Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Wirkung unserer Weihnachtsfeier war eine gewaltige. Wer da war, wollte nicht wieder fort. Die Menschheit, die in und um Ard lagerte, vermehrte sich von Tag zu Tag, anstatt sich zu verringern. Es kamen täglich neue Pilger, welche teilnehmen wollten, und das begeisterte den alten, lieben Basch Nasrani zu immer neuen Anstrengungen und Wiederholungen. Aus den erst geplanten drei Feiertagen wurden sieben, also eine ganze, volle Woche lang. Dann konnte er nicht mehr; er mußte sich Ruhe gönnen. Das Ansehen der früher so verachteten Christen war plötzlich derart gestiegen, daß man sie, was vorher niemandem eingefallen war, jetzt schon von weitem grüßte. Man sah ein, daß man sich über sie im unklaren befunden hatte, im unklaren über ihre Zahl und im unklaren über ihren Charakter. Niemand hatte geglaubt, daß es ihrer so sehr viele gebe. Das war eine direkte Folge ihrer Bedrückung. Sie hatten sich gescheut, öffentlich hervorzutreten. Nun aber, als sie erfuhren, daß das Wohlwollen des Mirs sich ihnen zugewendet hatte, strömten sie in hellen Haufen herbei und belebten die Stadt in der Weise, daß man glauben konnte, daß sie überhaupt nur christliche Einwohner habe. Und diese Scharen verhielten sich so bescheiden, so ruhig und wohlgesittet, daß der Herrscher versicherte, die öffentliche Ordnung sei noch nie so wenig gestört worden wie gerade jetzt, wo so eine Menge von Menschen sich in der Hauptstadt angehäuft habe. Er fügte hinzu: Wären die Straßen und Gassen in derselben Menge von Lamas und Mohammedanern belebt, so würde es nur unter dem Aufgebot der kräftigsten Mittel möglich sein, fortgesetzte Ausschreitungen zu verhüten.
Es war allerdings auffällig, wie wenigen Mohammedanern, Lama- und Andersgläubigen man begegnete. Sie waren nicht etwa verschwunden. Sie hatten sich ganz ebenso wie vorher am öffentlichen Verkehr zu beteiligen; aber sie taten das nicht mehr in ihrer früheren, altgewohnten Weise, sondern derart, daß sie sich weder durch ihre Kleidung noch durch ihr Benehmen von den Christen unterschieden. Sie waren ganz plötzlich außerordentlich vorsichtig geworden, und sie hatten ihre guten, triftigen Gründe dazu.
Der Mir hatte nämlich begonnen, unter seinen Gegnern leise, aber energisch aufzuräumen. Die Listen der Verschworenen konnten ihm dabei als sichere Wegweiser dienen. Der Basch Islami war, wie wir wissen, schon vorher verschwunden. Von dem Panther gewarnt, hatte er Zeit gefunden, zu entkommen. Nun verschwand jetzt auch der Maha-Lama von Ardistan mit seinen nächsten, besten, treuesten Anhängern und Freunden. Sein herausforderndes Verhalten am ersten Weihnachtstag konnte nicht der einzige Grund hiervon sein. Das Verschwinden auch seiner Anhänger mußte auf tieferliegende Ursachen zurückgeführt werden, zumal dann auch noch zahlreiche andere Beamte und Offiziere nicht mehr zu sehen, sondern abhanden gekommen waren, man wußte nicht, wohin. Das ging so einige Wochen lang weiter, ohne daß hierbei von einer Arretur oder einem andern Gewaltmittel etwas zu bemerken war. Die betreffenden Personen verschwanden auf die geheimnisvollste Weise, und es traten andere an ihre Stelle, ohne daß offiziell ein Wort hierüber verlautet wurde. Auffällig hierbei war, daß die Verschwundenen zu den Verschwörern gehörten, die an ihre Stelle getretenen aber treue Anhänger des Mirs waren. Auffallen konnte es natürlich nur denen, die hiervon wußten, die also selbst Verschwörer waren. Denen konnte auch nicht entgehen, daß dieses Verschwinden sich an eine ganz gewisse Reihenfolge hielt. Es betraf zunächst die ganz Hochangestellten, dann die hohen, hierauf die ihnen im Rang Nächstfolgenden. Es ging also abwärts, und zwar mit so untrüglicher Sicherheit, daß dem Eingeweihten angst und bange werden mußte, denn ein jeder von ihnen konnte hieraus ersehen, daß und wann die Reihe auch an ihn kommen werde. Da lag denn nun für sie alle der Gedanke nahe, sich ganz von selbst, noch ehe das Verhängnis nahte, also freiwillig, aus dem Staub zu machen, um diesem doppelt schrecklichen, weil unsichtbaren und unhörbaren Verderben zu entrinnen. Die Klugen unter ihnen folgten diesen Gedanken. Es kam eine Zeit, in der eine Menge von Menschen ihre guten, scheinbar ganz sicheren Stellungen und auch die Stadt verließen, ohne vorher anzugeben, warum sie es taten und wohin sie sich wendeten. Ich bemerkte das gar wohl, hütete mich aber, voreilige Fragen hierüber an den Mir zu richten. Es gab andere, für mich ebenso wichtige Dinge, die mich ganz in Anspruch nahmen. Daß ich damit das Studium des hochinteressanten Landes und seiner Bewohner meine, versteht sich ganz von selbst. Meine persönliche Aufgabe war, hier Land und Leute möglichst genau kennenzulernen. Ich begann, zunächst in der Stadt, hierauf in ihrer Umgebung und sodann auch im weiteren Land herumzustreifen, wobei Halef mich begleitete.
Diese Streifereien wurden uns sehr leichtgemacht. Wir waren durch das Weihnachtsfest der ganzen Bevölkerung bekannt geworden. Die Christen hatten uns gern. Sie gaben uns Auskunft. Sie unterstützten uns in jeder Weise. Und die anderen, die uns höchstwahrscheinlich haßten, sie wagten nicht, uns dies offen zu zeigen. Sie waren gezwungen, sich auch freundlich zu uns zu stellen und uns zu Diensten zu sein, obwohl wir alles, was von ihnen kam, mit Vorsicht zu betrachten hatten.
Dadurch, daß ich die mir jetzt zur Verfügung stehende Zeit so ganz und gar für mich und meine persönlichen Aufgaben verwendete, vernachlässigte ich keineswegs die Zwecke, die uns nach der Hauptstadt von Ardistan geführt hatten. Sie waren als erfüllt zu betrachten, und zwar im vollsten Sinne des Wortes. Wir waren hierhergekommen, uns Aufklärung über die hiesigen Verhältnisse zu verschaffen, damit der Dschirbani aus dieser Kenntnis den größtmöglichen Nutzen ziehe. Wie gefährlich das für uns war, das hatten wir gar wohl gewußt, doch glücklicherweise war alles ganz anders geworden, als für uns möglich gewesen war, vorauszusehen. Der Mir hatte uns schnell liebgewonnen. Er fühlte sich uns zu Dank verpflichtet. Es lag ihm schon deshalb nicht viel daran, den Dschirbani als Feind betrachten zu müssen. Hierzu kamen die neuen Ereignisse im Innern des Reiches und seiner Stadt. Er hatte dem Mir von Dschinnistan den Krieg erklärt und seine Kerntruppen schon in Marsch gesetzt, da machte er die zwei niederschlagenden Entdeckungen, daß er vom Thron gestoßen werden solle und daß er sich auf die Anführer dieser seiner Truppen nicht verlassen könne. Seine Lage war äußerst gefährlich. Da versprach ich ihm die Hilfe des Dschirbani gegen die Empörer. Das bewies ihm, daß der Dschirbani ein edelmütiger Gegner sei und brachte ihn auf den Gedanken, die drohenden Feindseligkeiten zwischen sich und ihm einstweilen ruhen zu lassen. Er fragte mich, ob ich ihm nicht den Gefallen tun wolle, zurückzureiten, um mit dem Dschirbani über einen Waffenstillstand zu verhandeln. Dieser Waffenstillstand lag nicht nur überhaupt in unserem eigenen Interesse, sondern er mußte uns auch darum willkommen sein, weil er dem Dschirbani nach dem langen, anstrengenden Zug durch die Wüste die willkommene Zeit gewährte, sich zu erholen und seine Truppenkörper auszubauen und innerlich zu festigen. Ich war also gewiß, daß er einwilligen werde, wenn auch erst nach einem Weigern. Aber ich hatte keine Lust, diesen Ritt selbst zu unternehmen. Ich wollte Ardistan kennenlernen, nicht aber mich auf einer und derselben Straße immer hin und her bewegen. Darum machte ich es dem Mir plausibel, diese Aufgabe einem andern anzuvertrauen, und so schickte er denn einen seiner Offiziere, der durch einen von mir geschriebenen und von dem Mir bestätigten Brief legitimiert und dem Dschirbani empfohlen wurde.
So war die Lage der Sache, als der Mir heut am frühen Morgen, als ich kaum ausgeschlafen hatte, seinen Diener zu mir schickte und mich fragen ließ, ob ich bereits zu sprechen sei. Das war nichts Ungewöhnliches. Er gehörte ebensowenig zu den Langschläfern wie ich, und es kam nicht selten vor, daß er ebenso zeitig wie heute eine Frage oder etwas anderes für mich hatte. Ich ließ ihm also sagen, daß ich bereits aufgestanden sei und mich ihm zur Verfügung stelle. Da beorderte er mich nicht zu sich, sondern er kam zu mir. Das war ein sicheres Zeichen, daß der Gegenstand, der seine Gedanken beschäftigte, zur Eile trieb und ihn ganz in Anspruch nahm. Als er in mein Zimmer trat, war er gestiefelt und gespornt, nicht wie zu einem kurzen Spazierritt, sondern wie zu einem weiteren Ausflug, und sagte hastig, noch ehe er den Türvorhang hatte hinter sich fallen lassen:
»Er ist da! Er kam schon während der Nacht; hat mich aber nicht wecken lassen, trotz der großen Wichtigkeit der Sache!«
»Wer?« erkundigte ich mich.
»Der Bimbaschi«, antwortete er.
Bimbaschi heißt Major. In diesem Rang stand der Offizier, den er zu dem Dschirbani geschickt hatte. Das war zwar kein hoher Rang, aber er hatte grad diesen Mann gewählt, weil er ihn für treu, geschickt und umsichtig hielt.
»Er ist außerordentlich höflich aufgenommen worden und hat sehr guten Erfolg gehabt«, fuhr der Mir fort. »Der Dschirbani ist bereit, auf den Waffenstillstand einzugehen, und hat versichert, daß er mir keine schweren, sondern sogar sehr leicht zu erfüllende Bedingungen stellen werde.«
»Stellen werde?« erkundigte ich mich. »Also gestellt sind sie noch nicht? Er hat sie dir nicht geschickt durch den Bimbaschi?«
»Nein. Er ist der Meinung gewesen, daß seine Lage und meine Lage eine außerordentlich heikle sei. Unser Bündnis habe ganz unbedingt geheim zu bleiben. Dazu gehöre, daß auch die Verhandlungen heimlich zu führen seien. Nichts dürfe man dem Papier anvertrauen; es habe vielmehr alles nur mündlich zu geschehen; und zwar nicht etwa durch Unterhändler, sondern durch uns beide selbst. Da hat er vollständig recht; das sehe ich ein. Du doch wohl auch?«
Ja«, nickte ich. »Ich sehe dich zur Reise gekleidet. Hängt dies hiermit zusammen?«
»Allerdings. Er ist der Ansicht, daß wir uns einander entgegenreiten und uns auf halbem Weg treffen.«
»Welcher Weg ist gemeint?«
»Derselbe, der dich hierhergeführt hat. Du kennst ihn also. Auf der Mitte dieses Weges liegt eine alte, verfallene Moschee, mit einem Brunnen zwischen den Vorhofsmauern. Du wirst sie im Vorüberschreiten jedenfalls gesehen haben?«
»Wir haben sogar dort gelagert!«
»Dort soll die Zusammenkunft stattfinden. Das soll der Platz der Beratung sein. Gefällt er dir?«
»Er ist vorzüglich geeignet. Wurde dir dieser Wunsch des Dschirbani schriftlich oder mündlich gebracht?«
»Nur mündlich, natürlich nur mündlich. Denn, so treu und zuverlässig der Bimbaschi ist, ein Brief hätte doch verlorengehen und auf irgendeine andere Weise in falsche Hände geraten können. Ich halte es für ganz richtig, daß der Dschirbani mit solcher Vorsicht verfährt. Er meint, daß diese Vorsicht auch verbiete, den Ritt, der uns einander entgegenführt, in auffälliger Weise zu machen. Niemand soll ahnen, wer wir sind und was wir beabsichtigen. Darum sollen unsere Trupps so klein wie möglich sein, und folglich haben wir uns kein kriegerisches, sondern ein möglichst friedliches Aussehen zu geben. Der Dschirbani wird nur vier Begleiter haben und läßt mich bitten, dies ebenso zu halten. Er schlägt mir sogar vor, wen ich mitnehmen soll. Kannst du die Personen erraten, die er mir da nennt?«
»Nur zwei; jedenfalls Halef und ich.«
»Richtig! Er will euch unbedingt sehen. Und die beiden anderen?
»Ich bitte, sie mir zu nennen!«
»Es sind die beiden Prinzen der Ussul.«
»Das freut mich!«
»Mich auch. Ich habe sie unschuldig gequält und bin ihnen eine Entschädigung dafür schuldig. Sie kennen den Dschirbani. Sie stehen im gleichen Alter mit ihm. Ihre Mutter Taldscha ist immer seine Freundin und Beschützerin gewesen. Ich habe sie schon unterrichtet und aufgefordert, sich bereitzuhalten. Sie reiten außerordentlich gern mit und sind sehr froh darüber, ihren Jugendgenossen sehen zu dürfen.«
»Das glaube ich und gönne es ihnen vom Herzen. Wann reiten wir?«
»Am liebsten möchte ich sofort aufbrechen; aber da es mehrere Tage sind, die ich abwesend sein werde, so habe ich Vorbereitungen zu treffen, die mehrere Stunden in Anspruch nehmen. Doch hoffe ich, noch ehe es mittag wird, fertig zu sein. Hältst du es für richtig, daß wir nur fünf Personen sind?«
»Ja, der Dschirbani hat es gewünscht, und je zahlreicher wir erscheinen, desto mehr fallen wir auf.«
»Also nicht einige Diener mitnehmen?«
»Wenigstens für mich und Halef nicht. Wir sind gewöhnt, uns selbst zu bedienen. Die beiden Ussul werden wohl auch der Meinung sein, daß die Anwesenheit von Bediensteten uns nur belästigen und stören, ja, es vielleicht gar unmöglich machen würde, diese Sache geheimzuhalten. Was nun allerdings dich selbst betrifft, so gebe ich freilich zu, daß ...«
»Nichts hast du zuzugeben, nichts!« fiel er mir schnell in die Rede. »Bin ich etwa etwas anderes als ihr?«
»Ich denke doch!«
Da lächelte er:
»So, so! Gut, gut! So will ich wenigstens nichts anderes scheinen. Ich reite also inkognito, unerkannt oder wie man das sonstwie nennen mag. Also weg mit den Dienern! Wir nehmen keine mit! Aber zwei Packpferde werden wir uns gestatten, mit den nötigen Nahrungsmitteln und anderen Dingen, die ich für notwendig halte. Auch Führer brauchen wir nicht. Der Weg ist mir bekannt und dir und Halef auch. Ich hatte dem Oberst, der euch begleitete, den Befehl gegeben, nur die einsamsten Gegenden zu wählen. Wir haben allen Grund, das zu tun und uns also auf ganz genau denselben Pfaden zu halten. Die beiden Ussul haben für dieses Mal auf ihre schweren Riesenpferde zu verzichten. Ich gebe ihnen bessere und schnellere aus meinem Stall. Wir sind also vortrefflich beritten und werden, wenn meine Berechnung mich nicht täuscht, bis morgen abend an Ort und Stelle sein. Also macht euch fertig, und haltet euch bereit, daß ich euch holen lasse!«
»Betrifft die Verschwiegenheit, die wir zu beobachten haben, jedermann?«
»Ja. Oder gibt es Personen, denen auch du zu sagen hast, daß du dich auf einige Tage entfernst?«
»Ja.«
»Wer ist das?«
»Der Oberpriester und die beiden Sänger, Vater und Tochter.«
»Das erlaube ich. Du bist es ihnen schuldig. Sie sind deine Freunde! Wahre, ehrliche Freunde! Sie würden sich sehr um dich sorgen, wenn du dich entferntest, ohne sie davon zu benachrichtigen. Sage es ihnen! Aber ja keinem anderen mehr!«
Hierauf verließ er mich, und ich machte mich mit meinem Hadschi Halef bereit zu dem beabsichtigten Ritt, der noch viel interessanter werden sollte, als wir jetzt dachten.
Er wurde noch vor Mittag angetreten, doch einzeln, nicht vereint. Erst brach der Mir auf, allein. Dann ritten die beiden Ussul fort, in einer andern Richtung durch die Stadt. Sie nahmen die Packpferde mit. Dann folgten wir, auf einem noch andern Weg. Draußen vor der Stadt trafen wir wieder zusammen.
Ich kann über das, was unterwegs geschah, hinweggehen, denn es war nichts Wichtiges, und will nur konstatieren, daß sich die Vorhersage des Mirs, daß wir das Rendezvous bis zum nächsten Abend erreichen würden, als richtig erwies. Ganz selbstverständlich hatten wir unsere Hunde mit. Der Mir ritt einen köstlichen Schimmelhengst mit indischem Riemenzeug. Die beiden Ussul hatten zwei starke, dunkle Wallachen, die trotz ihrer Stärke gern galoppierten und auch ziemlich ausdauernd waren.
Die Ruine der Moschee, die ich als Stelldichein bezeichnet habe, lag in einer ebenen, vollständig freien, steppenartigen Gegend, die rundum bis an den Horizont zu überschauen war. Es gab hier nicht den geringsten Grund, etwa besonders vorsichtig zu sein. Und als wir die alten, halb eingefallenen Mauern prüfend umritten, ehe wir ihr Inneres betraten, geschah dies ganz ohne eigentliche Veranlassung, sondern nur deshalb, weil Halef und ich das so gewohnt waren. So weit das Auge reichte, war kein Mensch zu sehen, und auch das Gemäuer zeigte sich dann als leer. Es gab da weder den Stapfen noch gar die Fährte eines einzigen lebenden Wesens. Der Dschirbani war also noch nicht angekommen.
Wir stiegen ab, versorgten unsere Pferde und ließen uns an dem Brunnen nieder, der bereits erwähnt worden ist. Er hatte gutes Wasser. Während wir unser Abendessen verzehrten, wurde es Nacht. Wir brannten aber kein Feuer an, denn wir waren den ganzen Tag sehr scharf geritten und darum ermüdet; wir wollten schlafen. Und das taten wir denn auch in so ausgiebiger Weise, daß keiner von uns eher erwachte, als bis wir am Morgen durch Ben Rih geweckt wurden, der plötzlich aufgesprungen war und so laut und anhaltend wieherte, daß die Absicht, uns aufmerksam zu machen, unverkennbar war. Auch Syrr stand auf, blieb aber still. Die Hunde reckten die Hälse und lüpften die Ohren, sagten aber nichts.
»Sie kommen, Sihdi; sie kommen!« rief Halef, indem er sich schnell erhob. »Laßt uns hinauseilen, sie zu begrüßen!«
Indem er dies sagte, tat er es auch. Zugleich wieherte auch draußen ein Pferd, als Antwort auf das Wiehern unseres Ben Rih. Aber nicht nur dieses eine, sondern noch eines, ein drittes, viertes, sechstes, achtes. Das klang doch so, als ob wir es nicht mit einer Truppe von fünf Reitern, sondern mit einer größeren Schar zu tun hätten, die auf lauter Hengsten saß und uns bereits so nahe war, daß wir den Aufschlag der Hufe hörten. Sie brauste im Galopp heran. Halef schrie laut auf. Da folgten wir ihm schnell nach, hinaus vor das Gemäuer. Was sahen wir? Wohl tausend Mann, also ein ganzes Regiment regulärer Kavallerie, welche eben nach beiden Seiten abschwenkte, um die Ruine zu umzingeln.
»Was wollen die hier?« fragte der Mir, teils zornig, teils verwundert. »Ohne meinen Befehl! Ich werde ihnen zeigen, daß ...«
Er brach mitten im Satz ab. Weshalb, das sahen wir wohl. Nämlich eine Abteilung des Regiments, sagen wir, nach europäischem Begriff, eine Eskadron, schwenkte nicht mit ab, sondern kam grad auf uns zu, an ihrer Spitze die Offiziere, und diesen voran der Panther, der zweite Prinz der Tschoban.
»Zu den Waffen!« rief Halef. »Wir sind verraten! Man hat uns betrogen!«
Ja, zu den Waffen! Aber zu was für welchen? Er selbst hatte keine, ich auch nicht. Wir hatten jetzt nur unsere Messer. Der Säbel und die beiden Pistolen des Scheichs waren kostbar, aber weit mehr zur Zierde als zum ernstlichen Gebrauch. Die beiden Ussul hatten jeder einen Säbel und ein Gewehr; das letztere zur Jagd, nicht aber zur Verteidigung bestimmt. Was war das gegenüber tausend wohlbewaffneten Menschen, die den Mut besaßen, ihrem Kriegsherrn als Meuterer entgegenzutreten. Widerstand zu leisten wäre da Wahnsinn gewesen. Es galt vielmehr, sich zunächst scheinbar zu fügen, um später im geeigneten Augenblick zu tun, was möglich war. Ich raunte das dem Mir schnell zu, und er war vernünftig genug, einzusehen, daß wir jetzt nichts Besseres zu tun vermochten. Er sagte kein Wort. Er nickte mir nur zu, um mich seiner Zustimmung zu versichern; aber seine Augen glühten, seine Lippen preßten sich zusammen, und seine Hände ballten sich zu Fäusten; es kochte in ihm.
Jetzt war sie da, diese Eskadron. Der Panther hatte seine Leute genau instruiert. Sie sprangen von den Pferden, drängten auf uns zu und hatten augenscheinlich die Absicht, uns auseinanderzubringen. Da rief der Mir uns zu:
»Zusammenhalten! Die Messer heraus! Wer mich anrührt, den steche ich nieder!«
Messer hatten wir alle; wir gehorchten seinem Befehl. Da trat man von uns zurück. Ganz selbstverständlich hätten uns auch die Messer nichts genützt, wenn es ernst geworden wäre; aber an das Leben sollte es uns denn doch nicht gehen, und so begnügte man sich damit, uns beisammenzulassen und in das Innere der Ruine zurückzudrängen, wo bei den Pferden unsere Riesenhunde standen, mit hoch erhobenen Köpfen und funkelnden Augen, bereit, uns zu verteidigen. Es war nicht geraten, den Mut dieser edlen Tiere in Aktion zu setzen. Wir riefen ihnen also zu, sich niederzulegen, und sie gehorchten ohne Zögern.
Es hatte sich fast die ganze Schwadron mit hereingedrängt. Wir waren also nicht nur draußen, sondern auch hier im Innern der Ruine so dicht und so vollständig umzingelt, daß der Gedanke, schnell auf die Pferde zu springen und zu fliehen, ein Wahnsinn gewesen wäre. Der Mir sah keinen von ihnen allen an. Er setzte sich am Wasser nieder, das Messer in der Faust. Sofort nahmen die beiden Prinzen der Ussul rechts und links von ihm Platz, bereit, ihn, wenn es nötig werden sollte, zu verteidigen. Ich ließ mich mit Halef ihnen gegenüber nieder. Wer meinen kleinen Hadschi kennt, der weiß, daß er nicht der Mann war, sich durch den Überfall, wenn auch eines ganzen, vollen Regiments von Kavalleristen, einschüchtern zu lassen. Er tat, als ob kein einziger von ihnen allen vorhanden sei, griff nach den noch vom gestrigen Abend her im Gras hegenden Speisevorräten und sagte:
»Geschlafen haben wir, und zwar sehr gut! Jetzt frühstücken wir; dann reiten wir weiter!«
»Wohin?« fragte der Panther.
Er war, die Offiziere hinter sich, zu uns herangetreten. Halef tat, als ob er weder ihn gesehen noch seine Frage gehört habe. Er öffnete die Pakete und zerlegte das vorhandene Fleisch, um es an uns zu verteilen. Wir nahmen es und aßen. Der Mir allein machte eine Ausnahme; er wies es ab. Er war innerlich so erregt, daß er es nicht fertigbrachte, auch nur einen einzigen Bissen zu sich zu nehmen. Sein Gesicht war plötzlich ganz gelb geworden, schmutzig gelb. Es nahm von Augenblick zu Augenblick immer mehr und mehr jene abstoßende Häßlichkeit an, von der ich schon einmal gesprochen habe.
»Steht auf! Ich habe mit euch zu sprechen«, begann der Panther.
Wir rührten uns natürlich nicht.
»Steht auf! Ich befehle es!« wiederholte er.
Wir blieben sitzen. Da faßte er den Hadschi von hinten im Genick, um ihn emporzuzerren, und schrie ihn an:
»Hund, auf mit dir! Ich werde ...«
Er kam mit der beabsichtigten Drohung nur bis hierher, denn die vier Hunde waren aufgesprungen, hatten ihn gepackt und niedergerissen und fletschten ihm nun von allen Seiten die scharfen, glänzenden Zähne entgegen, so daß er einsehen mußte, daß er verloren sei, sobald er es wage, eine Bewegung der Gegenwehr zu machen. Zwei oder drei der Offiziere griffen schnell nach ihren Pistolen, um auf die Hunde zu schießen; da rief er ihnen schnell zu:
»Behüte Allah! Weg mit den Waffen, weg! Schießt nicht; sonst zerreißen sie mich!«
Da wendete sich Halef ihnen zu und sagte:
»Der Kerl ist gar nicht so dumm, wie ich dachte. Er weiß ganz genau, was er zu erwarten hat. Ihr braucht nur einen einzigen Gewehr- oder Pistolenlauf auf uns zu richten, so reißen sie ihm die Gurgel aus dem Hals, und auch mit dem Betreffenden ist es aus. Ihn kenne ich. Er ist der größte Schuft, den es auf Erden gibt. Wer aber seid denn ihr?«
Da donnerte ihn der von ihnen, der die meisten Tressen an seinem Rock trug, zornig an:
»Schweig! Er ist der neue Mir von Ardistan! Ich aber war bisher der Oberst dieses Regimentes, doch nun bin ich General!«
Da lachte Halef ihm mit seiner allergrößten Freundlichkeit in das Gesicht und antwortete:
»General bist du jetzt, General? Also ein ebenso großer Schurke wie er? Da gehörst du ja unbedingt an seine Seite! Hu! Hi!«
Indem Halef die Namen seiner beiden Hunde nannte, deutete er mit dem Finger erst auf den zum General beförderten Oberst und dann auf die Erde nieder, wohin er diesen haben wollte. Die Ausführung dieses Befehles erfolgte ebenso schnell wie vollständig. Im nächsten Augenblicke lag der Offizier genau neben dem Panther, und keiner seiner Untergebenen wagte es, ihn etwa durch einen Befreiungsversuch in noch größere Gefahr zu bringen. Halef warnte sie:
»Setzt euch jetzt ruhig nieder, und wartet, bis wir gegessen haben! Wir sind nicht gewöhnt, uns beim Frühstück stören zu lassen. Und merkt euch das: Jede drohende Bewegung von eurer Seite kostet sowohl dem neubackenen Mir als auch dem soeben ausgekrochenen General ganz unbedingt das Leben! Nach dem Essen werde ich mit ihnen reden und auch mit euch! Doch eher nicht!«
Sie sahen einander an. So etwas war ihnen noch nicht vorgekommen! Tausend Mann gegen fünf, und dennoch eine solche Furchtlosigkeit, zumal von einem so kleinen Kerl, das hatten sie nicht für möglich gehalten! Sie berieten leise. Aber den beiden, die es betraf, war angst und bange vor den gewaltigen Gebissen, die sie so nahe vor ihren Augen hatten. Der General befahl:
»Setzt euch und wartet!«
Er wagte bei diesen vier Worten kaum, die Lippen zu bewegen. Und der Panther, der doch gewiß kein Feigling war, fügte kurz und ängstlich hinzu:
»Tut den Bestien nichts! Ich befehle es!«
Da knurrte einer von ihnen:
»Die hätten wir gleich erst erschießen sollen, als wir kamen. Nun aber ist's zu spät!«
Sie suchten sich eine passende Stelle, um sich niederzusetzen und das Kommende abzuwarten. Ihre Truppe tat dasselbe. Da beruhigte sich der Mir und hörte auf meine Vorstellungen, daß er unbedingt auch mitessen müsse, um den Anstrengungen gerecht zu werden, die uns höchstwahrscheinlich nun erwarteten. Wir nahmen uns Zeit und aßen so behaglich, als ob wir uns daheim im Schloß von Ard befänden. Dabei besprachen wir unsere gegenwärtige Lage, um uns über sie klarzuwerden. Das taten wir natürlich mit gesenkten Stimmen, um nicht vom Panther und seinem General gehört zu werden.
Es verstand sich ganz von selbst, daß wir hierhergelockt worden waren, um gefangengenommen und irgendwohin geschafft zu werden, wo wir unschädlich waren. Welcher Ort das aber war, das ahnten wir nicht, glaubten jedoch, daß es die Stadt der Toten sein werde, die sich weit besser als jede andere Stelle dazu eignete. Der Mir äußerte sich hierüber:
»Falls der Panther dies beabsichtigt, können wir uns ohne alle Angst in dieses Schicksal ergeben. Ich kenne die Stadt der Toten. Nicht nur die offiziellen Verbannungshäuser und Gefängnisse, sondern ihre ganze, weit ausgedehnte Örtlichkeit. Ich habe sie und ihre Umgebung als Knabe in Gegenwart meiner Diener und Führer durchstöbert, denn sie ist der interessanteste Ort im ganzen Ardistan und steckt so voller Sagen, Märchen und ähnlichen Dingen, daß ich nicht eher ruhte, als bis mein Vater mir die Erlaubnis gab, sie unter sicherer Begleitung zu durchforschen. Ihr beide kennt sie ja auch, wenigstens den Teil von ihr, den ich euch zum Aufenthalt angewiesen hatte!«
Die letzten Worte waren an die Prinzen der Ussul gerichtet. Sie nickten bejahend, und er fuhr fort:
»Die Gefängnisse und Verbannungshäuser sind mit gewissen Geheimnissen gebaut, die es ganz unmöglich machen, einen Menschen, der sie kennt, dort festzuhalten. Es versteht sich ganz von selbst, daß es nur einen gibt, der sie am besten kennt, und der bin natürlich ich, der Herrscher. Falls sie uns dorthin schaffen, ist es weiter nichts als ein Spaß für mich, zu entkommen, sobald ich nur will. Uns hier an dieser Stelle zu wehren, ist unmöglich. Wir würden gleich beim ersten Versuch von ihnen erdrückt. Auch die Gefangennahme des Panthers und seines Mitverschworenen kann uns nicht retten. Der Augenblick, wo man die Hunde erschießt, würde unvermeidlich kommen, und dann sind die beiden frei; wir können sie nicht halten.«
»So ist es also deine Meinung, daß wir uns ruhig darein ergeben sollen, falls sie beabsichtigen, uns nach der Stadt der Toten zu schaffen?« fragte ich.
»Ja«, antwortete er. »Ich hoffe doch, daß wir es erfahren werden!«
»Vielleicht auch nicht!«
»Überlaßt mir das!« bat Halef. »Es widerspricht ja schon überhaupt eurer Würde, mit solchen Empörern und Banditen zu sprechen. Mir aber macht es ein Vergnügen, ihnen ihr Geheimnis zu entlocken, falls sie nicht so vernünftig sind, es uns freiwillig mitzuteilen. Seid ihr einverstanden?«
Er hatte recht. Und da er sich schon vorhin so gut benommen hatte, so wurde ihm vom Mir die Erlaubnis erteilt, das Wort für uns alle zu führen. Das versetzte ihn in jene wohlbekannte Stimmung, in der er uns so sehr zu gefallen pflegt, sich selbst aber am allermeisten. Er packte, als wir fertig waren, die übriggebliebenen Speisen zusammen, steckte sie in die hierfür bestimmte, neben uns liegende Satteltasche und wendete sich dann in seinem jovialsten Ton an den Panther:
»Jetzt haben wir gegessen und werden weiterreiten. Du fragtest vorhin, wohin? Du warst für meine Antwort noch nicht reif. Jetzt aber, nachdem du uns durch deine hoheitsvolle Situation bewiesen hast, daß du wirklich der neue Mir von Ardistan bist, sind wir dir Antwort schuldig. So höre denn: Wir reiten mit euch.«
»Mit uns?« fragte der Panther erstaunt.
