern waren still. Es dünkte uns wie eine Entheiligung, das, was wir innerlich empfanden, in hörbare Worte zu verwandeln. Zwar in den ersten Augenblicken war dies auch bei ihm der Fall gewesen. Er hatte bewegungslos gestanden und gestaunt. Jetzt aber rief er plötzlich aus:

»Mein Vater, mein Vater!«

Er eilte auf den betreffenden Toten zu, blieb einige Schritte vor ihm stehen, hob die Arme empor und wiederholte:

»Mein Vater! Mein Vater! Gefangen und gefesselt! Du, du!«

Er kehrte mir dabei den Rücken zu; ich konnte sein Gesicht nicht sehen; aber der Ton seiner Stimme ließ auf die tiefste Seelenerregung schließen.

»Und auch du, auch du!« fuhr er fort, den Kopf ein wenig wendend. »Der Vater meines Vaters! Mein Großvater! Was wirft man euch vor, euch, euch? Sagt es mir! Ich muß es wissen!«

Er horchte einige Augenblicke lang und trat dann näher an sie heran, indem er sprach:

»Ihr schweigt? Wohl, wohl! Ihr müßt ja schweigen! Ihr seid ja tot! Ihr konntet euch nicht wehren, als man das Verbrechen beging, euch heimlich hierher zu schaffen! Ich werde das untersuchen! Und wehe dem Schuldigen, den ich fasse! Zunächst aber muß ich wissen, wessen man euch beschuldigt! Zeigt her, zeigt her!«

Die Aufregung, in der er sich befand, war groß. Er riß die Hefte, welche vor den beiden Toten lagen, an sich und ging mit ihnen zum nächsten Kandelaber, setzte sich dort nieder und begann zu lesen. Doch nicht lange. Er las den Titel und die Überschrift des einen Heftes, überschlug langsam die Blätter und verweilte mit Aufmerksamkeit nur bei den letzten Seiten. So tat er auch mit dem andern Heft. Hierbei beobachtete ich ihn genau. Ich sah, daß seine Aufregung ebenso schnell, wie sie emporgebraust war, wieder nachließ, von Stufe zu Stufe sank, durch alle Grade, bis sie schließlich bei der Niedergeschlagenheit anlangte. Er stand wieder auf, kehrte zu Vater und Großvater zurück und legte die Hefte wieder an ihre Stelle, ohne ein Wort zu sagen. Er sah dabei aus, wie ein Mensch, der aus der Höhe des Zornes in die Tiefe der Scham gefallen ist und dies äußerlich nicht verbergen kann. Dann ging er zu einigen der andern Ahnen, nicht zu allen, sondern nur zu denen, die am bequemsten zu erreichen waren, und schaute in ihre Bücher. Ich bemerkte, daß er dabei nur die letzten Seiten nachschlug. Hierauf stieg er zu Abu Schalem hinauf und begann, das Hauptbuch einer Besichtigung zu unterwerfen. Ich hatte vorher da oben gestanden, ohne dieses Buch zu berühren, war aber dann zu den andern Maha-Lamas herabgestiegen, um sie genauer zu betrachten, und befand mich jetzt bei den Ardistaner Herrschern, deren Namen und Regierungszeiten man sehr leicht erfahren konnte, weil die betreffenden Angaben auf der vorderen Umschlagseite ihrer Kontobücher standen. Aus dem Verhalten des Mirs war zu ersehen, daß der Hauptinhalt dieser Bücher auf deren letzten Blättern zu suchen sei. Ich nahm das Buch dessen, bei dem ich grad stand, und betrachtete es. Der Umschlag bestand aus weißem Leder. Darauf war in schwarzer, großer, wohlgezierter Parthavaschrift zu lesen:

»Mir Burahdär-i-Mihribani, in den Jahren 102-112 der Hedschra.«

Burahdär-i-Mihribani heißt Bruder der Güte. Dieser Name läßt doch jedenfalls auf einen guten Charakter schließen, zumal er ein offizieller Regierungsname ist. Auch hatte dieser Herrscher nach unserer abendländischen Zeitrechnung nicht volle zehn Jahre regiert. Ich war also wohl zu der Erwartung berechtigt, auf ein nicht unbefriedigendes Konto gestoßen zu sein. Was aber fand ich? Ich schaute zunächst nach der letzten Seite. Sie enthielt das Summarium. Acht von den zehn Jahren waren Kriegsjahre gewesen. Alle durch sie entstandenen Verluste an Menschen, Tieren, Kapital, Landbesitz und anderen, sich auf den Volkswohlstand beziehenden Dingen waren da angeführt. Nur allein die Opfer an Menschenleben betrugen über fünfzigtausend. Und dieser Herrscher war Bruder der Güte genannt worden! Was mochte da wohl in den Büchern der andern stehen! Den Verfassern dieser Abschätzungen und Aufstellungen war es darauf angekommen, vor allen Dingen die Verderblichkeit der Kriege und die Schuld der einzelnen Herrscher an der Entstehung dieser Menschenschlächtereien nachzuweisen. Besonders auch waren die Folgekrankheiten angegeben und die Ziffern, aus denen sich die ihnen zugefallene Beute erwies. Ein Blick auf die vorangehenden Seiten zeigte, mit welcher Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit die Untersuchungen und Berechnungen vorgenommen worden waren. Aber diese Angaben bezogen sich doch nicht allein auf die Kriege, an denen der Bruder der Güte schuld gewesen war, sondern auch auf alle andern Schädigungen, welche die Menschheit seiner Zeit durch ihn erlitten hatte. Da waren die Hinrichtungen aufgeführt, die Vertreibungen aus dem Land, die Vermögenskonfiskationen, die Verurteilungen gegen Recht und Gerechtigkeit, die Begünstigungen, der offene und der versteckte Raub durch Gewalttätigkeit und durch List. Nicht nur die Zahlen, um die es sich gehandelt hatte, sondern auch die Namen der Betroffenen waren angegeben. Es gab da keinen Zweifel. Die Beweise wurden sogar durch den Hinweis auf das Hauptbuch und auf die Schuldbücher der betreffenden einzelnen Fürsten geführt. Da wurde Verbrechen auf Verbrechen nachgewiesen, Unmenschlichkeit auf Unmenschlichkeit, Heimtücke auf Heimtücke, Trug auf Trug. Die Völker waren nur dagewesen, um ...

»Effendi!« rief der Mir mir zu, meine Betrachtungen unterbrechend.

Ich schaute fragend zu ihm hin.

»Du liest?« fuhr er fort.

»Ja.«

»Ich bitte dich, das Buch hinzulegen!«

»Warum?«

»Ist es dir nicht genug, daß ich dich bitte? Muß ich dir erst sagen, daß es sich nicht um deine Vorfahren handelt, sondern um die meinigen? Komm herauf zu mir! Ich will dir etwas zeigen. Dieses eine sollst du erfahren. Mehr ist nicht nötig. Das übrige braucht niemand zu wissen, als nur ich allein, denn ich, ich bin der Erbe, der Belastete, die Bestie, auf der die Sünden aller, aller liegen. Komm her; komm her!«

Das klang nicht etwa befehlend, sondern bittend, fast flehend, so traurig, so innerlich zermartert und zerdrückt. Ich legte das Konto, in dem ich gelesen hatte, dahin zurück, wohin es gehörte, und stieg zum Mir hinauf. Er hatte die letzte Seite des großen Buches aufgeschlagen.

»Lies!« forderte er mich auf, indem er auf sie deutete.

Ich tat es. Was waren das für entsetzliche Aufstellungen, für fürchterliche Ziffern! Mir flimmerte vor den Augen. Das schien unglaublich zu sein, und dennoch war es wahr!

»Fertig!« sagte ich, indem ich das Buch zuschlug.

»Schon?« fragte er.

»Ja! Ich denke, es genügt! Mehr zu wissen, hält wohl niemand aus!«

»O doch! Es gibt einen, der noch mehr wissen will und noch mehr wissen muß, und dieser eine, der bin ich! Ich habe nicht zu glauben, und ich habe mich nicht zu entsetzen, sondern ich habe zu prüfen, ohne mich zu fürchten. Aber nicht jetzt, nicht jetzt, sondern später, wenn wir erfahren haben, was die noch übrigen Räume enthalten. Komm, Effendi, wir gehen!«

Er stieg zu seinen Ahnen hinab. Ich folgte ihm. Vor seinem Vater und seinem Großvater blieb er stehen und sprach zu ihnen:

»Ich bin Fleisch von eurem Fleisch und Blut von eurem Blut; aber wenn das Leben Liebe ist, so gabt ihr mir nicht das Leben, sondern den Tod. Doch seid getrost, ich räche mich nicht! Kommt mir der Traum, der euch in Schwäche fand, euch alle, vom ersten bis zum letzten, so will und werde ich der erste sein, der ihm nicht unterliegt. Oh, käme er doch bald!«

Hierauf wollte er gehen, um den Raum zu verlassen, blieb aber schon nach einigen Schritten wieder stehen, wendete sich dem Thron des Vorsitzenden zu, hob den Arm gegen ihn und sprach:

»Und dich, alter Herr, habe ich zu fragen, wer dir erlaubt hat, den ewigen Richter zu spielen, den Herrgott, dem sich selbst die Herrscher zu fügen haben! Wo hast du diese Toten her? Ich werde in allen Grüften und Särgen nach ihnen suchen und dir dann sagen, wer und was du bist. Nimm dich in acht! Getraust du dich, in Gottes Namen mit mir und meinem Stamm abrechnen zu wollen, so dann auch ich mit dir und euch!«

Nach diesen Worten forderte er Halef und die andern auf:

»Löscht die Lichter wieder aus, und kommt: Wir gehen!«

Es geschah so, wie er sagte. Als keine der Kerzen mehr brannte, öffneten wir die Tür, über der die Worte Dschemma der Lebenden zu lesen waren, und traten in den Versammlungsraum derselben ein. Dieser war nicht so groß wie der vorige, mußte aber auch schon nicht als Zimmer, sondern als Saal bezeichnet werden. Sein Bau und seine Einrichtung waren, genau der Dschemma der Toten entsprechend, nur für weniger Personen berechnet.

Auch hier gab es drei Abteilungen, zwei für das Publikum und die mittlere für Richter und Angeschuldigte. Auch die Anordnung der Sitze war dieselbe: am höchsten, und zwar in der Mitte, der thronähnliche Stuhl des Präsidenten; etwas tiefer, im Halbkreis, die Sitze der Rechtsprechenden; hieran schließend, doch auch einige Fuß tiefer, der Platz für die Angeklagten. Alle diese Stühle und Plätze waren jetzt unbesetzt. Für die Richter waren nur acht vorhanden, für die Inquisiten nur drei, doch gab es Raum für noch mehr. Die Stühle und Matten hierzu befanden sich jetzt im Nebenraum und waren leicht herbeizuschaffen. Die Beleuchtung glich derjenigen im großen Saal. Sie war unzulänglich, doch gab es auch hier Kandelaber mit Kerzen. Am Tisch des Vorsitzenden hing, uns allen in die Augen fallend, in großer, selbst im Halbdunkel leicht lesbarer Schrift eine Ankündigung, welche lautete:

»Morgen, genau um Mitternacht, Sitzung der Dschemma der Lebenden gegen Schedid el Ghalabi, den jetzigen Mir von Ardistan. Seine Richter seid ihr selbst. Wer sich ausschließt, wird bestraft!«

Dieses Plakat war von außerordentlicher Wirkung. Wir sahen einander erstaunt und betroffen an. Drüben im großen Saal hatten nur zwei von uns laut zu sprechen gewagt, nämlich der Mir und ich; die andern waren stumm und still gewesen, vollständig gepackt von der gefangennehmenden Örtlichkeit. Hier wiederholte sich das. Auch ich schwieg zunächst. Daß diese Schrift für uns bestimmt war, das stand ganz außer allem Zweifel. Aber wer hatte sie hierhergebracht? Wer hatte wissen können, daß wir uns heut an diesem Ort befinden würden? Wer war es, der vorausgesehen hatte, daß es einem von uns gelingen werde, die Geheimnisse des Maha-Lamas-Sees zu durchdringen, die Schlüssel zu finden und alle vorhandenen Räume zu öffnen?

»Schedid el Ghalabi?« fragte der Mir. »Das bin ich! Kein einziger Mensch in meinem ganzen Reiche wird es wagen, ebenso zu heißen wie ich! Also bin ich gemeint, kein anderer! Denkst du das auch, Effendi?«

»Gewiß«, antwortete ich. »Niemand kann anders denken.«

»Dschemma der Lebenden gegen mich! Schon morgen! Genau um Mitternacht! Da wird mein Wunsch ja schneller erfüllt, als ich es für möglich halten konnte! Ich sagte, o käme der Traum doch bald!«

Während er dies sprach, sah ich, daß er in sich zusammenschauerte. Auch ich hatte das Gefühl, als ob ein kalter Hauch langsam durch meinen ganzen Körper streiche. Diese Empfindung war es, die mich antworten ließ:

»Dieser Traum wird aber kein Traum sein, sondern Wirklichkeit!«

»Meinst du?«

»Ja, gewiß!«

»Vielleicht schlafe ich doch wirklich ein und träume es dann nur!«

»Wohl nicht! Bedenke, daß wir die Richter sein sollen!«

»Es ist gemeint, daß ich das träumen werde!«

»Das bezweifle ich sehr! Ich sehe hier auf allen Plätzen beschriebene Zettel liegen. Brennen wir Kerzen an, um lesen zu können!«

Als genug Lichter brannten, ging der Mir zum Platz des Vorsitzenden und las, was auf dem dortliegenden Zettel stand:

»Abu Schalem, der Maha-Lama.«

Wieder standen wir da und schauten einander an, bis der Mir sich äußerte:

»Ist das nicht sonderbar? Ein Toter soll den Vorsitz über Lebende führen! Wie soll die Leiche, die sich da drüben im großen Saal befindet, hierher auf seinen Sitz gelangen? Doch weiter; lesen wir weiter!«

Die Zettel bestanden aus dunklem Papier und waren hell, wie mit weißem Kreidestift, beschrieben. Der Mir ging da, wo die Richter sitzen sollten, von Platz zu Platz und las nacheinander folgende Namen:

»Der Dschirbani, Kara Ben Nemsi, Hadschi Halef Omar, Prinz Sadik der Tschoban, die beiden Prinzen der Ussul, der Scheich der Tschoban, der Schech el Beled von El Hadd.«

Das waren also acht Gerichtsbeisitzer, von denen aber die beiden letzten fehlten. Wie sollte der abwesende Scheich der Tschoban und der ebensowenig vorhandene Gebieter von El Hadd hierher nach diesem Ort, den niemand kannte, kommen? Aber der Mir ließ uns keine Zeit, uns mit dieser Frage zu beschäftigen. Er ging zu den drei Sitzen der Angeklagten, nahm die dort liegenden Zettel auf und las:

»Schedid el Ghalabi, der Mir von Ardistan – sein Vater – der Vater seines Vaters.«

Die Zettel lagen so, daß der Mir in der Mitte, sein Vater ihm zur Linken und sein Großvater ihm zur Rechten sitzen sollte. Er machte eine schauernde Bewegung, als ob ihn ein Frost überlaufe, legte die drei Zettel wieder hin und sagte halblaut, wie zu sich selbst:

»Zwischen zwei Leichen! Und grad zwischen diesen beiden!«

»Genau um Mitternacht!« fügte Halef hinzu, der jetzt zum ersten Male das Wort ergriff.

»Ob Mitternacht oder Mittag, das ist gleich!« wies der Mir ihn zurecht. »Es sind alle Stunden Gottes! Wenn ich am Mittag schuldig befunden werde, steht es ebenso schlimm um mich, wie wenn die Richter mich des Nachts verurteilen. Und die Kerzen müssen hier gebrannt werden, ganz gleich, ob es draußen im Freien hell oder dunkel ist. Doch, sehen wir weiter! Da drüben sind noch zwei Plätze!«

Seitwärts von dem Halbkreis der Beisitzer standen zwei halbniedrige, orientalische Stühle, die mehr zum Ruhen als zum Aufrechtsitzen eingerichtet und mit weichen Decken belegt waren. Auch auf ihnen lagen Zettel. Der Mir nahm sie und las:

»Abd el Fadl, der Fürst von Halihm, als Verteidiger. Merhameh, Prinzessin von Halihm, als Verteidigerin.«

Da standen wir nun zum dritten Male und schauten uns still an. Jetzt sagte selbst der Mir nichts mehr. Er legte die Zettel wieder an ihre Stelle, ging von Kandelaber zu Kandelaber, um die Lichter auszublasen und schritt dann nach dem Nebenzimmer, um von diesem aus hinaus in das Freie zu kommen. Wir folgten ihm. Als wir draußen waren, fragte er:

»Noch ist es nicht Abend. Wollt ihr eure Untersuchung fortsetzen?«

»Ja«, antwortete ich. »Wir müssen unbedingt heut fertig werden, um morgen für alles, was da kommen kann, frei zu sein.«

»Du glaubst für morgen an Ereignisse?«

»Ja.«

»Auch an die Dschemma der Lebenden?«

»Unbedingt!«

»Auch an das Erscheinen von Abd el Fadl und Merhameh? An das Eintreffen des Scheichs der Tschoban und des Schech el Beled von El Hadd?«

»Ich bin beinahe überzeugt, daß sie alle kommen!«

Da holte er tief, tief Atem und stimmte bei:

»Ich auch, ich auch! Es ist mir hier ganz unaussprechlich zumute. Fast möchte ich sagen: Wir leben hier nicht, sondern wir werden gelebt; wir denken hier nicht, sondern wir werden gedacht; wir wollen nicht, sondern wir werden gewollt. Es ist, als stehe hier jemand hoch über uns, der uns am Zügel hat, wie der Reiter das gehorsame Pferd.«

»Glaubst du, daß es wirklich so ist? Oder nur, daß es so scheine? Ich sage dir, das hier nichts scheint, sondern daß alles gewiß und greifbar wirklich ist. Wir werden geleitet; wir werden geführt. Wir sind hier nicht allein!«

»Du meinst, daß es außer uns noch andere lebende Wesen hier gebe? Noch andere Menschen?«

»Ja.«

»Wer könnte das sein?«

»Denke nach!«

»Das werde ich tun. Ich bitte dich, mich zu entlassen! Nachdem ich in diesen beiden Sälen gewesen bin, ist mir alles gleichgültig, was wir noch finden können. Ich muß allein sein. Ich muß mich sammeln. Du wirst das begreifen. Zum Abendessen stelle ich mich bei euch ein.«

Ich begriff nicht nur sein Bedürfnis, ungestört zu sein, sondern ich konnte mich so in ihn hineindenken und hineinfühlen, als ob ich ganz an seiner Stelle sei. Denn, aufrichtig gesagt, ist doch wohl ein jeder Mensch in Beziehung auf das, was er innerlich zu leben und zu kämpfen hat, ein größerer oder kleinerer Mir von Ardistan, der zwischen dem unsichtbaren Mir von Dschinnistan und dem Verräter Panther um den leeren Titel kämpft, den nur derjenige auszufüllen vermag, der den letzteren durch den ersteren bezwingt.

Während der Mir sich langsam entfernte, wendeten wir anderen uns den noch zu erforschenden Räumen zu. Da hörte ich seine Stimme hinter uns und drehte mich um. Er war stehengeblieben und winkte. Ich ging auf ihn zu. Als ich ihn erreichte, fragte er:

»Du weißt, wer es ist, der hier so über uns waltet?«

»Ja«, nickte ich.

»Wer?«

»Natürlich der Mir von Dschinnistan, kein anderer!«

»Mein Feind!«

»Dein bester, treuester Freund! Er wird es dir beweisen. Denn es gibt leider, leider Menschen, denen es ohne handgreifliche Beweise unmöglich ist, zu glauben und zu vertrauen. Und dann, wenn sie durch diese Beweise bezwungen und überwunden worden sind, rühmen sie sich ihres Glaubens und verlangen, daß er ihnen hoch angerechnet werde!«

»Du wirst wieder einmal streng, Sihdi, sehr streng! Und doch wollte ich dir eine Bitte aussprechen, zu deren Erfüllung deine ganze Güte gehört.«

»Welche Bitte? Ich erfülle sie dir gern, wenn ich kann.«

»Und lachst mich nicht aus?«

»Auslachen? Ich glaube, unsere Lage, und ganz besonders die deine, ist so heilig ernst, daß du so etwas gar nicht fragen solltest!«

»Du hast recht, Effendi; verzeih! Also bitte: Willst du heut nacht anstatt hier im Freien da drinnen in der Dschemma der Toten schlafen?«

Ich wußte sofort, was er wollte, und antwortete darum:

»Sehr gern!«

»Und fürchtest dich nicht?«

»Fürchten? Vor wem? Selbst wenn ich mich fürchtete, wäre ich doch nicht allein, denn du bist dabei, um die Schuldbücher deiner Vorfahren zu lesen.«

»Wie kommst du auf diese Idee?«

»Sie versteht sich ganz von selbst. Ich werde schlafen, und du wirst mit Wörtern und Zeilen, mit Zahlen und Ziffern, mit Schlangen und Ungeheuern ringen. Aber bedenke, daß du schon deine letzten Nächte geopfert hast! Mute deiner Kraft nicht Übermenschliches zu! Und wenn du mich brauchst, so wecke mich auf, damit ich dir helfen kann!«

»Mir können nur zwei helfen, zu denen du nicht gehörst, nämlich Gott und ich allein. Oh, wenn ich beten könnte, beten, beten, beten! Ich gäbe viel darum, sehr viel, sehr viel! Denn ich ahne, daß vor allen Dingen erst der himmlische Richter mit mir und meinen Ahnen abzurechnen hat, ehe die Dschemma der Toten oder die Dschemma der Lebenden sich mit mir befassen kann. Das Urteil, welches die Dschemma fällt, muß vorher zwischen Gott und mir gesprochen werden, und der Weg zu ihm ist auch heute noch derselbe, der er stets gewesen ist, nämlich das Gebet. Ich kenne ihn noch nicht! Also, du erfüllst meinen Wunsch und schläfst im Saal der Beratung?«

»Ja.«

»Ich danke dir! Es ist nicht etwa die gewöhnliche, törichte Angst vor Leichen, welche mich wünschen läßt, nicht allein zu sein, sondern die Vorsicht, die ich nicht nur mir, sondern auch euch andern allen schuldig bin. Es geschieht hier Wunderbares. Und alles, was sich ereignet, ist von größter Wichtigkeit. Niemand weiß, was mir in der Nacht, während ich mich bei den Toten befinde, begegnet. Es ist nicht ausgeschlossen, daß ich vor eine schnelle, augenblickliche Entscheidung gestellt werde, die ich nicht allein auf mich nehmen kann. Darum ist es mein Wunsch, dich in der Nähe zu haben. Doch bitte ich dich, halte es geheim! Niemand braucht zu wissen, daß wir uns während der Nacht nicht auch im Freien befinden.«

Jetzt gab er mir die Hand und ging. Ich kehrte zu den andern zurück. Es war mir schwer geworden, seinen Wunsch, beten zu können, scheinbar gleichgültig hinzunehmen. Er hatte mich nicht nur gerührt, sondern tief ergriffen. Aber zu dieser Ergriffenheit gesellte sich die Freude. Wer das Verlangen fühlt, beten zu können, dem steht die Erhörung schon nahe, denn schon dieser Wunsch ist Gebet, und zwar dasjenige Gebet, welches sicherer in Erfüllung geht als jedes andere.

Es geschah so, wie ich gesagt hatte: Wir setzten die Untersuchung der Baulichkeiten fort und wurden noch vor Abend fertig damit. Im letzten, ganz im Westen liegenden Gemach entdeckten wir gegenüber der Tür, durch welche wir eingetreten waren, eine zweite Tür, die durch denselben Schlüssel geöffnet werden konnte. Wir schlossen auf, und als der mächtige Quader sich in das Zimmer hereinbewegt hatte und wir dann durch die so entstandene Öffnung traten, befanden wir uns – im Freien und hatten also nicht mehr das Vergnügen, uns als Gefangene betrachten zu dürfen. Wir waren zwar überzeugt gewesen, auf jeden Fall wieder frei zu werden, atmeten aber doch erleichtert auf, als diese Erwartung zur Wirklichkeit geworden war.

Wenn man durch diese Türe hinaustrat, befand man sich ganz draußen vor der Stadt, auf einer Schutthalde, welche von dem Bergesring des Maha-Lama-Sees herabgebröckelt war. Man konnte von hier aus durch die Zitadelle oder auf einem weiteren, freien Bogen nach der Stadt und dem Fluß gelangen. Wir taten das aber nicht. Es genügte uns, zu wissen, daß es in unserm Belieben stand, in jedem Augenblick das Gefängnis, in dem wir elend verschmachten sollten, zu verlassen. Wir traten wieder in das Innere zurück, schoben den Türquader in die Öffnung, schlossen ihn fest und erklärten damit unser heutiges Tagewerk für vollbracht. Ich gestehe allerdings, daß wir gar zu gern nach der Stadt geritten wären, um dem lieben Gefängnis Nummer fünf unsern Besuch abzustatten und nachzusehen, wie die Verhältnisse dort standen. Aber dazu war die Zeit bis zum Abend viel zu kurz, und so beschlossen wir, uns das für morgen aufzuheben. Wir verfügten uns also nach der Stelle der Säulenhalle, die wir als unser Lager auserkoren hatten und wo sich Halef als unser Oberkoch mit großem Eifer an die Zubereitung des Abendessens machte. Um dies zu können, bat er mich, die Besorgung seines Rappens mit zu übernehmen, sobald ich dem meinen Futter und Wasser geben würde. Als ich bei der Erfüllung dieses seines Wunsches war und mich also bei unsern beiden Pferden befand, kam der Dschirbani zu mir. Er pflegte immer ernst, schweigsam und nachdenklich zu sein; heut aber hatte er sich in diesen drei Eigenschaften mehr bewährt als zu jeder andern Zeit. Auch jetzt lehnte er sich an den nahestehenden Pfeiler, sah mir und den mich liebkosenden Pferden eine ganze Weile still zu und sagte nichts.