»Ja, mit euch!«
»Wieso? Wie meinst du das? Aber rufe deine Hunde von uns weg! Es ist, als ob sie schon beißen wollen, wenn man nur die Lippe bewegt!«
»O nein! Die Lippe darfst du schon bewegen, doch weiter nichts; das merke dir! Ich bitte dich also, dir diese lieben, treuen Tiere noch ein Weilchen gefallen zu lassen! Dabei wiederhole ich dir, daß wir extra zu dem Zweck hierhergekommen sind, mit euch noch ein Stückchen weilerzureiten.«
»Wohin?«
»Wohin es euch gefällt! Wir haben gerade Zeit! Da du der neue Mir von Ardistan bist, so kann der alte Mir auf Ferien gehen, um sich von der Arbeit des Regierens einmal recht gründlich zu erholen. Und welcher Führung sollte er sich da lieber anvertrauen als derjenigen seines Nachfolgers, von dem alle Welt weiß, daß er sein treuester Freund und dankbarster Schüler ist. Also bitte, bestimme du, wohin wir reiten!«
Der Panther schabte sich die Lippe mit den Zähnen. Der Spott traf und empörte ihn. Er wußte ebensogut wie wir, daß wir uns zu fügen hatten, obgleich wir zunächst die Oberhand zu haben schienen. Es wurmte ihn gewaltig, daß wir uns nicht von diesem Bewußtsein niederschmettern ließen, sondern es mit Ironie zu behandeln wagten. Schon in rein äußerlicher Beziehung war ihm der Überfall nicht so geglückt, wie er gedacht hatte. Er war überzeugt gewesen, daß uns gleich der erste Augenblick in seine Hände liefern werde; statt dessen war er selbst in die unseren gefallen und mußte an Stelle der erwarteten Siegesfreude nun lachende Verachtung zu der Enttäuschung nehmen. Und hierbei war das Allerschlimmste, daß er aus Angst vor den Hunden nicht aufbegehren durfte, sondern seinen Grimm hinunterschlucken mußte. Man hörte es seiner Stimme an, aus welcher Hassestiefe sie heraufstieg, als er in unterdrücktem Ton antwortete:
»Ja, ich werde euch allerdings dorthin führen, wohin es mir gefällt und wohin euch der Dschirbani vorangegangen ist!«
Diese Mitteilung war unendlich wichtig für uns. Dennoch besaß Halef die Selbstbeherrschung, mit Gleichgültigkeit zu sagen:
»Der Dschirbani? Erfinde nichts so Blödes! Er hat im kleinsten Glied seines kleinen Fingers mehr Verstand als du in deinem ganzen hohlen, leeren Körper!«
»So höre!« pfauchte der Panther zornig. »Er hat sich sogar noch eher und noch leichter übertölpeln lassen als ihr! Er steckt schon seit einigen Tagen in der Stadt der Toten! Und zwar nicht allein, sondern auch der liebe, andere Sohn meines Vaters.«
»Der ältere Prinz der Tschoban?«
»Ja!«
»Dein eigener Bruder?«
»Ja!«
Dieses zweite Ja klang fast triumphierend.
»Den hast du auch betrogen und nach der Stadt der Toten gelockt?«
»Den ganz besonders! Den räudigen Hund, der mir meine vorher so treuen Tschoban abwendig machte! Ihr werdet sie beide sehen, ihr sollt sie sehen; ihr müßt sie sehen! Ihr müßt mit hin zu ihnen, und wenn ...«
»Müssen?« unterbrach ihn Halef lachend. »Wir müssen? Nein, wir wollen! Wir werden dich sogar zwingen, uns hin zu ihnen zu führen! Wir stellen dir jetzt unsere Bedingungen. Gehst du auf sie ein, so soll dir nichts geschehen; weigerst du dich aber, so zerreißen unsere Hunde nicht nur dich, sondern auch deinen siegreichen ›General‹!«
»Bedingungen? Ihr? Mir? Welche denn?« forschte der Tschoban.
»Ihr beide bleibt unsere Gefangenen. Sobald wir die Stadt der Toten erreichen, geben wir euch frei.«
»Weiter!«
»Wann brecht ihr von hier auf?«
»Augenblicklich. Wir wollten euch nur holen und dann sofort weiterreiten.«
»Schön! Also höre! Das Regiment reitet voran, vollständig, ohne Rest. Wir wollen niemand hinter uns haben, der plötzlich auf uns schießt. Wir folgen dann in einem kleinen Abstand. Du wirst an den Händen gebunden, und dein edler ›General‹ wird an den Händen gebunden. Du reitest zwischen mir und meinem Effendi, dahinter zwei Hunde. Der ›General‹ reitet zwischen den beiden Prinzen der Ussul, dahinter wieder zwei Hunde. Diese Hunde sind nicht nur auf den Fußgänger, sondern auch auf den Reiter dressiert. Sie springen auf das Pferd und töten ihn im Sattel. Denkt also ja nicht, daß es euch gelingen könnte, uns zu entkommen!«
»Ihr uns aber auch nicht! Sobald man beim Regiment sehen würde, daß ihr entfliehen wollt, kehrte man schnell um und ritte euch einfach nieder!«
»Wenn ihr das könnt, so sei es euch gern erlaubt! Deine Drohung klingt wie Bereitwilligkeit, auf unsere Bedingung einzugehen?«
»Noch lange nicht! Wir zählen über tausend. Es wäre Verrücktheit, uns euch gefangenzugeben!«
»Ihr habt gar nicht nötig, dies zu tun, denn ihr seid ja schon gefangen! Übrigens kennst du uns. Du weißt ganz genau, daß wir nicht scherzen und daß wir unbedingt unsere Drohung ausführen, wenn du nicht tust, was wir wollen.«
»Welche Drohung?«
»Höre sie: Wir geben dir nur zehn Minuten Zeit, dich zu entscheiden. Weist du unsern Vorschlag ab, so nehmen wir euch in unsere Mitte und verlassen diesen Ort. Vorher haben sich deine Reiter über Schußweite zurückzuziehen. Sobald auch nur ein einziger von ihnen diese Entfernung verringert, schießen wir euch mit euern eigenen Pistolen nieder! Überlege schnell!«
»Und wenn wir dein Begehren erfüllen, so reitet ihr ohne alle Weigerung mit nach der Stadt der Toten? Ist das wahr?«
»Ja.«
»Und gebt uns dort frei?«
»Ja.«
»Sofort?«
»Sofort! Ohne jede Weigerung oder Hinterlist!«
»Geht es nicht, ohne daß wir gebunden sind und zwischen euch reiten müssen?«
»Nein, absolut nicht.«
»Wir versprechen euch aber ...«
»Schweig!« unterbrach ihn der Hadschi. »Ich mag kein Versprechen von euch hören. Ihr seid Aufrührer, Verräter, Betrüger und Lügner. Kein Mensch glaubt euch! Sagt ja oder nein; macht schnell!«
Sie sprachen eine kurze Weile leise miteinander. Dann hörten wir den »General« ein wenig lauter sagen:
»Solche waghalsige, vermessene, vor Kühnheit tolle Menschen habe ich noch nie gesehen!«
Und hierauf teilte der Panther uns seine Entscheidung mit:
»Wir gehen auf euern Vorschlag ein, wenn ihr versprecht, zu halten, was du versprochen hast.«
»Ich verspreche es im Namen aller.«
»Daß ihr keinen Fluchtversuch macht?«
»Ja.«
»Uns nach unserer Ankunft sofort freigebt?«
»Ja.«
»Aber unsere Gefangenen bleibt und ohne Weigerung nach dem Gefängnis reitet, welches wir für euch bestimmen?«
»Ja«, antwortete Halef auch jetzt, nachdem er den Mir heimlich angeschaut und dieser ebenso heimlich genickt hatte.
»Ich verlange von jedem von euch den Schwur, dieses Versprechen zu halten!«
»Von jedem? Einen Schwur?« fuhr da Halef zornig auf. »Was fällt dir ein! Sag noch so ein Wort, und alles ist aus! Du wärst der Kerl, uns Schwüre abzuverlangen! Tausend Schwüre von dir sind soviel wie Millionen Lügen; ein einziges Wort von uns aber gilt soviel wie hundert Schwüre. Ich gab mein Wort für alle; das hat dir zu genügen, und wenn es dir nicht paßt, so führen wir euch jetzt fort! Die zehn Minuten sind vorüber! Wir verlassen jetzt die Ruine und reiten mit euch nach Ard zurück. Wollen doch sehen, ob eure tapfere Kavallerie uns zwingen wird, euch zu erschießen!«
Er stand auf und trat zu den beiden, um ihnen ihre Waffen abzunehmen. Da fiel der Panther schnell ein:
»Halt, warte doch! Ich begnüge mich mit deinem Wort!«
Der Hadschi nahm ihnen trotzdem unter aufmerksamer Assistenz der Hunde ihre Pistolen, Messer und Säbel ab, brachte sie zu uns her und sprach dann die Aufforderung aus:
»Ruft eure Offiziere herbei, aber ja nicht näher, als nur in Hörweite! Teilt ihnen mit, was beschlossen worden ist, und gebt ihnen den Befehl, es auf das genaueste auszuführen! Doch rührt euch dabei ja nicht von der Stelle! Die Hunde dulden das nicht, und eure Pistolen, die wir jetzt haben, sind, wie ich sah, geladen!«
Sie gehorchten. Ihre Offiziere durften auf fünfzehn Schritt herankommen, doch weiter nicht, und bekamen ganz genau gesagt, wie sie sich von jetzt an bis zur Stadt der Toten zu verhalten hatten. Sie waren außerordentlich enttäuscht. Einige murrten sogar so laut, daß man es hörte; aber die Rücksicht auf unsere beiden Gefangenen zwang sie doch, Gehorsam zu leisten. Sie entfernten sich, und die Leute der Schwadron folgten ihnen, so daß wir nun mit unseren beiden Gefangenen allein im Inneren der Ruine waren. Nur zwei von der Mannschaft kehrten zurück, um deren Pferde zu bringen, gingen aber sogleich wieder fort. Hierauf machten wir uns reisefertig, tränkten und sattelten die Pferde, fesselten dem Panther und seinem »General« die Hände, ließen sie ihre Pferde besteigen, banden die Zügel derselben mit den Zügeln der unserigen zusammen und schickten dann Halef, den Wackeren, hinaus, um nachzuschauen, wie es draußen stehe. Er meldete, daß unsere Forderungen genau erfüllt worden seien. Das Regiment hatte sich ein Stück von der Ruine entfernt und wartete dort, um weiterzureiten, sobald wir erscheinen würden. Als wir hinauskamen, setzte es sich, wie vorgeschrieben, sofort in Bewegung. Wir folgten ihnen genau so langsam oder so schnell, wie sie voranritten.
Um unsere Stimmung zu bezeichnen, darf ich sagen, daß wir uns als siegreiche Besiegte fühlten. Am muntersten war Halef. Er fragte, wie er seine Sache gemacht habe, und kassierte hierauf das allerdings sehr wohlverdiente Lob mit stolzem, selbstbewußtem Lächeln ein. Es war freilich nicht zu leugnen, daß keiner von uns es hätte besser machen können als er. Von unseren Gefangenen ist nur zu berichten, daß sie sich hüteten, uns anzusehen oder gar mit uns zu sprechen. Der Panther wollte seine verhaltene Wut an seinem Pferd auslassen. Er stieß ihm die Sporen in die Weichen, daß es vor Schmerz stöhnte. Da aber drohte ihm Halef:
»Wozu diese Grausamkeit? Mach das nicht wieder, sonst gewöhne ich es dir ab!«
Da hielt es der Tschoban doch für gut, sein Schweigen zu unterbrechen. Er fragte zornig:
»Was geht es dich an? Wem gehört das Pferd?«
»Ob mir oder dir, ist gleich! Ich dulde nicht, daß du zur Bestie wirst, die tiefer steht als dieses arme Tier!«
»Du duldest es nicht?« klang es höhnisch zurück » Wie willst du es anfangen, Kleiner?«
Bekanntlich konnte nichts den Hadschi so sehr in Zorn bringen, als wenn man von seiner Kleinheit sprach. Er flammte auch jetzt sofort und drohend auf:
»Wage den Versuch, so wirst du es gleich sehen!«
»Wirklich? Gleich? Laß also sehen!«
Er stieß seinem Pferd die Sporen in das Fleisch, daß es mit allen Vieren in die Luft ging. Wir ritten zu seiner rechten und linken Hand. Ich drängte Syrr schnell zur Seite, damit er nicht von den Hufen des mißhandelten Pferdes getroffen werde. Halef aber wich nicht zurück; er zog schnell sein Messer und stach dem Panther die Spitze desselben zwei-, dreimal über zolltief in den Oberschenkel.
»Du wagst zu stechen, Hund!« brüllte dieser auf.
»Das war für das Pferd!« antwortete Halef. Und das ist für den Hund!«
Er richtete sich in den Bügeln auf, holte aus und schlug dem Tierquäler eine so kräftige, laut schallende Ohrfeige in das Gesicht, daß der Getroffene ihn zunächst ganz fassungslos anstarrte, dann aber trotz seiner zusammengebundenen Hände sich zu ihm hinüberschnellen wollte, um sich zu rächen. Da aber faßte ich ihn am Arm, hielt ihn fest und sagte:
»Halt! Genug! Wenn deine Sporen das Pferd nur noch einmal berühren, dann menge ich mich drein! Wer nicht als Mensch, sondern als Vieh handelt, der wird als Vieh bestraft!«
Er blitzte mich mit tückischen Augen an und wollte etwas erwidern; das schnitt ich ihm aber durch den Befehl ab:
»Fertig! Kein Wort mehr!«
Er gehorchte; aber der Gedanke, schweigen zu müssen, arbeitete derart an ihm herum, daß eine Explosion vorauszusehen war. Sein Blick hing in einem fort an dem Schenkel, der an drei Stellen blutete. Er gab sich die größte Mühe, seinen Grimm zu beherrschen, aber vergeblich; er platzte nach einiger Zeit doch los:
»Ja, ich will still sein, still! Aber nur heut! Wartet nur bis morgen! Da werdet ihr vor Angst und Entsetzen brüllen, schreien und quaken wie die Frösche, ehe sie im Schnabel des Pelikans verschwinden!«
Wir antworteten nicht. Da dachte er, wir hätten das von ihm angewendete Bild nicht verstanden. Darum fragte er:
»Habt ihr es gehört? Der Pelikan bin ich! Die Frösche aber seid ihr, ihr, ihr!«
Halef lachte lustig auf:
»Sihdi, heißt Pelikan nicht Kropfgans?« erkundigte er sich.
»Ja«, antwortete ich.
»Also Kropfgänserich! Der Prinz der Tschoban ist Kropfgänserich! Er selbst behauptet es! Das genügt!«
Ich will keineswegs sagen, daß diese Ironie des kleinen Hadschi geistreich gewesen sei, o nein; aber sie war dem Bildungsstand des Panthers vollständig angepaßt, und Halef brachte sie in seiner ihm eigenen Weise derart vor, daß sie ihren Zweck nicht verfehlte. Der Verspottete war zum Schweigen gebracht. Er sah ein, daß es gefährlich sei, mit dem Hadschi anzubinden, ganz gleich, ob in dieser oder in einer andern Weise.
Sein Mitverschworener, der »General«, verhielt sich sehr ruhig und gefügig. Er belästigte die beiden Ussul, zwischen denen er ritt, nicht im geringsten. Ebenso still war auch der Mir, der es vorzog, hinter uns der allerletzte zu sein. Er gestand mir später, daß es ihm genau so vorgekommen sei, als ob er das, was geschah, nicht erlebe, sondern nur träume. Und ich gebe ja zu, daß die Situationen und Geschehnisse, in deren Mitte wir uns befanden, keine gewöhnlichen waren und den Irrtum zu träumen, sehr wohl vortäuschen konnten. Das Ungewöhnliche lag nicht darin, daß ein orientalischer Despot sich plötzlich und wie mit einem Schlag aller seiner Macht beraubt sah, denn das ist schon oft geschehen und wird sich wohl auch noch oft wiederholen, sondern die Nebenumstände, die sich an dieses Ereignis setzten wie die Nebensprossen eines treibenden Astes, sie waren es, welche den Eindruck des Seltsamen, des Phantastischen, des Wunderlichen und Verblüffenden hervorriefen. Das Unglaublichste war jedenfalls das Verhalten der beiden Hauptpersonen zueinander. Wenn an tausend Schriftsteller die Aufforderung ergangen wäre, die Verschwörung des Panthers gegen den Mir von Ardistan in Romankapitel zu fassen, so hätte wohl kein einziger von ihnen verfehlt, dieses erste, feindliche Zusammentreffen der beiden außerordentlich explosiven Charaktere so erregt und laut wie möglich vor sich gehen zu lassen. Und nun so ganz im Gegenteil hier diese eisige, vollständig sprachlose Stille! Es hatte keiner von ihnen auch nur ein einziges Wort an den anderen gerichtet! Gerade die Hauptsache wurde so vollständig in Schweigen gehüllt, als ob sie gar nicht existiere! Wie sonderbar, daß die beiden Parteien sich gegenseitig in die Hände gefallen waren! Wir waren die Gefangenen des Panthers und seines »Generals« und sie doch ebenso auch die unserigen! Wie würde sich das lösen?
Diese letztere Frage war es, die den Mir ganz besonders beschäftigte, obgleich er die Überzeugung hegte, daß ihre Beantwortung nicht etwa schwer, sondern sogar sehr leicht sein werde. Er glaubte wirklich, daß wir nach unserer Ankunft in der Stadt der Toten um so eher wieder frei sein würden, je williger wir uns in die Gefangenschaft fügten. Also nicht unsere Befreiung machte ihm Sorge, sondern seine Bangigkeit hatte einen ganz anderen Grund, und dieser Grund hieß – Wasser!
Während wir unterwegs waren, schwieg er hierüber, weil die Gefangenen nichts hören sollten. Aber als wir dann kurz nach Mittag lagerten, um die Pferde ausruhen zu lassen, sonderte er sich mit mir und Halef von ihnen ab, um uns das, was ihn bedenklich machte, mitzuteilen.
Ich muß vorher sagen, daß wir uns jetzt nicht mehr auf bebautem Böden bewegten. Es gab nur hier und da noch ein einsames, dürftiges Feld. Auch grasige Flächen wurden immer seltener. Wir hatten die Steppe erreicht, und grad der Teil von ihr, den wir durchqueren mußten, schien der unfruchtbarste von allen anderen zu sein. Nämlich von Ard bis an die Ruine war unser Weg genau von Nord nach Süd gegangen; jetzt aber führte er ebenso genau von Ost nach West. Unser Ziel, die Stadt der Toten, lag im Westen am ausgetrockneten Strom, dessen Wasser, wie die bekannte Sage erzählte, bergauf nach seinem Ursprung zurückgegangen war. Dort gab es jetzt nur noch Wüste, vollständig sterile Wüste, in der die längst ausgestorbenen, doch nicht zerfallenen Häuser der einstigen Hauptstadt lagen. In diese Wüste ging die Steppe über, in der wir uns jetzt befanden. Sie entblößte sich, je weiter wir kamen, immer mehr und mehr von Gras und Futterpflanzen und brachte schließlich nur noch jene kleinen, niedrigen und dürren Kräuter hervor, welche reich an ätherischen Ölen sind und darum nicht von den Pferden gefressen werden. Dieser Umstand brauchte uns allerdings, was nur uns betrifft, keine Sorge zu machen, denn wir hatten uns wohl vorgesehen. Wir hatten nicht nur Proviant für uns selbst mit, sondern auch einige Futterrationen für die Pferde. Und wer da weiß, daß sogar unsere Hunde, wenn wir unterwegs waren, in ihren aufgeschnallten Sattelschläuchen Wasser bei sich zu tragen pflegten, der wird es für ganz selbstverständlich halten, daß wir diese Schläuche heut früh in der Ruine von neuem gefüllt hatten und also mit Wasser wohl versehen waren. Also nicht um uns handelte es sich, wohl aber um die über tausend Menschen und über tausend Pferde, bei denen wir uns befanden. Woher sollte in dieser Gegend das nötige Wasser für sie alle kommen?
Diese Frage trat auch an mich um so näher heran, je weiter wir auf unserem Weg kamen. Als wir sahen, daß das vor uns reitende Regiment anhielt, um eine Ruhepause zu machen, und wir also auch anhalten mußten, gab es rundum keine Quelle, keinen Tümpel, keinen einzigen Tropfen Wasser. Mensch und Tier mußten also dürsten. Wir aber öffneten unsere Schläuche, nicht nur für uns, sondern auch für die Gefangenen. Die Hunde durften trinken, und sogar auch die Pferde bekamen so viel, daß es ausreichte, sie wenigstens zu erfrischen. Da bekamen ich und Halef einen Wink vom Mir, zu ihm zu kommen. Er hatte sich abseits gesetzt, von den Gefangenen entfernt, um nicht gezwungen zu sein, sich überhaupt mit ihnen zu befassen. Als wir uns bei ihm niedergelassen hatten, war meine erste Frage an ihn nach Wasser für unterwegs. Er antwortete:
»Das ist es, was ich mit dir zu besprechen habe. Nicht jetzt ist diese deine Frage für uns dringlich, sondern erst dann, wenn wir frei sind und uns auf den Heimweg machen wollen.«
»So gibt es in der Stadt der Toten wohl gar kein Wasser?« erkundigte ich mich.
»Keinen einzigen Tropfen!« erwiderte er.
»Aber das, was ich von dir und andern hörte, läßt vermuten, daß Leute dort wohnen, Verbannte, Gefangene und also wohl auch Beamte, welche Aufseherdienst verrichten. Alle diese Leute müssen doch Wasser haben.«
»Das ist richtig. Sie bekommen es auch, aber nicht von dort, sondern von weit her, wo es einen kleinen Brunnen gibt, der mehrere hundert Fuß tief ist und dessen Wasser man mühsam heraufleiert, um es in eine große, extra hierfür angelegte Zisterne laufen zu lassen. Aus dieser wird es in Schläuche geschöpft und per Kamel nach der Stadt der Toten transportiert.«
»Wie weit ist diese von dem Brunnen entfernt?«
»Die Kamele brauchen zwei volle Tage, um hinzukommen!«
»Hin und zurück also vier Tage?«
»Ja.«
Er sah mich dabei ganz eigenartig an, ich ihn aber auch, denn es drängte sich mir da ein Gedanke auf, der mir diesen Wassermangel in einem nicht nur häßlichen, sondern geradezu gräßlichen Licht erschienen ließ. Man brauchte ja nur, um mißliebige Verbannte oder Gefangene verschwinden zu lassen, für einige Tage kein Wasser nach der Stadt der Toten zu schicken. Der Mensch verdurstet weit schneller, als er verhungert. Ich aber war still hierüber und fragte weiter:
»So hätten wir uns an diesem Brunnen mit Wasser auf wenigstens vier Tage zu versehen, um auf dem Rückweg zu ihm nicht unterwegs zu verdursten?«
»So ist es!«
»Das ist schwer, sehr schwer! Wer soll das Wasser tragen, welches wir für so lange brauchen? Und selbst wenn diese Frage wegfiele, der Panther würde es doch vereiteln, daß wir dem Verdursten entgehen.«
»Du glaubst, er will unseren Tod?«
»Ich glaube es nicht nur, sondern ich bin überzeugt davon! Er führt uns dem offenbaren Tode entgegen.«
»Oder ich ihn! Warten wir es ab! So weit ist mein Vertrauen zu ihm denn doch nicht gegangen, daß ich ihm die Geheimnisse der Stadt der Toten verraten habe! Er kennt sie nicht und wird an ihnen zugrunde gehen! Was will er jetzt? Warum winkt er nach vorn?«
Der Panther war nämlich aufgestanden, daß man ihn beim Regiment sehen möge, und gab mit dem Arm das Zeichen, daß jemand kommen solle. Wir erfuhren, daß er nach dem Hekim – dem Arzt – des Regiments verlange, um sich die Löcher, die Halef ihm gestochen hatte, verbinden zu lassen. Der Mir hatte nichts dagegen, daß dieses geschah. Nachdem man ihm seinen Wunsch erfüllt hatte, war die Ruhezeit vorüber, und der Ritt wurde fortgesetzt, ganz selbstverständlich in derselben Weise wie vorher. Dabei geschah nichts, was ich als erwähnenswert bezeichnen könnte, und da ich auch von der Gegend, durch welche wir kamen, nur das eine zu sagen habe, daß sie immer öder und trauriger wurde, so will ich kurz sein und nur erwähnen, daß man es darauf abgesehen hatte, den Brunnen, von dem zwischen uns die Rede gewesen war, noch heute zu erreichen. Der Ritt, den das erforderte, war aber ein so langer und so angestrengter, daß wir unterwegs noch einige Male rasten mußten und erst nach Mitternacht am Ziel anlangten. Von der örtlichen Beschaffenheit des letzteren konnten wir nichts sehen, denn wir standen jetzt am Ausgang des Neumondes, und es war also dunkel.
Die Pferde der Kavalleristen waren so müde, daß sie es wohl keine Stunde länger ausgehalten hätten; die unserigen aber hatten die Anstrengung vortrefflich überstanden. Der Befehl zum Lagern wurde gegeben. Man bildete einen festgeschlossenen Kreis um uns, der so eng war, daß wir uns das verbitten mußten. Der Gedanke lag nahe, daß man sich während der Nacht ganz plötzlich auf uns werfen wolle, um unsere Gefangenen zu befreien. Wir drohten ihnen, sofort weiterzureiten und sie augenblicklich zu erstechen, falls man versuche, uns zu behindern. Das half. Die Soldaten zogen sich so weit von uns zurück, daß wir uns vor jeder Überrumpelung sicher fühlen konnten. Trotzdem fiel es uns aber nicht etwa ein, die gebotene Vorsicht außer acht zu lassen. Wir schliefen nicht alle zu gleicher Zeit, sondern abwechselnd, so daß immer einer von uns, der die anderen wecken konnte, wach und munter war.
Als der Tag zu grauen begann, sahen wir, daß wir uns am Fuß eines langgestreckten Hügelzuges befanden, der aus reinem, sehr hartem Felsen bestand. Dieser Felsen, welcher sich jedenfalls tief unter der Erde verlor, war die Ursache, daß sich hier trotz der allgemeinen Trockenheit eine Quelle hatte bilden können, wenn auch nur in so beträchtlicher Tiefe. Er strich von Ost nach West und hielt also alle Feuchtigkeit fest, die nur von Norden, wo die Berge lagen, heraufsickern konnte. Diesen Höhenzug abgerechnet, war die Gegend, so weit das Auge reichte, eine einzige ununterbrochene Ebene, in der es nicht die geringste Erhöhung oder Vertiefung, nicht die kleinste Bodenwelle gab. Sand, Sand, wohin man schaute; nur Sand, weiter nichts als Sand! Und zwar eine Art des Sandes, welcher sich wie feingemahlener Kieselstein anfühlt und von den arabischen Bewohnern der Wüste als Er Raml el hijavahn – Sand des Entsetzens – bezeichnet wird.
Die von gestern her noch sehr ermüdeten Truppen schliefen, als wir einander weckten, noch immer. Hiervon ausgenommen waren die Wachen und eine Abteilung von ungefähr zwanzig Mann, welche am Brunnen und an der Zisterne beschäftigt waren. Sie leierten ununterbrochen Wasser aus der Tiefe und füllten es auf Schläuche, die zu mehreren Hunderten da aufgestapelt lagen. Unweit davon waren getrocknete Früchte, verschiedene Arten von Dauergebäck und andere Nahrungsmittel aufgestapelt. Es gab sogar auch frisches Heisch von Tieren, welche jedenfalls erst gestern geschlachtet worden waren. Unsere Gefangennahme war also nicht plötzlich improvisiert, sondern von langer Hand her vorbereitet worden. Gewisse Spuren verrieten uns, daß sämtliche Pferde während der Nacht getränkt worden waren, nur unsere nicht. Für diese hatte unser eigenes Wasser gereicht. Nun dieses aber alle war, beschlossen wir, sie sogleich so ausgiebig wie möglich trinken zu lassen und auch die Schläuche wieder zu füllen. Jetzt ließ sich das mit Bequemlichkeit tun, und das Wasser floß noch klar und rein, während anzunehmen war, daß man es später, wenn sich alle die vielen Menschen herbeidrängten, sehr schnell verunreinigen werde.
Natürlich aber konnte es uns nicht einfallen, nach dem Brunnen zu gehen und den Panther und seinen »General« hier, wo wir uns befanden, liegenzulassen. Da wären sie ja sofort frei gewesen, und doch beruhte der einzige Vorteil, den wir besaßen, nur in dem Umstand, daß sie sich in unserer Gewalt befanden. Sie mußten also mit. Aber sie weigerten sich, aufzustehen.
»Was sollen wir? Wohin wollt ihr?« fragte der Prinz der Tschoban. »Wollt ihr uns etwa ausreißen? Glaubt ja nicht, daß euch das gelingt!«
»Ausreißen? Wir?« lachte Halef. »Vor wem denn? Etwa vor dir? Welch ein Blödsinn! Wenn jemand in den Verdacht kommen kann, ausreißen zu wollen, so seid nur ihr beide es. Denn außer euch gibt es hier keinen einzigen Menschen, der als Gefangener zu betrachten ist! Wir wollen uns waschen; wir wollen unsere und eure Pferde tränken, und wir wollen unsere leer gewordenen Schläuche wieder füllen!«
»Das ist unnütz!«
»Wieso?«
»Es wird Wasser für euch mitgenommen.«
»Von wem?«
»Von denen, die mich und euch begleiten.«
»Also vom ganzen Regiment?«
»Nein. Es reiten nur fünfzig Mann mit. Für mehr würde das Wasser nicht reichen.«
»Schön! Sie sind also diese Fünfzig, und wir sind das ›Mehr‹, für die es später nicht mehr reicht. Wir werden uns also jetzt versorgen müssen. Steht auf und kommt, sonst helfen wir nach!«
Er zog den »General« beim Kragen in die Höhe; da stand der Panther von selbst auf. Er hielt es doch unter seiner Würde, sich ebenso zwingen zu lassen.
»Schau, wie du kannst, wenn du willst!« lobte ihn der kleine Hadschi. »Je länger du bei uns bist, desto brauchbarer wirst du werden! Für welche Zeit ist denn unser Aufbruch nach der Stadt der Toten beschlossen!«
»Wenn die Fünfzig bereit sind, dann sofort! Du scheinst dich danach zu sehnen?«
Das sollte eine Ironie sein. Halef tat, als ob er sie nicht gehört habe, und antwortete:
»So müssen wir uns sputen, damit diese berühmten, hohen Herren ja nicht etwa auf uns zu warten haben. Also vorwärts, vorwärts mit dem neuen Mir von Ardistan!«
Er schob die beiden vor sich her, und wir folgten ihnen, indem wir ihre Pferde mit den unseren am Zügel führten. Niemand hinderte uns. Keiner trat uns entgegen. Die meisten schliefen noch, und alle die, welche wach waren, wußten, daß sie aus Rücksicht auf ihre Anführer sich aller Feindseligkeiten gegen uns zu enthalten hatten. Am Brunnen angekommen, mußten sie sich wieder niedersetzen und zusehen. Halef tränkte mit den beiden Ussul die Pferde. Der Mir stand still und stumm dabei, mit finsterem Blick das, was geschah, beobachtend. Er hatte die geladenen Pistolen seiner beiden Gegner im Gürtel stecken und seine eigenen dazu. Ich war überzeugt, daß er sie augenblicklich niederschießen werde, falls sie einen Versuch der Flucht oder der Gegenwehr wagten. Das gab mir die Möglichkeit, mich freier zu bewegen. Ich hatte nicht nötig, auf die Gefangenen aufzupassen, und ging zum Proviant, um ohne alles vorherige Fragen für uns auszuwählen, was ich für nötig hielt. Als der Panther das sah, öffnete er schon den Mund, um es mir zu verbieten; da aber fuhr ihn der kleine Hadschi gebieterisch an:
»Schweig! Behalte drin, was du im Maul hast! Denn etwas Gutes ist es keinesfalls!«
Da war er still. Ich aber füllte alle unsere Furagetaschen, bis nichts mehr hineinging, und sorgte dann in gleicher Weise auch für die Futtersäcke unserer Pferde. Wenn ich dabei zu dem Panther und zu seinem »General« hinüberschaute, sah ich in ihren Gesichtern einen höhnischen Zug, der mir deutlich sagte: »Mach, was du willst; versorge dich mit Vorräten, so viel du immer willst; es ist doch unnötig; Ihr seid trotzdem verloren, verloren auf alle Fälle!«
Als ich hiermit fertig war, ging ich in das Zisternenhaus. Ich hatte keinen besonderen Grund hierzu. Ich tat es nur, um mir sagen zu können, daß ich nichts versäumt habe, mich so genau wie möglich zu orientieren. Sein Inneres bestand aus den vier nackten, kahlen Wänden. Es war leer. Aber ein Mann befand sich da, ein einziger Mann, der an der Erde saß und mich hatte kommen sehen. Er war nicht Soldat. Als ich mich dem Haus näherte und dann zu ihm hintrat, verschlang er mich förmlich mit seinen weitaufgerissenen, ängstlich blickenden Augen. Indem er aufsprang, fragte er mich in dem hastigen, halblauten Ton eines Menschen, der etwas sagen will, was er aber doch nicht sagen darf:
»Wer bist du, Herr? Sag schnell, wer du bist?«
»Ich bin ein Fremder«, antwortete ich.