»Nun?« fragte ich endlich lächelnd. »Muß ich auch hier bei dir erst den richtigen Schlüssel finden?«

»Nein«, antwortete er. »Du besitzt ihn ja schon lange, gleich von dem Augenblick an, an dem ich dich zum ersten Male sah!«

»Und doch sagst du nichts, obgleich du sprechen möchtest?«

»Ich bin mir nicht klar, und Unklares zu sagen, ist meine Gewohnheit nicht. Seit ich hierhergekommen bin, befinde ich mich in einer Welt, von der ich weiß, daß sie mir völlig unbekannt ist, und doch aber will es mir scheinen, als ob ich sie bereits kenne.«

»Vielleicht warst du schon einmal hier, in deiner frühesten Jugend, mit deinem Vater?«

»O nein!«

»Oder du hast alte Abbildungen dieser Gegend gesehen?«

»Auch nicht.«

»So wurde vielleicht von ihr gesprochen?«

»Ja, das ist es, das! Aber nur heimlich, ganz heimlich wurde von ihr gesprochen.«

»Von wem?«

»Von Vater und Mutter. Niemand durfte dabeisein. Nur ich allein wurde geduldet, denn ich war noch sehr klein, noch Kind, noch nicht einmal Knabe. Aber dennoch haben sich gewisse Worte, Namen, Ausdrücke und Redebilder in mir festgesetzt, die mir verborgen blieben, jetzt aber plötzlich erscheinen und einander begrüßen und ergänzen. Ich war heut wie ein Träumender; ich war wieder das Kind. Ich sah Vater und Mutter. Ich hörte ihnen zu. Sie sprachen von der Stadt der Toten, von dem Maha-Lama-See, von dem Riesenengel inmitten des Platzes, von dem Traum eines jeden Mirs von Ardistan, von der Prachtsänfte in diesem Traum, von der Dschemma der Lebenden und der Dschemma der Toten, von Abu Schalem, dem berühmtesten, gerechtesten und gütigsten aller Maha-Lamas von ...«

»Das alles, alles hast du gewußt und mir doch niemals etwas davon gesagt?« unterbrach ich ihn.

»Gewußt?« lächelte er. »Wäre dies der Fall, so hätte ich dir längst davon erzählt. Es lag verborgen in mir, vollständig unbewußt. Erst hier kam es emporgestiegen, ganz langsam und unbemerkt, bis es heut plötzlich aus mir heraustrat, sich vor mich hinstellte und zu mir sagte: ›Da bin ich; du hattest mich vergessen, vollständig vergessen; kennst du mich noch?‹ Sag mir, Sahib, ist das nicht sonderbar?«

»Sonderbar? O nein. Ich finde es vielmehr in hohem Grade natürlich. Bitte, verhalte auch du dich natürlich. Laß diesen Kindheitsbildern Zeit, langsam in dir und aus dir emporzusteigen. Zwinge sie nicht! Tue ihnen ja nicht Gewalt an; du würdest sie zerstören. Was die Seele besitzt, das gibt sie freiwillig; rauben läßt sie sich nichts. Also, beraube dich ja nicht selbst!«

Hörte er, was ich sagte? Er hatte den Kopf erhoben und sah still empor, dem Westen entgegen, wo die Sonne soeben im Untergehen war. Wir konnten ihr Scheiden zwar nicht sehen, aber das Stück des Himmels, welches über uns lag, begann sich wie die zarte Wange einer errötenden Jungfrau zu färben, und diese Röte schien sich auf dem Gesicht des Dschirbani zu spiegeln. Wie es sich seit kurzem verändert hatte, dieses Gesicht! Und wie auch seine Gestalt, seine Bewegungen sich ganz anders zeigten als früher. Wenn ich sein von der Seele vollständig durchdrungenes Äußere kurz, bündig und treffend beschreiben wollte, müßte ich sagen: Ein hoch- und herrlichgewachsener männlich schöner, jugendlicher Asket vor Beginn der Askese. So, wie ich sein Gesicht jetzt sah, hatte ich es noch nie gesehen. Ich fühlte, daß seine Züge immer tiefer in mich drangen, um sich mir für immer einzuprägen, damit ich sie nie und nie vergessen möge. Während er so in die Ferne schaute, um in sich selbst hineinzusehen und hineinzulauschen, ließ er mich endlich eine Antwort hören:

»Ich weiß, was du meinst, und ich selbst halte mich bereits in Zucht, damit ich nichts zerstöre. Soeben war es mir, als ob ich meinen Vater, wie so oft in vergangener Zeit, beim königlichen Spiel des Schachs sitzen sehe. Er behauptete stets, das Schach sei eine Lüge und als Bild des Krieges gänzlich zu verwerfen. Im Schach sei man gezwungen, Soldaten, Bauern, Läufer, Türme und noch viel Höheres zu opfern, um den Sieg zu gewinnen. Am Schluß des Spieles aber seien beide Felder verwüstet, nicht nur das des Besiegten, sondern auch das des angeblichen Siegers. Die Kriegführung von Gewaltmenschen gleiche noch heut diesem alten Spiel, welches plötzlich stehengeblieben und nicht weiterentwickelt worden sei. Der Edelmensch aber, den wir alle erwarten, werde jeden Krieg, zu dem die Gewalt ihn zwingt, derart führen, daß ihm der Sieg kein einziges Opfer kostet.«

»Das hast du als Kind gehört?« fragte ich vorsichtig.

»Nein. Da war ich schon Knabe und spielte schon selbst Schach. Mutter erzählte es und wiederholte es so oft, daß es sich mir fest einprägte und ich darüber nachzudenken begann. Die Aufgabe zu siegen, ohne Opfer zu bringen, ist eine der wichtigsten des ganzen Lebens, nicht nur in militärischer, sondern auch in jeder anderen Beziehung. Ich sann und dachte sehr viel darüber nach, doch vergeblich. Da kamst du mit Hadschi Halef. Ihr beide zeigtet uns am Engpaß Chatar, wo ihr die Tschoban besiegtet, ohne daß ein einziger Tropfen Blut zu fließen brauchte, was mein Vater mit seiner Verurteilung des Schachspiels gemeint hatte. Seit jenem Tage ist es mein Bestreben, diese seine und eure Lehre in Taten umzusetzen und ...«

Er wurde unterbrochen. Halef rief zum Abendessen. Zu gleicher Zeit kam der Mir vom Engelsbrunnen her, in dessen Innern er Einsamkeit gesucht und gefunden hatte, und gesellte sich zu uns. Wir beeilten uns also, dem kleinen Hadschi gehorsam zu sein, der leicht zornig werden konnte, wenn man seinen Zubereitungen nicht die Achtung schenkte, die ihnen nach seiner Ansicht gebührte.

Während des Essens stellte sich der Abend ein. Wir waren den ganzen Tag über stets auf den Beinen gewesen und also redlich ermüdet. Es wollte sich kein rechtes Abendgespräch entwickeln, zumal der Mir sich ebensowenig wie ich darum bemühte, eine Unterhaltung herbeizuführen. Wir hatten heute zwar viel gesehen und viel erfahren, was unbedingt besprochen werden mußte, doch aber nicht gleich, so ganz auf Knall und Fall. Solche Dinge müssen erst innerlich geprüft und betrachtet werden, ehe man es unternehmen darf, sie wie alltägliche Geschehnisse in gewöhnliche Worte zu fassen. Darum wurden heute sehr zeitig die Lager zubereitet. Der Mir schlug das seine ziemlich weit von den andern auf, und ich gesellte mich zu ihm, damit es später nicht auffallen möge, wenn wir uns miteinander entfernten. Als wir nach einem Stündchen annehmen konnten, daß die Gefährten alle schliefen, nahmen wir unsere Decken und begaben uns nach dem Saal der Dschemma der Toten.

Dieser Saal lag von unserm Lagerort so weit entfernt, daß die Schläfer durch das Rollen des Türquaders nicht aufgeweckt werden konnten. Im Innern herrschte tiefste Dunkelheit. Wir brannten so viele Kerzen an, wie der Mir zu seinem Vorhaben brauchte. Dann ging er an das grauenhafte Werk, in das Fegefeuer dieses ungewöhnlichen Ortes hinabzusteigen und die Schuldbücher seiner Ahnen zu studieren. Ich aber bereitete mir im linksseitigen Zuhörerraum auf einigen Sitzen mit Hilfe meiner Decke ein leidlich bequemes Lager.

Das Licht der Kandelaber drang nicht zu mir. Ich lag in völliger Finsternis. Die unbeweglichen Gestalten der Dschemma waren durch die eigenartige Lichtwirkung wie in weite Ferne gerückt. Das täuschte mein Auge; es vervielfachte ihre Größe. Sie erschienen mir gigantisch. Es war mir, als ob ich aus unserer Welt der Dunkelheit in ein überirdisches Dasein schaue, dessen Geheimnisse soeben begonnen hatten, sichtbar zu werden. Wenn ich wirklich schlafen wollte, mußte ich dergleichen Phantasmen von mir abwehren. Ich wendete mich also auf die andere Seite, legte mich nieder und schloß die Äugen. Ich glaube, daß ich dann auch sofort eingeschlafen bin, wenigstens bin ich mir nicht bewußt, auch nur noch eine Minute wach geblieben zu sein. Auch wie lange ich geschlafen habe, ehe ich aufgeweckt wurde, weiß ich nicht. Ich kann nur sagen, daß ich nicht von selbst erwachte, sondern von einer lauten Stimme aus dem Schlaf gerufen wurde.

Es war die Stimme des Mirs. Anfangs hatte er bei Abu Schalem gestanden und mit dem Hauptbuch begonnen. Jetzt stand er unten bei seinen Vorfahren, hatte eines ihrer Konti in der Hand und las, gegen die Richter gewendet, aus demselben vor. Er stand leider so, daß ich die Worte nicht verstehen konnte, deren Schall zur jenseitigen Höhe stieg und, von dort zurückkehrend, sich selbst verschlang. Er schien die Wirklichkeit vergessen und sich vollständig in die Fiktion hineingelesen und hineingedacht zu haben. Er nahm die Toten für Lebendige. Er las ihnen laut vor; er sprach dazwischen zu ihnen; er erläuterte und erklärte; er gestikulierte wie ein Angeklagter oder wie ein Verteidiger, bei dem alles auf dem Spiel steht, was er ist und was er hat. Es kam mir keinen einzigen Augenblick bei, dieses sein Gebaren für phantastisch oder gar für unsinnig zu halten, denn ich konnte zwar nichts genau verstehen, aber doch jedem seiner Worte anhören, das alles, was er sagte, der tiefsten Seelenqual und Herzensnot entsprang. Und ... doch halt! Was war das ...?

In der geraden Richtung meines Lagers, aber dort im äußersten Winkel und in der äußersten Finsternis, tauchte jetzt ein kleines, winziges, wehendes Flämmchen auf, welches sich mir langsam näherte. Es kam jemand, ganz leise, leise. Wer war es? Ich sah etwas Weißes. Je geringer die Entfernung zwischen mir und diesem Lichtchen wurde, desto deutlicher zeigte sich die Gestalt des Trägers oder vielmehr der Trägerin, denn sie war eine weibliche. Sie trug ein weißes, weites, bis auf den Boden niederreichendes Gewand mit langen, weiten Ärmeln. Es schloß sich eng an den Hals. Gesicht und Kopf waren unbedeckt. Das Haar bildete einen Kranz von dunkeln, anspruchslos geordneten Flechten. Dieses Wesen schien den Saal genau zu kennen, denn es achtete nicht darauf, wohin es seine Schritte setzte, sondern es hielt das Gesicht nach der Seite gewendet und den Blick im Vorwärtsschreiten nach dem Mir gerichtet. Darum sah es mich nicht, als es mich erreichte. Freilich kam es nicht direkt an mir vorüber, sondern in einer Entfernung von vielleicht zehn Schritten. Dennoch drückte ich mich so eng und klein wie möglich zusammen, um ja nicht bemerkt zu werden. Dabei achtete ich scharf auf das Gesicht. Ich sah es nicht genau, weil es halb von mir abgewendet war, doch erkannte ich, daß ich nicht ein junges Mädchen, sondern eine Frau vor mir hatte, die gewiß schon über vierzig Jahre zählte. Ihre Gestalt war hoch, wie die einer Ussula, ihre Haltung aufrecht, ihr Gang stolz, trotz aller Vorsicht, leise aufzutreten.

Nach einigen weiteren Schritten blieb sie stehen und blies das Licht aus. Nun stand sie also im Dunkeln. Aber sie lauschte. Sie wollte hören, was der Mir sprach. Und indem sie ihrem Ohr die betreffende Richtung gab, hob sie den Kopf ein wenig mehr in die Höhe und hielt ihn so, daß er, halb Profil und halb Face, von dem Licht der Kandelaber getroffen und übergossen wurde. Das war ganz genau dieselbe Stellung, welche das Gesicht des Dschirbani eingenommen hatte, als ich kurz vor dem Abendessen seine Schönheit und seelische Ausdrucksfähigkeit bewunderte. Und, sonderbar, es war, als ob ich jetzt, hier, genau dasselbe Gesicht vor mir habe, nur nicht in männlicher, sondern in weiblicher Ausgabe, und nicht auf innere Askese deutend, sondern mit den Zügen und den großen, ernsten aufnahmefähigen Augen einer Seherin. Ja, es gab da gar keinen Zweifel; das war das Gesicht des Dschirbani. Ich dachte sofort an seine Mutter. Das Alter stimmte, auch die Gestalt und die unbewußt-selbstbewußte Art, sich zu bewegen. Körperlich von den Ussul, doch geistig und seelisch aus Dschinnistan stammend, so stand sie hochaufgerichtet vor mir, ihre ganze Aufmerksamkeit dorthin gerichtet, wo ein Lebender zu Längstverstorbenen sprach, als ob sie ihn hören, ihn verstehen und ihm antworten könnten. Aber es war unmöglich, da, wo sie stand, aus dem Klangschwall, der zu uns herüberflutete, die einzelnen Worte und Sätze herauszulesen; darum setzte die weiße, geheimnisvolle Frau nun ihre Schritte weiter, um sich dem Mir so leise und so langsam, wie sie gekommen war, zu nähern.

Da richtete ich mich auf. Es war ja möglich, daß sie den Rückweg wieder hier vorüber nahm; da sollte sie mich nicht sehen. Ich mußte mich also entfernen. Ich nahm mir vor, sie womöglich nicht aus den Augen zu lassen und folgte ihr so vorsichtig, wie ich nur konnte.

Sie ging weiter und immer weiter, zuweilen stehenbleibend, um zu prüfen, ob das, was sie hörte, jetzt nun deutlicher sei, dann aber immer wieder vorwärtsschreitend, bis sie die Stelle erreichte, wo die Stufen begannen, die auf die Erhöhung führten, auf welcher Abu Schalem, der oberste Richter, saß. Sie hatte da eine der großen, starken Säulen erreicht, auf denen die hohe Decke ruhte, und blieb hinter ihr stehen. Ihrer Haltung war anzusehen, daß sie nun deutlich verstand, was sie hörte. Ich ging noch so weit, bis ich die gleiche Linie mit ihr und dem Mir erreichte; dann setzte ich mich nieder, um nicht vom Licht getroffen zu werden, sondern unbemerkt das Kommende abzuwarten. Es kam sehr schnell, viel schneller, viel kürzer und ganz anders, als ich dachte.

Noch immer ertönte die Stimme des Mirs. Noch immer las er vor, und noch immer warf er in Zwischensätzen ein, was ihm sein Inneres befahl, zu dem, was er las, zu sagen. Noch immer richtete er alles, was er las und sagte, an die Richter. Die weiße Frau hinter der Säule verstand gar wohl jedes seiner Worte, leider ich aber nicht. Die Entfernung zwischen ihm und mir war zu groß. Da sah ich, daß er das Buch, welches er in den Händen hielt, zuschlug, mit einer energischen Gebärde hinter sich warf und eine Aufforderung an die Toten richtete, die auch ich verstehen konnte, weil er sich dabei ein wenig mehr nach mir wendete und in gewichtiger Betonung alle seine Worte derart voneinander trennte, daß die Luftwellen sie nicht mehr verwirren konnten:

»Meine Seele ist voller Angst und Jammer. Sie sprach zu euch nicht wie zu Toten, sondern wie zu Lebenden. Sie nahm an, daß auch ihr einst Seelen besaßet und daß ihr sie nicht verloren habt, sondern daß sie zu euch niedersteigen und anwesend sind, so oft ihr euch für berufen und für würdig haltet, über so ungeheuer großes Unrecht Recht zu sprechen. Ich habe euch meine Bedrängnis, meine Qual, meine Not geschildert. Ich habe euch meine Fragen vorgelegt. Eure Zungen stehen still; der Tod hat sie gelähmt. Von euch, den leblosen Körpern, kann ich keine Auskunft erwarten. Aber von euern Seelen verlange ich Antwort. Ich fordere diese Antwort von ihnen, bei allem, was ihnen einst heilig war und jetzt noch heilig ist. Ich verlange sie von ihnen, jetzt, hier, auf der Stelle, auf der ich stehe! Ich kann nicht warten, denn schon in der nächsten Mitternacht wird die Entscheidung fallen, über mich und auch über euch! Ja, auch über euch! Nicht nur die Angeklagten, sondern auch die Richter werden gerichtet; das versichere ich euch!«

Er machte eine Pause, um seinen letzten Worten doppelten Nachdruck zu geben. Er war außerordentlich erregt. Er zitterte, und seine Stimme zitterte noch mehr, als er selbst. Er fuhr fort:

»So mögen denn eure Seelen zu der meinen sprechen. Sie ist in mir. Sie wartet. Ich stehe euch offen und bin bereit, zu hören!«

Er legte die Hände ineinander, senkte den Kopf und stand so lange, lange Zeit. Zuweilen trennte er die Hände und hob sie empor, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Ich stand fern von ihm und sah dennoch, wie seine Brust sich hob und senkte. Das täuschte mir vor, daß mir auch sein Atem, der in schweren, angstvollen Stößen ging, hörbar sei. Es gab irgendetwas, was in ihm kämpfte, um sich loszuringen, um frei zu werden. Ich mußte da an seinen Wunsch denken, den er gegen Abend ausgesprochen hatte: »Oh, wenn ich beten könnte, beten, beten! Ich gäbe viel darum, sehr viel!«

Da endlich schleuderte er die Arme, als ob er etwas wegwerfe, von sich und rief aus:

»Ich höre nichts! Kein Wort, kein einziges! Auch keine einzige Silbe! Weder von außen, noch von innen! Wo sind die Seelen, die zu mir reden sollen? Wollen sie nicht? Oder können sie nicht? Oder sind und waren sie überhaupt gar nicht vorhanden? Was soll ich tun? An wen soll ich mich wenden? Wer ist es, der mir helfen kann und will?«

Er schaute sich nach rechts und links, nach allen Seiten um, als ob er eine Antwort, wirklich eine Antwort erwarte. Und da klang ein Ton, fast so leise wie ein Hauch und doch im ganzen weiten Raum zu hören, wie von hoch oben herab:

»Bete!«

Er zuckte zusammen. Er sah sich um, scheu, aber doch mit froher werdendem Angesicht.

»Beten?« fragte er. »Beten? Ich habe es gehört! Ganz deutlich gehört! Wer hat es gesagt? Wer? War es außer mir – war es in mir selbst? War es eine der Seelen, welche bisher schwiegen? Und kann ich es denn? Kann ich, und darf ich, ich, der Ungläubige, der Verbrecher, der, sobald er vor Gott zu treten wagt, nicht nur seine eigenen, sondern die Sünden seines ganzen Geschlechtes mitzubringen hat, um sie der Gnade und der Vergebung hinzuwerfen und ...«

Indem er die Bewegung des Hinwurfes machte, sank er auf die Knie nieder und sprach weiter, ohne sich wieder aufzurichten. Aber er sprach nicht laut, wie bisher, sondern leise, unhörbar – er betete!

Ich wandte den Blick von ihm ab und faltete die Hände. Die Stelle, an der er kniete, war jetzt eine heilige. Mein profaner, kritischer Blick hatte nicht das Recht, in dieses Heiligtum zu dringen. Ich schaute auf die weiße Gestalt der Frau, die sich weiter und immer weiter vorgebogen hatte, um sich ja kein einziges seiner Worte entgehen zu lassen. Sie hielt die Hände erhoben, doch auch gefaltet. Sie war sichtlich bewegt, sehr tief bewegt. Sie trat nun ganz hinter dem Pfeiler hervor. Sie tat einen Schritt vorwärts, noch einen. Nun stand sie vor der untersten Stufe und blieb dort wartend stehen. Auch ich blieb nicht sitzen; ich mußte mich unwillkürlich erheben. Ich schlich mich näher hin, um das Gesicht des Mirs deutlicher zu sehen. Schon betete er nicht mehr leise, sondern halblaut. Er war so ganz und gar von seinen Gedanken und Empfindungen hinweggerissen, daß er begann, sie in hörbare Worte zu kleiden. Gegen den Schluß seines Gebetes hin wurde er lauter und immer lauter, bis er, sich aus der knienden Stellung erhebend, ausrief:

»Und nun wende ich mich nicht mehr an die Erde, an die Toten und an die Seelen der Abgeschiedenen, sondern ich hebe meine Zuversicht empor zum Himmel, zum unendlichen, ewigen Leben, zum nirgends abwesenden, sondern stets allgegenwärtigen Geiste, zu dem ich jetzt gebetet habe und der mir in meinem Innern antworten wird, wenn ich ihn frage: Ist das Vermessenheit, was ich beschlossen habe? Ist es verboten, so zu ...«

Er hielt mitten im Satz inne und wich überrascht oder wohl gar erschrocken einige Schritte zurück. Sein Blick war auf die weiße Gestalt gefallen, die ihren Fuß jetzt auf die erste Stufe setzte, um langsam emporzusteigen. Oben angekommen, trat sie auf die Seite Abu Schalems, legte die Hand auf das vor ihm aufgeschlagene, große Schuldbuch und sagte mit klarer, tieftönender Stimme:

»Dieses Buch wird von nächster Mitternacht an für immer geschlossen sein, wenn du nur willst! Du sollst nicht nur innere, sondern auch äußere Antworten hören. Lösche alle Lichter aus!«

Er gehorchte sofort, wendete dabei aber keinen Blick von ihr. Es war ihm anzusehen, daß er sie wohl für ein überirdisches Wesen hielt. Als das letzte Licht verloschen und nun nirgend mehr etwas zu erkennen war, erklang es in demselben tiefen, klaren Ton durch die Finsternis:

»Was du dir vorgenommen hast, ist nicht vermessen. Du darfst die ganze Last auf deine Schultern nehmen, weil deine Kraft die Summe aller ihrer Kräfte ist. Verlaß dich auf die Güte und Barmherzigkeit; diese beiden sind schon unterwegs zu dir!«

Hierauf war es still. Nichts schien sich zu bewegen. Auch ich rührte kein Glied. Dann gab es in meiner Nähe ein leises Rauschen, wie wenn der Saum eines weichen Kleides leicht über den Boden streift. Ein kaum bemerkbarer Luftzug glitt an mir vorbei. Ein feiner, süßer Duft blieb zurück, ähnlich dem Duft der Kätzchenblüten zur Osterzeit, wenn sie an Altären die Palmenweihe erhalten. Das war sie gewesen, die Geheimnisvolle. Sie war an mir vorübergegangen, viel näher als vorhin, wo der Duft, der mich jetzt gestreift hatte, mich nicht erreichen konnte. Sie hatte die Lichter in wohlbedachter Absicht verlöschen lassen. Nun, da es so dunkel war, vermochte kein Auge, ihr zu folgen. Und mir war es eigentlich auch ganz recht, daß ich sie so unbeobachtet verschwinden lassen mußte. Die Aufklärung hätte mir doch einen großen Teil der Poesie zerstört, welche der Vorgang für mich haben mußte und auch wirklich hatte. Indem ich mit mir darüber zu Rate ging, wie ich mich nun zu dem Mir zu verhalten hatte, kam ich zu dem Entschluß, ruhig abzuwarten, welche Mitteilungen er mir machen und welche Meinungen ich von ihm zu hören bekommen werde. Ich schlich mich also so leise wie möglich nach meinem Lager zurück und legte mich nieder. Nach einiger Zeit hörte ich seine Schritte. Er kam und tastete nach mir. Ich bewegte mich nicht sofort. Mochte er immerhin denken, daß ich schlafe! Er rüttelte mich. Da tat ich, als ob ich erwache.

»Du schläfst sehr fest«, sagte er. »Bist du gleich eingeschlafen oder erst spät?«

»Sogleich«, antwortete ich.

Das war ja auch wahr. Daß ich wieder aufgewacht war, verschwieg ich.

»Steh auf, und komm!« forderte er mich auf.

»Bist du schon fertig?«

»Ja.«

»Ganz, fertig? Mit allen Büchern?«

»Ganz! Mit allen Büchern! Was ich erfahren wollte, das weiß ich nun.«

»Und hast schon sämtliche Lichter ausgelöscht!«

»Weil wir gehen. Wir schlagen unser Lager draußen wieder auf. Da ahnt dann niemand, wenn es Morgen wird, daß wir fortgewesen sind. Komm!«

So stand ich also auf, nahm meine Decke, wie er die seinige, und folgte ihm. Wir ließen den Türstein in die Öffnung rollen und begaben uns nach der Stelle, wo wir nach dem Abendessen gelegen hatten. Bis wir sie erreichten, sagte er kein weiteres Wort, doch als wir uns ganz nahe beieinander niedergelegt hatten, fragte er mich:

»Effendi, glaubst du an Geister?«

»Ja«, antwortete ich. »Gott ist ein Geist.«

»Das meine ich nicht. Glaubst du an Gespenster?«

»Nein.«

»An Heilige?«

»Ja.«

»An Selige?«

»Ja.«

»So höre: Ich habe eine Selige gesehen!«

»Wirklich?«

»Ja, wirklich!«

»Du irrst!«

»Ich irre nicht. Ich habe sie nicht nur gesehen, sondern sie hat sogar mit mir gesprochen!«

»Und dennoch mußt du dich irren. Hat sie dir gesagt, daß sie eine Selige sei?«

»Nein; aber sie ist eine: ich weiß es genau. Sie kann nichts anderes sein!«

»Willst du mir nicht erzählen ...?«

»Jetzt nicht. Ich bin so voll, so reich! So übervoll und überreich! Das muß ich alles ordnen, ehe ich davon sprechen kann. Gute Nacht!«

»Gute Nacht!«

Er drehte sich auf die andere Seite, ich aber nicht. Die Erfahrung sagte mir, daß er wohl noch nicht ganz zu Ende sei. Und richtig, nach einigen Minuten wendete er sich mir wieder zu und erkundigte sich:

»Schläfst du schon, Effendi?«

»Noch nicht«, antwortete ich.