»Ein Fremder nur? Du bist nicht aus Ard?«
»Ich komme von dort, bin aber nicht dort geboren.«
»Bist du allein?«
»Nein!«
»Wer ist bei dir?«
»Wir sind fünf Personen. Die vier anderen sind Freunde von mir!«
»Ist ein hoher, sehr hoher Herr bei ihnen?« erkundigte er sich, indem er ganz nahe an mich herantrat und die Worte fast übereinanderstürzte.
»Ja.«
»Wer? Sag schnell, schnell, schnell!«
Ich zögerte, da fuhr er fort:
»Du kannst, du darfst es sagen! Du sollst es sagen! Ist es etwa der Mir? Der Mir von Ardistan?«
»Ja«, nickte ich.
»Gefangen?«
»Noch nicht ganz, aber doch beinahe.«
»Ist er es, der nach der Stadt der Toten gebracht werden soll?«
»Ja.«
»Und du mit?«
»Ja. Wir alle fünf. Wer bist du?«
»Ich bin der Brunnen- und Zisternenwächter. Der Mir ist mein Herrscher. Ich habe ihm treu gedient und bin ihm auch jetzt noch treu. Aber ich habe schwören müssen, nichts zu verraten. Der Mir soll sterben!«
»Ich vermute es!«
»Er soll verhungern und verdursten! Und nicht nur er allein, sondern auch alle die, welche bei ihm sind. Könnt ihr denn nicht fliehen?«
»Es wäre wohl möglich; aber wir wollen nicht.«
»Ihr wollt nicht? Das ist mir unfaßbar! Ihr wollt nicht! Wo doch der sichere Tod grad vor euch liegt!«
»Geziemt es dem Mir, vor diesen empörerischen Halunken und Verrätern auszureißen? Außerdem haben wir auch noch andere Gründe, uns nach der Stadt der Toten führen zu lassen!«
»So muß ich schweigen. Ich kann euch nicht retten, so gerne ich auch wollte. Aber ich habe dich gewarnt! Hast du eine Ahnung von dem, was euch dort erwartet?«
»Ich ahne verschiedenes. Aber sei es, was es sei, wir fürchten uns nicht!«
Er sah mir prüfend in das Gesicht, schüttelte den Kopf und sagte:
»Du scheinst sehr getrost zu sein, und ich errate, woher das wahrscheinlich kommt. Der Mir glaubt in die Geheimnisse der Stadt der Toten eingeweiht zu sein; aber er ist es nicht. Er kennt nur einige, aber nicht alle. Diese Geheimnisse sind Eigentum der Geistlichkeit, und zwar auch nur der allerhöchsten Personen unter ihr. Der Regierung wurde stets nur so viel von ihnen mitgeteilt, wie im Interesse dieser geistlichen Herrscher lag.«
»Welche Geistlichkeit meinst du?«
»Die mohammedanische und die lamaistische.«
»Nicht die christliche?«
»O nein, diese nicht! Sie ist ehrlich. Es gibt keine Verbrecher unter ihr. Sie hält sich stets von solchen entsetzlichen Dingen fern. Auch machte man niemals einen Versuch, sie einzuweihen. Sie wurde nicht geachtet. Sie war ja unterdrückt!«
»Du verteidigst sie so dringlich. Bist du etwa ein Christ?«
Er wurde verlegen.
»Du kannst es mir offen sagen«, fuhr ich fort. »Ich bin nämlich auch einer.«
»Du auch? Wie schade, jammerschade!«
»Warum schade?«
»Ich meine, jammerschade um dich! Nun tut es mir doppelt und zehnfach leid um dich! Ihr seid dem Tode geweiht. Glaube ja nicht, daß ihr entkommen könnt! Vollständig bekannt sind die Irrkammern und Irrwege der Totenstadt nur ganz wenigen. Der beste Kenner war der Maha-Lama von Dschunubistan, der jetzt Gefangener der Ussul zu sein scheint. Nach ihm sind wohl am besten eingeweiht der Maha-Lama von Ardistan und der Basch Islami. Der letztere war erst vor kurzem hier, begleitet von einer kleinen Schar von Eingeweihten. Sie ritten nach der Stadt der Toten und blieben mehrere Tag dort. Wenn das geschieht, so handelt es sich stets um die Vorbereitung für wichtige Gäste, die für immer verschwinden sollen. Jetzt stellt es sich nun heraus, daß ihr es seid, um die es sich dabei gehandelt hat!«
Was ich da erfuhr, war im höchsten Grade interessant. Also der alte Basch Islami war in die Geheimnisse der Totenstadt besser eingeweiht als selbst der Mir! Und da er glaubte, daß der Panther seine Tochter zur Frau nehmen und sie zur Herrscherin machen würde, hatte er ihm so viel, wie nötig war, davon verraten! Daher die Zuversicht, mit welcher der neue Mir von Ardistan davon sprach, daß wir verloren seien! Es gab noch einige sehr wichtige Fragen, die ich an den braven Wärter zu richten hatte, der aber deutete auf einen älteren Offizier, der sich dem Zisternenhaus mit schnellem Schritt näherte, und sagte:
»Wir werden unterbrochen. Dort kommt der bisherige Major, der nun Oberst geworden ist, weil der Oberst zum General aufstieg. Ich bitte dich um Gottes willen, vorsichtig zu sein. Hast du Zündhölzer, um Licht zu machen?«
»Ja.«
»Viel?«
»Allzuviel freilich nicht. Warum willst du das wissen?«
»Weil es wahrscheinlich zu eurer Rettung nötig ist. Ihr werdet sehr, sehr lange im Dunkeln sein. Sorge für Zündhölzer! Sorge für Licht! Ich sah dir zu, als du deine Taschen und deine Säcke packtest. Du nahmst nur von dem großen Haufen, der die Vorräte für die Mannschaften enthält, nicht aber von dem zugedeckten, kleinen, der für die Offiziere bestimmt ist. Dort ist wahrscheinlich auch alles zu finden, was man nötig hat, um Licht und Feuer zu machen ...«
Er hatte sehr schnell gesprochen, um fertig zu werden. Jetzt brach er ab, denn der Offizier hatte nur noch wenige Schritte zu tun, um uns zu erreichen.
»Ich danke dir!« raunte ich ihm noch eilig zu. »Ich werde dir das nicht vergessen und den Mir seinerzeit an dich erinnern!«
Nun war der »Oberst« da.
»Was hast du mit diesem Menschen zu reden?« fuhr er mich an.
Ich hätte ihm sehr gern ebenso grob geantwortet, sagte mir aber, daß ich dadurch dem treuen Wärter außerordentlich schaden würde, ohne selbst einen Nutzen davon zu haben. Darum antwortete ich im unbefangensten Ton:
»Ich fragte ihn nach der Tiefe des Brunnens und nach der Mechanik, mit der das Wasser emporgefördert wird. Er erklärte es mir.«
»Weißt du es nun?«
»Ja.«
»So bist du mit ihm fertig. Sei übrigens froh, daß du überhaupt Wasser hast, und bekümmere dich nicht auch noch darum, wie man es sich verschafft! Ich habe mit dem neuen Mir von Ardistan zu sprechen!«
»So frag den alten Mir, ob er es dir erlaubt!« riet ich ihm.
»Oho! Der ist abgesetzt! Der hat uns weder etwas zu erlauben noch etwas zu verbieten!«
»So versuche es, ob du es fertigbringst, ohne seine Genehmigung mit dem Verräter zu sprechen! Ich warne dich! Du bringst den, mit dem du reden willst, in Lebensgefahr!«
»Alle Teufel! Ist es denn wirklich euer Ernst?«
»Ja.«
»Ihr würdet ihn erstechen oder erschießen?«
»Unbedingt! Und nicht nur ihn und seinen Mitgefangenen, sondern auch dich selbst!«
Wir hatten das Zisternenhaus verlassen und schritten der Stelle zu, an der sich meine Gefährten befanden. Aber bei diesem meinen letzten Worten hielt er den Schritt inne und fragte:
»Auch mich?«
»Ja.«
»Wirklich, wirklich?«
»Ich gebe dir mein Wort darauf!«
Ich sagte das so ernst und bestimmt und zog dabei die Brauen so finster zusammen, daß er, einen viel weniger gebieterischen Ton annehmend, ausrief:
»Aber was soll man denn da tun?«
»Was dir beliebt! Euer Leben steht in unseren Händen. Wenn ihr es wegwerfen wollt, wir hindern euch nicht!«
»Aber es wäre doch euer eigener Tod! Unsere Truppen würden euch zerreißen!«
»Was sie tun würden, das laß getrost nur ihre und unsere Sache sein!«
»Aber meine Instruktion reicht nur bis hierher an diese Stelle, nicht aber weiter! Für das, was von jetzt an geschehen soll, habe ich mir neue Befehle zu holen!«
»Dagegen haben wir wohl nichts, vorausgesetzt, daß wir diese Befehle mithören!«
»Unmöglich! Sie sind natürlich nur für mich, nicht aber für euch!«
»So kehre getrost dorthin zurück, woher du gekommen bist! Zu verlangen, daß wir euch unter vier oder sechs Augen miteinander sprechen lassen, das ist entweder eine Frechheit oder eine Verrücktheit, die von uns zurückgewiesen wird! Und dort sehe ich noch andere Offiziere kommen. Sie scheinen die Absicht zu haben, sich dir hier zuzugesellen. Winke ihnen sofort ab! Wir dulden nicht, daß sie sich unseren Gefangenen nähern! Bleiben sie nicht augenblicklich stehen, so geschieht etwas, was du nicht verantworten kannst! Schau hin zum Mir! Siehst du, was er tut?«
Auch der Mir sah die Personen, welche augenscheinlich gewillt waren, zu uns zu kommen. Er zog zwei Pistolen aus dem Gürtel und richtete sie direkt auf den Panther und seinen »General«.
Da gab der »Oberst« schnell den von ihm verlangten Wink, der gehorsam befolgt wurde, und stieß die wenigen Worte hervor:
»Es ist eine Schande! Wir haben euch in unserer Gewalt und müssen doch tun, was euch, den Gefangenen, gefällt! Glaubt ihr etwa, daß wir euch das nicht heimzahlen werden?«
»Ja, das glauben wir allerdings!« lachte ich.
»So bin nun ich es, der von Verrücktheit sprechen kann, nicht aber mehr du! Soll denn das wirklich so fortgehen, daß ihr unsere zwei höchsten Vorgesetzten als Gefangene behandelt, nur um sie als Schild für euch zu benützen?«
»Ja; das soll allerdings so fortgehen«, nickte ich.
»Heut und morgen?«
»Heut und morgen, bis wir in der Stadt der Toten angekommen sind.«
»Und dann?«
»Dann geben wir sie frei.«
»Und haltet auch alles andere, was ihr versprochen habt?«
»Alles! Ich weiß, woran du denkst. Wir haben euch versprochen, uns nach Freigebung der beiden Aufrührer ohne allen Widerstand einsperren zu lassen, wohin es euch beliebt. Wir haben euch dieses unser Wort freiwillig gegeben; kein Mensch konnte uns dazu zwingen. Und genau so freiwillig werden wir es auch halten. Wollten wir es brechen, so würde das unserer Ehre solchen Menschen, wie ihr seid, gegenüber, nicht den geringsten Abbruch tun. Wir könnten, von unsern Gefangenen gedeckt, von hier fortreiten, ohne daß ihr im Stande wäret, uns daran zu hindern; aber wir pflegen selbst Schurken nicht um das Wort zu betrügen, welches wir ihnen einmal gegeben haben, und so ...«
»Schurke?« unterbrach er mich, indem sein Blick aufloderte. Er schlug an seinen Säbel und fuhr fort: »Eigentlich sollte ich dich sofort erstechen! Oder ich sollte auch dir einen Degen geben lassen, um mit dir zu kämpfen, bis einer von uns beiden tot zusammenbricht. Aber du bist in diesem Lande fremd und kennst die Gründe nicht, die unser Tun bestimmen. Der Mir war ein Tyrann, ja mehr als das, ein Schreckensherrscher, eine Zuchtrute, die jedem wehe tat, den er berührte. Es sind nicht Tausende, sondern aber Tausende, die unter den Streichen dieser Rute zugrunde gehen mußten. Unzählbar ist die Menge aller derer, deren Kraft er gebrochen, deren Frieden er zerstört, deren Glück er vernichtet und deren Elend er verschuldet hat! Es gibt keine Qual, die er nicht ersann, keine Marter, die er nicht erprobt, und keine Angst und Pein, die er nicht ...«
Ich halte hier in der Wiederholung seiner Rede inne, er aber tat dies nicht; er sprach weiter, immer weiter. Und während er dies tat, ergriff er mich beim Arm und zog mich weiter, bis hin zum Mir, um diesem alle die scharfen Punkte, die er vorzubringen hatte, direkt in das Gesicht zu schleudern. Er war ein Ehrenmann. Er sprach mit lauter Stimme, so daß es weithin schallte, wohl über zehn Minuten lang. Er schenkte dem Herrscher keinen einzigen Vorwurf, der gegen ihn zu erheben war, und stand aufrecht, stolz und still vor ihm und schaute ihm, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, ununterbrochen in die flammenden Augen. Dann, als der Offizier geendet hatte, wendete er sich mir wieder zu:
»So! Das war es, was ich ihm, dem gefühllosen Aussauger und Bedrücker seines Volkes, zu sagen hatte! Seine ganze Saat war Gewalt; sein ganzes Denken und Tun war Gewalt; sein ganzes Leben war Gewalt! Was konnte er da anderes ernten als eben auch nur Gewalt? Dir, der du fremd bist, Effendi, ist er gütig entgegengekommen, und du glaubst, ihm dafür dankbar sein zu müssen. Darum hast du dein Schicksal an das seinige gebunden und wirst mit ihm zugrunde gehen. Das tut mir leid. Ich möchte dir raten, fortzureiten, und dieses Land zu verlassen, um niemals ...«
»Halt! Schweig! Sprich nicht zu viel!« gebot ihm da der Panther. »Dieser fremde Mensch, der sich ganz mit demselben Recht um andere Leute kümmert, wie der Teufel sich um Allahs Seligkeit kümmert, ist noch zehnmal, noch hundertmal schlimmer als der Mir! Sie sind beide einander wert, und es fällt mir gar nicht ein, den einen von ihnen laufenzulassen und nur dem andern heimzuzahlen, was er verschuldet hat. Du kamst hierher, um dir weitere Instruktionen zu holen?«
»Ja«, beantwortete der Offizier diese Frage.
»Sie ist kurz. Daß uns nur fünfzig Reiter zu begleiten haben, weißt du bereits. Wähle sie dir aus, denn du selbst bist es, der sie befehligen soll. Ich will dich dadurch für die Offenheit belohnen, mit der du dem Tyrannen gesagt hast, was und wie wir alle von ihm denken. Mag er uns beide immerhin als seine Gefangenen betrachten. Diese Lächerlichkeit hört auf, sobald wir das Ziel erreichen, und es wird sich dann zeigen, ob er stark genug ist, ihre Folgen so ruhig zu tragen, wie er soeben deine Worte angehört hat, ohne ein Wort der Verteidigung finden zu können. Du hast dich mit deinen fünfzig Mann nicht nur unterwegs, sondern auch wenn wir bei Tag oder während der Nacht lagern, so weit von uns zu halten, daß ihr die Seelenruhe des abgesetzten Mirs und seiner Freunde nicht stört. Ihr wißt ja, daß sie vor Angst sofort ganz außer sich sind, sobald einmal einer von euch auf den Gedanken kommt, sich ihnen von weitem zu nähern. Unser Ziel ist das Gefängnis Nummer fünf, an welches wir sie abzuliefern haben. Wir werden es, wie ich hoffe, noch vor dem morgenden Abend erreichen. Jetzt aber sei dafür besorgt, daß wir so bald wie möglich von hier fortkommen, denn der neue Beherrscher von Ardistan hat mehr und auch Wichtigeres zu tun, als mit dem alten, von seinem Volke hinausgeworfenen in der Wüste spazierenzureiten. Fertig!«
Der somit verabschiedete »Oberst« entfernte sich, um die ihm erteilten Weisungen auszuführen. Halef schaute nach, ob an dem Riemenzeug unserer Pferde alles in Ordnung sei, und ich verfügte mich zu dem kleinen Vorratshaufen, von dem der Zisternenwächter gesprochen hatte. Er war mit den Leinwandbahnen des auseinandergenommenen Offizierzeltes zudeckt. Als ich diese Decke zurückschlug, sah ich wohl, daß alles das, was darunterlag, nicht für die Soldaten, sondern nur für die Offiziere bestimmt sein konnte. Es gab da vieles, was entweder ganz oder auch nur halb überflüssig war. Ich wollte nicht lange und auffällig suchen, denn man sollte nicht wissen, womit ich mich zu versehen gedachte. Glücklicherweise fielen mir gleich bei dem ersten Blick mehrere Pakete Kibritat frentschija – Zündhölzer – auf. In der Nähe lag auf Flaschen gezogenes Sesamöl, welches jedenfalls dazu bestimmt war, aus unterwegs gefundenen, eßbaren Kräutern oder Blättern einen wohlschmeckenden Salat zu bereiten. Und gar nicht weit davon gab es einige kleine, leichte orientalische Dolahs – Kaffeekocher – zu deren jeder ein Lämpchen mit blechener Dille gehörte. Kleine Leinwandstücke und Schnuren gab es genug, und so hatte ich in zwei, drei Minuten ein Paket beisammen, welches alles Nötige enthielt, um dem guten, mir von dem Brunnenwächter gegebenen Rat gerecht zu werden. Niemand hatte davon Notiz genommen, als nur der Panther allein. Als ich es an den Sattel eines unserer beiden Packpferde befestigte, rief er mir höhnisch zu:
»Glaubst du vielleicht, unterwegs zu verhungern? Lächerlich! Im Gefängnis Nummer fünf gibt es dann um so größere Hochgenüsse!«
Natürlich antwortete ich ihm gar nicht. Es konnte mir ja nur lieb sein, wenn er glaubte, daß dieses Paket nur eßbare Dinge enthalte.
Nach vielleicht einer Viertelstunde sahen wir, daß die fünfzig Reiter mit dem »Oberst« an der Spitze das Lager verließen und dann ein Stück davon halten blieben, um zu warten, bis wir nachkommen würden. Wir stiegen auf und folgten. Alle, die zurückblieben, schauten uns nach. Was dachten sie? Wußten sie alle, welchem Schicksal man uns entgegenführen wollte? Gab es einen unter ihnen, der es bereute, von dem angestammten Herrscher abgefallen zu sein? Indem ich mich nach ihnen umdrehte, sah ich, daß der Wächter auf das Dach seines Zisternenhauses gestiegen war. Da die Soldaten nur nach uns schauten, sahen sie nicht, was er tat. Er hob seine Hände hoch empor und faltete sie, um uns anzudeuten, daß er für uns beten werde. Ich streckte den rechten Arm aus und winkte, um ihm zu danken. Die Soldaten bezogen das nicht auf ihn, den sie gar nicht beobachteten, sondern auf sich, und mehrere hundert Arme richteten sich eiligst in die Höhe, um diesen vermeintlichen Gruß zurückzugeben. Sie winkten noch lange, lange hinter uns her. Dem Panther und seinem Mitgefangenen galt das natürlich nicht. Es gab also doch nicht wenige, die anders dachten als die, denen sie zu gehorchen hatten!
Die Reihenfolge, in der wir ritten, war heut genau wie gestern: Voran Halef und ich, zwischen uns der Panther, hinter uns Aacht und Uucht. Hierauf die beiden Prinzen der Ussul, zwischen ihnen der »General«, hinter ihnen Hu und Hi. Die Ussul hatten die Packpferde neben sich. Der Mir war wieder der letzte. Er hatte seit der Szene mit dem aufrichtigen, zürnenden »Major« kein Wort gesprochen. Da er es vermied, einmal zu uns nach vorn zu kommen, nahm ich an, daß er nicht gestört sein wollte, und zog es vor, mich gar nicht nach ihm umzusehen. Die offenen Anklagen des »Majors« waren wie Keulenschläge gewesen, und ich wünschte sehr, daß sie nicht danebengefallen seien. So etwas überwindet man aber nicht in kurzer Zeit. Einkehr, Reue und Umkehr sind Geschwister, die um so langsamer schreiten, je sicherer sie zum Ziel kommen wollen!
Der Sand des Entsetzens, von dem ich gesprochen habe, war vom Brunnen aus zu sehen, so weit das Auge reichte. Als wir aber über diesen Horizont hinauskamen, bemerkten wir, daß er doch nur einen verhältnismäßig schmalen Strich bildete. Er stammte von dem Felsenzug, an dessen Fuß der Brunnen lag, und war an ihn gebunden. Wir erreichten noch am Vormittag die Grenze dieses Striches und ritten dann über einen Boden, den ein Nichtkenner zwar für die unfruchtbarste aller Wüsten gehalten hätte, in Wahrheit aber war er nur als »verdurstetes Land«, als »verschmachtete Fruchtbarkeit« zu bezeichnen. Er klang unter den Hufen unserer Pferde zuweilen so hart und so imporös, als ob wir nicht über Erde oder Stein, sondern über gegossenes Metall ritten. Auch der Nilschlamm ist unfruchtbar, wenn ihm das Wasser fehlt. Dann öffnet er sich in unzähligen Rissen und Sprüngen, um der Feuchtigkeit in glühender Sehnsucht entgegenzuschmachten. Hier in der gestorbenen Gegend von Ardistan war dies wohl bis Jahrzehnte nach ihrem Tode auch der Fall gewesen; dann aber hatten die von allen Seiten frei hereinbrechenden Winde diese Sprünge und Risse zugeweht und die ganze Gegend in die eisenfeste, glatte Schale verwandelt und rasiert, die uns von allen Seiten entgegenstarrte, ohne uns auch nur eine einzige Spur von organischem Leben zu zeigen.
Um die Mittagszeit bemerkten wir in gerader Richtung vor uns einige von der Erdfarbe abstechende Punkte, welche sich nicht bewegten. Es schien, als ob sie auf uns warteten, und so war es auch. Als wir näher kamen, sahen wir, daß es zwei Männer mit Lastkamelen waren, welche die Aufgabe gehabt hatten, Wasser in Schläuchen bis hierher zu tragen. Es gab noch mehrere solcher Posten, mit denen man eine Relaislinie von dem Brunnen nach der Stadt der Toten und wieder zurück gebildet hatte. Man weigerte sich, ganz wie ich erwartet hatte, uns von diesem Wasservorrat zu geben. Der Panther sagte, daß wir doch unsere eigenen Schläuche und unser eigenes Wasser hätten; wir aber machten kurzen Prozeß und nahmen uns, was wir brauchten. Er wollte, wir sollten in der Stadt der Toten so bald wie möglich verschmachten. Wir aber rührten aus ganz entgegengesetztem Grund unseren Vorrat nicht an, um dann später solange wie möglich vor Mangel bewahrt zu sein.
So war es auch am Abend. Wir fanden da, wo gelagert werden sollte, wieder einen Posten mit hinreichendem Wasser vor. Es wurde uns ebenso wieder versagt, doch genau so vergeblich wie um die Mittagszeit. Wir eigneten uns an, was man uns verweigerte, und niemand wagte es, uns etwa durch Tätlichkeiten davon abzuhalten. Daß die fünfzig Mann sich überhaupt fern von uns zu halten hatten, ist bereits erwähnt. Sie taten es. Auch ihr Anführer, der Major, hielt es nicht für erlaubt, sich zu nähern. Der Mir war immer hinter uns geblieben und hielt sich auch am Abend für sich allein, von uns entfernt. Er hatte schon zu Mittag nicht gegessen und aß auch jetzt wieder nicht. Einige Schluck Wasser war alles, was er zu sich nahm. Das tat mir weh. Ich stand von meinem Platz auf und ging zu ihm hin. Er sah, als ich vor ihm stand, zu mir auf und fragte:
»Du kommst zu mir? Fürchtest du dich nicht?«
»Fürchten?« antwortete ich. »Nein!«
»Aber scheuen mußt du dich doch! Vor mir bange sein! Vor mir schaudern! Vor mir zurückschrecken!°
»Fällt mir nicht ein!«
»So meinst du, daß der frühere Major, der jetzt plötzlich Oberst geworden ist, gelogen hat?«
»Nein.«
»Also glaubst du ihm?«
»Ja.«
Er wartete eine stumme Weile. Dann fragte er weiter:
»So hältst du das, was er gesagt hat, für wahr, für richtig?«
»In der Hauptsache, ja. Die Tatsachen an sich sind wahr, obgleich sie infolge seines Zornes vergrößert erscheinen.«
Da zürnte er:
»Wie fürchterlich aufrichtig ihr doch alle seid! So plötzlich! So mit einem Male!«
»Ich bin es stets!«
Wieder sah er mich an.
»Ja, du! Du warst es ja sofort, als du zum ersten Male zu mir sprachst!« Und auf die Stelle gerade vor sich deutend, forderte er mich auf: »Setze dich! Hierher!«
Ich gehorchte dieser Aufforderung und Heß mich ihm gegenüber nieder. Als ich das getan hatte, sagte er:
»Ich bitte dich, als vollständig wahr anzunehmen, was ich dir jetzt versichere! Ich habe niemals auch nur einen Augenblick lang geglaubt, der herzlose, grausame Wüterich zu sein, als den ich mich nun jetzt bezeichnen höre. Ich dachte, niemals Liebe gefunden zu haben, als nur bei meiner Mutter, und selbst diese Mutterliebe ist mir nicht als ein Verdienst erschienen, welches ich ihr anzurechnen habe, sondern als ein angeborener Trieb, dem zu gehorchen ihre Pflicht gewesen ist. Diese meine Mutter ist das einzige Wesen, welches ich wirklich geliebt habe und auch heut noch liebe, und ich sage dir in aller Ehrlichkeit, daß ich wunder geglaubt habe, wie lobenswert ich handle, indem ich so viel Dankbarkeit für eine Frau empfinde, die meiner Ansicht nach nur aus Naturzwang handelte, nicht aber aus eigenem, freiem Entschluß. Mein Vater war ein scharf berechnender, strenger, ja sogar harter Mann, und ich bin keineswegs geneigt, es nun mir als Sünde anzurechnen, daß diese seine Eigenschaften auf mich übererbt worden sind. Hierzu kam bei ihm jene Art von Grausamkeit, die den Nebenmenschen aus Vergnügen oder gar aus Wollust peinigt. Auch ich kann, wie ich nun einsehe, grausam sein, aber nur deshalb, weil ich den gewöhnlichen, niedrig geborenen Menschen für gefühllos halte, für unempfindlich gegen Schmerzen, die uns höheren Naturen unerträglich sind. Wie ein Knabe den Käfer, ein Fleischer sein Schlachttier, ein Jäger sein Wild und ein Lastträger seinen Esel quält, weil er überzeugt ist, daß diese Qual keineswegs als Qual empfunden wird, so bin auch ich der Meinung gewesen, daß meine Strenge eben nur als Strenge, nicht aber als Grausamkeit zu bezeichnen sei, weil es niemanden gibt, dem sie so wehe tun, wie sie mir wehe täte, falls man sie an mir verübte. Ich betrachtete alle diese Menschen, die so tief unter mir stehen, als eine Herde von Schafen, durch deren Wolle kein Hieb zu fühlen ist. Liebkose sie, so blöken sie, und schlage sie, so blöken sie; es ist alles gleich! Führe sie auf die Weide, damit sie fressen können; weiter wollen sie nichts! Umschließe sie des Nachts mit schützenden Händen, damit sie nicht selbst gefressen werden, denn du bist das einzige Raubtier, das sie, sobald sie fett geworden sind, verzehren soll! Schere sie, so oft du willst! Dann schlachte sie, und werde warm in ihrem weichen Pelz! Dazu sind sie da, zu weiter nichts; du aber bist ihr Herr, der Mir, der Gebieter! Begreifst du das, Effendi?«
»Gewiß begreife ich es! Das alles wäre ja auch ganz richtig gewesen, wenn deine beiden Voraussetzungen richtig gewesen wären!
»Welche Voraussetzungen?«
»Erstens die, daß der Käfer, das Schlachttier, das Wild und der Esel die Schmerzen weniger fühlen als du, und zweitens die, daß du anders, vollkommener, zarter, höher und wertvoller ausgestattet seiest als andere Menschen. Glaube mir: Wenn ich dich schlachte, so schmeckt dein Fleisch auch nicht besser als anderes Fleisch, und deine Knochen ergeben keine delikatere Brühe als andere Knochen. Dein Haupt- und Barthaar ist nicht einmal so nützlich, um auch nur als Pelz verwendet zu werden, und wem es einfiele, aus deiner Haut einen Schuh, einen Stiefel, einen Sattel oder gar eine Lederhose zu machen, der würde gar bald erfahren, daß sie von jedem Kalbs- oder Ochsenfell übertroffen wird!«
»Effendi! Wagst du da nicht zu viel?« fiel er da ein.