»Bist du überzeugt, daß zur nächsten Mitternacht die Dschemma der Lebenden wirklich stattfinden wird?«

»Vollständig überzeugt!«

»Ich auch. Ich weiß sogar, daß Abd el Fadl und Merhameh ganz sicher kommen werden!«

»Woher könntest du das wissen?«

»Ich weiß es! Das mag dir genug sein! Vielleicht erzähle ich dir später einmal, wer es mir gesagt hat. Ich kann mich auf die Güte und Barmherzigkeit verlassen; diese beiden sind schon unterwegs zu mir! Gute Nacht!«

»Gute Nacht!«

Wieder drehte er sich auf die andere Seite, und wieder tat ich das nicht. Und wieder machte er nach einigen Minuten die betreffende Wendung zurück und fragte:

»Schläfst du aber jetzt schon, Effendi?«

»Noch nicht ganz, aber schon drei Viertel«, antwortete ich.

»Verzeih, daß ich dich nochmals störe! Ich habe dir etwas außerordentlich Wichtiges zu sagen.«

»Ist es etwas Gutes?«

»Sogar etwas sehr Gutes! Kannst du dich auf den großen, herzlichen Wunsch erinnern, den ich hatte, als du heut am Spätnachmittag noch einmal von mir zurückgerufen wurdest?«

»Ja; ich besinne mich.«

»Nun, welcher Wunsch war es?«

»Der Wunsch, beten zu können.«

»Ja, der, der war es! Und denke dir, Effendi, ich habe gebetet!«

»Darf ich das glauben?«

»Ja, glaube es! Gern gebe ich zu, daß es fast unglaublich ist, aber es ist dennoch geschehen, dennoch! Kannst du dir denken, was das heißt, der Mir von Ardistan hat gebetet? Weißt du, was das für einen Gottessieg bedeutet?«

»Einen Gottessieg? Wie meinst du das?«

»Einen Sieg Gottes.«

»Über wen?«

»Über wen, fragst du? Natürlich über mich und meinen Unglauben!«

»Armer, armer Teufel!« antwortete ich in meinem mitleidigsten Ton.

»Wen meinst du mit diesem armen, armen Teufel?«

»Dich natürlich, dich!«

»Warum?«

»Weil du einer bist, und zwar einer der aller-, allerärmsten, die es gibt!«

»Ich verstehe dich nicht! Ich fühle mich so reich, so überreich. Ich habe dir das aufrichtig gesagt. Und anstatt mich reich und glücklich zu preisen, nennst du mich einen armen, armen Teufel! Warum?«

»Weil dich dein Glück nicht demütig, sondern hochmütig macht.«

Da richtete er sich in sitzender Stellung auf, bog sich zu mir herüber und fragte:

»Hochmütig? Wieso? Ich wüßte nichts davon!«

»Wirklich nichts? Hast du dich nicht soeben Gott gleichgestellt?«

»Gott gleichgestellt? Ich? Mich? Bist du bei Sinnen, Effendi?«

»Bei sehr guten Sinnen! Hast du nicht soeben behauptet, Gott habe dich besiegt?«

»Ja. Das tat ich allerdings.«

»Jeder Sieg setzt aber einen Kampf voraus?«

»Allerdings. Oder ist es vielleicht nicht wahr, daß ich gegen Gott gekämpft habe, daß ich von Gott nichts wissen wollte?«

»Armer, armer Teufel! Und da nimmst du an, daß Gott gezwungen gewesen sei, mit dir zu kämpfen? Die Wolke, die sich auflösen muß, prahlt, sich mit der Sonne gemessen zu haben! Ein Stück Holz, welches zu Asche verbrennt, rühmt sich knisternd, es ringe mit dem Feuer auf Leben und Tod! Der sterbende Kranke ruft protzig aus, der Tod könne sehr stolz darauf sein, so einen Mann wie ihn besiegen zu dürfen! Soll ich dir noch mehrere Beispiele, mehrere Vergleiche bringen? Welcher Grund liegt für dich vor, so stolz darauf zu sein, daß du endlich, endlich einmal gebetet hast? Und aber noch eins, und dieses eine bedenke gar wohl: Selbst wenn du die Sünden der ganzen, ganzen Welt auf dich nähmst, so läge doch keine Veranlassung vor, dich dessen auch nur im allergeringsten zu rühmen. Solcher Erlöserstolz ist Wahnsinn, weiter nichts! Sünden zu tun und Sünden zu vertreten, bringt keine Ehre. Und je mehr du Sünden auf dich nimmst, um so weniger darfst du erwarten, daß man dich dafür ehre! Wenn du wieder betest, so bitte Gott um Bescheidenheit! Diesen Rat gibt dir der aufrichtigste Freund, den du auf Erden hast. Gott kämpft mit keinem Geschöpf, und sei es der allerhöchste seiner Engel. Wie jemand, wenn ein Wurm sich krümmt, behaupten kann, Gott liege im Kampf mit ihm, das ist mir unfaßbar! Gute Nacht!«

Er antwortete nicht. Er legte sich wieder nieder. Er rückte hin, und er rückte her. Erst nach langer Zeit klagte er:

»Es ist ein Elend mit dir, Effendi, ein Elend! Man hat dich lieb, aber du bist so grob, so ungeheuer grob! Und gerade, wenn man sich einmal wohl fühlt, bekommt man einen Hieb von dir, sei er groß oder sei er klein!«

»Ja, das ist richtig: Gerade wenn man sich am wohlsten fühlt, stürzt man am leichtesten vom Pferd! Und du warst auf ein sehr großes und sehr hohes Pferd gestiegen. Man kämpft doch nur mit seinesgleichen. Wer gegen die Natur lebt, darf nicht glauben, daß die Natur gegen ihn kämpfe, sondern er selbst kämpft gegen sich selbst, und dafür wird die Natur ihn richten und strafen. Genau so ist es auch mit deinem vermeintlichen Kampf zwischen dir und Gott. Denke hierüber nach. Das sind Tiefen, aus denen du noch Tausende von Gedanken schürfen kannst, wie man Metalle aus der Erde fördert. Nun gute Nacht!«

Wieder antwortete er nicht, und ich war fast am Einschlafen, als ich ihn sagen hörte:

»Effendi, vielleicht war es doch nicht grob von dir, sondern nur aufrichtig, vielleicht gar sehr gut gemeint!«

Nun war ich es, der nicht antwortete. Da klang es halblaut zu mir herüber:

»Nun schläft er schon! Gute Nacht, du böse, rauhe, liebe Offenherzigkeit!«

Dann blieb es still, und ich schlief wirklich ein. Als ich aufwachte, lag er ruhig atmend neben mir und lächelte im Schlaf. Es war nicht mehr früh am Morgen. Die Gefährten hatten schon längst Toilette gemacht und saßen jetzt beim Frühstück. Ich beeilte mich, das Versäumte nachzuholen, und der Mir folgte, als der Lärm ihn später weckte, diesem Beispiel nach.

Unser Plan für den heutigen Tag war ein ebenso umfassender, wie interessanter. Er sollte aber noch viel, viel interessanter werden, als wir gedacht und uns vorgenommen hatten. Es war beschlossen worden, zunächst durch den Kanal, durch den wir hierhergekommen waren, nach dem Anfangspunkt desselben zurückzukehren und die Versenkung zu untersuchen, mit deren Hilfe wir so unerwartet aus der Ober- in die Unterwelt befördert worden waren. Sodann sollte genau nachgeforscht werden, ob der Verschluß dieses Kanals nach dem Fluß hin vielleicht zu öffnen sei. Ich vermutete, daß die große Rotunde des einstigen Maha-Lama-Sees auch mit der Zitadelle in irgendeiner geheimgehaltenen, örtlichen Verbindung stehe; aber uns hierüber aufzuklären, war später auch noch Zeit. Vor allen Dingen mußte es unsere Aufgabe sein, die Stadt zu durchforschen, ob und welche Menschen da lebten und in welcher Beziehung sie zu den Empörern überhaupt und zu unserer Gefangennahme insbesondere standen. Daß bei dieser Rekognoszierung die größte Vorsicht anzuwenden war, verstand sich ganz von selbst. Zu Pferde durfte das nicht geschehen, weil dies zu auffällig war und ein Fußgänger überall durchschlüpfen kann, während sich einem Reiter hundert Hindernisse in den Weg stellen können, die unüberwindlich sind. Wir mußten uns einzeln in die Stadt verteilen, so daß jeder einen bestimmten Bezirk zu durchforschen hatte, doch konnte hierüber erst dann Beschluß gefaßt werden, wenn wir uns über den Kanal und über unser liebes Gefängnis Nummer fünf genau unterrichtet hatten. Hieran machten wir uns sofort, nachdem die Zeit des Frühstückes vorüber war. Die beiden Prinzen der Ussul hatten es übernommen, hier bei den Pferden zu bleiben; die andern hatten alle gewünscht, sich an der Nachforschung beteiligen zu dürfen. So öffneten wir also die Tür, welche in den alten Kanal führte. Sie war die erste gewesen, die wir entdeckt und glücklich überwunden hatten. In dem rundum mit Sitzen versehenen Raum, der hinter ihr lag, brannten wir die Lämpchen an, die uns schon bei unserm Kommen den Weg gezeigt hatten, und ließen uns von ihnen zurück nach der Stelle führen, welche unter dem doppelten Tor des Gefängnisses lag. Wir hatten allerdings auch hier schon nachgeforscht, doch vergeblich, weil wir die Eigenheiten, denen man hier überall begegnete, noch nicht kannten. Jetzt aber befanden wir uns im Besitz von günstigen Erfahrungen, und so hoffte ich, daß unsere heutigen Bemühungen nicht wieder so ergebnislos verlaufen würden.

Ich hatte mich nicht getäuscht. Zwar schien es anfangs, als ob wir wieder nichts finden sollten; aber schließlich fiel mir an der Stelle, wo wir aus der Versenkung gestiegen waren, doch der Umstand auf, daß der Boden des Versenkungsschachtes durchweg aus Stein, in einer Ecke aber aus Erde bestand, die nicht hart und fest, sondern so aufgelockert war, als ob man sich erst vor ganz kurzem damit beschäftigt habe. Ich griff hinein, noch tiefer, noch tiefer und zog endlich – einen Schlüssel hervor, dessen Gestalt genau diejenige der bisher gefundenen war. Nun wir ihn hatten und also wußten, von welcher Art und Weise hier dieses Geheimnis war, machte sich das übrige ganz von selbst. Es war uns bekannt, in welcher Höhe die Schlüssellöcher angebracht waren, darum dauerte es nur kurze Zeit, so hatten war das, um welches es sich hier handelte, gefunden. Als wir öffneten, gelangten wir in den schmalen, aber sehr tiefen Raum, welcher die Vorrichtung enthielt, mit deren Hilfe die Versenkung, die uns herabgebracht hatte, auf- und niedergeleitet wurde. Das geschah durch große, viele Zentner schwere Steingewichte, die, an über Rollen gehenden Seilen befestigt, den oben zwischen beiden Eingangstoren liegenden Fußboden bald herunter und bald wieder hinaufzogen, je nach der Seite, nach welcher hin diese ganz einfache Mechanik in Bewegung gesetzt wurde. Es bedurfte nur eines Griffes, uns alle sofort emporheben zu lassen, doch verzichteten wir hierauf, weil wir nicht wußten, wie es in diesem Augenblick da oben im Gefängnis stand.