»Ich wage gar nichts!« antwortete ich. »Wie kann es ein Wagnis sein, daß ich dir die Augen öffne? Sobald du sehend wirst, kannst du nicht zürnen, sondern mir nur dankbar sein! Du hieltest dich für eine höhere Natur, und ich habe dir bewiesen, daß du körperlich aus genau denselben Stoffen bestehst, wie jeder andere Mensch und sogar wie jene Schafe, für deren Herr und Mir und Gebieter du dich hältst. Bist du wirklich mit einem Vorzug ausgestattet, so kann er nur auf geistig-seelischem Gebiet zu suchen sein. Nun bitte ich dich, forsche nach! Auf welchem geistigen Gebiet hast du dich hervorgetan? Ich meine, so hervorgetan, daß du verdienst, ein geistiger Mir, ein geistiger Herrscher, ein Fürst des Geistes genannt zu werden?«
Ich hielt inne, um zu hören, was er sagen werde. Er blieb aber still. Da fuhr ich fort:
»Also auf keinem Gebiet! Du warst kein Gelehrter, kein Dichter, kein Künstler, kein berühmter Theolog, kein Entdecker, kein Erfinder, kein ...«
»Aber ich war mehr als das alles«, fiel er mir da in die Rede. »Ich war – Fürst!«
»Ja, du warst Fürst; das ist richtig! Aber was für ein Fürst? Womit hast du verdient, ein Fürst zu sein? Warst du es durch dich selbst? Oder wurde dir dieser Titel genau so übererbt, wie die Fehler, die du vorhin eingestandest, deine Strenge, deine kalte Berechnung, deine Grausamkeit? Was hast du als Fürst getan? Hast du dich vor anderen Fürsten oder auch nur vor andern gewöhnlichen Menschen durch segensreiche, beglückende Taten ausgezeichnet? Nenne mir diese Taten! Welche Gesetze hast du gegeben, um das Wohl deines Volkes zu heben? Wo sind die Wege, die Straßen, die Schulen, die Hospitäler, die du bautest? Welche Wüstenfläche hast du gezwungen, sich in Acker- und Weideland zu verwandeln? In welcher Weise hast du für die Armen deines Volkes gesorgt? Wer gibt ihnen Arbeit, und wer gibt ihnen Brot? Wo stehen deine Kornkammern, deine Vorratshäuser, die du öffnen kannst, sobald es Mißernten gibt und die Hungersnot durch eure Gassen schleicht? Ich weiß, daß die früheren Herrscher von Ardistan gewaltige Bauwerke errichteten, in denen die Saaten und Früchte des Landes in unmeßbaren Mengen aufgespeichert wurden. Wann hast du Ähnliches getan?«
Hier machte ich eine Pause. Er schwieg auch jetzt. Er saß zusammengedrückt, die Hände über das Knie gefaltet, und hielt den Kopf gesenkt. Ich sah, daß seine Zeit gekommen sei, gehämmert und geschmiedet zu werden, daß sich die Schlacken verlieren möchten, und fuhr also fort:
»Und was hast du auf seelischem Gebiet getan, um behaupten zu dürfen, du seist ein besserer, ein edlerer, ein höherer Mensch als andere? Hast du überhaupt einmal auch nur den Versuch gemacht, hier etwas Gutes oder gar Ungewöhnliches zu leisten? Wie stand und wie steht es zunächst um deine eigene Seele? Wie wird sie aussehen, wenn du sie dem, der sie dir gab, einst wiederbringst? Und sodann die Seele deiner Frau und deiner Kinder? Wo war der Sonnenstrahl, ohne den sowohl Weib als Kind verkümmern und verschmachten? Ferner die Seele deiner Umgebung, deines Hofes, deiner Residenz? Ich sah dich, als ich zu dir kam, in schwere, dichte, strotzende und protzende Gewänder eingehüllt, so tief, so tief, daß von dir nichts, gar nichts zu sehen war. Es gab nur Prunkgewänder, nur Zeremonie, nur Förmlichkeit, nur Putz und Mummenschanz, aber keinen Inhalt, kein Leben und Weben im Innern, in der Tiefe! Und wo es etwas gab, da war es Furcht oder Angst, auch Lüge und Verstellung, Empörung und Verrat! Nun endlich gar die Seele deines Volkes! Was tatest du für sie? Wie hast du sie dir gewonnen? Wie hast du sie an dich gezogen, damit sie dich liebe, dich ehre, dir ihr Vertrauen schenke, sich mit dir freue, mit dir leide und treu und willig zu dir stehe in jeder Schicksalslage, in jeder Not und Gefahr? Denke dir die arme, geplagte und gemarterte Seele eines unterdrückten Volkes, welche täglich und stündlich zum Thron ihres Herrschers betteln geht, ohne daß er sie auch nur eine Minute lang beachtet! Denke dir ...«
Da sprang er plötzlich auf, warf die Arme weit auseinander und bat:
»Halt ein, halt ein, Effendi! Du treibst es zu toll, zu toll! Ich möchte dich erwürgen! Hier mit diesen meinen beiden Händen, so – so – so!« Er krallte seine Hände zusammen und bewegte sie hin und her, als ob er meinen Hals zwischen ihnen habe. Seine Zähne knirschten dabei. Hierauf holte er tief, tief Atem und fuhr in ruhigerem Ton fort: »Und dennoch fürchte ich, daß ich, wenn ich dich getötet hätte, um dich weinen und klagen würde als um den einzigen, den ich achte, den ich liebe und zugleich – fürchte! Du bist ein ganz entsetzlicher Mensch! Ein grauenhafter Mörder! Du hast soeben jetzt in mir etwas erschlagen, etwas, was ich für groß, für hoch, für adelig, für unendlich köstlich gehalten habe! Ob mit Recht oder Unrecht, wird sich finden! Ganz ist es freilich noch nicht tot. Es windet sich noch jammernd und schreiend hin und her, tief unten am Boden, an der Erde. Der innere Mensch ist nicht so leicht zu erschlagen, wie der äußere! Ich muß wissen, was ich da zu tun habe! Ob ich ihn zu retten suche und ihn gegen dich verteidige, oder ob ich ihm zu deinen Hieben auch noch meinen Fußtritt gebe und ihn dort hinunterstoße, wo es für Leichen nicht mehr möglich ist, wieder lebend zu werden! Gib mir Zeit; gib mir Zeit, nur eine Viertelstunde! Ist sie vorüber, dann kehre ich zurück!«
Er entfernte sich mit langsamem Schritt, um im Dunkel der Nacht zu verschwinden und mit den Gedanken, die durch sein Inneres stürmten, allein zu sein. Da aber rief der Panther, der das sah, in drohendem Ton:
»Halt! Bleiben! Wer sich in den Verdacht setzt, fliehen zu wollen, den fassen meine Reiter!«
Der Mir kehrte um, doch ohne ihn einer Antwort zu würdigen, und ließ sich da wieder nieder, wo er gesessen hatte.
»Effendi, ich bitte dich«, sagte er, »versuche du, zu schlafen, ich aber kann es nicht! Du hast eine Pforte in mir geöffnet, nicht leise, leicht und rücksichtsvoll, wie man die Türen fremder Zimmer zu öffnen pflegt, sondern mit Gewalt, mit Faustschlägen und Fußtritten, durch welche diese Pforte zerschmettert worden und zusammengebrochen ist. Da draußen jenseits dieser Türe ist es hell und warm und licht. Es dringen Gedanken und Gestalten herein, von deren Dasein ich bis heute noch keine Ahnung hatte. Ich muß sie betrachten, ich muß sie prüfen; ich muß mit ihnen sprechen; ich muß sie fragen, was sie wollen. Und ich muß ihnen dann sagen, ob sie bleiben sollen oder nicht. Habe Geduld, bis ich mit ihnen fertig bin; ich sage dir morgen alles!«
Er legte sich nieder, nahm den Sattel als Kopfkissen, streckte sich unter einem schweren, tiefen Atemzug lang aus und lag nun still und bewegungslos da, die Augen zu den Sternen emporgerichtet, und ich hatte in diesem Augenblick nur den einen herzlichen Wunsch, daß auch in seinem Innern die Sterne aufgehen möchten, ohne welche ein jedes Menschenleben, und sei es künstlich noch so hell erleuchtet, doch nichts als ein Dunkel ist. Ich wollte mich nicht von ihm trennen und holte auch meinen Sattel herbei. Gleich einzuschlafen war auch mir unmöglich. Wo eine Seele in der Geburt eines Lebens ringt, soll man sie fühlen lassen, daß Rat und Hilfe nahe sind.
Es mochte weit über eine Stunde vergangen sein, da bewegte er sich zum ersten Male wieder.
»Effendi, schläfst du?« fragte er.
»Nein«, antwortete ich.
»Schlaf immerzu! Habe keine Sorge um mich! Ich habe nicht umsonst euer Weihnachtsfest gesehen, es sogar mitgefeiert, nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich! Darf ich dir das Resultat der jetzigen Stunde mitteilen?«
»Ich bitte dich darum!«
»So höre: Der alte, kühne Major, der mich heute so schwer anklagte und noch schwerer beleidigte, soll nicht nur Oberst sein, sondern sogar General. Sobald wir glücklich heimgekehrt sind, wird es mein erstes sein, daß ich ihm diese Beförderung verkündige. Bist du zufrieden mit mir?«
»Gott segne dich!« antwortete ich, hoch erfreut über diesen ebenso großen wie schweren Sieg, den er über sich selbst errungen hatte. »Ja, Gott segne dich! In dieser einen Stunde, in der du hier gelegen hast, fast ohne dich zu bewegen, hast du mehr geleistet, als früher in langen Jahren!«
»So bitte ich dich, schlafe ein! Es ist genug; daß ich die Nacht durchwache. Ich wünsche nicht, daß auch du um meinetwillen um deine Ruhe kommst. Sagen wir also: Gute Nacht!«
»Gute Nacht!«
Nach diesen Worten drehte ich mich auf die andere Seite und schloß die Augen. Wie froh ich war! Ich hatte wohl gewußt, wie viel ich wagte, als ich so geradeheraus und ohne alle Schminke ihm meine Meinung sagte; aber er war kein Argentan- oder Talmimensch, sondern von echtem, reinem, innerlich kerngesundem Material, welches durch das Hämmern nur veredelt und gefestigt, nicht aber versprödet und verschlechtert werden konnte. Er hatte die Probe bestanden, und ich durfte nun voller Hoffnung sein, daß er es nicht hierbei bewenden lasse, sondern sich vollends aus sich selbst heraus- und emporarbeiten werde. Dieser Gedanke beruhigte mich derart, daß ich sehr bald einschlief und der allerletzte war, der dann am Morgen erwachte.
Am zweiten Tage unseres Rittes zeigte die Gegend, durch welche wir kamen, nach und nach ein ganz anderes, für mich hochinteressantes Gesicht. Sie belebte sich. Indem ich mich in dieser Weise ausdrücke, mache ich mich eigentlich eines logischen Widerspruches schuldig, denn sie belebte sich mit – Leichen. Wir stießen nämlich, erst selten, bald aber mehr und mehr auf Spuren, die uns verrieten, daß diese abschreckende Öde einst bewohnt gewesen war. Wir erblickten Häuserleichen, die entweder einzeln oder auch in kleineren Gruppen, zuweilen aber auch in ganzen, ausgestorbenen Dörfern an unserem Weg lagen. Da, wo sie in größerer Menge zu sehen waren, zeigte es sich immer, daß es früher hier einen Bach, ein Flüßchen oder sonst ein fließendes oder auch nur stehendes Wasser gegeben hatte. Diese Leichen waren entweder nur teilweise oder auch ganz erhalten. Wir sahen zahlreiche Steinbrüche liegen, die ein äußerst dauerhaftes, widerstandsfähiges Material geliefert hatten. Die Ortschaften mit ihren steinernen Häusermauern und aus unzerstörbarem Lehm geschlagenen, platten Dächern besaßen oft ein Aussehen, als ob sie nicht schon vor Jahrhunderten, sondern erst vor kurzer Zeit von ihren Bewohnern verlassen worden seien. Die lange Dauer ihres Verlassenseins wurde dem Beschauer erst dann klar, wenn er stunden- und immer wieder stundenlang sich vergeblich bemühte, einen Baum, einen Strauch, ein Kraut oder auch nur einen einzigen Grashalm zu entdecken. Freilich, Bäume gab es gar wohl, in den einstigen Gärten, an den früheren Wegen, die man jetzt nur noch vermuten, nicht aber mehr sehen konnte; aber sie waren eben auch nur Leichen. Es machte einen unendlich traurigen, oft grauenhaften, sogar gespenstigen Eindruck, die übriggebliebenen, bleichen Skelette dieser Bäume, zuweilen auch Sträucher, stehen zu sehen. Sie waren ihrer Rinde vollständig beraubt, von den Stürmen zerknickt und zerknackt, und schrien ein Ach und Weh zum Himmel empor, welches um so tiefer und niederdrückender wirkte, als man es nicht zu hören vermochte. Ein unbeschreibliches Gefühl empfand man bei dem Anblick der Überreste, die uns ohne Schale, Blatt oder Nadel schon von weitem in lebloser Nacktheit entgegenstarrten, fast möchte ich sagen, entgegengrinsten. Nur wenige vorüberkommende Menschen waren da halten geblieben, um sich das Material zu einem Lagerfeuer abzubrechen; ein jeder hatte sich beeilt, diese Stätten des Grauens so bald wie möglich hinter sich zu bringen. So auch wir.
Der Mir wußte in dieser eigenartigen Gegend, die eigentlich ein ununterbrochener Gottesacker von Baum- und Häuserleichen war, sehr gut Bescheid. Ich habe ja bereits erwähnt, daß er in seinen Jugendjahren mit seinem Erzieher und Begleiter die Stadt der Toten und ihre Umgebung oft durchstrichen hatte, um sie kennenzulernen. Er hielt sich heute nicht mehr hinten und allein für sich, sondern er kam zu mir nach vorn und sonderte mich von Halef und dem Panther ab, um sich mit mir zu unterhalten. Das geschah natürlich in solcher Entfernung von dem letzteren, daß dieser nicht hören konnte, was wir miteinander sprachen. Ich erfuhr, wie die verlassenen Ortschaften hießen, wohin die unsichtbar gewordenen Wege führten, was die einstigen Bewohner erlebt und getrieben hatten, und alles andere, was der Herrscher über diese Dinge wußte. Er beschrieb mir auch die Stadt der Toten selbst, doch unterlasse ich es, seine Schilderung, weil sie weit über den Rahmen meiner Erzählung hinausreichen würde, hier wiederzugeben. Er erwähnte auch die dortigen Gefängnisse, in denen nur ausschließlich Militär- und Staatsverbrecher, aber keine anderen aufgenommen wurden. Er hatte auch sie alle durchstöbert und kannte sie genau.
»Kennst du auch die Nummer fünf, in die wir eingesperrt werden sollten?« erkundigte ich mich.
»So gut wie alle anderen«, antwortete er.
»Hat sie ein Geheimnis?«
»Nein, o nein!«
»Weißt du das gewiß?«
»Ganz gewiß!«
»Aber der Wächter der Zisterne behauptete, daß du nicht alle Geheimnisse weißt, die es gibt!«
»So? Behauptete er das? Wer hat ihm denn gesagt, wie viel oder wie wenig ich von ihnen weiß? Er kann überhaupt nur ahnen, wissen aber nichts. Er ist nur ein kleiner, unbedeutender Beamter, der den Brunnen, die Zisterne, die Wasserschlepper und ihre Kamele zu beaufsichtigen hat. Solche Leute weiht man doch nicht ein. Was sagte er dir?«
Ich wiederholte ihm mein ganzes Gespräch mit diesem Mann. Da schien er doch bedenklicher zu werden.
»Bisher hat er nichts gewußt«, meinte er. »Nun aber hat er gelauscht. Er hat gehört, was die Soldaten oder gar die Offiziere untereinander sprachen. Also diese drei, die er nannte, wissen mehr als ich? Der Maha-Lama von Dschunubistan, der Maha-Lama von Ardistan und der Basch Islami, den ich entkommen ließ, weil du mich dazu zwangst. Der erstere ist jetzt ungefährlich; er befindet sich bei den Ussul. Auch der zweite kann mir nichts mehr schaden. Den dritten aber hoffe ich, bald wieder zu fassen, und dann soll es mir nicht einfallen, ihn abermals freizugeben!«
»Ist es wohl richtig, hier von Unschädlichkeit und Ungefährlichkeit zu sprechen?« fragte ich. »Die Personen können dir nichts mehr tun; das will ich wohl zugeben, aber die Sache an sich bleibt doch dieselbe.«
»Welche Sache?«
»Daß diese drei mehr wissen, als du selbst. Wenn das wahr ist, so gibt es Geheimnisse, die du selbst nicht kennst und die uns darum außerordentlich gefährlich werden können.«
»An dieser Gefährlichkeit bist du schuld, nicht aber ich!«
»Wieso?«
»Hättest du mich nicht veranlaßt, den Basch Islami laufenzulassen, so hätte er dem Panther nichts von den Geheimnissen der Stadt der Toten verraten können!«
»Du irrst! Ich bin überzeugt, daß beide schon vollständig miteinander einig waren, ehe du ihn laufenließest. Du hast mir soeben zweimal, kurz hintereinander, diesen Vorwurf gemacht; so beeile ich mich also, dir zu sagen, daß ich den Basch Islami zwar für einen fanatischen, im Grunde aber wohlwollenden und gerecht denkenden Mann halte, und daß es meine Gewohnheit ist, Fehler, die ich verschuldete, wiedergutzumachen. Es hat sich erst noch zu zeigen, ob das, was du für einen Fehler hältst, auch wirklich ein Fehler ist. Wenn wir jetzt einer Gefahr entgegengehen, so hegt sie nicht in mir, sondern in dir, nämlich in der Möglichkeit, daß du doch nicht alle Geheimnisse kennst, die du zu kennen behauptest. Vor allen Dingen kommt es darauf an, ob das Gefängnis Nummer fünf in Wirklichkeit so unverdächtig ist, wie du glaubst. Darf ich dich fragen, ob es allein liegt oder mit anderen Gebäuden zusammenhängt?«
»Es liegt ganz allein. Nicht weit vom Ufer des ausgetrockneten Flusses. Es ist ganz ehrlich und ohne alle Hinterlist gebaut, viereckig, aus dem Erdgeschoß und einer Etage bestehend, mit plattem Dach, oben mit kleinen Gefängniszellen, unten aber mit größeren Gefängnisstuben, in denen wir jedenfalls untergebracht werden. Es liegt in einem Hof, um den eine Mauer geht, die gar nicht viel über Manneshöhe hat.«
»Ist dieser Hof klein?«
»Nein, sondern sehr groß, denn er enthält noch die Wohnung des obersten Aufsehers aller dortigen Gefängnisse, und an diese schließen sich einige niedrige Vorratsräume und Stallungen, in denen man unsere Pferde unterbringen wird.«
»Das Gefängnis hat also keine Doppelmauern oder ähnliche Dinge, hinter denen sich ein Geheimnis, also eine Gefahr, die wir nicht ahnen, für uns verbergen kann?«
»Nein. Man hat ja auch gar nicht nötig, sich auf derartige Heimlichkeiten zu verlassen, denn der Wassermangel ist stark genug, jeden Fluchtversuch zu verhindern. Wer zu fliehen wagt, muß unterwegs verschmachten. Darum haben wir all unser Wasser aufzusparen, sonst sind wir verloren wie jeder andere! Hoffentlich bist du nun über diesen Punkt beruhigt, vollständig beruhigt!«
Das war ich nun leider keineswegs. Ganz im Gegenteil! Seine Zuversicht erschien mir ziemlich unbegründet und brachte ganz den entgegengesetzten Eindruck hervor, nicht aber den, den er beabsichtigte. Ich sagte hiervon zwar nichts, nahm mir aber vor, meine gewöhnliche Vorsicht zu verdoppeln und keinen einzigen Schritt zu tun, ohne ihn vorher nach allen Seiten hin überlegt zu haben.
Wir kamen an diesem Tag dreimal an Wasserrelais vorüber, einmal am Vormittag, einmal gerade zur Mittagszeit und einmal am Nachmittag. Wir verhielten uns genau so wie gestern; wir sparten unser Wasser und befriedigten unsere Bedürfnisse mit dem, welches bei diesen Posten vorgefunden wurde. Je weiter wir heute kamen, um so zahlreicher wurden die ausgestorbenen Zeugen einer einstigen, voll kräftigen Lebens pulsierenden Kultur. Wir ersahen hieraus, daß wir uns der Residenz jener alten Zeiten näherten. Das Land war wieder bergig geworden, und als wir kurz vor Abend den breiten Rücken einer langsam ansteigenden, aber sehr hohen Bodenwelle erreichten, sahen wir unser Ziel tief unten vor uns liegen.
Es ist einer anderen, geeigneteren Stelle vorbehalten, eine ausführliche Schilderung dieser eigenartigen Totenstadt zu bringen; für heut mögen einige kurze Bemerkungen genügen.
Das Tal des verschwundenen Flusses strich hier genau von Nord nach Süd; das jetzt ausgetrocknete Flußbett teilte es in zwei ungleiche Hälften, eine östliche und eine westliche; die erstere, auf die wir zunächst hinunterblickten, war bedeutend breiter als die andere. Sie enthielt die eigentliche, ich will einmal sagen, die bürgerliche Stadt, während der jenseits liegende Teil sich gleich dem ersten Blick als Militärstadt, als Festung kennzeichnete. Wir sahen Hunderte von Straßen, Gassen und Gäßchen mit Tausenden und aber Tausenden von Tempeln, Kirchen, Moscheen, Palästen, Häusern und Hütten. Und das alles machte einen ganz unbeschreiblichen Eindruck des Verlassenseins, der Leblosigkeit, des Todes. Es gab keine Spur von Pflanzengrün, von Tier- und Menschenleben. Und doch war der Ausdruck »Leblosigkeit« und »Tod« nicht ganz richtig. Das Wort »Schlaf wäre vielleicht richtiger gewesen, aber auch wieder nicht. Es gibt überhaupt keine vollpassende, sprachliche Bezeichnung für das Gefühl, welches mich wie mit mächtigen, unwiderstehlichen Fäusten packte, als mein erstaunter Blick auf dieses ungewöhnliche, starre, öde, leere Häusermeer fiel. Diese Gebäude standen genau noch so da, wie sie vor Jahrhunderten gestanden hatten. Fast nichts war zerstört. Nur die weit draußen liegenden Hütten der Armut hatten sich in Trümmer, in formlose Haufen verwandelt, die aber nicht etwa Staub und Erde bildeten, sondern hart wie Eisen waren.
Und schön war sie gewesen, diese einstige Hauptstadt und Residenz von Ardistan! Wenn ich mir die seltsam gestalteten Höhen, zwischen denen sie lag, bewaldet und mit grünenden, blühenden Gärten ausgestattet dachte, so fiel mir keine europäische Großstadt ein, von der ich hätte sagen mögen, daß sie mit ihr zu vergleichen sei. Nun lag sie da als Leiche! Nein, nicht als Leiche! Auch dieser Ausdruck ist falsch! Richtiger wäre es vielleicht, an einen Winter ohne Schnee und Eis, ohne Frost und Kälte zu denken, der alles Leben in die Tiefe treibt, so daß jede Spur desselben verschwindet. Wenn aber die Schritte des Frühlings von fernher schallen, dann steigt es wieder empor und beginnt, in den Säften und im Blut von neuem zu pulsieren. Im Blut – ja, das ist das Wort, welches der richtigen Bezeichnung vielleicht näherkommt, als jedes andere. Diese Stadt lag vor uns wie der ohnmächtig zur Erde gesunkene Körper eines schönen Weibes, aus deren Angesicht jeder Tropfen Blut gewichen ist. Bleich, starr, bewegungslos! Aber sobald das Blut aus dem Herzen zurückkehrt, wird die Ohnmächtige aufspringen; ihre Augen werden leuchten, ihre Wangen glühen, und durch die überstandene Ohnmacht wird sie uns nur noch lieber und teurer werden, als sie uns vorher gewesen ist. So auch das frühere Ard. Es brauchte nur das verschwundene Wasser wiederzukommen, um alle diese jetzt leerstehenden Paläste wieder mit Menschen zu füllen und ein neues, reineres und höheres Leben als vorher durch die Straßen und Gassen pulsieren zu lassen. Die Sonne war bis nahe an den Horizont herabgestiegen, und als sie ihre Strahlen jetzt über das Häusermeer hinüberflimmern ließ, war es, als ob Bewegung in die starren Linien käme und als ob unzählige der verschwundenen Seelen auf der Rückkehr seien, um uns, die wir für sie im Abendrot standen, zu begrüßen.
Diesen Betrachtungen machte der kommandierende Offizier ein schnelles Ende, der mit seinen fünfzig Reitern uns weit vorausgekommen war, weil er nicht so, wie wir, angehalten hatte, um die Stadt der Toten zu betrachten. Er rief nach uns. Er forderte uns auf, nicht länger zu zögern, denn der Weg nach dem Gefängnis Nummer fünf sei noch weit, und es gebe nur noch eine halbe Stunde, bis es dunkel werde. Wir folgten dieser Aufforderung.
Indem ich während des Bergabwärtsreitens meinen Blick auf die Zyklopenmauern der jenseitigen Festungsstadt gleiten ließ, wollte es mir um den Ausgang des gegenwärtigen Abenteuers doch ein wenig bange werden. Diese Mauern und Türme waren so stark und so hoch, daß für einen jeden, der sich einmal hinter ihnen befand, das Entkommen unmöglich zu sein schien. Darum fragte ich den Mir, doch so, daß nur er es hörte:
»Werden wir etwa da drüben eingesperrt?«
»Nein«, antwortete er. »Aber selbst wenn dies der Fall wäre, brauchtest du keine Sorge zu haben. Ich kenne mich dort aus. Ich brauchte nur zu wollen, so wäre ich frei.«
»Wo liegt unsere Nummer fünf?«
»Noch vor den starken Befestigungsmauern, die dich zu ängstigen scheinen. Du siehst das tiefe Bett des Flusses und die drei steinernen Brücken, die hinüberführen. Das jenseitige Ufer ist künstlich aufgemauert. Bemerkst du die große, weite Öffnung, die sich in dieser Mauer befindet? Etwas unterhalb der mittleren Brücke?«
»Ja. Es scheint das die Mündung eines früheren, unterirdischen Kanals zu sein.«
»Nicht eines Kanals, sondern eines Nebenflüßchens, welches erst offen in den Hauptstrom führte, später aber überwölbt worden ist. Über dieser Mündung liegt ein großer, freier Uferplatz, an dessen Westseite du ein Mauerquadrat siehst, welches sich um zwei Gebäude zieht, ein Haupt- und ein Nebengebäude. Das erstere ist unser Gefängnis Nummer fünf, das letztere die Wohnung des obersten Aufsehers, die ich schon einmal erwähnte.«
»Hm! Dieses Gefängnis sieht gar nicht so ernst und bedenklich aus!
»Ist es auch nicht, ganz und gar nicht! Kein Mensch wird uns dort festhalten können! Die Flucht ist keineswegs unmöglich, sondern sogar sehr leicht. Sie verbietet sich nur aus dem Grund, daß man unterwegs verschmachten muß, wenn man kein Wasser hat. Wir aber haben doch noch alle Schläuche voll.«
»Wir brauchen aber auch viel! Fünf Menschen, sieben Pferde und vier große Hunde! Die wollen trinken! Es handelt sich um unser Leben, und da soll man nicht allzu sorglos sein. Für jetzt aber ist die Hauptfrage die, ob unsere Nummer fünf wirklich ein ehrliches Gebäude ist; das heißt, ob sie hinterlistige Falltüren, Doppelmauern oder ähnliche derartige Dinge hat.«
»Das kann ich getrost verneinen. Ich habe als Knabe bei dem damaligen Oberaufseher gewohnt und bin in allen Ecken und Winkeln herumgekrochen. Wenn es so etwas gäbe, hätte ich es sicher gefunden, oder der Oberaufseher hätte es mir gezeigt, wie er mir alles andere zeigte, was niemand wissen durfte.«
»So kann ich hierüber also ruhig sein?«
»Unbedingt!«
Er sagte das in einem so überzeugten Ton, daß ich ihm glaubte. Es hätte ihn ja auch beleidigen müssen, wenn ich nun noch immer nicht befriedigt gewesen wäre. Wir ritten nun still den Berg hinunter in gerader Linie durch die Stadt, zuletzt über die mittlere Brücke, und bogen dann links nach dem erwähnten freien Platz ein, an dessen Westseite unser Gefängnis lag. Es sah aber wirklich und wahrhaftig nicht wie ein Gefängnis aus! Es wurde bereits erwähnt, daß die Umfassungsmauer nicht viel über Mannshöhe hatte. Jedes Kind konnte über sie hinwegklettern. Als wir hart an ihr hinritten, schaute ich vom Sattel aus, ohne mich in den Bügeln erheben zu müssen, ganz bequem in den Hof hinein. Wir konnten das Hauptgebäude von Grund auf überblicken. Es war kein einziges Fenster da, sowohl im Parterre als auch in der Etage. Die Fensteröffnungen starrten uns alle leer und offen entgegen. Man brauchte nur herauszusteigen, um frei zu sein! War das nicht lächerlich? Und das nannte man ein Gefängnis! Mir wurde das Herz, welches mir vorhin hatte schwer werden wollen, wieder leicht.
Das Tor befand sich nicht auf der Flußseite, sondern auf der anderen Seite. Wir hielten vor ihm an. Die Sonne war verschwunden; die Dämmerung begann.
»Am Ziel!« rief der Kommandierende, indem er seinen Reitern winkte, uns von drei Seiten zu umschließen; an der vierten hatten wir die Mauer.
»Ja, am Ziel!« wiederholte der General.
Und der Panther sagte, indem er tief und erleichtert Atem holte, zu uns:
»Wir sind angekommen! Nun hört der Spaß auf, und der Ernst beginnt! Sind wir nun endlich frei?«
»Ja«, nickte ich, weil der Mir nicht antwortete.
»Und ihr ergebt euch in euer Schicksal?«
»Mit Vergnügen!«
»Das heißt, ihr reitet durch dieses Tor in den Gefängnishof, ohne euch zu wehren?«
»Ja. Wir haben es versprochen, also halten wir es!«
Halef band ihn und den General los. Sie erhielten ihre Waffen zurück und sprangen dann von ihren Pferden. Der Panther machte ein eigentümliches Gesicht. Er musterte uns, die wir nicht abstiegen, mit höhnisch lachenden Augen und sagte:
»Eigentlich wollte ich eure Pferde und Hunde haben. Aber ich weiß, daß diese Bestien auf geheime Kunststücke gedrillt sind, und will also lieber verzichten. Behaltet sie! Und nun kommt der Abschied!«
Er trat selbst an das Tor, ergriff den daranhängenden Klöppel und klopfte. Es wurde sofort geöffnet. Man schien auf dieses Klopfen gewartet zu haben. Jedenfalls hatte man uns kommen sehen. Das Tor war, wie ich nun sah, nicht ein einfaches, sondern ein doppeltes. Es gab zwei äußere und zwei innere Türflügel. Die einen schlugen auf den freien Platz heraus, die anderen nach dem Hof hinein. Zwischen beiden lag der Raum, in dem die Gefangenen in Empfang genommen und die hierbei gebräuchlichen Formalitäten erledigt wurden. Dieser Raum war von ziemlicher Größe; er bot Platz für uns und unsere Pferde und Hunde. Der Mir hatte nur von der Mauer, nicht aber auch von diesem Empfangsraum gesprochen, doch war das wohl kein Grund, nun gleich schon wieder Verdacht zu hegen und Sorge zu haben. Es gab auch gar keine Zeit dazu, denn als man die beiden äußern Torflügel aufstieß, wurden zugleich auch die inneren geöffnet, und es erschien dort ein Mann, wahrscheinlich ein Beamter, der uns aufforderte, hereinzukommen. Der Mir tat dies sofort. Ich folgte ihm, und so kamen Halef und die beiden Prinzen der Ussul ohne Weigerung hinterdrein.
»Grüßt mir den Dschirbani und meinen vortrefflichen Bruder!« hörten wir den Panther rufen; dann flogen sowohl die äußeren wie auch die inneren Torflügel wieder zu, und wir befanden uns in völliger Dunkelheit.
»Allah kerihm!« rief Halef. »Was ist das? Sollte das eine Falle sein?«
»Jedenfalls«, antwortete ich.
»Nein!« widersprach der Mir. »Der Aufseher wird sein Tor gleich wieder öffnen. Das äußere wird freilich verschlossen bleiben.«
»Wer aber hat es zugemacht? Doch nicht der Panther!« sagte ich. »Durch Menschenhand ist es nicht geschehen.«
»So geschah es durch irgendeine Vorrichtung, wie es hier in der Gefängnisstadt so viele gibt!«
»Du versichertest mir aber doch, daß es in der Nummer fünf keine solche Heimlichkeiten gebe! Steigen wir ab, schnell, schnell! Und versuchen wir, zu öffnen!«
Aber noch während ich mich aus dem Sattel schwang, gab es unter uns ein heiseres Kreischen, wie wenn ungeölte Wagenräder sich drehen, und der Fußboden begann, sich zu senken. Der Mir schrie laut auf; Halef schrie, und die beiden Prinzen der Ussul schrien. Die vier Hunde fielen mit lautem Bellen ein. Es gab da einen Heidenlärm. Ich aber war still. Es galt, den Kopf nicht zu verlieren, sondern trotz der Größe der Überraschung vollständig kaltblütig zu bleiben. Wir sanken nicht allzutief, vielleicht drei- bis viermal Manneshöhe. Nun hielt die Bewegung inne, doch nur für kurze Zeit. Dann senkte sich der Fußboden so tief nach der einen Seite, daß er eine schiefe Ebene bildete, auf der wir uns nicht halten konnten. Wir glitten nach dieser Seite hinunter, wir alle, Menschen, Pferde und Hunde. Wären unsere Tiere nicht so edel und folgsam gewesen, so hätte das einen schlimmen Wirrwarr ergeben; so aber kamen wir mit einigen Stößen und leichten Quetschungen davon.
»Licht machen! Schnell, schnell!« befahl der Mir.
»Nein, kein Licht!« antwortete ich.
»Warum nicht?«
»Abwarten! Horch!«
Das Kreischen begann von neuem. Der Fußboden hatte uns seitwärts abgeladen und bewegte sich wieder nach oben. Zugleich erschallte die Stimme des Panthers aus der Höhe herab:
»Das dachtet ihr wohl nicht, ihr Schurken? Das war das Geheimnis des Maha-Lama von Dschunubistan und meines alten, treuen Basch Islami!«
»Schadet nichts!« antwortete Halef laut lachend. »Wir laden uns zur Hochzeit ein, wenn seine Tochter mit dir den Thron besteigt!«
Der kleine, rabiate Kerl konnte es nicht über sich bringen, still zu sein. Er hätte lieber sonstwas erlitten, als gehindert zu sein, dem Panther einen Hieb zurückzugeben. Dieser sandte eine Erwiderung herab, die wir aber nicht mehr verstehen konnten, weil der Fußboden jetzt oben angekommen war und die Öffnung sich also wieder schloß.
»Warum willst du kein Licht?« fragte mich der Mir.
»Ich will welches, aber nicht sofort jetzt«, antwortete ich. »Ich nehme an, daß man uns noch lange beobachtet, und sie sollen nicht erfahren, daß wir sehr wohl imstande sind, uns soviel Licht zu machen, wie wir brauchen. Hast du eine Ahnung, wo wir uns eigentlich befinden?«
»Nein. Ich könnte dir zwar antworten: Natürlich befinden wir uns gerade unter dem Gefängnis Nummer fünf, aber das würde doch keine kluge Antwort sein.«
»Allerdings nicht. Unsere Rettung hängt davon ab, daß wir kaltblütig bleiben und keinen einzigen Schritt weiter tun, bevor wir uns nicht ganz genau orientiert haben, wohin uns der vorige Schritt gebracht hat. Ein jeder nehme sein Pferd an sich und wir, Halef, auch unsere Hunde, damit sie alle ruhig bleiben!«
Es dauerte eine kurze Zeit, bis das geschehen war; dann fuhr ich fort:
»Zunächst die Himmelsrichtung! Nach welcher Richtung sind wir vom Fußboden herabgeglitten?«
»Nach West«, antwortete Halef. »Ich stand schon oben mit dem Gesicht nach West und habe mich seitdem nicht gedreht.«
»Das stimmt. Der freie Platz, auf welchem das Gefängnis steht, liegt über der Mündung des Nebenflüßchens, von dem wir, während wir den Berg herabritten, sprachen. Dieses Flüßchen fließt gerade aus West in den Hauptstrom. Ich habe mir zweierlei sehr genau gemerkt, nämlich wo seine Mündung und wo das Gefängnis liegt. Es geht gerade unter dem Gefängnishof hindurch. Ich bin also überzeugt, daß wir uns in dem Kanal befinden, der über seinem natürlichen Lauf künstlich gewölbt worden ist. Können wir diesem Kanal in östlicher Richtung folgen, so gelangen wir an seine Mündung, die wir sahen, und sind dann frei. Ich vermute aber, daß wir das nicht können. Man wird ihn verschüttet haben, damit kein Gefangener entfliehen könne. Was weißt du hiervon?«
Diese Frage war an den Mir gerichtet.
»Nichts weiß ich«, antwortete er. »Sprich weiter, Effendi!«
Ich fuhr fort.
»Folgen wir dem Kanal in westlicher Richtung, so führt er uns jedenfalls unter der Militärstadt hin in das Festungsinnere. Kennst du vielleicht einen Ort, an dem er dort zutage tritt?«
»Nein; ich kenne leider keinen«, erklärte der Mir, und zwar ziemlich kleinlaut. »Fast möchte ich mich vor dir schämen! Ich habe mit meinen großen Kenntnissen über die Stadt der Toten geprahlt und war auch wirklich überzeugt, sie zu besitzen, und kaum sind wir angekommen und haben noch gar nicht festen Fuß gefaßt, so stellt sich schon heraus, daß meine Unwissenheit größer ist als mein Wissen!«
»Das schadet nichts!« tröstete Halef. »Auch die Unwissenheit ist eine ganz hübsche Sache. Sie nützt dem Menschen zuweilen mehr als alles Wissen. Nur ein bißchen Glauben muß dabei sein, ein bißchen Glauben an Allah und seine Scharen, die er uns sendet, wenn Rettung nötig ist. Wie oft, wenn ich gemeint habe, recht klug gewesen zu sein, habe ich mich tief in das Unheil hineingeritten! Und wenn meine Unwissenheit mir riesengroß vor Augen stand und ich darum zu Allah um Hilfe betete, da habe ich kaum ›Amen‹ gesagt gehabt, so war ich schon gerettet! Also, daß du unwissend bist, das schadet nichts, denn ich bin es auch. Ich und mein Effendi haben uns noch in viel, viel schlimmeren Lagen befunden, als unsere heutige ist, und doch sind wir stets glücklich entkommen. Wir werden uns auch hier zu helfen wissen, und wie wir das anzufangen haben, das wird uns jetzt mein Sihdi sagen; paß auf!«
»Warum willst denn du es nicht sagen?« fragte ich ihn, wie ich gestehe, ein wenig ironisch.
»Weil ich es nicht weiß!« antwortete er.
»So! Aber ich? Ich soll und muß es wissen?«
»Allerdings!«
»Warum?«
»Es ist deine Pflicht! Du hast mich einmal so daran gewöhnt, daß du nachdenkst, ich aber führe es aus. Alle großen und berühmten Heldentaten, die man von uns erzählt, sind in deinem Gehirn entsprungen. Von da sprangen sie dann zu mir herüber, in meine Arme und Beine. Da sind sie zur Tat geworden und hinaus in alle Welt gegangen. So soll es auch jetzt sein. Denke nur nach, Sihdi! Was du dir ersinnst, das machen wir!«
»Könnte es denn nicht zur Abwechslung auch einmal so sein, daß ihr nachdenkt und ich führe es dann aus?«
»Nein; das geht nicht. Wir sind vier Personen, und du bist nur eine. Du kannst unmöglich das alles ausführen, was wir ersinnen würden. Es mag also bleiben, wie es stets gewesen ist.«
Diese Drolligkeit des kleinen Hadschi kam mir ganz recht. Die Unbesorgtheit, mit der er unsere Lage betrachtete, mußte auch den anderen jede Bangigkeit nehmen. Ich ging auf seine Ansicht ein, indem ich beistimmte:
»Nun gut! Ich will versuchen, deine Wünsche zu erfüllen. Wir werden zunächst nachschauen, ob der Kanal, in dem wir uns befinden, nach Osten hin passierbar ist. Wäre dies der Fall, so gelangten wir, wie ich schon gesagt habe, durch seine Mündung, die wir kennen, in den Hauptstrom und wären dann sofort frei. Doch nehme ich an, daß es einen Ausgang nach dieser Seite hin nicht mehr gibt. Der Panther hat die Örtlichkeit jedenfalls sehr genau untersucht, ehe er uns hier herunterexpedierte. So bleibt uns denn nichts anderes übrig, als uns nach West zu wenden.«
»Beginnen wir also! Machen wir Licht!« meinte der Mir ungeduldig.
»Nein, noch nicht. Wir warten noch. Ich vermute, daß man oben lauscht. Man soll nicht sehen, daß wir Licht besitzen, daß wir die Sache kalt überlegen und nicht überstürzen, daß wir also keineswegs so verzweifelt sind, wie die da oben sehr wahrscheinlich denken.«
Er mußte sich fügen, wenn er es auch ungern tat. Wir warteten wohl eine ganze Stunde, und es stellte sich heraus, daß ich recht gehabt hatte. Es geschah während dieser Zeit zweimal, daß der bewegliche Boden da oben so weit heruntergelassen wurde, daß es möglich war, an den Kanten herabzusehen. Auch hörten wir Stimmen. Sie klangen aber so unterdrückt, daß wir die Worte nicht verstehen konnten. Gerade absolut nötig war dieses unser Warten wohl nicht, aber ich wollte unsere Feinde in Sicherheit wiegen. Je fester sie überzeugt waren, daß eine Flucht für uns gar nicht möglich sei, um so weniger gaben sie auf uns acht. Als aber eine Stunde vorübergegangen war, ohne daß sie sich zum dritten Male regten, öffnete ich mein Paket, und wir machten Licht.
Da zeigte es sich denn sofort, daß ein Entkommen nach der Ostseite hin als unmöglich erschien. Der Kanal war nach dieser Seite hin nicht nur zugeschüttet, sondern sogar mit so großen und so schweren Felsenstücken versetzt, daß alle unsere Kräfte nicht ausreichten, auch nur ein einziges loszubekommen und zu bewegen. Es blieb uns also nichts anderes übrig, als uns nach der Westseite zu wenden.
Die war offen. Der Kanal glich keineswegs einem engen, niedrigen Bergwerksstollen. Er war fast zwei Männer hoch und so breit, daß über ein Dutzend Personen nebeneinander gehen konnten, ohne sich zu berühren. Infolge dieser Breite gab es in der Mitte eine fortlaufende Pfeilerreihe, von welcher die Decke mitgetragen wurde. Der Boden war vollständig eben und glatt. Man haue Sorgfalt auf ihn verwendet. Er glich einer glatt geschlagenen Lehmtenne. Es gab eine leidlich gute Luft und nicht die geringste Spur von Feuchtigkeit.
»Das sieht nicht aus wie ein Wasserkanal, wie der Ablauf eines Flusses!« sagte der Mir.
»Du kennst ihn also nicht?« fragte ich ihn.
»Nein. Ich weiß nur, was ich dir schon gesagt habe, nämlich, daß sich das Nebenflüßchen an der Stelle, die ich dir zeigte, in den Hauptstrom ergossen hat, und daß man den Lauf desselben mit einem Gewölbe überbaute. Den Gedanken, in diesen Kanal einzudringen, habe ich nie gehabt. Wie lang mag er wohl sein?«
»Das werden wir erfahren. Wir zählen die Schritte. Das dürfen wir überhaupt nicht unterlassen, wenn wir uns später orientieren wollen.«
Nicht ein jeder bekam ein Licht. Wir mußten sparen. Es wurden nur zwei Kaffeelämpchen mit Sesamöl gefüllt und angebrannt; dann machten wir uns auf den Weg. Wir gingen natürlich langsam, sehr langsam, denn die kleinen Flämmchen waren so unzureichend, daß man nicht drei Schritt weit zu sehen vermochte. Wir konnten in jedem Augenblick an eine Unterbrechung des Kanals, an ein Loch, einen Abgrund, eine heimtückische Falle oder an irgend sonst etwas geraten, was uns verderblich sein sollte. Aber es kam nichts derartiges. Wir gingen hundert Schritt, fünfhundert, tausend Schritt ...
»Das wird langweilig!« zürnte Halef.
»Denkst du, daß man uns zur Kurzweil hier eingesperrt hat?« fragte ich ihn.
»Nein, das nicht. Aber wenn das so fortgeht, setze ich mich her und schlafe ein!«
Als wir sechshundert Schritt gezählt hatten, nahm ich an, daß der Kilometer voll sei. Aber wir legten einen zweiten Kilometer zurück, ohne daß wir an das Ende kamen. Wir führten die Pferde am Zügel. Auch die Hunde hatten sich hinter uns gehalten, still und ohne Aufregung. Nun aber wurden sie unruhig. Sie drängten sich vor. Sie wollten uns voran; wir mußten sie an die Leine nehmen; aber sie ließen sich das nur widerwillig gefallen. Uucht blieb plötzlich stehen, um eine Stelle des Bodens zu untersuchen. Dann hob sie die Nase, sog die Luft mit lang ausgestrecktem Hals ein und riß sich dann los. Ein lautes Freudengeheul ausstoßend, verschwand sie in dem uns entgegengähnenden Dunkel, Aacht, Hu und Hi sofort hinter ihr her. Wir konnten sie nicht halten. Ihre Stimmen erregten in dem langen, die Schallwellen tausendfach zurückwerfenden Kanal einen Lärm, als ob eine Legion von Teufeln brülle und heule.
»Der Dschirbani?« fragte der Mir.
»Wahrscheinlich!« antwortete Halef. »Unser Dschirbani und der Prinz der Tschoban! Beeilen wir uns!«
Die Hundestimmen verklangen; dann hörten wir menschliche. Aber es war kein einziges Wort zu verstehen. Der Widerhall verstärkte und verwirrte die Töne ins ungeheuerliche. Ganz selbstverständlich war es nun mit unserer bisherigen Langsamkeit zu Ende. Wir eilten vorwärts, so schnell wir konnten. Und die beiden kamen uns ebensoschnell entgegen. Ja, sie waren es: der Dschirbani und Sadik, der wahrhaft erstgeborene Prinz der Tschoban!
Ich unterlasse es, das Wiedersehen zu beschreiben. Sie waren ganz auf dieselbe Art, wie wir, in die Falle gelockt worden. Sie waren überzeugt gewesen, mit dem Herrscher von Ardistan verhandeln zu sollen. Aber sie hatten nicht so viel Glück gehabt wie wir. Man hatte sie überwältigt, entwaffnet und gefesselt und ihnen nur die Füße wieder freigegeben, als sie am Gefängnis Nummer fünf angekommen und, grad so wie wir, ganz unvermutet in die Tiefe hinabgelassen worden waren. Dann unten hatten sie einander die Hände selbst befreit. Sie waren nun schon zwei volle Tage unten, ohne Essen und ohne Wasser. Besonders ihr Durst war groß, weil man ihnen auch schon während des Transportes nichts zu trinken gegeben hatte. Wir wollten ihnen gleich jetzt, hier an Ort und Stelle, Wasser verabreichen; sie aber sagten uns, daß es bequemer sei, mit ihnen erst an das Ende des Kanals zu kommen, wo der Raum größer sei und es auch Sitze gebe. Wir gingen auf diesen Vorschlag ein.
Sie hatten vor zwei Tagen keinen andern Weg gefunden als den, den wir auch kamen, und sich mit den Händen vorsichtig weitergetastet, bis sie bemerkten, daß der Kanal zu Ende sei. Er wurde durch riesige Felsquader verschlossen, die so künstlich zubehauen waren, daß man sie für natürliche hielt. Die feinen, wohlausgepaßten Spalten, in denen sie sich aneinanderfügten, schienen natürliche Risse und Sprünge zu sein. Der Gang erweiterte sich da, wo er aufhörte, zu einem großen, viereckigen Raum, der einem saalähnlichen, geräumigen Zimmer glich und längs der Wände hin mit steinernen Sitzen versehen war. Da ließen wir uns nieder.
Hier, in diesem unterirdischen, nur von einem leisen Dämmerschein erhellten Raum, sahen sich der Mir und der Dschirbani zum ersten Male. Zunächst bekamen der letztere und sein Gefährte zu trinken. Inzwischen brannte ich einige der mitgebrachten Kerzen an, um wenigstens für kurze Zeit so viel Licht zu machen, daß wir einander deutlich sehen konnten. Da reichte der Mir dem Dschirbani die Hand, und dieser hielt sie fest. Sie sahen einander an, ohne zu sprechen, ohne sich auch nur zu grüßen. Dann setzte sich der Mir auf eine der Bänke und wendete sich an mich:
»Hier ist nicht der Ort zu Begrüßungen zwischen Fürsten und Heerführern. Daß wir uns sprechen und miteinander verhandeln wollten, war eine Lüge des Panthers. Aber diese Lüge wird zur Wahrheit werden. So verwandelt die Hand der Vorsehung das Böse in Gutes. Aber hier soll dies nicht geschehen. Hier sind wir nicht einmal Herren unseres eigenen Schicksals; wie könnten wir uns erdreisten, fremde Geschicke leiten und lenken zu wollen! Hier sind wir Menschen, hilfsbedürftige Menschen, die sich in großer Not und Sorge befinden. Sobald diese vorüber ist, werden wir wieder sein, was wir waren. Jetzt aber richte ich an dich, Effendi, die Frage, was du über unsere jetzige Lage denkst. Ist sie aussichtslos oder nicht?«
Da antwortete ich schnell und bestimmt:
»Ich brauche sie gar nicht erst zu prüfen, um dir sagen zu können, daß von Aussichtslosigkeit gar keine Rede ist.«
»Ich danke dir! Das beruhigt mich. Aber wenn sich nun auch hier kein Ausgang findet?«
»So kehren wir dorthin zurück, woher wir gekommen sind. Daß der Fußboden des Empfangsraumes beweglich ist, war uns bisher nachteilig. Ich habe gar keinen Grund anzunehmen, daß es uns nicht auch zum Vorteil werden könne. Wenn der Boden auf- und niedersteigt, so geschieht dies nur durch Anwendung von Hemmungen und Gewichten. Befänden sich diese Gewichte über der Erde, so hätten wir auf Hoffnung zu verzichten. Es gab aber da oben, am Tor und an der Mauer, nicht den geringsten Platz für sie. Sie sind also nur unter der Erde zu suchen, und ich bin überzeugt, daß wir sie finden werden. Ist das geschehen, so ist es keinem Panther möglich, uns länger zu halten, als wir uns halten lassen wollen.«
»Das klingt ja hoffnungsvoll! Wer hätte das gedacht! Ich verließ mich auf meine Kenntnis der hiesigen Örtlichkeiten und muß mich nun ganz auf dich verlassen! Willst du noch mehr sagen?
»Ja. Es ist nämlich noch gar nicht erwiesen, daß wir hier umzukehren haben. Dieser Raum ist künstlich hergestellt worden. Man baut sich aber kein Zimmer und keine Stube, zu der man, um sich dort niedersetzen zu können, fast viertausend Schritt unter der Erde zu laufen hat. Ich bin vielmehr überzeugt, daß es hier eine Tür gibt, die in das Freie führt.«
»Ich sehe keine!«
»Ich auch nicht. Aber suchen wir. Eine hölzerne Türe gibt es freilich nicht. Ist eine da, so ist sie von Stein, so besteht sie aus einem dieser großen Felsenstücke, die so genau zusammenpassen, als ob die Fugen nicht künstliche, sondern ganz natürliche seien. Eine solche Steintür wäre aber viel zu schwer und ungefügig, als daß sie in Angeln gehen könnte. Es ist vielmehr anzunehmen, daß sie auf Rädern läuft. Ist dies der Fall, so hinterläßt das auf dem Boden Spuren, die sich nicht verbergen lassen.«
»So meinst du, daß wir nur den Fußboden zu untersuchen brauchen, um zu sehen, ob es eine Tür gibt oder nicht?«
»Allerdings!«
»Gut, schauen wir nach!«
Die Lämpchen und Lichter wurden zu Boden gesenkt, und kaum war das geschehen, so rief Halef:
»Sihdi, ich hab's, ich hab's!«
»Was?« fragte ich. »So schnell?«
»Ja, so schnell, sofort! Ein Gleis – und noch eins, also zwei! Kommt her!«
Es war, wie er sagte. Der Boden wurde von einer sehr harten, schweren Steinplatte gebildet, in welche zwei Vertiefungslinien eingehauen waren, die gar nichts anderes sein konnten, als eben nur Gleise. Diese Platte lag nicht genau waagerecht, sondern schief; sie hob sich nach der Mauer zu und senkte sich nach der andern Seite hin; sie hatte also Fall. Sie stieß an eine zweite Platte von demselben harten Stein, auf welcher sich die beiden Gleise fortsetzten; auch diese lag nicht waagerecht; sie ging wieder bergan. Man sah ganz deutlich, daß die Last, die auf diesen beiden Steinen zu rollen hatte, sich erst abwärts und dann wieder aufwärts bewegte. Sie wurde also durch ihre eigene Schwere ins Rollen gebracht und auch wieder angehalten.
Also die Gleise, die Schienen waren da! Nun fragte es sich, welcher Stein die Türe bildete. Natürlich der, unter dem die Gleise entsprangen. Wir untersuchten ihn. Er stand fest. Er wich und wankte nicht. Er wurde also in irgendeiner Weise festgehalten. Gelang es, diese Hemmung zu entfernen, so bewegte er sich jedenfalls. Wir gingen also an die genaue Untersuchung seiner nächsten Umgebung. Da fielen uns sehr bald zwei kleine Stellen auf, die anders gefärbt waren als die Felsen selbst. Sie lagen nicht ganz in Brusthöhe über der Erde, und zwar rechts und links von dem Türenstein an den anstoßenden Kanten der beiden Nachbarsteine. Ich versuchte, sie mit dem Fingernagel wegzukratzen. Sie bröckelten ab. Nun nahm ich das Messer; da ging es schneller. Es wurden zwei schmale Löcher oder Spalte sichtbar, ganz genau den Öffnungen gleichend, in welche man bei Automaten die Zehn- und Fünfpfennige steckt. Man hatte sie verstopft, mit von der Erde aufgehobenem, naß gemachtem Staub, damit niemand sie bemerken möge. Das war genau dieselbe Art, in der man auch die Spalten und Risse am Wasserengel, der in der Nähe des Engpasses Chatar stand, unsichtbar gemacht hatte. Das fiel mir auf.
»Ein Loch, ein Loch, ein Schlüsselloch!« sagte Halef. »Nicht wahr, Sihdi?«
»Es scheint so«, stimmte ich bei.
»Und drüben auf der andern Seite wohl auch?«
»Wollen sehen!«
Als ich auch dort den Staub entfernt hatte, kam eine ganz gleiche Öffnung zum Vorschein.
»Sonderbar, höchst sonderbar!« wunderte sich der Mir. »Aber nun der Schlüssel! Wo mag der sein? Vielleicht hegt er hier irgendwo versteckt!«
»Das glaube ich nicht«, antwortete ich. »Einen so wichtigen Gegenstand versteckt man nicht grad da, wo der Wunsch, ihn zu besitzen, am lebhaftesten ist. Doch, warte!«
Es fiel mir nämlich grad in diesem Augenblick jenes Schlüsselmesser des Maha-Lama von Dschunubistan ein, welches ich am andern Tag an der Stelle fand, an welcher er mit dem obersten Minister gelagert hatte. Ich hatte es mir gut aufgehoben. Es steckte in dem sichersten Winkel meiner Satteltasche. Ich holte es jetzt aus ihm hervor und bog die Klinge in die damals von mir beschriebene Lage. Dann steckte ich die Spitze in das Schlüsselloch und drehte. Es ging! Ich hätte laut aufjubeln mögen! Denn ich ahnte, daß von der Brauchbarkeit dieses Messers auch noch andere, sehr wichtige Dinge abhängen würden.
»Er kann öffnen, er kann öffnen!« rief der Mir ganz verwundert.
»Oh, mein Effendi kann alles, und ich nachher auch!« antwortete Halef in sehr stolzem Ton.
»Ich habe gesagt, daß er sich auf mich verlassen könne, und nun muß ich mich auf ihn verlassen! Bitte, Effendi, schließ auch die andere Öffnung auf.«
»Wenn du weggegangen bist, eher nicht!«
Er stand nämlich grad vor dem Stein, der sich bewegen sollte. Darum fügte ich hinzu:
»Weil die schwere Türe dich, sobald sie aufgeht, niederwerfen und zermalmen würde.«
Da trat er schnell zur Seite. Ich steckte die Messerspitze nun auch in die andere Öffnung, und sie bewährte sich ebenso wie drüben. Kaum hatte ich sie herumgedreht, so bewegte sich der Stein. Er verließ infolge seines eigenen Druckes seinen bisherigen Platz, trat aus der Mauer heraus, rollte über die erste Platte abwärts, auf der zweiten aufwärts und blieb dann stehen. Trotz seines Gewichtes von vielen Zentnern brauchte man ihm nur einen kleinen Rückstoß zu geben, so kehrte er von der zweiten über die erste Platte auf seinen Platz in die Mauer zurück. Eine kühle, reine Luft drang zu uns herein. Die Pferde atmeten sie in lauten Zügen ein.
»Gerettet!« rief der Mir.
»Oho!« zweifelte Halef.
»Nicht so laut!« warnte ich. »Und schnell die Lichter aus! Wir wissen ja nicht, wohin wir kommen! Unsere Rettung ist noch keineswegs beendet; ich meine vielmehr, daß die Gefahr erst jetzt beginnt. Treten wir vorsichtig hinaus! Und vor allen Dingen still, ganz still!«
Es war draußen fast so dunkel wie im Innern des Kanals. Erst nach einiger Zeit, als die Augen sich eingewöhnt hatten, sahen wir, daß wir uns auf einer Art Veranda, Laube, Perron oder Kolonnade befanden, die tief in den Felsen gehauen war, so daß vorn nur noch die mächtigen Säulen standen, auf denen der Oberfelsen ruhte. Das Gestein über uns verhinderte, daß wir den Himmel sahen. Aber als wir nach vorn gingen, konnten wir den Blick zu den Sternen erheben, die über uns leuchteten. Eine klare, deutliche Umschau war freilich nicht möglich. Jeder Umriß zerfloß und verschwamm. Der Mir hatte ein ganz anderes Leben geführt als Halef und ich. Seine Sinne waren ungeschärft geblieben. Er behauptete, gar nichts zu sehen, als nur die Sterne. Wir aber bemerkten trotz aller Undeutlichkeit sehr wohl, daß wir uns in einer außerordentlich schroffen Bodenvertiefung befanden, in deren Mitte eine Tafel mit einem hohen, beflügelten Gegenstand zu stehen schien, vielleicht eine Figur.
»Hast du jetzt nun eine Ahnung, wo wir uns befinden?« fragte ich den Mir.
»Nein«, antwortete er.
»Wir stehen in einem ungeheuren kreis- oder länglich runden Kessel, dessen Wände senkrecht aufzusteigen scheinen.«
»Den gibt es nicht«, behauptete er.
»O doch! Es muß ihn geben, denn ich sehe ihn ja! In der Mitte dieses Kessels gibt es etwas wie eine Insel, und auf ihr eine Figur.«
»Figur? Was für eine Figur?« fragte er schnell.
»Wahrscheinlich ein Engel, denn ich sehe Flügel!«
Da schrie er laut auf:
»Allah behüte uns vor ...«
Ich unterbrach seine Worte, indem ich ihn beim Arm ergriff und ihn warnte:
»Nicht so laut, nicht so laut! Wir müssen vorsichtig sein!«
Da wiederholte und vervollständigte er seine Interjektion in leiserem Ton:
»Allah behüte uns vor dem neunmal geschwänzten und zehnmal gesteinigten Teufel! Es scheint, wir befinden uns am schauderhaftesten und unheilvollsten Ort, den es auf Erden gibt!«
»An welchem?«
»Am Maha-Lama-See!«
»Maha-Lama-See? Habe nie etwas von diesem See gehört!«
»Weil du ein Fremder bist, von so weit her! Gar von Europa! In Asien aber ist er berüchtigt und gemieden, so weit es Menschen gibt!«
»Warum?«
»Weil hier Grausamkeiten, Gotteslästerungen, Sünden und Verbrechen geschehen sind, die nicht nur einmal, sondern tausendmal von der Erde zum Himmel hinauf- und vom Himmel wieder zur Erde herunterschreien.«
»Von wem?«
»Von den Lama-Priestern.«
»An wem?«
»An allen, die es wagten, ihnen zu widerstreben. Sie waren eigentlich nicht Lama-, sondern Teufelspriester. Man erzählt sich von ihnen Dinge, die man eigentlich für Menschen unmöglich halten sollte.«
»So erzähle! Wir befinden uns, wie es scheint, am ganz richtigen Platze für derartige Erzählungen. Komm, setze dich! Hier stehen Bänke, grad wie im letzten Raum des Kanals.«
Ich zog ihn nach einer dieser langen Steinbänke hin. Er folgte mir nicht gern.
»Man darf nicht davon sprechen!« sagte er.
»Warum nicht?«
»Weil es gefährlich ist, zumal wenn das Wunder wirklich geschehen wäre, daß wir uns hier am Maha-Lama-See befänden. Es heißt: Wehe dem, der es wagt, die Stätte des einstigen Sees zu betreten oder auch nur von oben herunterzuschauen! Man kann ja auch gar nicht zu ihm gelangen. Es fällt auch gar keinem Menschen ein, nach ihm zu suchen, weil man überzeugt ist, daß dies nur Verderben bringen würde. Man spricht nicht von ihm; man denkt auch nicht an ihn. Darum sagte ich soeben, daß es eine solche Stelle gar nicht gebe. Und darum ist es für mich noch keineswegs erwiesen, daß wir uns am Maha-Lama-See befinden.«
»Das ist interessant, hochinteressant! Was für eine Bewandtnis hat es mit diesem See?«
»Es ist eine Sage, an die man aber glaubt!«
»Auch du glaubst ihr?«
»Warum sollte ich nicht? Es ist auf Erden vieles wahr, was man für ein Märchen hält!«
»Ich drücke diesen deinen Gedanken anders aus: Es liegt in den meisten Märchen und Sagen ein Wahrheitskern oder ein Wink versteckt, nach dem man suchen soll, um ihn befolgen zu können. Wahrscheinlich ist das auch hier der Fall. Wir bitten dich zu erzählen!«
Er zögerte eine Weile. Er hatte eine anerzogene, gewohnte Scheu zu bekämpfen, dann aber begann er:
»Das war zur Zeit, als der Nebenfluß noch nicht zugebaut, sondern offen war. Damals gab es einen Maha-Lama, welcher der berühmteste von allen war, die es bisher gegeben hatte. Sein Volk liebte ihn, aber der Teufel haßte ihn. Er war hundert Jahre alt geworden und ging an seinem Geburtstag am Ufer des Flüßchens spazieren. Indem er dies tat, dachte er: ›Könnte ich doch noch hundert Jahre leben; wie glücklich wollte ich meine Untertanen machen!‹ Das stand der Teufel vor ihm und sprach: ›Du kannst, wenn du willst!‹ Er hob die Hand. Da gab es einen so entsetzlichen Krach, daß die ganze Erde bebte. Sie tat sich vor dem Maha-Lama auseinander. Es entstand ein tiefer, weiter Krater, in dem das Flüßchen sofort verschwand, und rings um seinen Rand stiegen steile, schroffe Felsenmauern auf, die ihn rund umschlossen. Kein Menschenfuß konnte über sie hinweg. Der Maha-Lama war sehr erschrocken; der Teufel aber sprach: ›Beruhige dich; es geschieht dir nichts. Ich bin gekommen, dir deinen Wunsch zu erfüllen, nicht aber, dich zu vernichten. Du sollst genau noch hundert Jahre leben, und dein Volk soll noch glücklicher sein als jetzt. Dafür verlange ich nur eins von dir.‹ Der Maha-Lama fragte, was das sei. Der Teufel antwortete: ›Das Wasser des Flüßchens, welches jetzt in diesem Krater zu verschwinden scheint, wird in ihm emporsteigen, so daß ein See entsteht. In diesem See ersäufst du alle Menschen, die dich beleidigen und kränken. Weiter verlange ich nichts von dir.‹ Da lachte der Maha-Lama und sprach: ›Darauf kann ich eingehen, denn es gibt keinen einzigen, der mich beleidigt oder kränkt; sie lieben mich alle. Werde ich trotzdem noch hundert Jahre leben, wenn ich auf dein Verlangen eingehe?‹ – ›Ja, sogar noch länger als hundert Jahre. Du wirst leben, bis du so viel Menschen in den See geworfen hast, daß er austrocknet und wieder verschwindet. Beleidigt dich keiner, so hast du keinen zu ersäufen. Beleidigt dich aber einer und du ersäufst ihn nicht, so stirbst du augenblicklich, und deine Seele ist mein für alle Ewigkeit.‹ In seinem Wunsch, noch hundert Jahre älter zu werden, unterschrieb der Maha-Lama diesen Pakt mit seinem Blut. Er war überzeugt, keinen einzigen Menschen opfern zu müssen, weil sie alle ihn bisher liebten. Aber als man die plötzlich emporgestiegene, unübersteigbare Felsenmauer sah und daß hinter ihr der Fluß verschwunden war, der so viele Leute ernährte, gab es doch einen, der die Schuld auf den Maha-Lama warf, der sich, als es geschah, an der Unglücksstelle befunden hatte. Dieser wollte ihm verzeihen; er war dies ja so gewöhnt. Da aber erschien ihm der Teufel, zeigte ihm den verborgenen Weg zum See, den nur er, doch kein anderer, finden konnte, und gab ihm nur einen einzigen Tag Zeit, entweder diesen Mann zu ersäufen oder selbst zu sterben und seine Seele zu verlieren. Da gehorchte der Maha-Lama. Der Mann verschwand heimlich und wurde nicht wieder gesehen. Das erregte Verdacht gegen den Maha-Lama. Man gab diesem Verdacht Worte, doch wer dies tat, verließ sein Haus und kehrte nicht wieder zurück. Dadurch steigerte sich der Verdacht zur Gewißheit. Die Anhänger verwandelten sich in Gegner, die Freunde in Feinde, und endlich wurde er ebenso allgemein gefürchtet und gehaßt, wie man ihn früher achtete und liebte. Das Wasser hatte schon längst den See gefüllt und sich einen Durchbruch nach seiner früheren Mündung gebohrt, und es mehrten sich die Unglücklichen, die, an schwere Steine gebunden, in die Tiefe gesenkt wurden. Der erst fast grundlose Krater füllte sich. Der See wurde immer seichter und seichter. Und noch waren die hundert Jahre lange nicht vorüber, so war kein Platz mehr für die Leichen vorhanden. Sie wurden von dem Flüßchen aus dem nun völlig angefüllten See heraus an die Öffentlichkeit geschwemmt, und dadurch kam der vieltausendfache Mord an den Tag. Der Maha-Lama war zum Wüterich, zum Heuchler, Lästerer und Verbrecher geworden, und das Volk trat zusammen, um ihn zu züchtigen. Der Teufel aber kam zuvor und holte ihn, weil dies eine Beleidigung für ihn war, die er nicht bestrafte. Die durch Teufelskraft aus der Erde emporgestiegenen Felsenmauern waren gemieden und gehaßt gleich vom ersten Tag an; aber als man erfuhr, was sich hinter ihnen ereignet hatte, waren sie es doppelt. Und als nun später gar das Nebenflüßchen mit dem großen Strom verschwand und über die ganze Stadt und ihre Umgegend der Tod und die Wüste kamen, da erzählte man sich, daß in jeder Nacht, sobald es dunkel geworden ist, der Geist des Maha-Lama am Ufer seines ausgestorbenen Sees erscheine, um auf einen Helfer zu warten, der ihn von seinen Höllenqualen erlöst.«
Nun schwieg der Mir. Er war mit seiner Erzählung zu Ende. Auch wir schwiegen. Der Eindruck dessen, was wir gehört hatten, war kein gewöhnlicher. Jedenfalls nicht nur durch die Erzählung an sich, sondern ebenso auch durch den Ort, an dem wir uns befanden. Erst nach einer längeren Pause fügte er hinzu:
»Das war die alte Sage von dem Maha-Lama-See. Was meinst du, Effendi, ist sie eine Lüge oder eine Wahrheit?«
»Wahrscheinlich beides, nämlich eine in Lügen eingekleidete Wahrheit. Solange es dunkel ist, läßt sich gar nichts sagen; aber dieses Rätsel wird wohl auch nicht anders zu lösen sein als alle die anderen Lebensprobleme, die im Gewand der Sage und des Märchens erscheinen, weil sie sonst unfaßbar bleiben würden. Wenn die Figur, die da drüben vor uns steht, wirklich ein Engel ist, so bist du vielleicht der Mann, der gekommen ist, den Maha-Lama von seinen Höllenqualen zu erlösen.«
»Ich?« fragte er erstaunt.