Fast noch wichtiger als diese Entdeckung war die zweite, die wir hierauf machten. Nämlich der Raum, in dem wir uns jetzt bei den Steingewichten befanden, stieß mit einer seiner beiden Schmalseiten an die sehr starke, dicke Mauer des Kanals, und zwar genau an der Stelle, an welcher er aufhörte, an welcher also der verborgene Ausgang nach dem Fluß, wenn es einen gab, zu suchen war. Wir hatten da draußen nachgeforscht, doch, wie man weiß, vergeblich. Ich ging zwei-, dreimal hinaus und kehrte zwei-, dreimal wieder zurück, um zu betrachten und zu vergleichen. Es gab nichts, was auffallen konnte, ausgenommen zwei hölzerne Balkenköpfe, welche in dem Gewichtsraum an der Seitenwand, um die es sich handelte, aus dem Gestein hervorragten, der eine ungefähr drei, der andere ungefähr fünf Fuß über dem Boden. Sie waren vielleicht zwei Fuß lang und von ungewöhnlicher Stärke. Das gab mir zu denken. Was sollten diese Balkenköpfe hier? Hatten sie etwa als Konsolen dienen sollen, um irgend etwas zu tragen? Gewiß nicht. In diesem Fall hätte man gewiß nicht Holz, sondern den viel näherliegenden Stein verwendet. Diese Balkenköpfe hatten also wohl einen Zweck, der mit dem Zweck des Raumes, in dem wir uns befanden, in keiner Beziehung stand. Dieser ihr Zweck lag also nicht in diesem Raum, sondern außerhalb desselben, nämlich draußen! Und draußen lag eben, ganz unmittelbar anstoßend, die Quermauer, die den Kanal verschloß. Wenn man einen ihrer Riesenquader so angebracht hatte, daß er eine bewegliche Türe bildete, vielleicht in derselben Weise wie alle die Türen drin am Maha-Lama-See, so war es jedenfalls derjenige, der draußen an die Wand stieß, vor der wir innen standen. In diesem Fall war der Zweck der beiden Balkenköpfe offenbar. Auch wurde er durch ihre ungewöhnliche Stärke verraten, welche vermuten ließ, daß sie einen ebenso ungewöhnlichen Druck auszuhalten hatten. Sie bildeten höchstwahrscheinlich die Handgriffe der starken Riegel, durch welche die Quadertür da draußen festgehalten wurde. Riegel müssen beweglich sein; hier aber hatte es den Anschein, als ob man diese Balken vollständig festgemauert habe. Ich versuchte, an ihnen zu rütteln. Das war nicht leicht, aber der Bewurf begann, zu bröckeln. Ich rüttelte mehr; das Bröckeln wurde stärker. Da griffen die Gefährten mit zu, und nun bei so vereinter Kraft stellte sich heraus, daß die Riegelhölzer nur eingemauert schienen, es aber doch nicht waren. Sobald die äußere Verklebung, welche nur die Bestimmung hatte, zu täuschen, vollständig aus- und abgebröckelt war, gelang es uns sehr bald, erst den einen und sodann auch den andern Balken herauszuziehen. Die Riegel waren nun also entfernt; aber es bewegte sich nichts da draußen. Jedenfalls hatte man nachzuhelfen. Wir gingen hinaus und schoben. Und richtig, richtig! Der große, anstoßende Steinblock wich dem auf ihn ausgeübten Druck, erst langsam, dann aber rascher und rascher. Er war in genau derselben Weise eingestellt wie alle die Türen des großen Maha-Lama-Baues. Als er zurückgewichen war und dann feststand, bedurfte es nur eines geringen Druckes, ihn wieder in die Öffnung zurückkehren zu lassen.

Wie froh wir waren! Wir beeilten uns, hinauszutreten. Wir gingen weiter. Wir folgten dem Kanal unter dem Gefängnis und dem freien Platz hin, bis er zu Ende war. Wir hatten seine Öffnung nach dem Fluß hin gesehen, als wir bei unserer Ankunft da drüben von dem Berg herabgeritten waren. Als wir diese Öffnung nun erreichten, sahen wir, daß dort eine große, sehr große Überraschung auf uns gewartet hatte. Der Fluß zeigte nämlich Wasser; man denke sich! Wasser, Wasser, Wasser! Nach viel-, vielhundertjähriger Dürre und Trockenheit zum ersten Male Wasser! Und gerade jetzt, wo wir anwesend waren! Es war zwar nicht viel, sondern nur hier eine Lache und da eine Lache, hier ein Teich und dort ein Teich, aber es begann doch schon, von Lache zu Lache, von Teich zu Teich zu rieseln, und der Boden, der Untergrund mußte also viel, viel mehr Feuchtigkeit besitzen, als die Sonnenwärme, die gerade heut eine bedeutende war, zu verdunsten vermochte. Es gab bei diesem Anblick einen allgemeinen Jubel.

»Das ist das laute Wasserrauschen im Brunnen des Engels!« rief Halef aus. »Das dort abgelaufene Wasser tritt hier zutage. Meinst du nicht auch, Effendi?«

»Nein«, antwortete ich. »Die Ursachen der Erscheinung, die hier vor dir liegt, sind nicht im Brunnen des Engels, sondern in einer viel, viel höher liegenden Gegend zu suchen. Der Segen, der hier zutage tritt, wurde droben in Dschinnistan der Erde anvertraut.«

»Wird dieses Wasser wieder verschwinden, wird es so bleiben, wird es steigen?« fragte der Prinz der Tschoban.

»Wie Gott will! Unser Blick ist unvermögend, seine Ratschlüsse zu durchdringen. In allem, was geschieht, liegt göttliche Berechnung!«

»Auch in diesem Wasser?«

»Ja, auch in diesem Wasser! Vielleicht erfahren wir eher, als wir ahnen, warum und wozu es gerade uns und gerade jetzt gesendet wird.«

»Warum? Weil die Zeit gekommen ist!« rief der Mir aus, indem seine Augen in eigenartiger Weise glänzten. »Wenn sich Abend für Abend da oben in den Bergen die Pforten des Paradieses öffnen, ist die Zeit erfüllt, für welche uns die Rückkehr des Flusses verheißen ist. Kommt dann der Herrgott wieder am Ufer herab nach Ardistan, dann, dann – dann ...«

Er hielt inne. Er fühlte, daß er mit dem, was ihm jetzt auf der Zunge lag, seine ganze frühere Anschauung umstoßen würde. Da aber trat der Dschirbani mit einem schnellen Schritt zu ihm heran und forderte ihn auf:

»Sprich weiter, sprich weiter! Oder fürchtest du dich, es zu sagen?«

»Fürchten?« fragte der Mir.

Sie sahen einander in die Augen, beide ernst und prüfend. Über das Gesicht des Mirs ging ein Zug, als ob er nahe daran sei, sich beleidigt zu fühlen. Aber diese nicht ganz kleine Versuchung wurde von ihm überwunden. Sie wich einem ruhigen Lächeln, und er antwortete:

»Früher hätte ich mich gar wohl gefürchtet; aber das war eben früher. Jetzt weiß ich es, daß es keine Schande ist, klüger, vernünftiger und innerlich klarer geworden zu sein. Früher hätte mein Stolz mir verboten, einen Irrtum einzugestehen, aber jetzt – jetzt ...«

Er wendete sich von dem Dschirbani ab zu mir und fuhr fort:

»Effendi, du rietest mir, um Bescheidenheit zu beten. Ich habe es getan, nachdem du eingeschlafen warst. Ich wollte ganz Dschinnistan mit Krieg überziehen. Ich wollte jene Berge erobern, aus denen das Wasser kommt, welches meinem Land, meinem ganzen Reich fehlt. Ich hielt mich für einen großen Feldherrn. Ich wollte durch Blut und Mord und Tod erreichen, was doch niemals mit der geballten Faust zu erlangen ist. Das war früher, früher, früher. Heut aber sage ich dir: Käme der Herrgott jetzt den Fluß herab, um zu fragen, ob ich Krieg oder Frieden wolle, so würde ich ihm sagen, daß von nun an Friede sein solle, nicht nur zwischen den Ländern und den Völkern meines Reiches, sondern auch zwischen uns und Dschinnistan, dem glücklichen Staat, dessen Bürger behaupten dürfen, daß nie ein Tropfen Blut bei ihnen geflossen sei. Bist du mit dieser meiner Erklärung zufrieden, Effendi?«

Ich reichte ihm froh die Hand und antwortete:

»Ich danke dir! Nimm das Wasser, welches wir hier so freudig begrüßen, als eine äußere Hindeutung auf die segensreichen Quellen, die gerade jetzt auch in deinem und in unserm Innern zu steigen beginnen. Gott wird kommen, ganz gewiß! So ist es gut, daß wir nun alle wissen, welche Antwort er auf seine Frage von uns erhalten soll. – Jetzt aber wieder an unsere Nachforschung! Wir schließen die Tür hinter uns und steigen dann dort an der Brücke aus dem Flußbett heraus, um nach dem Gefängnis zu gehen. Aus dem, was dort geschieht, wird das Weitere sich ergeben.«

Die Gefährten waren damit einverstanden. Wir kehrten in das Innere des Kanals zurück und ließen den Türquader in seine Öffnung zurücklaufen. Dann stiegen wir in das Flußbett hinaus und wendeten uns der Brücke zu, über welche wir bei unserer Ankunft herübergeritten waren. Dort gab es nämlich Stufen, die es uns ermöglichten, auf die Höhe des Ufers zu kommen, ohne uns durch unbequeme Kletterei emporarbeiten zu müssen.

Dieser unser Wiedereintritt in die Freiheit führte uns sogleich einem Ereignis entgegen, welches zwar von keiner großen, erschütternden Bedeutung war, uns aber doch recht herzlich erfreute. Nämlich als wir die Stufen erstiegen hatten und uns am Brückenkopf befanden, wollte ich mich sofort dem Gefängnis zuwenden und kehrte mich infolgedessen vom Fluß ab; da aber rief Halef mir zu:

»Halt, nicht umdrehen, Effendi! Schau über die Brücke!«

Als ich dieser seiner Aufforderung folgte, sah ich sechs Kamele, die von drüben herüberkamen. Sie waren mit Wasserschläuchen beladen, und auf dem voranschreitenden saß außerdem ein Mann, dessen Gesicht man noch nicht deutlich erkennen konnte, zumal er die Kapuze seines Haiks sehr weit über die Stirn vorgezogen hatte. Aber als er nähergekommen war, erkannte ich in ihm den braven Brunnen- und Zisternenwächter, der sich meiner so hilfreich angenommen hatte. Zu gleicher Zeit fiel auch ich ihm in die Augen. Da sprang er, ohne seine Kamele anzuhalten, im Laufen von dem seinigen herab, eilte ihnen voraus, auf mich zu und rief, noch ehe er uns erreichte, in freudigem Ton:

»Hamdulillah, daß ich dich sehe! Ich grüße dich! Welche Angst habe ich um euch gehabt! Und wie freue ich mich, daß du noch lebst, und die andern auch! Ich wollte euch retten! Ich bringe euch Wasser!«

»Du Guter, Lieber, Treuer!« antwortete ich. Und indem ich auf den Mir deutete, fügte ich hinzu: »Dein Herrscher wird es dir danken!«

Er kniete vor dem Mir nieder. Dieser gebot ihm, aufzustehen und sagte:

»Ich habe dich nur für einen kurzen Augenblick gesehen, doch erkenne ich dich wieder. Du saßest im Zisternenhaus und kamst sodann heraus. Du hast uns guten Rat gegeben und sollst es nicht bereuen. War es dir denn möglich, deinen Dienst und deine Zisterne zu verlassen, um uns Wasser zu bringen? Hinderte man dich nicht?«

»Nein. Es war ja niemand da, es mir zu verbieten! Und auch hier ist kein Mensch, der mich dabei erwischen könnte!«

»Kein Mensch?«

»Keiner! Alle, die sich in der Stadt der Toten befanden, mußten fort. Niemand durfte bleiben. Es durfte kein Mensch vorhanden sein, dem es möglich gewesen wäre, euch zu sehen und zu sprechen! Kein einziger, der auf den Gedanken kommen konnte, euch zu retten, euch und alle, die in den sicheren Tod hierhergetrieben werden sollen.«

»Hierhergetrieben? In den sichern Tod? Wer könnte das sein?«

»Das Heer des Dschirbani! Die Ussul und die Tschoban, die durch Gewalt und List gezwungen werden, sich eiligst nach der Stadt der Toten zu wenden!«

»Ist das wahr? Woher weißt du es?« fragte der Mir, indem er uns betroffen anschaute.

Wir waren ebenso überrascht wie er, aber keineswegs erschrocken.

»Jedermann weiß es«, antwortete der Wächter. »Die Kunde davon wird absichtlich überall verbreitet, damit jedermann erfahre, wie groß und kühn und klug der neue Herrscher ist. Der Panther hat sich nach Ard gewendet. Die Christen werden aus der Stadt vertrieben; alle andern halten zu ihm, und wer noch treu ...«

»Mein Weib! Meine Kinder!« wurde er vom Mir unterbrochen. »Ich muß fort von hier, fort, fort!«

Er machte eine Bewegung, als ob er seine Worte schleunigst in die Tat umsetzen wolle, doch der Dschirbani hielt ihn am Arm fest und warnte:

»Wohin? Und etwa allein, ohne uns? Ohne Rat und Überlegung?«

»Aber bedenke: Mein Weib – meine Kinder ...!«

»Maschallaha! Ich soll bedenken! Du aber wohl nicht? Dein Weib und deine Kinder? Steht bei uns etwa nichts auf dem Spiel? Sollen nicht alle vereinigten Ussul und Tschoban, also mein ganzes Heer, hierher in den sicheren Tod getrieben werden? Es handelt sich um das Leben vieler Tausende! Siehst du aber vielleicht, daß ich sogleich davonlaufen will?«

Da schlug der Mir, der in der Selbstüberwindung überhaupt jetzt beinahe Übermenschliches leistete, beschämt die Augen nieder und wendete sich wieder ruhig an den Wächter:

»Was weißt du noch? Sprich es aus!«

»Der Panther wird nur noch einige wenige Tage in Ard bleiben«, sagte der Aufgeforderte. »Dann führt er alle Truppen, die noch daheim sind, zu denen, die gegen Dschinnistan marschieren, und macht dem Krieg gegen den Mir dieses Landes mit einem einzigen gewaltigen Stoß ein schnelles Ende.«

»Weiter!«

»Weiter weiß ich nichts.«

»Und woher weißt du das, was du weißt? Das hat dir der Panther doch gewiß nicht selber gesagt!«