»Ja, du!« antwortete ich.
»Ich weiß nicht, was du meinst! Ich begreife dich nicht!«
»Das ist jetzt auch nicht nötig. Du hast nicht zu hören, sondern zu sehen, was ich meine; das kannst du aber erst dann, wenn es hell geworden ist.«
»So fürchtest du dich also nicht vor dem Maha-Lama-See, wenn er es wirklich ist?«
»Fürchten? Ich freue mich auf ihn!«
»Und die Geister und Gespenster, von denen man erzählt?«
»Die existieren für mich nicht. Ich bin weder Spiritist noch Okkultist, weder Gespenster- noch Dämonenseher. Im Gegenteil! So oft ich da, wo man von ›Geistern‹ und dergleichen zu mir sprach, der Sache mit offenem Auge auf den Grund gegangen bin, habe ich stets und ohne jede Ausnahme erkannt, daß das, was man für überirdisch erklärte, genau ebenso irdisch und so alltäglich war wie alle andern irdischen und alltäglichen Dinge. Ich bin überzeugt, daß es sich auch hier um sehr materielle Sachen handeln wird. Wie liegt denn eigentlich dieser See im Verhältnis zu den andern Teilen der Stadt?«
»Die Festungsstadt hast du gesehen. Auch die hohen, starken Mauern der Zitadelle?«
»Ja.«
»Aber den westlichen Teil der Zitadelle hast du nicht gesehen. Dieser ist nämlich nicht durch eine Mauer eingefaßt, sondern er lehnt sich unmittelbar an den Felsenring, der den Maha-Lama-See umgibt. Dieser Ring ist der beste und natürlichste Schutz, wie ihn die Kunst des größten Festungsbaumeisters niemals geben könnte. Viel weiter draußen hegt dann der westliche Höhenzug, der das äußere Gebiet der Stadt begrenzt. Wenn man dort den höchsten Punkt besteigt, ist es möglich, einen Blick in das Innere des Seekraters zu werfen. Dieser Blick fällt allerdings nur durch eine schmale Lücke und dringt nicht bis auf den Grund hinab. Aber man kann den Kopf und den oberen Teil des Engels sehen.«
»In den Krater eingedrungen ist also wirklich noch niemand?«
»Noch kein Mensch, so viel ich weiß. Es hat sich freilich herausgestellt, daß ich von der Stadt der Toten nicht soviel weiß, wie ich dachte. Es ist also vielleicht nicht ausgeschlossen, daß es Leute gegeben hat oder gar heute noch gibt, die dagewesen sind. Doch glaube ich dieses nicht, sondern nur das Gegenteil.«
»Wäre jemand hier gewesen, so würden wir wahrscheinlich Spuren finden, wenigstens wenn es in letzter Zeit geschehen wäre. Doch auch da müssen wir warten, bis es Tag geworden ist. Wir wollen erst essen, dann schlafen.«
»Schlafen?« fragte der Mir. »Bei einer derartigen Aufregung!«
»Du hast nicht den geringsten Grund mehr, aufgeregt zu sein. Halef mag auspacken. Wir haben noch nicht zu Abend gespeist, und auch die Pferde und Hunde müssen gefüttert und getränkt werden, doch so, daß noch für morgen sowohl Wasser als auch Futter übrigbleibt. Ich hoffe zwar, daß wir hier alles finden, was wir brauchen, doch ...«
»Alles?« unterbrach mich der kleine Hadschi. »Sogar auch Wasser?«
»Ja, sogar auch Wasser!« fuhr ich fort. »Aber die Vorsicht gebietet uns, für den Fall der Not doch noch etwas aufzuheben.«
Während Halef mit Hilfe der beiden Ussul unsere Speisen auspackte und vor allen Dingen zunächst den Pferden und Hunden Futter gab, verfügte ich mich nach der Öffnung, durch welche wir gekommen waren, um sie nun auch von der Seite aus, an der wir uns jetzt befanden, zu untersuchen. Ich wollte sie nämlich sehr gern verschließen, um von dem Kanal aus gegen Überraschungen gesichert zu sein. Zwar verbot mir die Vorsicht, wieder Licht zu machen, aber da ich nun einmal das Geheimnis des Verschlusses kannte, hatte ich jetzt wahrscheinlich die Augen nicht mehr nötig, sondern es genügte der Tastsinn zu finden, was ich suchte. Die Tür mußte doch nicht nur von innen, sondern auch hier von außen verschlossen werden können. Folglich stand zu erwarten, daß es auch von außen Schlüssellöcher gab. Ich nahm an, daß sie sich in gleicher Höhe und an ganz entsprechender Stelle befinden würden. Kaum hatte ich hingefühlt, so wurde die Vermutung bestätigt. Meine Fingerspitzen erkannten sofort die beiden rechts und links von der Türöffnung liegenden Stellen, um die es sich handelte. Ich befreite sie mit Hilfe meines Messers von dem Staub, mit dem man auch diese Öffnungen verschlossen hatte, und probierte dann, ob der Schlüssel passen werde. Er tat es. Es war da eine Feder angebracht, die vor- oder zurücksprang, je nachdem wie man drehte, und das konnte man in gleicher Weise von außen wie auch von innen tun. Nun war es gar nicht schwer, die Tür zu verschließen. Ich brauchte mich nur nicht von dem schweren Stein erwischen und niederwerfen zu lassen. Er stand jetzt im Innern. Von seiner Stelle stoßen durfte ich ihn nicht, sondern ich mußte ihn ziehen, denn ich wollte doch wieder hinaus, nicht drin in dem Kanal bleiben. Ich nahm an, daß dies eine ziemlich bedeutende Kraftanstrengung erfordern werde, weil es keinen Henkel, keinen Griff oder etwas Derartiges gab, woran ich hätte fassen können; aber die Platte, auf welcher der Stein jetzt ruhte, war in der Neigung nach außen, die sie hatte, so scharf berechnet, daß ich die Hand kaum an den Koloß gelegt hatte, so bewegte er sich auch schon. Ich mußte nur schleunigst zurückspringen, um nicht niedergerissen zu werden. Als er seine Stelle erreicht hatte, stand er still, und ich hörte, wie die Feder in ihre Vertiefung schnappte.
Der Mir war nicht bei den andern geblieben, sondern mit mir zur Tür gekommen. Er erklärte mir, daß er nicht essen könne. Er habe weder Hunger noch auch nur die allergeringste Spur von Appetit. Ich legte ihm jetzt den Finger an den Puls. Wirklich! Der Mann hatte Fieber!
»Bist du krank?« fragte ich.
»Nein«, antwortete er.
»Also nur aufgeregt?«
»Ja, aber sehr! Ich fühle an meinen Schläfen das laute Klopfen des Pulses!«
»Wozu? Hier, fühle den meinigen!«
»Ja du, Effendi, du! Du bist fremd; dich geht die Sache nichts an! Mich aber packt sie von innen und von außen! Sag, müssen wir hier stehenbleiben?«
»Warum diese Frage?«
»Weil es mich nicht leidet und nicht duldet! Ich kann nicht mehr stillsitzen, nicht mehr stillstehen! Ich muß laufen, muß mich bewegen! Ich weiß nicht, was das ist. Ich war noch nie so unruhig, so ergriffen!«
»So komm! Ich glaube, wir können es wagen. Gehen wir ein Stück von diesen Säulen und ihrem Felsendach hinweg, hinaus ins Freie, unter die Sterne!«
»Ja, ja, Effendi, hinaus! Ins Freie! Unter die Sterne! Wie fürchterlich das war, da drin im Kanal, in der stehenden, stockenden Luft, in der toten, leblosen Finsternis! Ich sagte nichts, aber mir wurde da angst, himmelangst! Also komm!«
Ich nahm seinen Arm unter den meinen. Wir verließen die Kolonnade und schritten langsam in die Nacht hinaus. Doch nicht wir allein. Meine beiden Hunde ließen ihr Futter liegen und kamen hinterdrein. Die treuen Tiere hielten es für ihre Pflicht, mich in dieser Finsternis nicht ohne ihren Schutz zu lassen. Wir gingen eine Weile, ohne zu sprechen. Er wußte nicht, ob er mir das, was ihn so tief bewegte, sagen dürfe, und ich aber wartete, daß er beginnen werde, weil ich durch eigenes Reden sehr wahrscheinlich seine ganze Mitteilung zurückgeschreckt und unmöglich gemacht hätte. So gingen wir weiter und weiter. Es war nicht das ganze Firmament, welches wir über uns sahen, denn die hochragenden Felsenmauern beschränkten unsern Horizont, aber es waren doch Sterne, die da funkelten, und gerade jetzt trat das neugeborene erste Viertel des Mondes als schmaler, dünner Bogen hinter der höchsten, steilsten Felsenkante hervor und goß ein geheimnisvolles Hellerwerden über uns und alles aus, was um uns ragte. Da sahen wir, daß es allerdings ein Engel war, der genau auf der Mitte des weiten, öden Platzes stand, an dessen Rand wir uns jetzt befanden. Wir lenkten unwillkürlich unsere Schritte auf ihn zu.
»Ja, wir sind am Maha-Lama-See«, sagte der Mir jetzt. »Es ist kein Zweifel möglich. Das ist der Engel, dessen Kopf ich so oft gesehen habe, wenn ich auf der westlichen Höhe stand und mit knabenhaftem Grauen nach hier herüberblickte. Wollen wir umkehren?«
»Warum? Fürchtest du dich?«
»Fast! Ja! Und doch zieht es mich hin, als müsse ich dort etwas finden, als hätte ich mich schon längst, mir aber unbewußt, nach ihm gesehnt! Effendi, lache nicht! Ich rede nicht dumm; ich rede nicht irr; ich sage dir nur, was ich fühle!«
»Wer könnte da lachen! Der Augenblick, an dem die Seele des Menschen zu sprechen beginnt, ist stets ein ernster, großer, heiliger. Höre auf das, was sie dir sagt! Unterbrich sie nicht! Sprich erst dann wieder mit mir, wenn sie schweigt!«
So war er nun also wieder still. Der große, weite, vollständig ebene Platz, über den wir jetzt nach seiner Mitte schritten, war also früher See gewesen, der Maha-Lama-See! Wenn wir zurückschauten, sahen wir die Kolonnade, die wir verlassen hatten, als den uns nächsten Punkt ziemlich deutlich vor uns liegen. Sie wurde um so undeutlicher, je weiter sie sich entfernte. Sie schien um den ganzen Platz, um den ganzen früheren See zu gehen. Dagegen wurde der Engel um so deutlicher, je näher wir ihm kamen. Er stieg zusehends höher und schärfer vor uns auf. Er war gewiß doppelt so hoch wie der Engel, den wir kurz vor dem Engpaß Chatar entdeckt hatten, doch hatte er ganz und genau dieselbe Figur. Es schien, als ob der hiesige das Original des dortigen und dieser nur eine Verkleinerung von ihm sei. Wie nun, wenn ich das Richtige vermutete! Wenn er Wasser enthielt?
Da blieb Uucht plötzlich stehen, hob den Kopf, dann auch das eine Vorderbein, machte den Hals so lang wie möglich und ließ die Nüstern spielen. Ihr Schwanz hing. Bald aber hob er sich, wackelte ein wenig, dann immer mehr und wedelte schließlich in der mir bekannten, eifrigen und zuversichtlichen Weise hin und her. Aacht tat dasselbe. Nun war ich beruhigt, vollständig beruhigt über alles, was hier noch geschehen und uns begegnen konnte. Meine Hunde hatten die erste Spur der Feuchtigkeit entdeckt. Es gab Wasser hier. Der Engel war ein Brunnenengel, ganz ebenso wie der andere, von mir bereits erwähnte! Ich säumte natürlich nicht, aus dieser Tatsache die selbstverständlichen, logischen Schlüsse zu ziehen. Die Sage des Mirs war gezwungen, ihre Maske abzuwerfen und ihre wahre Gestalt zu zeigen. Man hatte in ihr die Wahrheit nicht etwa nur umkleidet, sondern geradezu zur Lüge gemacht.
Indem wir weitergingen, wurden die Bewegungen der Hunde lebhafter. Ich verbot ihnen, Laut zu geben. Da schauten sie verwundert zwischen mir und dem Engel hin und her. Sie nahmen an, daß sie von mir nicht verstanden worden seien. Darum liebkoste ich sie und sagte ihnen ein anerkennendes Wort. Da waren sie sofort beruhigt.
»Was ist das mit deinen Hunden?« fragte der Mir. »Was wollen sie?«
»Sie sagten mir etwas, was du auch bald erfahren wirst.«
»Etwas Böses vielleicht?«
»Nein, sondern etwas Gutes. Ich hoffe, daß wir überhaupt hier nur noch Gutes erleben werden! Weißt du vielleicht, was der Maha-Lama seinen Opfern zu essen und zu trinken gegeben hat, ehe sie in den See geworfen wurden?«
»Natürlich nichts!«
»Woher weißt du das?«
»Es ist doch wohl nicht schwer, sich das zu denken! Man gibt doch Leuten, die gefangengenommen und dann sofort in das Wasser geworfen werden, nicht noch vorher zu essen und zu trinken!«
»Bist du überzeugt, daß sie alle sofort getötet worden sind? Daß der Maha-Lama gar keine Ausnahmen gemacht habe? Schau diese Säulen, diese Kolonnaden an! Sie auszugraben, auszuhöhlen und auszuhauen ist ein Gigantenwerk, welches doch wohl nicht von Leichen oder gar von Geistern und Gespenstern, sondern von lebenden, gesunden, kräftigen und ausdauernden Menschen ausgeführt worden sein kann! Und das sind nicht nur fünf oder zehn oder zwanzig, sondern Hunderte und Aberhunderte von Arbeitern gewesen, die gute und reichliche Nahrung bekamen. Und noch viel nötiger war das Wasser als Trank für die Menschen. Aber wo nahm man das wohl her?«
»Natürlich aus dem See!«
»Der mit Leichen ausgefüllt wurde?«
Diese Frage machte ihn verlegen. Er sann ein Weilchen nach und gestand dann ein:
»Hierauf, Effendi, kann ich dir keine Antwort geben. Man weiß nur, daß der Maha-Lama niemals auch nur einen einzigen Tropfen Wasser aus den Brunnen der Stadt nach dem See hat schaffen lassen.«
»Weiß man das genau?«
»So genau, daß dies gerade einer der Hauptgründe war, zu schließen, daß er seine Opfer nicht leben lasse, sondern augenblicklich töte.«
»Wenn er für die Arbeiter, die hier beschäftigt worden sind, wirklich kein Trinkwasser aus der Stadt bezog, so muß er hier an Ort und Stelle einen Brunnen gehabt haben, und zwar einen großen, sehr großen und unversiegbaren, der imstande war, wenigstens so viel, wahrscheinlich aber noch viel mehr zu liefern, als man brauchte.«
»Meinst du wirklich?«
»Ja, das meine ich allerdings! Und wo ist er gewesen, dieser Brunnen? Wo steht er noch?«
»Wer kann das wissen?«
»Du etwa nicht?«
»Nein, ich nicht, ganz gewiß nicht!«
»So komm! Ich werde ihn dir zeigen!«
»Wer? Du?«
»Ja, ich!«
»Der Fremde? Der Europäer? Der hier vollständig Unbekannte?«
»Ja, der! Komm!«
Wir waren jetzt beim Engel angelangt. Ich nahm den Mir wieder, wie vorher, am Arm und führte ihn nach dem Unterbau. Dieser war ein anderer als bei dem Engel in der Nähe der Landenge El Chatar. Dort bestand er aus natürlichem Fels, hier aber aus künstlich aufgemauerten Stufen, welche direkt bis zu den beiden Füßen des Engels führten. Hier hatten täglich zahllose Arbeiter schöpfen müssen; da war es notwendig gewesen, den Zugang bequemer zu machen als dort, mitten in der Wüste. Die Stufen waren nicht hoch, sondern so niedrig wie ganz gewöhnliche Stufen; das heißt also, ungefähr sechzehn bis achtzehn Zentimeter. Es machte also gar keine Mühe, hinaufzusteigen. Indem wir dieses taten, kam mir der Gedanke, daß ich denn doch bis zum Anbruch des Tages hätte warten sollen, also bis es hell geworden war; denn da hätte ich die Falltür und die Treppe sehr wahrscheinlich viel leichter gefunden als jetzt. Und wenn ich den Mir schon jetzt überraschte, hatte es den Anschein, als ob ich seiner Unwissenheit gegenüber prahlen wolle. Dies aber war wirklich, wirklich nicht der Fall. Ich tat es nur darum gleich jetzt, um seine Stimmung zu benutzen, die gerade jetzt eine derartige war, daß die Wirkung doppelt größer als später sein mußte.
Ich nahm an, daß dieser Engel in seinem Innern ganz dieselbe Einrichtung haben werde wie der andere, den ich bereits kannte. Es zeigte sich zu meiner großen Befriedigung, daß ich mich auch da nicht geirrt hatte. Als wir oben angekommen waren, suchte ich gar nicht erst nach Spuren von Lücken, Rissen und Spalten, die jetzt, bei dem spärlichen Mondschein, wohl auch nicht leicht zu entdecken gewesen wären, sondern ich ging gleich und direkt zu der betreffenden Falte des Gewandes hin und versuchte, ob diese Stelle beweglich sei oder nicht. Das Ergebnis wollte sich nicht gleich einstellen. Die Achse weigerte sich, nach so langer Zeit gleich wieder zu funktionieren. Aber als ich einen kräftigen Druck anwendete, gehorchte sie doch. Der Teil des Gewandes, auf den ich drückte, schob sich in das Innere der Figur hinein, und dadurch wurde die Falltür, welche die Treppe verschloß, emporgehoben.
»Was ist das?« fragte der Mir erstaunt. »Der Engel ist doch hohl!«
»Wie du siehst!« antwortete ich.
»Ein Loch ist da! Kann man da hinab?«
»Ja, man kann!«
»Wohin?«
»Zum Brunnen, den ich dir zeigen will.«
»Zum Brunnen –? Zum Brunnen?«
»Ja, allerdings zum Brunnen! Komm, steig mir nach! Du brauchst keine Sorge zu haben. Taste dich nur! Legst du die Hände zur Rechten und zur Linken fest an, so kannst du nicht fallen«
Die Hunde drängten, mit hinein und hinunter zu dürfen. Ich beruhigte sie; sie mußten natürlich oben bleiben. In derselben Weise, wie ich es soeben gesagt hatte, stieg ich dem Mir vorsichtig voran, dabei immer an den Engel der Landenge Chatar denkend. Auch hier führten die Stufen von rechts nach links. Sie waren fest und sehr gut erhalten. Ich prüfte eine jede sehr gewissenhaft mit dem vorausgestreckten Fuß. Auch hier waren es genau zwanzig, und auch die Luft war genauso kühl und genauso gar nicht feucht. Die Frage, ob es aber auch wirklich Wasser in diesem Brunnen gebe, stellte ich mir gar nicht erst, denn hatte der andere welches gehabt, so mußte dieser auch welches haben. Für mich verstand es sich nämlich von selbst, daß beide ganz genau auf einer und derselben leitenden Schicht erbaut worden waren.
Als ich den Fußboden des oberen Stockes erreicht hatte, wendete ich mich sofort nach rechts, um zu tasten, ob wir hier wohl in derselben Weise und an derselben Stelle Licht finden würden wie dort. Richtig! Ich fühlte einen großen, hohlen, steinernen Würfel, auf dem als Decke eine dünne, leichte Steinplatte lag, die sich verschieben ließ. Ich schob sie zur Seite, griff in die dadurch entstandene Öffnung und – was hatte ich in der Hand? Eine lange Rolle aus starkem Leder, die oben und unten zugebunden war, um ihren Inhalt vor Feuchtigkeit zu schützen. Dieser Inhalt bestand aus einer sehr gut erhaltenen, aus ungereinigtem Wachs hergestellten Kerze, deren Docht ich sofort in Brand steckte. Der Mir befand sich noch auf der Mitte der Treppe. Er, der asiatische, hohe Aristokrat, war solche Klettereien nicht gewöhnt, zumal im Dunkeln. Er kam also nur langsam vorwärts.
»Licht hast du, auch Licht?« fragte er. »Allah sei Dank! Ich komme gleich!«
Ich zündete noch eine zweite an, die ich ihm, als er bei mir anlangte, hinreichte.
»Ich auch eine? Eine solche – solche Kerze!« Dabei betrachtete er sie erstaunt. »Wo hast du die denn her?«
»Hier aus der steinernen Kiste. Da sind noch viele drin! Und noch andere sehr brauchbare Dinge dazu! Alles extra für uns aufgehoben!«
»Für uns?«
»Ja, für uns! Für wen denn sonst? Es ist doch weiter niemand da!«
»Was bist du für ein Mensch! Ein Tausendkünstler, ein Hexenmeister, ein Zauberer!«
»Fällt mir nicht ein, ganz und gar nicht ein! Ich bin ein ganz gewöhnlicher Mensch, nicht besser und nicht schlechter, nicht klüger und nicht dümmer als tausend andere!«
»Aber du weißt doch alles, alles!«
»Auch das fällt mir nicht ein! Ich bin keineswegs allwissend. Es geht mir auch hier nicht besser und nicht schlechter als jedem andern Menschen: Ich kann nur das wissen, was ich von andern weiß oder was ich gehört und gesehen habe. Ich bin nämlich mit meinem vortrefflichen Hadschi Halef Omar in ganz genau einem solchen Wasserengel, wie dieser hier ist, gewesen. Den haben wir von oben bis unten durchsucht. Dieser hier ist zwar wohl noch einmal so groß, aber ganz ebenso gebaut und auch im Innern ganz ebenso ausgestattet. Da ist es also kein Verdienst, hier mehr zu wissen als du, der du noch nie einen solchen Engel gesehen und durchstöbert hast. Sieh hier die beweglichen Räder mit den Leitriemen, den Schöpfkrügen und dem Steintrog, in den das Wasser fällt. Es wird von Etage zu Etage gehoben ...«
»Ein Wunder, ein Wunder, ein Wunder!« unterbrach er mich. »Wer hat das gebaut?«
»Der Mir von Dschinnistan.«
»Unmöglich!«
»Warum unmöglich?«
»Hier, mitten in meinem Land? In der frühern Hauptstadt und Residenz von Ardistan?«
»Wäre das etwas so Unbegreifliches?«
»Gewiß! Und nicht nur mitten im Land und mitten in der Residenz, sondern sogar mitten im Maha-Lama-See, der sogar mir und allen meinen Vorgängern ein Geheimnis gewesen ist, welches kein einziger von ihnen allen ergründet hat!«
»So ist es eben sein Geheimnis gewesen, das Geheimnis des Mirs von Dschinnistan, der mitten unter euch wohnt, ohne daß ihr es wißt, mitten unter euch waltet, ohne daß ihr es ihm erlaubt und euch alle von innen und außen kennt, ohne daß ihr ihn jemals gesehen habt!«
»Du scherzt, Effendi!«
»O nein! Es ist mein voller, heiliger Ernst!«
»So begreife ich dich nicht! Diesmal wirklich nicht! Bedenke doch, daß gerade nach deiner Ansicht weiter kein anderer diesen Brunnen gebaut haben kann, als nur allein der Maha-Lama, von dem ich euch erzählte.«
»Das meine ich freilich auch. Aber die Anregung und alles weitere hat er vom Mir von Dschinnistan empfangen.«
»Wie willst du das beweisen?«
»Schau da hinauf!«
Indem ich dies sagte, stieg ich auf den Rand der Steinkiste, aus der ich die Wachskerzen genommen hatte, und leuchtete hoch empor, wo über der Treppe das Zeichen des Mirs von Dschinnistan eingegraben war und gleich darunter im alten Brahmavartadialekt das Wort »Erbaut« gelesen werden konnte.
»Sein Zeichen, sein Zeichen!« rief der Mir. »Das muß ich sehen, ich, ich! Das hat man gewagt, gewagt! Das müßte ich bestrafen können, bestrafen!«
»Warum bestrafen?« fragte ich sehr ruhig. »Hat dieser Brunnen dir geschadet?«
»Nein! Aber eine Beleidigung ist er für mich, eine Beleidigung, die ich mir nicht gefallen ...«
Er hielt mitten in seinem zornigen Satz inne, denn ich war schnell von der Kiste herabgesprungen und ganz nahe an ihn herangetreten, hob die Kerze zu ihm in die Höhe und sah ihm mit einem jener Blicke in das Gesicht, die man nicht »machen« und nicht »mimen« kann, weil sie unmittelbar aus dem Innern der Seele blitzen. Da wagte er es nicht, weiterzusprechen. Er schlug die Augen nieder und war still. Fast leise, aber sehr deutlich fragte ich:
»Der Mir von Dschinnistan, den du befeindest, gab dieser deiner armen Totenstadt den rettenden Brunnen, an dem sie sich wieder lebendig trinken kann, wenn du, ihr Herr, nur willst. Wahrscheinlich werden wir sehen, daß er ihr noch mehr, weit mehr gegeben hat, als dieses Wasser nur. Nun sag, was gabst denn du? Was tatest du, um diesen Tod in Leben zu verwandeln? Diese einst so herrliche Stadt, welche heut eine der schönsten und berühmtesten des ganzen Morgenlandes sein würde, wenn deine Ahnen dessen würdig gewesen wären, ging an der Grausamkeit und Unmenschlichkeit ihrer eigenen Herrscher zugrunde. Als du noch ein Kind warst, betrachtetest du ihre Leiche nur als Schreckgespenst zum Gruseln und zum Grauseln; höher brachte man deine Gedanken nicht. Und als du Mann und Herrscher geworden warst, da diente dir dieses wunderbare Tal, welches laut zu dir, dem Gebieter, um Gnade und Erbarmen, um Liebe und Erlösung schreit, nur als unerbittlicher Abgrund des Hasses, der Vergeltung, der Rache! Aus deinem Auge fiel kein einziger, warmer Blick auf sie, die Verschmachtete! Und nun du hörst, daß der, den du nicht ausstehen kannst, weil er ein Herz für jedes Leid, für jedes Unglück hat, gekommen ist, ihr wohlzutun, sie zu retten und zu erlösen, da brausest du auf und behauptest, er habe dich beleidigt, und das dürfest du dir nicht gefallen lassen! Wie klein bist du, o Mir, wie klein! Und wie schädlich bist du, wie schädlich! Für die ganze Menschheit! Für dein Volk! Und für dich selbst!«
»Effendi, du wirst grob!«
Er sagte das mehr im Ton des Vorwurfes als des Zornes. Er fühlte sich also doch nicht nur getroffen, sondern zugleich auch derart niedergedrückt, daß er es nicht mehr fertigbrachte, sich in die Brust zu werfen. Ich aber ließ mich nicht hierdurch rühren, sondern fuhr in genau demselben Ton fort:
»Und bedenke, was du wagst mit diesem deinem Stolz, der wenigstens hier am ganz unrechten Platz ist! Du bist gefangen! Du sollst sterben, sollst verschmachten! In diese Lage hat dich wieder nur dein großes Selbstvertrauen gebracht! Du verließest dich auf deine Ortskenntnisse, die sich nun als völlig unzureichend erweisen! Ein Mann wie du, ein Herrscher, hat sich sehr zu hüten, zu solchem Unvermögen, sich selbst zu helfen, herabzusteigen! Wenn man die Achtung verliert, kehrt sie nie so schnell zurück, wie sie gegangen ist. Für Halef und mich bist du jetzt nur ein hilfloses Kind, weiter nichts! Du befindest dich nicht nur mitten im Reich des Todes, sondern zudem auch noch mitten unter lebenden Feinden; denn daß deine jetzigen Genossen nicht deine Freunde, sondern deine Feinde sind, das sagst du dir doch selbst!«
»Ich? Es mir selbst sagen? Ihr, meine Feinde? Es ist mir gar nicht eingefallen, mir das zu sagen! Ich halte euch ganz im Gegenteil für meine Freunde, und zwar für echte, wahre, edle Freunde! Ihr werdet mich nicht verlassen!«
»Nein, das werden wir allerdings nicht. Aber bedenke, daß der Dschirbani mit seinem Heer an der Grenze deines Landes steht, und wir, Halef und ich, sind seine Kampfgenossen! Bedenke, daß der Prinz der Tschoban nicht nur seines Volkes, sondern auch seines Bruders wegen, den du zu dem gemacht hast, der er ist, sich nur zu deinen Feinden, nicht aber zu deinen Freunden zählen darf! Und bedenke endlich, daß auch die beiden Prinzen der Ussul gar keinen Grund haben, sich etwa für dich aufzuopfern! Man weiß in ihrer Heimat sehr genau, daß du sie nur als Geiseln betrachtest, sie einsperren läßt, sobald es dir behebt, und ihre Truppen bestrafst und verbannst, demütigst und erniedrigst, so oft es dir gefällt, sie mögen es verdienen oder nicht. Diese beiden ehrlichen, aufrichtigen Menschen sind erst kürzlich wieder in der Stadt der Toten eingekerkert gewesen. Warum? Was hatten sie verbrochen?«
»Ich gab sie doch wieder frei!« warf er schnell ein.
»Das ändert nur die Folgen, nicht aber die Tat selbst! Sie wußten, daß ihr Leben an einem dünnen Haar, an einem einzigen Wort aus deinem Munde hing. Nun bist du selbst hier! Gefangen, hilflos, dem Tode geweiht! Wie groß und wie glühend denkst du dir wohl die Begeisterung, mit der sie nun bereit sein werden, sich für dich aufzuopfern? Glaubst du, daß sie dich lieben, oder glaubst du, daß sie dich fürchten und hassen?«
Er gab keine Antwort; er war still.
»Du schweigst! Also mitten unter Feinden; es ist nicht wegzuleugnen! Und da kehrst du den hohen Ton des Herrschers heraus, der nur zu winken braucht, so verlieren wir alle die Köpfe! Und da fühlst du, der sich nicht einmal selbst und viel weniger uns zu retten vermag, dich durch das Wasser beleidigt, dem du und wir unsere Rettung allein zu verdanken haben werden! Du wirst dem Mir von Dschinnistan dein und unser Leben schuldig sein, und ich erwarte von dir, daß du wenigstens in unserer Gegenwart mit der Achtung und Ruhe von ihm redest, die einem jeden geziemt, der von ihm spricht! Jetzt komm; wir steigen weiter hinab!«
Er folgte mir, ohne auch jetzt ein Wort zu sagen. Ich hatte in voller Absicht in dieser Weise zu ihm gesprochen, und ich hoffte, daß die Örtlichkeit, in der wir uns befanden, den Eindruck meiner Worte vertiefen werde. Ich machte ihn besonders auf die über den Treppenöffnungen stehenden Worte aufmerksam, welche zusammen den Satz »Erbaut zum Sieg im Kampfe für den Frieden« ergaben. Als wir unten ankamen, standen wir vor einem förmlichen See des reinsten, trinkbaren Wassers; so mächtig groß war das Gewölbe, in dem es sich sammelte. Er schöpfte mit der Hand und kostete. Dann sagte er:
»Bleib hier!«
Zwischen Mauer und Wasser führte ein steinerner Gang rundum, denn das sich auf einen kolossalen Mittelpfeiler stützende Gewölbe war kreisförmig, und so bildete auch die Randlinie des Wassers einen Kreis. Der Mir entfernte sich. Er ging langsam an dieser Kreislinie hin, deren Durchmesser so groß war, daß die kleine Kerzenflamme schon nach kurzer Zeit im dichten Dunkel verschwand. Nur noch die Schritte waren zu hören. Man vernahm ganz deutlich, daß ihr Schall an der Kuppel hinauflief und drüben aber nicht hinunterkonnte. Darum sammelten sich die Schallwellen aller dieser Schritte da oben zu einem Getöse, welches dort wie Donner rollte, bei mir hier unten aber nur wie das geheimnisvolle Flüstern einiger halbwelker Blätter klang. Dann hörte auch dieses Lispeln auf. Der Mir stand still.
Es war eine eigenartige Situation, die gar nicht zu beschreiben ist. Nach einiger Zeit flüsterte es wieder, aber nur kurz. Der Mir hatte eine Bewegung gemacht, wahrscheinlich sich niedergesetzt. Und nun kam eine lange, lange Pause, wohl eine halbe Stunde lang, in der sich gar nichts regte. Dann gab es so eigentümlich zischende, leicht schnaubende Töne. Weinte er vielleicht? Und gar nicht lange darauf gab es jenseits des Wassers ein lautes, ja überlautes Brausen, welches durch drei kurze Pausen in vier einzelne, zornige Stöße geschieden wurde. Wahrscheinlich hatte der Mir, ohne daran zu denken, daß ich es hören könne, in seiner inneren Aufregung einige Ausrufungen getan, die aber nicht als abgesetzte Worte, sondern als verworrener Schall zur Höhe gingen, so daß ich sie nicht verstehen konnte. Dort oben aber, wo sich alles Verworrene zusammenfand, um sich wieder aufzulösen, wurden die einzelnen Laute und Worte infolge des Schallgesetzes wieder ordnungsgemäß vereinigt, und kamen zu mir so leise, so vertraulich und doch so deutlich nieder, wie wenn eine teure Person, die wir heben, ihre Lippen unserm Ohr nähert, um uns etwas Willkommenes mitzuteilen. Es raunte mir zu: »Er hat recht –! Und ich will –! Ich will –! Ich will ...!«
Das war es, was sich aus seiner Seele herausgerungen hatte, diese Erkenntnis und dieser Entschluß. Diese Worte waren seinem Herzen unwillkürlich und unbewacht entstiegen, und nun dachte er wohl gar nicht daran, ob ich sie gehört und verstanden habe oder nicht. Hierauf kehrte er zurück, aber von der anderen Seite. Er war rund um das Bassin gegangen. Er ging, die Kerze in der Hand, an mir vorüber, ohne ein Wort zu sagen, und stieg die Treppe hinauf. Wie sehr mit sich beschäftigt mußte er sein! Ich folgte ihm, ohne ihm wegen dieser Achtlosigkeit zu zürnen! In dem oberen Raum angekommen, blieb er auch nicht stehen, sondern er blies seine Kerze aus, legte sie dahin, woher ich sie genommen hatte, und stieg vollends empor. Ich tat dasselbe, doch weniger hastig als er.
Als ich aus dem Treppenloch in das Freie trat, begrüßten mich meine Hunde, die hier zurückgeblieben waren. Sie hatten Angst für mich gehabt und stiegen nun mit den Vorderpfoten an mir empor, um sich zärtlich an mich zu drücken. Der Mir war schon die Freistufen hinuntergestiegen. Er stand auf der untersten und wartete auf mich. Er hatte seit meiner Strafrede nur erst zwei Worte gesprochen; nun aber, als ich zu ihm hinunterkam, fragte er:
»Effendi, was bist du für ein Mensch? Was du durchsetzen willst, das setzt du durch, es mag andern wehetun oder nicht!«
»War es gut, oder war es schlecht?«
»Es war gut!«
»So gewöhne dir das ebenso an, wie ich es mir angewöhnt habe! Man soll das Gute stets durchsetzen, mag es wehetun oder nicht. Nur der Böse räsonniert über den heilsamen Schmerz, den es verursacht.«
»Schmerz war es, ja Schmerz! Und zwar kein geringer! Ich dachte, als ich da unten am Wasser stand, ich müsse hineinspringen und mich ersäufen. Da aber dachte ich auch an meine Mutter, an die einzige, die mich liebte. Es war, als ob sie bei mir stehe und mir deine schweren Worte tragen helfe. Da erkannte ich, daß du recht gehabt hast in allem, was ich von dir sah und hörte. Und ich bekannte es, um mich nicht länger selbst zu betrügen. Ich rief es laut über das Wasser hinaus, so daß es war, als ob alles zusammenstürzen wolle. Du mußt den Lärm, den das machte, gehört haben. Zu verstehen aber war kein Wort. Du gehst jetzt zu den Gefährten?«
»Ja.«
»Ich bleibe hier und warte. Ich bitte dich, dem Dschirbani und dem Prinzen der Tschoban zu sagen, daß ich gerne mit ihnen sprechen möchte, und zwar jetzt, hier, an dieser Stelle. Willst du das tun?«
»Sehr gerne! Gott segne dich! Und nicht nur dich, sondern auch alles, was du mit ihnen redest!«
Ich ging mit meinen Hunden. Er blieb allein. Aber noch war ich keine zwanzig Schritt gegangen, so hörte ich seine Stimme hinter mir:
»Effendi!«
»Was?« fragte ich, indem ich stehenblieb.
»Ich habe gelesen, was du mir zeigtest: ›Erbaut zum Sieg im Kampfe für den Frieden!‹ Und ich habe es nicht nur gelesen, sondern es mir auch überlegt, da unten, am Wasser! Niemand kann geben, was er nicht hat. Ich kann meinem Volk keinen Frieden geben, wenn ich ihn nicht selbst besitze, in meinem eigenen Innern. Ist das richtig?«
»Ja. Darum hat dich der Mir von Dschinnistan mit diesem Brunnen im Innern des Landes in deinem eigenen Innern gepackt; überlege dir auch das!«
»Das werde ich! Ich wollte dir jetzt nur sagen, daß du unbesorgt sein kannst. Dein Stachel wirkt, und deine Hiebe sitzen! Nun geh!«
»Ich danke dir!«
Als ich bei den Gefährten ankam, waren sie soeben mit dem Essen fertig. Ich machte mich sogleich daran, dies nachzuholen, und teilte dem Dschirbani und dem Prinzen der Tschoban mit, was der Mir von ihnen wünschte. Sie waren beide sofort bereit, seinem Verlangen nachzukommen.
»Das wird eine wichtige, sehr wichtige Unterredung!« sagte der Dschirbani. »Es hängt viel, sehr viel von ihr ab, wahrscheinlich der ganze Frieden! Und du, Effendi, hast mir noch nicht erzählt, was du erlebtest, seit du mich verließest. Es wäre wohl besser, wenn ich vor dieser Unterredung mit dem Mir recht ausführlich mit dir hätte sprechen können.«
»Hast du wirklich noch nichts erfahren?« fragte ich lächelnd. »Sollte Halef so ganz und gar geschwiegen haben? Das wäre das erste Mal in seinem Leben!«
»Nein, Sihdi, ich habe nicht geschwiegen«, fiel der kleine Hadschi schnell ein. »Ich habe rasch alles erzählt, alles, alles! Die Zeit bis zu deiner Wiederkehr war kurz; darum habe ich mich beeilt, sehr beeilt. Nun wissen sie aber auch alles, und du hast also nicht nötig, wieder von vom anzufangen und unsere Abenteuer noch einmal zu durchlaufen. Und sollte ich ja etwas vergessen und unbenutzt liegengelassen haben, so kehre ich schon ganz von selbst zurück, um es aufzuheben und sorgfältig nachzuholen. Darauf gebe ich dir mein Wort!«
»Dein Wort ist nicht nötig, lieber Halef«, lachte ich. »Ich bin von der Wahrheit dessen, was du mir sagst, vollständig überzeugt, auch ohne daß du mir eine besondere Versicherung gibst.«
»Ja, so bin ich, so! Glaubhaft in höchstem Grade! Ich danke dir, Sihdi, für dieses Leumundszeugnis aus deinem Munde. Es tut meinem Herzen wohl!«
Bei alledem verstand es sich ganz von selbst, daß ich, wenn ich der Erzähler gewesen wäre, den Ereignissen und Personen wohl andere Seiten abgewonnen hätte als Halef; aber die Zeit war zu kurz dazu, den Dschirbani vor seinem jetzigen Gang zum Mir von allem zu unterrichten. Und übrigens soll der Mensch ja nicht etwa denken, daß er bei der Leitung seiner Lebensereignisse vollständig unentbehrlich sei. Es waltet über uns eine Hand, die um so sicherer alles zum guten Ende führt, je weniger wir sie stören.
Als der Dschirbani und der Prinz uns verlassen hatten und mein Abendbrot verzehrt war, öffnete ich alle unsere Schläuche und gab den Pferden und Hunden das noch vorhandene Wasser. Das, was sie bekommen hatten, war nicht genug gewesen, weil wir geglaubt hatten, sparen zu müssen. Nun aber war diese Sparsamkeit nicht mehr nötig. Halef erinnerte mich natürlich sogleich daran, daß das Wasser doch für morgen aufgehoben werden müsse.
»Oder gibt es hier etwa Wasser?« fragte er.
»Ja«, antwortete ich.
»Wo? Natürlich dort im Engel?«
»Allerdings.«
»Waret ihr etwa drin?«
»Ja.«
»Wie sieht er aus? Wie ist er eingerichtet?«
»Ganz genau so, wie der Engel an der Landenge von Chatar. Aber Wasser hat er noch mehr, viel mehr.«
»Hamdulillah! Dann haben wir gewonnen, gewonnen, gewonnen! Ich werde gleich fortgehen, um diesen unsern beiden Gefährten die äußere Gestalt und das innere Räderwerk des Engels zu zeigen!«
Er erhob sich schnell von seinem Platz und forderte die beiden Prinzen der Ussul auf, ihm zu folgen. Sie waren stille, herzensgute Menschen, die sich am glücklichsten fühlten, wenn sie unbeachtet blieben. Sie sprachen nur, wenn sie gefragt wurden. Noch keiner von ihnen hatte aus eigenem Antrieb auch nur ein einziges Mal das Wort an mich gerichtet. Ihr Verhältnis zu Halef schien freilich kein ganz so schweigsames zu sein; dafür hatte er in seiner Weise gesorgt. Jetzt, als sie ihm nach dem Engel folgen sollten, sahen sie mich fragend an, ob ich es ihnen wohl erlaube. Ich schüttelte den Kopf:
»Ich bitte dich, zu bleiben, Halef. Du kannst jetzt nicht hin.«
»Warum nicht?«
»Weil der Mir dort mit dem Dschirbani und seinem Gefährten spricht.«
»Mich stören sie nicht. Wir gehen still an ihnen vorüber.«
»Schon euch nur zu sehen, würde eine Störung sein, würde die Rede des Mirs auf die innere Einrichtung des Engels lenken und ihn also von der Hauptrichtung, in welcher seine Gedanken zu bleiben haben, abbringen.«
»Hauptrichtung? Gedanken? Abbringen! Sihdi, ich verstehe dich nicht ganz! Wenn ich einmal einen Gedanken habe, und dieser hat eine Hauptrichtung, so möchte ich den Menschen sehen, der es fertigbringen könnte, mich von meinem Gedanken oder meinen Gedanken von mir oder ihn und mich, also uns alle beide, von der Hauptrichtung abzubringen. Aber ich bin nun einmal dein wahrer Freund und Beschützer und werde also auch diesmal tun, was du wünschst. Bleiben wir also hier. Ich lasse dich nicht allein, Effendi!«
»Ich danke dir, Halef, für diesen deinen Schutz! Sobald es Tag geworden ist, gibt es viel zu tun. Wir wissen nicht, was auf uns wartet. Laßt uns Kräfte sammeln, indem wir schlafen!«
Ich ging zu Syrr, der sich auf meinen Wink niederlegte, um mir als Schlafgefährte und Kopfkissen zu dienen. Ich streichelte ihn liebkosend und schlief dabei ein, er wahrscheinlich auch. Als ich aufwachte, war nicht nur die Nacht, sondern auch das Morgengrauen schon vorüber, und der helle Tag kam zu der Stätte des einstigen Maha-Lama-Sees hereingestiegen. Halef schlief noch, die beiden Ussul ebenso. Der Mir fehlte. Der Dschirbani und der Prinz von Tschoban saßen beisammen und sprachen leise miteinander. Ich stand auf, ging hin und setzte mich bei ihnen nieder, nachdem ich aber vorher einen forschenden Blick auf den Ort gerichtet hatte, an dem wir uns befanden.
Ich kann sagen, daß mich ein tiefes Staunen ergriff, ein ganz eigenartiges heiliges oder vielmehr nur halb heiliges Grauen, denn unter der feierlichen Einsamkeit und Stille, in der das alles lag, lauschte grinsend der Gedanke hervor, daß in der Tiefe der heutigen Gegenwart, also in der Vergangenheit, der unheimliche, fürchterliche Bodensatz verborgen liege, aus dem die jetzige, tief ergreifende Lautlosigkeit sich losgerungen hatte. Diese Stille kam mir nicht wie die Stille des Todes, sondern wie die Stille nach überstandenen Qualen, Martern und Leiden vor.
Der Platz des einstigen Sees war so groß, daß wir ihn grad noch überschauen konnten, aber die Perspektive verkleinerte uns die uns gegenüberliegende Seite derart, daß alles, was in unserer Nähe hundertfünfzig oder zweihundert Fuß hoch war, nur zwei bis drei Meter hoch zu sein schien. Die Oberfläche der früheren, nun ausgefüllten Tiefe bildete eine Fläche von der absoluten Ebenheit einer Tischplatte. Nicht die geringste Erhöhung war zu sehen, natürlich den Engel abgerechnet, der grad im Mittelpunkt stand. Um so höher und steiler aber stiegen die Felswände auf, die, ohne auch nur die kleinste, schmalste Lücke zu lassen, rundum emporragten wie Riesenmauern eines aus dem grauesten Altertum übriggebliebenen Kolossalzirkus, dem nur die quadernen Sitze fehlten, nicht aber die Raumausdehnungen für die blutigen Metzeleien zwischen Mensch und Tier, um das Menschentier und den Tiermenschen zu belustigen. Es erschien mir unmöglich, daß diese Felsenwände ihre absolute Ähnlichkeit mit einer Mauer nur allein von der Natur erhalten hatten. Es gab nicht den kleinsten Vorsprung, nicht die geringste Abweichung von der senkrechten Fläche. Ganz unbedingt hatten hier Menschenhände nachgeholfen. Aber wie viele, viele Tausende mußten das gewesen sein! Und wie man hier im Innern bemüht gewesen war, ein Emporkommen an dem Felsen zu verhindern, so sahen wir später, daß man auch auf der Außenseite jede Stelle abgetragen und ungangbar gemacht hatte, an der es vielleicht möglich gewesen wäre, von außen her über die hochgezackten, scharfen Felsenzinnen hinüber nach dem See zu steigen.
Daß und wie und wie lange hier Menschenhände gewaltet, geschafft und gearbeitet hatten, zeigte mir gleich schon der erste Blick, den ich rund um die Einfassung der Ebene sandte. Die Arbeit war eine doppelte gewesen; sie hatte sich teils auf das Felsenäußere, teils auf das Felseninnere erstreckt. Das Äußere war, wie bereits gesagt, zur glatten, senkrechten Mauer gehauen worden. Wo es Lücken gegeben hatte, waren sie ausgefüllt worden, und zwar in so vortrefflicher Weise, daß ein sehr scharfes Auge dazu gehörte, den Unterschied zwischen Natur- und Menschenwerk zu entdecken. Sodann hatte man einen sehr hohen und sehr tiefen verdeckten Gang ausgehauen, der unten zur ebenen Erde rund um den ganzen Seeplatz lief. Eine mehr als erstaunliche Leistung! Jedenfalls das Werk mehrerer Jahrhunderte! Von zwanzig zu zwanzig Schritten hatte man gewaltige Massivpfeiler stehenlassen, welche oben in wohl abgemessenen Bogen nach beiden Seiten und nach innen griffen, um die auf ihnen ruhende Felsenlast zu tragen. Hierdurch war das Wunderwerk der Kolonnade entstanden, die sich, äußerlich betrachtet, wie eine ununterbrochene Säulenkette um den gigantischen Fuß der Felsenrunde legte. Sie war so breit, daß zwölf Mann, ohne einander zu berühren, nebeneinander hergehen konnten, und zwei gewöhnliche Stockwerke hoch. Hieraus folgt, daß die Innenwand der Kolonnade ungefähr zehn Meter von der Hauptwand des Felsens eingerückt war. Man sah nicht die geringste Spur einer Tür. Und doch mußten Türen vorhanden sein, denn es gab Fenster, wenn auch nicht in der Form, die man mit dem Worte Fenster bezeichnet. Das führt mich auf die zweite Art der riesigen Arbeit, nämlich auf die, welche sich nicht auf das Felsenäußere, sondern auf das Felseninnere bezog.
Ich hatte nämlich Grund, anzunehmen, daß diese gewaltige Felsenrunde ein »Inneres« besaß, daß sie nicht kompakt, sondern hohl war, daß man sie ausgehauen und mit dem hierdurch gewonnenen Material den See nach und nach ausgefüllt hatte. Es gab in diesem Felsen Räume, viele und zum Teil sehr große und sehr hohe, vielleicht auch sehr tiefe Räume. Das schloß ich aus den vielen Öffnungen, die ich als Fenster bezeichnet habe. Ich erinnere an die langen, schmalen, viereckig senkrechten Luft- und Lichtöffnungen, welche man besonders auf dem Land in den Wänden von Scheunen, Heuböden und sonstigen Vorratshäusern findet. Sie sind mehr schießscharten- als fensterähnlich. Solche Scharten gab es hier unzählige, und zwar außerordentlich regelmäßig verteilt. Es waren zwischen je zwei Säulen oder Pfeilern vier Stück angebracht, nämlich zwei Paare. Das eine Paar befand sich in der eingerückten Wand der Kolonnade, und zwar da, wo die Deckenwölbung begann, das andere Paar aber hoch in der Haupt- und Außenwand, wohl zwanzig Fuß hoch über dem vorigen. Diese Scharten waren ungefähr zwei Fuß breit und fünf Fuß hoch. Man sah von außen, daß sie nach innen nicht eben, sondern abwärts verliefen, daß sie sich also nach innen senkten. Dadurch wurde dem Licht ein ungehinderter Zutritt gestattet, als wenn diese Öffnungen waagerecht angebracht gewesen wären. Außerdem gab es zwischen je zwei Säulen im Hoch- und Mittelpunkt der gewölbten Decke ein Luftloch von der Größe, daß man eine geballte Männerhand hineinstecken konnte. Bei entsprechender Innenverbindung ermöglichte das eine Luftzirkulation, die jedenfalls genügte, einen nicht ganz unbedeutenden Raum von Stick- und sonstwie verdorbener Luft freizuhalten. Aus diesen und anderen Gründen vermutete ich, daß es hier viele und bedeutende Innenräume gebe, obgleich keine einzige Türe zu sehen war. Ich hegte aber die Überzeugung, daß wir ganz gewiß eine, dann mehrere und endlich gar noch viele entdecken würden, sobald wir uns nur erst die Aufgabe stellten, nachzuforschen. Jetzt war hierzu noch keine Zeit. Ich habe bis jetzt nur beschrieben, was ich gleich bei und mit dem ersten Rundblick bemerkte. Dem war dann später nachzuforschen. Jetzt aber hatte ich mit dem Dschirbani und seinem Gefährten zu reden, um zu hören, ob irgend etwas mit dem Mir besprochen worden war, was ich zu erfahren hatte.
»Sahib, soeben war von dir die Rede«, sagte der Dschirbani, der mich bekanntlich am liebsten Sahib nannte. »Es war eine große, schöne, fast möchte ich sagen, erhabene Nacht!«
»Ist etwas Wichtiges geschehen?« fragte ich.
»Nein, nichts eigentlich Wichtiges. Und aber doch! Etwas unendlich Wichtiges, für Ardistan wichtig im allerhöchsten Grade!«
»Darf ich es erfahren?«
»Du weißt es schon!«
Er lächelte mich bei diesen Worten an.
»Ah! Du meinst die Wandlung, die sich gegenwärtig im Innern des Mirs vollzieht?«
»Ja, die meine ich. Er hat uns alles, alles erzählt, und das hat ganz anders geklungen, als das dein Halef erzählte. Was bist du für ein kühner, verwegener, wagemutiger Mann!«
»Nur überlegend und berechnend, weiter nichts! Und wenn die Überlegung mich einmal zu einem guten Entschluß geführt hat, so lasse ich ihn nicht liegen, sondern bringe ihn zu Ende, selbst wenn ich dadurch in die Gefahr komme, für grob und rücksichtslos gehalten zu werden.«
»In dieser Gefahr hast du dich in letzter Zeit allerdings wiederholt befunden, sehr, sehr!«
»Er hat sich beklagt?«
»O nein! Mit keinem Wort! Er lobte nur, und zwar aufrichtig, wie ich glaube behaupten zu können. Das muß ich dir sagen, damit du über die Frage, was und wie er über dich denkt und spricht, beruhigt bist. Er hat sich überhaupt über niemand beklagt, auch nicht über seine Gegner und nicht über die Aufrührer. Und ebensowenig hat er sich über sich selbst beklagt. Von Selbstanklagen, Bekenntnissen und Geständnissen hat es keine Spur gegeben. Wir haben über den Glauben gesprochen, über die Religionen der Erde, über den Wert der Wissenschaften, über die Kunst der Fürsten, ihre Völker glücklich zu machen, über die Verpflichtung des Menschen seinen Nebenmenschen gegenüber und über alle möglichen anderen Fragen, welche du als Menschheitsfragen zu bezeichnen pflegst. Man hörte ihm das heiße, aufrichtige Verlangen an, sich zu orientieren, über diese Fragen, über uns, über sich selbst. Er kommt mir vor, wie die erste gute, nützliche Frucht eines bisher unnützen, vielleicht sogar giftigen Baumes. Eure Anwesenheit in Ard ist von vortrefflicher Wirkung gewesen. Besonders tief hat ihn die Weihnachtsfeier gepackt. Ich glaube, er ist auf dem besten Weg, ein Christ, und zwar ein sehr ernster, zu werden. Er hat bisher das Abendland verachtet und gehaßt; nun aber beginnt er schon, es zu schätzen und liebzugewinnen. Es hat ihm imponiert.«
Als der Dschirbani eine Pause machte, fiel der Erstgeborene der Tschoban ein:
»Denke dir diese Örtlichkeit! Diesen scharfen Ausschnitt des Sternenhimmels mit der geheimnisvollen, werdenden Mondessichel über dem noch nie gesehenen Maha-Lama-See! Denke dir die Gedanken, Ahnungen und Gefühle, die das erweckt! Und denke dir dazu uns drei Männer, ein jeder anders, einer jeder eigengeartet, ein jeder von der Vorsehung auf einen nicht gewöhnlichen Platz gestellt! Diese drei Männer sind zum ersten Male beisammen, dem Tode geweiht, doch keineswegs verzagend! Sie hoffen, von einem Europäer gerettet zu werden, den sie ehren, den sie lieben, dem sie vertrauen, denn er ist nicht zu ihnen gekommen, um sie auszubeuten, sondern aus wahrer, wirklicher Menschenhebe, die von Mohammed nur befohlen, von Christus aber wirklich geoffenbart und als Herrscherin eingesetzt worden ist! Und denke dir hierzu die Heiligkeit, Wichtigkeit und Größe der Fragen, die besprochen worden sind, so wirst du es glauben, daß die Stunden dieser jetzt vergangenen Nacht wirklich erhabene gewesen sind. Es wurde nur im Allgemeinen gesprochen; es wurde nichts Spezielles berührt. In Sonderheit vermied es ein jeder von uns, die zwischen uns brennenden Angelegenheiten und Verhältnisse auch nur von weitem zu erwähnen. Das soll jedenfalls erst noch geschehen. Und doch habe ich das Gefühl, als ob während unseres Gespräches dort am Wasserengel das nächstkünftige Geschick der hiesigen Völkerschaften entschieden worden sei, und zwar in günstigem, in glücklichem, in friedlichem Sinne!«
»Ich glaube es, obgleich mir nicht vergönnt war, der vierte bei euch zu sein. Wo ist der Mir jetzt? Kam er nicht mit hierher?«
»Als der Morgen graute und wir uns trennten, sagte er, daß es für ihn unmöglich sei, nun noch zu schlafen. Er werde einen Rundgang um den See machen und sich dann hier einstellen.«
»Wie unvorsichtig von ihm! Es ist zwar nicht wahrscheinlich, aber doch immerhin möglich, daß wir uns nicht allein an diesem Ort befinden. Wie leicht kann er in eine Gefahr geraten, aus der er sich nicht selbst zu befreien vermag! Ein Mir ist kein gewöhnlicher Mann. Er hat Rücksicht auf den Wert zu nehmen, den seine Person nicht nur für ihn selbst, sondern auch für andere hat! Doch glaube ich, ihn zu sehen. Da draußen kommt jemand.«
Es gab, allerdings weit draußen unter den Säulen, einen Punkt, der sich auf uns zubewegte. Ab er näher kam, sahen wir, daß es ein Mensch war, in dem wir dann den Mir erkannten. Er hatte heut ein ganz eigentümliches Gesicht. Es sah aus wie das Gesicht eines Hungernden, eines Fakirs, eines Büßers. Seine Augen glühten. Seine Wangen waren eingefallen. Seine Stimme hatte jenen halb heiseren Klang, den man als »belegt« bezeichnet. Er hatte Fieber; das sah ich ihm an, obgleich er sich Mühe gab, es zu verbergen. Wir standen, als er uns erreicht hatte, auf und begrüßten ihn. Er gab mir die Hand und sagte:
»Eine Nacht wie die vergangene gab es für mich noch nie. Und der Morgen ist noch rätselhafter und geheimnisvoller als sie! Gebt mir zu trinken! Ich habe Durst.«
»Das Wasser ist alle; wir müssen zum Engel«, antwortete ich. »Auch mußt du essen.«
»Ich kann nicht!«
»Du mußt! Wir alle müssen! Du bist verpflichtet dazu!«
Er drohte mir mit dem Finger und antwortete, indem ein mattes Lächeln über sein Gesicht flog:
»Du scheinst der Mir von Ardistan zu sein, nicht aber mehr ich!«
»Ich meine es gut mit dir. Du aber kannst tun, was dir gefällt, auch krank werden, gerade dann, wenn es nötig ist, möglichst stark, gesund und rüstig zu sein. Es geht um deine Herrschaft, sogar beim Essen und Trinken!«
»Gut! Ich esse!«
»So reiten wir zunächst nach dem Engel, um Wasser zu schöpfen. Du hast einen Rundgang gemacht. Wohl nur teilweise?«
»Nein, sondern vollständig.«
»Was fandest du?«
»Nichts, was als Fund zu bezeichnen wäre. Der Platz ist öde und leer und ohne die geringste Spur von pflanzlichem oder tierischem Leben. Aber betroffen bin ich, im höchsten Grade betroffen über die Bauten, die ich hier sehe! Konnte man so etwas ahnen? Konnte man so etwas für möglich halten? Auch du wirst erstaunt sein, Effendi, aber nicht über diese Felsenwerke und Säulen, denn du hast oft noch größeres gesehen, sondern über etwas ganz anderes, nämlich über mich und meine Unwissenheit.«
»Wieso?«
»Ich bin der Fürst dieses Landes und habe doch von diesen Riesenbauwerken nichts gewußt. Wird man dir das glauben, wenn du es in deiner Heimat erzählst? Wird man es nicht lächerlich finden? Wird man dich nicht für einen Lügner halten?«
»Nein. Man wird eure Entwicklung, eure Geschichte, eure Verhältnisse in Betracht ziehen. Man wird erwägen, daß es in lamaistischen Ländern stets zweierlei Herrscher gab, einen weltlichen und einen geistlichen, und daß beide ihre besonderen Interessen immer derart verfolgten, daß jeder von ihnen so wenig wie möglich von dem, was der andere tat, erfuhr. Und die Hauptsache: Die Wüste ist über euch hergefallen und hat den besten und schönsten Teil deines Landes verschlungen, nicht nur die räumliche, die geographische Wüste, sondern auch die geschichtliche, die zeitliche; euch fehlt die Geschichte. Ihr habt nur noch Sagen. Örtlichkeiten und Bauwerke, die vor Jahrtausenden von dieser geographischen und geschichtlichen Wüste verschlungen wurden, sind so vollständig in Vergessenheit geraten, daß man sich ihrer nicht mehr erinnert. Und die Teufelssage, die du mir erzähltest, hat das übrige getan, den letzten Rest des Gedächtnisses auszuwischen. Als es nach langen, grausamen Kämpfen deinen Vorfahren gelungen war, die Maha-Lamas in kraftlose Schatten zu verwandeln, waren sie bemüht, nun auch noch das geschichtliche Bewußtsein ihrer Taten auszustreichen. Der Teufel, der den Maha-Lama betrog, wurde erfunden. Wer aber in Wahrheit die Betrüger und die Betrogenen waren, das werden wir wahrscheinlich heut noch sehen. Ich vermute sehr, daß das Volk es war, welches betrogen worden ist, und zwar um eine Segnung sondergleichen, die dem alten Ard das Leben erhalten hätte, selbst als der Fluß, wie die Sage erzählt, nach seinem Ursprung zurückgegangen war. Die alten Maha-Lamas waren Befreundete des Mirs von Dschinnistan, der nicht wollte, daß Ardistan, sein Nachbarstaat, nach und nach zur Wüste werde. Kennst du den Namen des Maha-Lama, der nach der Sage jenen Pakt mit dem Teufel schloß?«
»Ja. Er hieß Abu Schalem.«
»Also Vater des Friedens! Dieser Name bestätigt meine Vermutung. Die weltlichen Herrscher sind stets für den Krieg, die geistlichen für den Frieden gewesen. Auch du bist für den Krieg. Der Mir von Dschinnistan ist für den Frieden. Du hast den Krieg mit Gewalt herbeigeführt. Es soll mich nicht wundern, wenn ich nach meiner Heimkehr höre, daß dein einst so schönes Land vollends zur Wüste geworden ist! Jetzt komm; wir wollen reiten!«
Ich hatte, während wir dies miteinander sprachen, mein Pferd und er das seinige gesattelt. Nun stiegen wir auf und ritten nach dem Engel. Die andern folgten. Der Dschirbani und der Prinz der Tschoban, denen man ihre Pferde genommen hatte, bekamen für einstweilen unsere Packpferde; so war für alle gesorgt. Der Mir sprach jetzt, indem er neben mir her ritt, nicht weiter. Ich will aufrichtig gestehen, daß ich mir selbst jetzt häßlich vorkam. Ich bin stets bemüht, allen, mit denen ich verkehre, nur Freundlichkeit und Liebe zu geben, und hier wurde ich durch die Verhältnisse gezwungen, streng, objektiv, zuweilen sogar rücksichtslos, vielleicht auch schroff zu sein. Das tat mir leid; das tat mir sogar wehe; aber ich konnte nicht anders; ich hatte meine Pflicht zu tun. Und diese bestand darin, diesem Mann ganz unerbittlich wissen zu lassen, daß er bisher weder als Fürst noch als Mensch daran gedacht hatte, seine eigentlichen, ihm von Gott gestellten Aufgaben zu erfüllen. Falls ich mir hierdurch sein bisheriges Wohlwollen verscherzte, war er es gar nicht wert, daß man sich um sein Wohlwollen überhaupt bekümmerte.
Als wir die andern, die den Engel noch nicht kannten, in sein Inneres führten und ich ihnen seine Bedeutung zu erklären versuchte, begannen sie zu ahnen, daß es mit dem Maha-Lama-See denn doch wohl eine andere Bewandtnis habe, als die alte Sage, die aber keine Sage, sondern eine glatte Lüge war, der Nachwelt weismachen sollte. Das Räderwerk wurde geölt und, was aus Holz oder Leder bestand, mit Wasser angefeuchtet. Als das geschehen war, funktionierte die Schöpfmaschine fast tadellos, und es dauerte gar nicht lange, so waren alle Tröge, Eimer und Schläuche gefüllt und unsere Pferde und Hunde mit so viel frischem Wasser getränkt, wie sie nur haben wollten. Hierauf wurde gefrühstückt, und dann konnten wir darangehen, uns das Innere des Riesenbauwerkes zu erschließen.