»Nein, der nicht. Ich erfuhr es von seinen Soldaten, die er am Brunnen zurückließ, als er mit euch nach der Stadt der Toten ritt. Es stießen noch andere Soldaten zu ihnen, die aus andern Richtungen kamen und dazu bestimmt waren, den ganzen Rand der Wüste, die nach hier führt, für jedermann so lange zu versperren, bis man als sicher annehmen kann, daß ihr verschmachtet seid. Also, es kann niemand her zu euch, um euch zu retten, kein Mensch. Und die wenigen Leute, die es hier gab, hat der Panther mitgenommen, als er die Stadt der Toten mit seinem General und seinen fünfzig Reitern wieder verließ.«

»Es ist also niemand mehr hier, wirklich niemand?«

»Kein einziger Mensch! Ich weiß das ganz genau, denn ich hatte doch das Wasser abzumessen, zu berechnen und zu liefern für einen jeden, der sich hier befand. Ich hatte auch die Relais zu legen, durch welche ihr und eure fünfzig Begleiter unterwegs mit Wasser versehen wurdet. Ich wußte, wann und in welcher Reihenfolge sie zurückkehren mußten. Als die ersten von ihnen eintrafen und man also annahm, daß der Streich gegen den bisherigen Herrscher von Ardistan gelungen sei, wurde ich fortgejagt. Man sagte mir, man brauche mich nicht mehr, ich könne gehen und solle mich aber ja nicht wieder sehen lassen.«

»Man kannte wohl deine Treue gegen mich?«

»Man ahnte sie, und das war genug. Ich ging, aber anders, als man gedacht hatte. Ich schaffte in der Nacht, als es dunkel war, so viel Proviant und Wasser, wie ich zu fassen vermochte, ohne daß man es merkte, mit Hilfe meiner Kamele in der Richtung nach hier in die Wüste und kehrte dann, noch ehe es Tag geworden war, mit ihnen wieder nach dem Brunnen zurück. Als ich mich dann am Morgen mit den sechs unbeladenen Tieren verabschiedete und in gerade entgegengesetzter Richtung von dannen zog, ahnte niemand, daß ich dann einen Bogen machte, um das, was ich versteckt hatte, wieder aufzunehmen und hierherzuschaffen. Nun aber sehe ich zu meiner Verwunderung und zu meiner Freude, daß ihr frei seid und gar nicht verdursten könnt, weil der Fluß ja Wasser hält. Ein Wunder, welches ich nicht glauben würde, wenn ich es nicht mit meinen eigenen Augen sähe!«

Der Mann hatte treu und klug gehandelt. Der Mir reichte ihm die Hand und sagte:

»Sei getrost! Ich werde dir dennoch alles so anrechnen, als ob du uns das Leben wirklich gerettet hättest. Du bist also wirklich überzeugt, daß sich außer uns kein Mensch hier befindet?«

»Ja, vollständig überzeugt.«

»Auch dort im Gefängnis Nummer fünf?«

»Auch dort.«

»So gehen wir aber dennoch hin, um es wenigstens einmal anzusehen.«

Wir taten es. Der Aufseher folgte uns mit seinen Kamelen. Das Tor war verschlossen; wir konnten nicht hinein. Da kletterte Halef über die Mauer und öffnete von innen. Wir gingen hinein. Der Aufseher mußte noch draußen bleiben. Er brauchte unsere Heimlichkeiten nicht zu erfahren. Die Gebäude standen leer. Sie hatten für uns kein Interesse. Unsere Aufmerksamkeit war nur auf den beweglichen Boden gerichtet, der zwischen den beiden Toren lag. Er bestand aus Holzbohlen, die mit Erde bedeckt und dann mit Sand bestreut waren. Im Hof gab es rechts und links vom Innentor zwei Räder mit den aufgewundenen Enden der Bewegungsseile. Drehte man das eine Rad, so senkte sich der Boden; drehte man das andere, so kam er wieder empor. Das war die ganze Kunst, deren Opfer wir hatten werden sollen. Wir zerschnitten beide Seile, ließen die Innenteile nach unten laufen, so daß sie verschwanden, und gruben die Enden in einen Erdhaufen ein, der in einer Ecke des Hofes lag. Nun blieb das Geheimnis denen, die es nicht kannten, auch ferner verborgen, und die Eingeweihten konnten es nicht mehr in Anwendung bringen. Hierauf riefen wir den treuen Aufseher herein. Er bekam für die jetzige Zeit seine Wohnung hier angewiesen und hatte sich unausgesetzt für uns bereitzuhalten. Für später war ihm eine lohnende Anstellung gewiß.

Weil es der Plan des Panthers war, die Ussul und die Tschoban nach der Stadt der Toten zu treiben, stand uns, falls diese seine Absicht sich verwirklichte, ein Wiedersehen mit diesen unsern Freunden auf das baldigste bevor. Wo und wie sie aber unterbringen, das war die Frage, die wir uns vorzulegen hatten. Platz war in der großen, weit ausgedehnten Stadt mehr als genug vorhanden, aber es galt, sie mehr zusammenzuhalten, als zu zerstreuen, und da dachte ich, daß die Zitadelle sich wohl am allerbesten hierzu eigne. Der Mir war bereit, uns sofort hinaufzuführen. Er versicherte uns, daß er dort einen jeden Winkel kenne, und daß wir ihm für dieses Mal Glauben schenken dürften, weil er sich da ganz gewiß nicht irre. Wir nahmen sein Anerbieten an.

Indem wir durch viele vollständig tote Gassen und Gäßchen hinaufstiegen, betrachtete ich alles, was sich meinen Augen bot, von dem Gesichtspunkt aus, der alle örtlichen und überhaupt alle hiesigen Verhältnisse mit dem einstigen Maha-Lama-See in Beziehung brachte. Der obere Teil der Zitadelle lehnte sich an den festgeschlossenen Felsen- oder vielmehr Bergesring, dessen Inneres der See gebildet hatte. Daß die Felsen und Berge ausgehöhlt worden waren, um alle die Räume zu bilden, die wir nun kannten, hatten wir gesehen. Diese Räume konnten von den am höchsten liegenden Räumen der Zitadelle nur durch Natur- oder künstliche Wände getrennt sein, die keine allzu große Stärke besaßen, und so lag der Gedanke ziemlich nahe, daß höchstwahrscheinlich irgend eine heimliche Verbindung zwischen dem Gebäudekomplex des Maha-Lama-Sees und der Zitadelle vorhanden sei. Dieser Gedanke war es, der mich nicht verließ, während wir aufwärts stiegen, durch das hohe, weite, flügellose Tor der Zitadelle schritten und uns dann vom Mir durch alle Räume derselben, die er kannte, führen ließen.

Es kann nicht meine Absicht sein, die Festung zu beschreiben, so interessant dies auch wäre. Es genügt, zu sagen, daß sie für das, wozu wir sie unter Umständen brauchten, sich ganz vortrefflich eignete. Aber eine kleine Episode, die mir großen, heimlichen Spaß bereitete, will ich doch nicht übergehen. Sie ereignete sich, als wir uns in demjenigen Teil der Zitadelle befanden, dessen Räume höchstwahrscheinlich die Wohnung des obersten Befehlshabers gebildet hatten. In einem dieser schöngelegenen und hochgebauten Zimmer sah ich etwas, was meine Aufmerksamkeit sofort auf sich zog, obgleich ich nichts davon sagte. Es gab da nämlich in der dem Fenster gegenüberliegenden, aus großen Quadern gebildeten Wand genau so eine Sonne, wie ich von der Tür des sogenannten Portier- oder Verwaltungsraumes beschrieben habe. Ich war sofort überzeugt, daß hier die vermutete Verbindung mit dem Maha-Lama-See gefunden sei.

Von den Fenstern dieser Wohnung aus hatte man einen überaus weiten Blick auf diese Seite der Stadt und ihre Umgebung. Sie lag im vollen Sonnenglanz unter uns. Am hellsten aber glänzten die vielen, vielen Stellen des Flusses, an denen das Wasser zutage getreten war. Erst von hier oben aus erkannte man, wie zahlreich und wie bedeutend diese Lachen waren, welche nicht etwa totstehendes, sondern lebendiges Wasser hatten. Wir standen alle beieinander, schauten hinab und freuten uns über diesen Anblick.

»Wenn das so bliebe!« sagte der Erstgeborene der Tschoban. »Dann wäre die Wüste der Kultur zurückgewonnen.«

»Es bleibt!« behauptete der Dschirbani in einem so sichern Ton, als ob er es sei, der zu bestimmen habe. Die Augen des Mirs aber waren groß geworden, sie schimmerten feucht.

»Weißt du, Effendi, was du vorhin sagtest. Unten am Ende des Kanals?« fragte er mich.

»Welches Wort meinst du?« antwortete ich.

»Du sagtest: ›In allem, was geschieht, liegt göttliche Berechnung. Vielleicht erfahren wir eher, als wir ahnen, warum dieses Wasser gerade uns und gerade jetzt gesendet wird!‹ Nur kurze Zeit ist vergangen, seitdem du das sagtest, und schon geht es in Erfüllung. Dieses Wasser ist gekommen, um das Heer der Ussul und Tschoban zu retten, welches rettungslos verloren wäre, wenn es nichts zu trinken fände. Die Wege der Vorsehung sind wunderbar! Hattest du keine Angst um deine Truppen, als du den Zisternenwächter sprechen hörtest?«

Diese Frage war an den Dschirbani gerichtet. Er antwortete:

»Nein. Der Scheich der Tschoban ist bei meinem Heer, und in meiner Abwesenheit führt mein vorsichtiger, tapferer Irahd, der Hauptmann der Hukara, den Oberbefehl. Der läßt sich nicht überlisten.«

»Wirklich nicht? Hast du dich nicht auch überlisten lassen?«

»Nein.«

»O doch! Verzeih! Hat dich der Panther nicht verleitet, hierher zu gehen?«

Da griff der Dschirbani unter sein Gewand, zog ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche und antwortete lächelnd:

»Ich habe bisher geschwiegen, weil es mir heilig und teuer war; nun aber soll wenigstens der Sahib es sehen, damit nicht auch er mich für unvorsichtig halte. Ich bekam dieses Papier durch einen Boten, den ich nicht kannte und der sofort wieder verschwand; aber ich kenne die Schrift und das geheime Zeichen des letzten Wortes. Was ich getan habe, habe ich infolge dieser Zeilen getan, aus keinem andern Grund. Die Folge wird zeigen, daß ich es verantworten kann.«

Er faltete das Papier auseinander und reichte es mir. Ich las:

»Ich grüße dich zum ersten Male mit dieser meiner eigenen Hand und Schrift. Der Panther wird dich überlisten wollen, nach der Stadt der Toten zu gehen; laß dich nach dort entführen! Der Panther wird dann, wenn du fort bist, dein Heer nach der Stadt der Toten drängen lassen wollen. Gib deinem Irahd Befehl, sich drängen zu lassen, doch nicht durch die Wüste, sondern den Fluß hinauf. Er wird Wasser finden, den Feind aber fern davon und in Durst zu halten wissen. Dein – Vater.«

Ich legte das Papier wieder zusammen, gab es ihm zurück und richtete das, was ich sagte, nicht nur an den Mir, sondern auch an alle andern:

»Ich erkläre hiermit, daß unser Freund, der Dschirbani, nicht unvorsichtig, sondern klug, sehr klug gehandelt hat. Es steht uns, wie ich das sehe, höchst Wichtiges bevor. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Ussul und Tschoban noch heut kommen. Ich schlage vor, ihnen wenn auch nicht entgegenzureiten, so doch wenigstens den Fluß entlang zu rekognoszieren, und zwar sogleich.«

»Du meinst, daß wir unsere Pferde holen?« fragte der Mir.

»Ja.«

»So müssen wir wieder hinunter zum Fluß und durch den Kanal zurück.«

»Nein.«

»Wohin sonst?«

»Einen viel kürzeren und viel bequemeren Weg, den du uns führen wirst.«

»Ich? Ich weiß keinen!«

»Keinen? Und doch sagtest du vorhin, daß du hier jeden Winkel kennst!«

»Hier? Von hier aus gibt es einen Weg?«

»Ja. Sogar von diesem Zimmer aus.«

»Du sprichst im Rätsel!«

»Ich werde dieses Rätsel sofort lösen, obgleich ich zum ersten Male im Leben an diesem Ort bin. Kommt!«

Indem ich auf den erwähnten Stein zuging, folgten mir die andern. Gleich die erste Berührung der Sonne zeigte mir, daß sie auch von Metall war und bewegt werden konnte. Ich drehte sie von links nach rechts. Man hörte im Innern der Mauer ein leises, kurzes Schnappen; dann wich der Quader zurück, und die Türöffnung wurde frei. Der Raum, der nun vor uns lag, war fensterlos und also dunkel. Jetzt aber fiel das Licht von außen hinein, und da sahen wir, daß er schmal und auch nicht tief war. Er bildete einen sehr kurzen Gang oder Korridor, an dessen Ende sich wieder eine Steintür befand, in welcher, wie wir zu unserer Befriedigung bemerkten, der Schlüssel steckte. Ich drehte ihn herum. Auch dieser Stein wich zurück, aber nach der Seite, auf der wir uns befanden, so daß wir also schnell zurückspringen mußten, um nicht umgestoßen zu werden. Als die Passage frei war und wir vorwärts gingen, kamen wir in einen durch schmale, schießschartenähnliche Fenster erleuchteten Raum, den wir an seiner ganz besonderen Einrichtung und Ausstattung sofort erkannten, weil wir ihn schon alle gesehen hatten. Es war nämlich der große Krankensaal im Maha-Lama-Gebäude. Wir brauchten also nur durch dessen vordere Türe, die wir ja kannten, hinauszugehen, so befanden wir uns auf unserer Säulenrotunde und hatten dann nur wenige Schritte zu tun, um zu unsern Pferden zu kommen.

Das war die Episode, die ich erzählen wollte. Halef machte sofort Miene, sie zu einer langen, begeisterten Rede über seine und meine große Klugheit und Findigkeit auszubeuten, ich winkte ihm aber ab, ließ die Gefährten vorantreten und schloß hinter uns dann beide Türen, ebenso auch nachher, als wir auf den Säulengang hinaustraten, die Außentür des Krankensaales.

Die beiden Prinzen der Ussul wunderten sich nicht wenig, uns von dieser Seite kommen zu sehen, nicht aber von der andern, nach der wir hinausgegangen waren. Sie wurden von allem, was wir gesehen und erfahren hatten, unterrichtet; dann sattelten und bestiegen wir unsere Pferde und ritten durch die hintere, westliche Tür, welche wir gestern entdeckt hatten, in das Freie hinaus. Den Schlüssel zu ihr steckte ich zu mir.

Ich habe bereits gesagt, daß es hier eine Schutthalde gab, die wir hinunterreiten mußten. Dann machten wir einen Bogen um die Zitadelle herum und hielten auf den südlichen Stadtteil zu, um in dieser Richtung dem Lauf des Flusses zu folgen. Hierbei sagte der Mir, mit dem ich voranritt:

»Wundere dich nicht über mich, wenn ich so still bin, Effendi! Es ist eine schwere, sehr schwere Zeit für mich. Ich werde von dem hohen Punkt, auf dem ich nach meiner Meinung stand, immer tiefer heruntergedrängt und habe Lehre auf Lehre hinzunehmen, um immer mehr einzusehen, daß ...«

»... daß du nicht abwärts, sondern aufwärts steigst«, unterbrach ich ihn. »Daß ich wieder einmal eine Tür entdeckte, welche du nicht kanntest, darf dich nicht bedrücken.«

»O doch! Alles, was geschieht, geschieht nicht mehr durch mich, sondern durch andere. Ich fühle mich so unwissend, so unfähig, so überflüssig! Ich habe das Gefühl, daß sich jeder andere Mensch viel, viel besser zum Mir von Ardistan eignet als ich, und das macht mich ...«

»Gott sei Dank!« rief ich aus, ihn wieder unterbrechend.

»Wofür?« fragte er schnell.

»Dafür, daß du dich für unfähig hältst! Denn das ist für mich ein Beweis, daß du ganz im Gegenteil im höchsten Grade geeignet bist, in Wirklichkeit zu werden, was du bisher nur scheinbar gewesen bist. Gott rüttelt an dir. Halte aus! Deine bisherige Stärke war Schwäche, aber deine jetzige, vermeintliche Schwäche wird dir zur Stärke und zum Ruhm werden. Denke ja nicht, daß du alles selbst wissen, selbst können und selbst tun mußt! Herrschen heißt lenken, nicht aber alles selber machen. Laß vor allen Dingen auch den Herrgott für dich denken, sorgen und arbeiten! Er tut es gern!«

Da lächelte er mich dankbar an und rief aus:

»Effendi, das ist wieder einmal so deine eigene Art; ich wollte, es wäre auch die meine!«

»Sie wird es! Glaube das!«

»Aber schwer! Bei mir häuft sich eine Last immer auf die andere. Denke an mein Weib und an meine Kinder! Sie waren mir gleichgültig, fast innerlich fremd. Euer Weihnacht hat mich mit ihnen vereinigt, und diese Vereinigung ist von Tag zu Tag immer fester geworden. Jetzt liebe ich sie, innig, innig, innig! Und da muß es nun geschehen, daß sie sich vollständig schutzlos in Ard befinden und dieser Bestie, dem Panther, vollständig preisgegeben sind!«

»Schutzlos? Preisgegeben?« fragte ich. »Hättest du meinen Glauben und mein Vertrauen, so würdest du das nicht sagen! Hast du denn lauter Feinde in Ard? Glaube mir: Die, welche du liebst, stehen in guter Hand! Du wirst es mir wiedersagen. Ich halte es sogar für möglich, daß du sie eher wiedersiehst, als du ahnst, viel, viel eher.«

»Du willst mich trösten, Effendi. Und es ist eigentümlich, daß gerade dein Vertrauen sich so häufig bewährt und deine Hoffnungen oft zur Verwunderung schnell in Erfüllung gehen! Heut muß ich noch aushalten, muß ich noch warten, denn um Mitternacht ist ja die Dschemma der Lebenden; morgen aber halte ich es nicht länger aus, wenn mir inzwischen nicht eine Nachricht kommt, die mich über Weib und Kind beruhigt! Doch schau, sind das nicht Menschen, da oben?«

Er deutete über die Stadt hinüber nach der Höhe, von welcher wir als Gefangene des Panthers herabgekommen waren. Dort bewegte sich etwas. Es war ein Zug von Reitern. Sie saßen zu Pferde und auch zu Kamel. Dieser Zug war noch nicht ganz zu sehen. Er kam langsam hinter einer Felsenkrümmung hervor. Wir blieben alle halten und schauten hinauf. Da erschien eine Sänfte, noch eine und noch eine, und hinterher eine Reihe von Packkamelen, denen weitere Reiter folgten. Die Entfernung von uns bis dort hinauf war bedeutend; dennoch konnten wir die Form der Sänften ganz deutlich erkennen. Auch sahen wir, daß die erste Sänfte mit wehenden Straußenfedern, die zweite mit rotgefärbten und die dritte mit blaugefärbten Yackhaaren geschmückt war. Da stieß der Mir einen Jubelschrei aus.

»Diese Sänften sind mein, sind unser!« rief er aus. »Sie kommen aus Ard! Mein Weib! Meine Kinder!«

Er gab dem Pferd die Sporen und jagte davon. Wir hinter ihm her. Nicht nach Süd, wohin wir gewollt hatten, sondern nach Ost, durch die Militärstadt, über die Brücke hinüber und dann durch die Zivilstadt der Höhe zu, von welcher die so außerordentlich schnelle Erfüllung meiner Worte herunterkam. Er blieb im Galopp; wir aber mäßigten nach und nach unsere Eile, um ihm Zeit zu der ersten Begrüßung zu lassen. An einem hierzu geeigneten Platz blieben wir halten und warteten.

Es dauerte einige Zeit, bis sie kamen. Er ritt strahlenden Angesichts dem ganzen Zug voran, vor sich den kleinen und hinter sich den größeren Jungen auf dem Pferd sitzend. Der erstere wurde vom Vater festgehalten, der letztere hatte ihm die Arme in den Gürtel gesteckt, um fest zu sitzen und ja nicht herabzufallen. Hinter diesem Bild des Glückes kamen zwei Personen, die wir sehr gut kannten, nämlich Abd el Fadl und Merhameh, beide zu Pferd reitend. Sie hielten an, um uns herzlich zu begrüßen. Da mußten auch alle übrigen halten. In der ersten Sänfte saß die Frau des Mirs, in der zweiten das Mädchenpaar. In der dritten hatten die Knaben gesessen; sie war jetzt leer. Als besonderer Beschützer der drei Sänften sahen wir den Schech el Beled von El Hadd mit seinen drei Begleitern. Wir erkannten sie an ihren enganliegenden Riemengewändern, welche den Eindruck von Ritterrüstungen machten. Ihre Gesichtszüge waren unsichtbar, weil durch Schleier tief verhüllt. Ich begrüßte sie alle durch Handschlag, der bieder und kräftig erwidert wurde. Die übrigen Leute waren treue Bedienstete des Mirs, die von der Herrscherin auserlesen worden waren, sie zu begleiten. Es war ein aufrichtig froher Kuß, mit dem ich beide Hände der Frau berührte. Ihre Augen standen voll Freudentränen. Sie hatte alle, alle andern Sorgen beiseite geschoben und nur um das Leben ihres Mannes, des Vaters ihrer Kinder, gebangt. Der Panther hatte mit voller Absicht die Kunde verbreiten lassen, daß der Mir gefangengenommen worden und nach der Stadt der Toten geschafft worden sei, um dort, wie viele seiner Opfer, elend zu verschmachten. Als sie das gehört hatte, war sie nicht mehr zu halten gewesen. Es war ihr als heiligste Pflicht erschienen, ihn entweder zu retten oder mit ihm in den Tod zu gehen. Sie hatte mit seinem Leibregiment, der Ussulgarde, zu ihm reiten wollen, war aber auf Zureden Abd el Fadls, des christlichen Oberpriesters und des Schech el Beled von El Hadd so vernünftig gewesen, auf diesen Plan zu verzichten und den Ritt, den sie um keinen Preis aufgeben wollte, in der Weise zu unternehmen, wie wir jetzt sahen. Das Leibregiment war daheimgeblieben, um das Schloß und den Dom auf das äußerste gegen die Besitzergreifung durch den Panther zu verteidigen. Der alte, gottvertrauende, ebenso mutige wie brave Basch Nasrani, jetzt Oberpriester von ganz Ardistan, hatte aus freien Stücken versprochen, ein wohlbewaffnetes Christenkorps zu bilden, um es gegen den Panther zu verwenden, sobald der Mir es befehle. Die Truppen des Aufrührers, welche die Wüste bewachten, damit niemand nach der Stadt der Toten könne, hatte man von weitem gesehen, und es war gelungen, des Nachts ganz unbemerkt ihre Linie zu durchbrechen. Hierbei hatte sich ganz besonders der Schech el Beled von El Hadd sehr brauchbar gezeigt. Die Herrscherin lobte ihn als einen außerordentlich klugen, umsichtigen und sogar kühnen Mann, der nicht nur jeder geistigen Anstrengung, sondern auch jeder Gefahr vollständig gewachsen sei. Als er gehört habe, was geschehen sei und daß sie nach der Stadt der Toten wolle, habe er sich ihr sofort als Begleiter und Beschützer angeboten und den berühmten »Schwur von Dschinnistan« getan, auf den man sich in jeder Tage, sogar in Not und Tod verlassen konnte.

»Den Schwur von Dschinnistan?« fragte ich. »Was ist das für ein Schwur?«

»Es ist der Schwur, das Angesicht zu verhüllen und nicht eher wieder sehen zu lassen, als bis das, was man geschworen hat, erreicht worden ist. Es gibt keinen einzigen Bewohner von El Hadd und Dschinnistan, der imstande wäre, diesen Schwur zu brechen.«

In dieser Weise hatte ich hiervon noch nicht gehört. Sehr wahrscheinlich hing das in irgendeiner Beziehung mit dem Brauch zusammen, daß jeder Bürger von Dschinnistan der heimliche Helfer, Behüter und Schutzengel eines Menschen ist, der die Hilfe wohl bemerkt, aber gar nicht ahnt, von wem sie kommt. – Hiermit waren die vorläufigen, kurzen Mitteilungen, welche die Beherrscherin gleich jetzt für nötig hielt, beendet, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung.

»Nun?« fragte ich den Mir, als ich mich zu ihm gesellte, um an seiner Seite mit voranzureiten.

»In Erfüllung gegangen! So schnell!« frohlockte er. »Effendi, Effendi, nun bin ich gerüstet für alles! Du hast recht, sehr recht: Gott hat nicht nötig, mit unsereinem zu kämpfen; ich komme ganz freiwillig; ich komme ganz von selbst!«

Im Weiterreiten trieb der Schech el Beled von Hadd sein Pferd etwas schneller nach vorn, zu uns heran, und meldete:

»Effendi, als wir da oben über die Höhe des Berges ritten, lag das Tal des Flusses bis weit nach Süd vor unsern Augen, und ich sah eine große Menge von Reitern, die am Ufer aufwärts kommen.«

Nach diesen Worten blieb er wieder zurück, das Weitere nun dem Herrscher und mir überlassend. Das war kurz und bescheiden. Der Mann imponierte mir.

»Das ist das Heer des Dschirbani«, meinte der Mir. »Sage es ihm! Wir wollten ja rekognoszieren. Reitet ihr diesen Leuten entgegen! Ich bringe die Meinigen inzwischen durch die Stadt und durch das hintere Tor nach dem Maha-Lama-Palast. Bitte, gib mir den Schlüssel! Den Ussul und Tschoban aber sagt, daß sie in der Zitadelle wohnen werden. Wasser, Proviant und alles, was sie brauchen, wird ihnen durch die Türen, die wir heut entdeckten, zugetragen. Den Schlüssel brauchst du, wenn ihr zurückgekehrt, nicht; ich lasse offen.«

Es geschah, wie er wünschte. Er ritt mit seiner Familie und allen ihren Begleitern der Brücke zu. Wir aber blieben auf dieser Seite des Flusses, also am linken Ufer, und folgten diesem Ufer, so lange wir uns noch in der Stadt befanden, im Schritt; als wir aber hinaus ins Freie kamen, fielen wir erst in Trab und dann in Galopp, um die, denen wir entgegenritten, so bald wie möglich zu erreichen.


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