Zunächst war es nötig, einen Überblick zu gewinnen. Zu diesem Zweck unternahmen wir vorerst einen langsamen Ritt um die ganze, riesige Runde. Es war während desselben kein Grashalm, kein kleinster Käfer, keine Mücke zu sehen. Und ebenso fehlte jede Spur davon, daß seit längerer Zeit irgendein Mensch hier gewesen sei oder sich vielleicht gar noch hier befinde. Ich gewann die Überzeugung, daß wir seit vielleicht schon Jahrhunderten die ersten waren, denen der Zutritt hier gelang. Dann, als wir diesen Ritt beendet hatten und wieder von den Pferden stiegen, stand es in mir fest, daß auch der Panther und sein alter Basch Islami von diesem Ort nichts wußten. Sie kannten nur den zugewölbten Kanal. Wir hatten am Ende desselben, da, wo er sich zu einem größern Raum erweiterte, verschmachten und sterben sollen. Daß es da eine verborgene Rolltüre gab, die ins Freie führte, war ihnen unbekannt. Darum konnten wir uns hier am einstigen See ganz ungeniert bewegen, ohne befürchten zu müssen, von irgend jemand gestört zu werden.
Die Hauptsache war nun, die vorhandenen Türen zu finden. Wenn die Mechanik des Verschlusses hier dieselbe war wie an dem Stein, der den Kanal verschloß, so mußten wir vor allen Dingen nach den Schlüssellöchern suchen, und dann war die Frage, ob mein Messerschlüssel in alle passen werde. Die Fensterpaare, die es zwischen je zwei Säulen gab, waren alle in der Mitte der betreffenden Wandfläche angebracht, und zwar da oben, wo die Deckenwölbung begann. Das habe ich bereits gesagt. Der einfache Menschenverstand führte zu der Vermutung, daß sich da wohl auch die Tür befinden werde, also gerade unter dem Fenster. Wir schauten nach. Richtig! Wir fanden die Risse und Spalten, und wir fanden auch die mit nassem Sand verklebten Schlüssellöcher. Dieser Staub war natürlich nicht mehr feucht; er war trocken und hart, aber es bedurfte nur einer ganz geringen Anstrengung, ihn zu entfernen. Als dies geschehen war, stellte es sich leider heraus, daß mein Schlüssel nicht paßte; er war zu klein. Wir versuchten es bei einer anderen Stelle. Wir fanden auch hier die Tür und die Schlüssellöcher; aber mein Schlüssel paßte wieder nicht; er war zu groß. Da wurden meine Gefährten ungeduldig. Sie gingen von Säule zu Säule, entdeckten Tür auf Tür, befreiten Loch auf Loch vom verhärteten Staub und kamen doch nicht weiter, als ich, der ich mich niedergesetzt hatte, um still zu überlegen. Mein Schlüssel war eben bald zu groß, bald zu klein; er paßte in keines der Löcher. Mein kleiner Halef fühlte sich tief unglücklich über diesen Mißerfolg. Und außerdem war er wütend über mich.
»Wie kann man sich nur so hersetzen und die Hände in den Schoß legen, wie du, Effendi!« rief er mir zu. »Siehst du denn nicht, wie wir uns alle plagen?«
»Habe ich dir befohlen, dich zu plagen?« fragte ich ihn.
»Nein«, antwortete er.
»So mach deine Vorwürfe dir, aber nicht mir!«
»Aber es muß doch etwas geschehen! Man muß doch etwas tun! Wir arbeiten! Du aber tust nichts, gar nichts!«
»Oho!« lachte ich. »Ich überlege!«
Da stemmte er seine beiden Hände in die Seiten und sprach:
»So! Du überlegst! Und machst dazu ein so dummes Gesicht, daß es mir angst und bange um dich wird! Siehst du denn nicht ein, daß es zu gar nichts führen kann, mit einem derartigen Gesicht zu überlegen? Wenn das Nachdenken eines Menschen einen Erfolg haben soll, so darf er dazu nicht das Gesicht eines Schafes oder eines Wasserfrosches machen! Ich habe dir zwar gesagt, daß das Überlegen deine und dann die Ausführung meine Sache ist, aber wenn du beim Überlegen nicht wenigstens ein ebenso pfiffiges Gesicht machst wie ich bei der Ausführung, so ist es am besten, wir vertauschen unsere Rollen, nämlich ich überlege und du führst aus!«
»Gut! Schön! Einverstanden, lieber Halef! Setze dich! Setze dich sofort hierher! Auf die Stelle, wo ich gesessen habe! Und überlege du einmal! Du wirst es schneller und besser fertigbringen als ich! Und wenn du fertig bist und es gefunden hast, dann komme ich wieder und führe es aus!«
Ich nahm ihn an beiden Armen und drückte ihn auf dieselbe Stelle nieder, an der ich soeben gesessen hatte.
»Aber Effendi, so ist es doch nicht gemeint!« rief er aus. »Ich wollte doch nur sagen, daß ...«
»Still!« unterbrach ich ihn. »Still! Nicht auf das, was du sagen wolltest, kommt es hier an, sondern auf das, was du gesagt hast! Und du hast gesagt, daß du mit mir die Rolle vertauschen wolltest. Du wolltest überlegen, und ich soll dann ausführen, was du gefunden und beschlossen hast! So hast du gesagt, und so mag es geschehen!«
»Aber, Sihdi, du weißt doch, daß ich gerade im Überlegen keineswegs so geübt bin wie in anderen Dingen und daß ich ...«
»Still«, fiel ich ihm abermals in die Rede; »sei still! Daß du im Überlegen nicht bewandert bist, das sieht man dir ja sofort an; aber du wirst dich sehr schnell in meine Rolle finden. Wenn wir einen Spiegel hätten, könnte ich dir zeigen, wie rasch und vollständig du dich schon in das Schaf- und Wasserfroschgesicht gefunden hast. Es wird sogar Leute geben, welche behaupten, daß du mich hierin schon weit übertriffst. So bin ich überzeugt, daß du mich auch in Beziehung auf das Nachdenken sehr bald überholen wirst. In einer halben Stunde wirst du fertig sein. Da komme ich wieder. Bis dahin, lebe wohl!«
Ich ging zu meinem Pferd und stieg auf.
»So willst du mich verlassen, Sihdi?« fragte der so unerwartet beim Wort Genommene. »Hast du dir auch die Folgen überlegt?«
»Nein, denn das Überlegen ist ja nun nicht mehr meine, sondern deine Sache! Also, lebe wohl!«
»Allah, Wallah, Tallah! Er verläßt mich wirklich! Er hat kein Herz für mich und meine Qual! Er hält mich an dem Wort fest, welches doch gar nicht fest gewesen ist, sondern sofort zerrissen wird, sobald man daran zerrt! Er will sich rächen! Sich rächen für das Schaf und für den Wasserfrosch! Er ist nicht groß, nicht edel und erhaben! Und wenn er wiederkommt, so wird er mich ...«
Mehr hörte ich nicht, denn ich hatte mich nun schon so weit von ihm entfernt, daß seine Stimme nicht mehr zu mir dringen konnte. Schon bald aber hörte ich eine andere, welche hinter mir erscholl. Als ich mich umschaute, sah ich den Mir, der mir auf seinem köstlichen Schimmelhengst nachgeritten kam und mir zurief, langsamer zu reiten, damit er mich einholen könne. Ich hielt an. Als er mich erreichte, sagte er:
»Das ist wieder einmal eine gute Lehre, die du dem Scheich der Haddedihn erteilst. Ob sie ihm wohl Nutzen bringen wird?«
»Ich hoffe es, obgleich es in erster Linie ganz und gar nicht meine Absicht war, gute Lehren zu erteilen.«
»Was sonst?«
»Ich wollte nur frei sein, weiter nichts. Ich wollte fort, weiter nichts. Heraus aus allen diesen Fragen, die man an mich richtet! Man verlangt von mir, daß ich nachdenken, daß ich die Lösung dieser Rätsel finden soll, und man läßt mir doch nicht die nötige Zeit und Sammlung dazu. Die Gedanken kommen nicht in der Weise und in der Masse wie die Mücken aus der Pfütze. Man muß die Dinge auf sich wirken lassen, sonst kann man sie nicht durchschauen und ergründen. So auch hier! Ich kann nur dann auf die Besonderheiten und Heimlichkeiten, die wir entdecken wollen, kommen, wenn es mir möglich ist, mich in die Zeit und in die Menschen, um die es sich bei der Entstehung dieses Riesenbaues handelte, hineinzudenken und hineinzufühlen. Ganz selbstverständlich aber kann ich das nicht, wenn jemand, wie Halef, immerfort auf mich einspricht.«
Das war deutlich! Leider aber wurde der Wunsch, der in diesen meinen Worten lag, vom Mir nicht verstanden, oder er beachtete ihn einfach nicht. Der Gedanke, daß ich auch ihn, den Herrscher, damit meinen könne, war ihm eine Unmöglichkeit. Er blieb bei mir und ritt mit mir weiter.
»Willst du noch einmal rundherum, Effendi?« fragte er.
Ja«, antwortete ich. »Während unserer ersten Runde sprach man immerfort auf mich ein. Ich kam zu keiner genauen Betrachtung, weder mit dem äußerlichen noch mit dem innerlichen Auge. Das habe ich jetzt nachzuholen.«
»So bin ich neugierig, ob du jetzt nun findest, was du vorhin nicht gefunden hast. Es wäre ja mehr als bedauerlich, wenn wir uns hier mitten unter den wichtigsten Geheimnissen befänden, ohne ein einziges von ihnen zu enthüllen. Du sprichst nicht nur vom äußerlichen, sondern auch vom innerlichen Auge. Was du hier in diesem Fall damit meinst, das verstehe ich nicht ganz, sondern nur halb; aber ich nehme an, daß dir dein Suchen leichter würde, wenn dir die Verhältnisse, unter denen diese Riesenwerke entstanden, bekannter wären, als sie es dir sind. Ich glaube, zu dieser besseren Bekanntschaft einige Beiträge liefern zu können. Ich habe dir nämlich ein Geständnis zu machen, ein Geständnis, welches sich auf die unversöhnliche Feindschaft zwischen meinen Vorfahren und den alten Maha-Lamas bezieht. Die weltlichen Herrscher, also meine Ahnen, sind aus diesen erbitterten Kämpfen stets als Sieger hervorgegangen, und mehrere geistliche Herrscher haben das mit dem Leben bezahlen müssen. Ich bin heut früh, als ich beim Tagesgrauen an diesen Säulen vorüberschritt, mit mir zu Rate gegangen, ob ich dir davon erzählen soll oder nicht. Du bist mein Gewissen geworden. Du kannst mein Herz beschweren und kannst es wieder entlasten. Will ich meine Fehler erkennen, so frage ich dich, denn du bist wahr und gerecht; du verschweigst mir keinen einzigen, und du bist bei aller Strenge doch mild, denn du läßt mich stets den guten Zweck und das heilsame Ziel dieser Strenge erkennen. Und will ich die Fehler meiner Vorfahren ermessen, so habe ich dir alles zu berichten, was ich von ihnen weiß. Du wirst mir sagen, ob es auch für das, was sie taten, einen guten Zweck und ein heilsames Ende gibt oder nicht.«
Da antwortete ich:
»Dieser Zweck liegt tiefer, als unsere sterblichen Augen reichen, und dieses Ende ist nur in deine eigene Hand gelegt.«
»In die meinige?«
»Ja, denn du bist der Träger deines Stammes. Auf dir lastet alles Verborgene, was deine Ahnen zu Berge häuften, das Gute und auch das Böse. Wir Christen wissen, daß Gott alles herrlich hinausführt. Die Torheit der Menschen kann die Ausführung seines Ratschlusses höchstens erschweren und verzögern, nicht aber verhindern. Und ein einziger Fürst, der zur Einsicht kommt, ist imstande, die Irrungen einer ganzen Ahnenreihe zum guten Schluß zu leiten und dadurch den Fluch des Weltgerichtes in Verzeihung und Segen zu verwandeln.«
»Oh, könnte ich das!« rief er aus, die Hände zusammenschlagend, wie man zu tun pflegt, wenn man seinem Wunsch einen recht, recht herzlichen Nachdruck geben will.
»Du kannst, wenn du willst! Nur wollen, wollen, wollen!«
Da richtete er sich hoch im Sattel auf, hob die Hand wie zum Schwur empor und beteuerte:
»Ich will; ich will! Effendi, ich werde dir erzählen; ich werde dir beichten. Du sollst alle Sünden, die an dem Volk von Ardistan begangen worden sind, erfahren, soweit ich sie selbst kenne. Und zwar sofort! Ich bin dir deshalb nachgeritten. Es muß von meinem Herzen herunter. Ich erfuhr das alles von meiner Mutter. Sie war die einzige, die mich liebte, und sie war auch die einzige, die mich über die Taten der Herrscher von Ardistan niemals belog. Aber ich war noch jung, und sie starb; ich vergaß. Doch nun öffnen sich die Tiefen meines Innern, und die Warnungen und Schilderungen der geliebten Toten beginnen wieder wach und lebendig zu werden. Du mußt das alles hören. Ich beginne mit ...«
»Nein, nein!« unterbrach ich ihn da schnell. »Nicht jetzt, nicht jetzt!«
»Warum nicht? Es drängt mich; es will heraus! Ich bin dir ja nur deshalb nachgeritten, um mit dir allein zu sein und dir ungestört erzählen und berichten zu können!«
Da hielt ich mein Pferd an, so daß er auch das seine parieren mußte, und sah ihm mit lachenden Augen in das erregte Gesicht, indem ich ihn fragte:
»Du reitest also hier an meiner Seite, um mir zu erzählen?«
»Ja. Ich will beichten! In meinem Namen und auch im Namen derer, die meine Vorgänger gewesen sind!«
»Und du wünschest, daß ich dieser deiner Beichte meine volle Aufmerksamkeit schenke?«
»Ja freilich!«
»Und ich aber reite an deiner Seite, warum?«
»Um – um – um die Schlüssel zu den vielen Türen, die es hier gibt, zu finden«, antwortete er zögernd, indem ihm doch nun endlich die Erkenntnis zu kommen schien, daß ich nicht gerade begeistert davon war, daß er mich begleitete.
»Und du wünschst, daß ich diese Schlüssel alle finde?«
»Sogar sehr!«
»Da muß ich aber ganz selbstverständlich alle meine Gedanken zusammennehmen und darf mich nicht mit andern Dingen beschäftigen. Nun wähle! Entweder du oder die Schlüssel!«
»Nicht beides zugleich?«
»Unmöglich! Ein jedes fordert für sich den ganzen Kopf!«
»So trete ich natürlich zurück. Erzählen kann ich auch später. Die Hauptsache ist vor allen Dingen, daß wir die Türen aufbekommen. Aber bei dir bleiben darf ich doch?«
»Wenn du nicht sprichst!«
»Ich schweige!«
»So komm!«
Wir ritten weiter. Der gute Mann ahnte wirklich nicht, daß mich schon bloß seine Anwesenheit stören mußte, auch wenn er schwieg. Je weiter wir kamen, ohne daß ich irgend etwas bemerkte, was ich mir als Wink dienen lassen konnte, um so größer wurde meine Befürchtung, daß auch dieses Mal alle Mühe vergeblich sein werde. Und das störte mein inneres Gleichgewicht und raubte mir die Empfänglichkeit für die Eindrücke, die zu mir sprechen sollten. Glücklicherweise waren die Felsen einsichtsvoller als der Mir. Sie zogen mich von ihm ab. Sie begannen zu sprechen, heimlich, leise, nicht in Worten, sondern zunächst nur in Ziffern und Zahlen. Eine der Säulen war geborsten, nicht ganz, sondern der Riß, der entstanden war, klaffte nur auf der einen Seite, von links oben nach rechts unten. Er war nicht tief. Unter andern Umständen wäre mein Auge hierüber hinweggeglitten, ohne es zu beachten; hier aber war eine solche unbedeutende Spalte im Felsen doch wenigstens einmal eine Unterbrechung der ewigen steinernen Ausdruckslosigkeit. Ich hielt an der Säule an, um einen Blick in den Riß zu tun. Das geschah ganz unwillkürlich, ohne besondere Absicht. Es war auch gar nichts drin, nicht einmal Staub. Und doch sah ich etwas, und zwar etwas höchst Wichtiges. Nicht in der Spalte selbst, sondern neben ihr. Es gab da zwei Vertiefungen im Stein, die eine über der andern. Sie waren gar nicht augenfällig, sondern so klein, daß das Auge sehr leicht darüber hinweggehen konnte, ohne sie zu bemerken. Man konnte sie überhaupt nur aus der nächsten Nähe sehen. Sie schienen mit einem sehr scharfen, kleinen Griffel eingeritzt zu sein und bildeten Figuren, die irgend etwas Bestimmtes zu bedeuten haben mußten. Ich sprang vom Pferd, um die Lage dieser zwei Figuren genau zu bestimmen. Sie saßen, nach mir betrachtet, gerade in Augenhöhe in der Säule. Die eine schien ein Buchstabe zu sein, und zwar ein arabisches Dschim; die andere aber war ganz gewiß das chinesische Zeichen für Örh. Ich ging nach der nächsten Säule. Da gab es wieder zwei Zeichen, genau in derselben Höhe. Das eine war der arabische Buchstabe Dal und das andere ein chinesisches Tschbi. Auf der dritten Säule sah ich ein arabisches Be und ein chinesisches Liu. Was sollte das? Was hatte das zu bedeuten? Die angegebenen Zeichen haben nicht nur Buchstaben- und Wort-, sondern zugleich auch Zahlenwert. Als was waren sie hier zu nehmen? Als Buchstaben und Worte? Oder als Zahlen? Ich entschloß mich für das letztere. Im Arabischen bedeutet der Buchstabe Dschim eine 3, der Buchstabe Dal eine 4 und der Buchstabe Be eine 2. Das chinesische Örh ist, in unsern Zahlen ausgedrückt, eine 2, das Tschbi eine 7 und das Liu eine 6. Das ergab also an den drei Säulen, die ich bis jetzt betrachtet hatte, folgende Zahlenzusammenstellung:
Arabisch: Chinesisch: Erste Säule: 3 2
Zweite Säule: 4 7
Dritte Säule: 2 6
Was diese Zahlen oder Ziffern zu bedeuten hatten, damit quälte ich mich jetzt noch nicht ab. Es mußte mir jetzt zunächst nur darauf ankommen, zu erfahren, ob allen Säulen in der ganzen Runde ein solches zweifaches Zeichen eingegraben sei oder nicht. Der Mir war ganz selbstverständlich auch abgestiegen und ließ sich zeigen, was ich gefunden hatte.
»Glaubst du etwa, daß diese Zeichen sich auf die Schlüssel beziehen?« fragte er.
»Ja, ich glaube es«, antwortete ich. »Bedenke die Menge der Räume, die es hier wahrscheinlich gibt! Sie müssen numeriert sein. Die Schlüssel also auch!«
»Aber warum nicht nur arabische Zahlen, sondern auch chinesische? Die kennt man hier in Ardistan doch nicht!«
»Eben deshalb, weil man sie nicht kennt! Das Verständnis für diese Ziffern war nicht für jedermann, sondern nur für gewisse Beamte.«
»Aber warum wählte man neben den arabischen Nummern gerade die chinesischen, keine anderen?«
»Weil das Chinesische fast einem jeden gebildeten Lamaisten geläufig ist. Doch das sind Fragen, auf die wir unsere kostbare Zeit nicht verschwenden dürfen. Wir haben jetzt alle Säulen zu untersuchen, ob jede einzelne ihre beiden Nummern hat. Das Übrige wird sich dann finden. Beeilen wir uns!«
Das ging nicht so schnell, wie man hätte meinen sollen, denn es traten hier und da Nebenumstände ein, die unsern Rundritt verzögerten. Er dauerte zwei volle Stunden, und das Ergebnis war, daß es nur zwei Säulen gab, die nicht numeriert waren, und die lagen einander gerade gegenüber, die eine genau in der Mitte der Süd- und die andere genau in der Mitte der Nordseite der Gebäuderundung. Mit diesen beiden Säulen mußte es also eine besondere Bewandtnis haben. Übrigens kam es sehr häufig vor, daß mehrere aufeinanderfolgende Säulen genau dieselben Nummern hatten. Da war anzunehmen, daß sie auch zu einem und demselben Raum gehörten und daß dieser also größer sei als die gewöhnlichen, die nur den zwischen zwei Säulen liegenden Raum einnahmen.
Was nun die beiden nicht numerierten Säulen betraf, so waren die zu ihnen gehörigen Felsenflächen entweder nicht hohl, oder die zwei hinter ihnen liegenden Räume hatten dem Zweck gedient, den man in der heutigen Zeit mit den bekannten Worten Verwaltungsbüro oder Portiers- und Hausdienerstube zu bezeichnen pflegt. In diesem letzteren Fall enthielten sie wahrscheinlich alles, was wir suchten und brauchten. Aber so sorgfältig ich die betreffenden Flächen betrachtete, betastete und beklopfte, es war kein Schlüsselloch zu finden. Das sprach dafür, daß die Mauer hier kompakt war und keine hohlen Räume hinter sich barg. Es gab auch noch einen zweiten Umstand, aus dem ich ganz dasselbe zu schließen hatte. Ich sah nämlich genau in der Mitte des größten Quaders ein aus dem Stein herausgehauenes Reliefbild der Sonne mit vierundzwanzig Strahlen. Zu ihren Seiten war je ein Buchstabe eingemeißelt, nämlich links ein arabisches Ta und rechts ein arabisches Rhain oder Ghain. Diese Buchstaben machten mich stutzig. Sie mußten unbedingt etwas zu bedeuten haben. Das Sonnenbild an sich ließ vermuten, daß ein Innenraum nicht vorhanden war, denn warum sollte man das einzige Relief, welches es gab, gerade an einer Türe angebracht haben, wo es doch am allerleichtesten beschädigt werden konnte? Aber die beiden Buchstaben hatten ganz ohne Zweifel einen Zweck, der sich auf das Sonnenbild bezog. Ich trat ganz nahe an den Stein heran und klopfte an das Relief. Sonderbar! Es klang so eigentümlich! Fast nicht wie Stein! Und als ich stärker klopfte, stäubte unter ihm ein außerordentlich feines Mehl hervor, welches der Wind im Laufe der Zeit da hineingeblasen hatte. Es war also ein Irrtum, als ich vorhin annahm, daß die Sonne zum Stein gehöre, daß sie aus ihm herausgehauen sei. Sie gehörte nicht ursprünglich zu ihm; sie war künstlich mit ihm verbunden. Sobald ich das erkannt hatte, machte ich eine Probe mit der Messerspitze und fand, daß die Sonne aus Metall, wahrscheinlich aus Zinn und Kupfer, gegossen und derart geätzt und bearbeitet worden war, daß man das Metall mit Stein verwechseln konnte. Diese Entdeckung lehrte mich schnell anders denken, als bisher, zumal ich bei aufmerksamerer Betrachtung bemerkte, daß der Stein in den innersten Strahlenwinkeln glattgeschliffen worden war. Die Sonne hatte sich also früher bewegt, und zwar sehr oft. Aber wie, in welcher Richtung und zu welchem Zweck? Sollten vielleicht die beiden Buchstaben angebracht worden sein, um hierüber Aufschluß zu geben? Höchstwahrscheinlich! Sie waren jedenfalls Anfangsbuchstaben von bestimmten Worten. Ich dachte an verschiedene, die ich aber schnell wieder verwarf, bis ich auf Tuluh und Choruhb kam. Tulu esch Schems heißt nämlich Aufgang, und Choruhb esch Schems heißt Untergang der Sonne. Die wirkliche Sonne bewegt sich vom Aufgang nach dem Untergang. War hieraus etwa zu schließen, daß man hier diese künstliche, diese bronzene Sonne von dem Buchstaben Ta nach dem Buchstaben Ghain zu bewegen, zu schieben, zu drehen hatte? Ich versuchte es. Es wollte nicht gehen, aber nur des Staubes wegen, der sich zwischen dem Stein und dem Metall angesammelt hatte. Als ich den Versuch mit stärkerem Klopfen und energischem Rütteln wiederholte, lockerte sich der Staub, und indem er streuend zur Erde niedersiebte wurde das Hindernis entfernt, und die Sonne begann, sich zu bewegen. Ich konnte sie wie ein Rad um ihre eigene Achse drehen, und indem ich dieses tat, hörte und fühlte ich zu gleicher Zeit, daß hierdurch ein Riegel zurückgezogen wurde. Der große, mächtige Quader wich von seiner Stelle, und zwar in genau derselben Weise wie der Stein am Ende des Kanals, nämlich nach innen, auf Gleisen, mit Hilfe von zwei Plattenunterlagen, deren erste sich senkte und deren zweite sich dann hob, um den rollenden Stein zum Stehen zu bringen.
»Maschallah, Wunder Gottes!« rief der Mir aus, als die verborgene Tür sich plötzlich vor uns öffnete. »Fast bin ich erschrocken! Wie hast du das gefunden? Bist du allwissend, Effendi?«
»Nichts weniger als das!« lachte ich, über diesen glücklichen Erfolg erfreut. »Die ganze Allwissenheit besteht darin, daß man seine Gedanken nicht auf falsche, sondern auf richtige Wege leitet; da kommt man zum Ziel. Treten wir ein!«
Indem ich diese Aufforderung aussprach, trat ich durch die nun offene Tür in das Innere. Der Mir folgte. Der Raum, in dem wir uns nun befanden, war ziemlich groß. Ais wir uns da umschauten, sahen wir, daß ich recht gehabt hatte, als ich vorhin annahm, wenn es hier eine Stube oder so etwas ähnliches gebe, werde sie wohl mit einer Portierloge oder Hausmannsstube zu vergleichen sein. Es gab da wirklich alles, was wir brauchten, nämlich alle möglichen Werkzeuge und, Gott sei Dank, auch die Schlüssel, die wir suchten. Es waren fünfzehn Stück. Sie hingen an der Wand, mit chinesischen Ziffern numeriert. Auch sie hatten die Form von Messern, deren Griff zum Drehen eingebogen werden konnte, so daß sie die Gestalt einer Kurbel annahmen. Die Klingen, welche aus stahlharter Bronze bestanden und vorn nach der Spitze zu immer schmäler wurden, waren eine jede neunmal quer eingekerbt, so daß zehn voneinander getrennte Schlüsselbärte entstanden, die mit arabischen Nummern bezeichnet waren. Da keine dieser Schlüsselklingen der andern an Länge und Breite glich, so konnte man mit diesen fünfzehn Messern zehnmal fünfzehn, also hundertundfünfzig Türen öffnen, wenn man nur wußte, welcher Schlüssel zu der betreffenden Türe gehörte und wie tief er in das Schlüsselloch gesteckt werden mußte. Indem ich mir dies vergegenwärtigte, erkannte ich plötzlich den Zweck der Nummern, die wir an den Säulen gesehen hatten. Die chinesische Ziffer bezog sich auf die Nummer des betreffenden Schlüssels, und die arabische auf die Nummer des Bartes, der die richtige Form besaß, den Riegel zu fassen. Zu jeder numerierten Säule gehörte die auf sie folgende Tür. Diese Entdeckung war so unendlich wichtig, daß ich keinen Augenblick zögerte, zu probieren, ob sie sich bestätigen werde. Ich nahm das Messer, dessen chinesische Nummer draußen an der nächsten Säule angegeben war, ging an den hierzu gehörigen Türstein und entfernte den Staub aus dem Schlüsselloch. Die arabische Nummer war arb'a; das bedeutet vier. Ich steckte die Klinge also bis zum vierten Bart in das Loch und drehte dann. Es gelang. Kaum war die Drehung vollendet, so bewegte sich der Stein nach innen, und zwar so schnell, daß ich fast darüber erschrak. Der Mir aber, der mir gefolgt war, rief aus:
»Auch hier kannst du öffnen? Mensch, ich beginne, mich vor dir zu fürchten! Und dabei bist du so still und sagst kein Wort!«
Ich hatte mich allerdings schweigsam verhalten, um mich mit meinen Gedanken ungestört beschäftigen zu können. Ich antwortete auch jetzt nicht, sondern begab mich in den vorigen Raum zurück, um meine Untersuchungen dort fortzusetzen. Die Werkzeuge befanden sich alle in bestem Zustand. An der Wand hing, auf chinesischen Stoff gezeichnet, ein ausführlicher Plan des ganzen, riesigen Baues, zu beiden Seiten zwei Teilpläne von der südlichen Hälfte desselben, auf der wir uns jetzt befanden. Andere Pläne, Verzeichnisse und ähnliche Schriften lagen auf einem großen Tisch, der in der Mitte des Raumes stand. Sie und noch vieles andere interessierte uns jetzt aber nicht. Wir verließen also für jetzt diesen Ort und stiegen zu Pferde, um quer über den freien Platz hinüber nach der andern Seite zu reiten, wo es auch zwei nicht numerierte Säulen gab, zwischen denen ein ähnlicher Raum wie der, den wir hier entdeckt hatten, zu vermuten war. Diese Vermutung erwies sich als richtig. Wir fanden eine ganz gleiche Sonne, und es stellte sich heraus, daß sie sich ebenso bewegen ließ, der Stein wich zurück, und wir betraten einen Raum von genau derselben Lage und Größe wie der gegenüberhegende. Auch seine Einrichtung war dieselbe. Dieselben Werkzeuge und Gerätschaften, dieselben Pläne an der Wand und auch dieselben Schlüssel, fünfzehn Stück, chinesisch numeriert, mit je zehn arabisch numerierten Barten. Es gab also hier auf der Nordseite wie auch drüben auf der Südseite je hundertundfünfzig Räume, in Summa dreihundert. Wozu sie bestimmt waren, sagten uns mehrere größere und kleinere Pläne, die auf dem Tisch lagen. Zu meinem Erstaunen sah ich da verzeichnet: viele Kammern für Reis, viele Kammern für Bohnen, viele Kammern für Weizen, viele Kammern für Mannah, viele Kammern für Leder, Kleiderstoffe und Vorräte aller andern Art. Es war für alles gesorgt, was für des Leibes Nahrung und Notdurft unerläßlich ist, nur nicht für Waffen, nur nicht für den Krieg, sondern nur allein für den Frieden. Es gab Wohnungen für Ober- und Unterbeamte. Es gab Arbeitssäle. Es gab Kranken- und Begräbnisräume, und es gab sogar einen Tempel. Auch sahen wir zwei Beratungssäle verzeichnet, die sehr groß zu sein schienen. Sie waren auf dem Plan eingetragen als Dschemma für die Lebenden und Dschemma für die Toten. Unter Dschemma versteht der Beduine eine Gerichtssitzung, eine Beratung der Stammesältesten. Was die Ausdrücke Tote und Lebende zu bedeuten hatten, konnten wir jetzt nicht wissen; wir hofften, es noch zu erfahren. Jetzt galt es, zunächst unsere Gefährten zu benachrichtigen, und dann einen Rundgang durch die sämtlichen Räume zu unternehmen, um dieses in seiner Art einzige Bauwerk wenigstens einigermaßen kennenzulernen. Wir nahmen also einen der Pläne und die Schlüssel zu uns und ritten dann nach der Stelle zurück, an der unsere Kameraden auf uns warteten. Als Halef uns kommen sah, rief er uns schon von weitem zu:
»Sihdi, ich habe an deiner Stelle nachgedacht, aber nichts gefunden. Wer soll das ausführen? Du oder ich? Ich glaube, du überläßt es mir, weil ich doch ...«
Er hielt inne, sprang aus seiner sitzenden Stellung auf und fuhr dann in einem ganz anderen Ton fort:
»Hamdulillah! Du hast etwas gefunden! Ich sehe es dir an! Ich kenne dich! Wenn es um deine Augenwinkeln in der Weise zuckt wie jetzt, da kann man zufrieden mit dir sein. Ich kenne dich genau!«
»Ja, wir können zufrieden mit ihm sein; das ist richtig«, bestätigte der Mir, indem wir von den Pferden sprangen. »Dein Effendi ist ein unbegreiflicher Mensch, fast ebenso unbegreiflich wie dieses Riesengebäude, in dessen Inneres man so schwer zu dringen vermag. Er aber hat die Schlüssel alle entdeckt!«
»Hat er sie?«
»Ja!«
»Ist das wahr, Sihdi?«
Ich nickte und rasselte mit den fünfzehn Schlüsseln, die ich in den Händen hatte.
»Das sind sie? Wie Messer geformt? Also wieder Messerschlüssel! Kannst du öffnen?«
»Werden gleich sehen!«
Mit diesen Worten ging ich zu dem ersten Türstein, dessen Schloßöffnung wir entdeckt hatten, und probierte den Schlüssel, dessen Nummer an der Säule zu lesen war. Er öffnete. Der Stein wich zurück, in das Innere des Raumes hinein. Als wir folgten, sahen wir diesen Raum von unten bis oben von festen, starken, geflochtenen Schilfsäcken angefüllt, die alle Reis enthielten, den schönsten, besten Reis, den man sich wünschen konnte. Wie lange lag er da? Wie viele, viele Jahrhunderte? Mußte er da nicht längst schon verdorben und ungenießbar geworden sein? Aber die Luft, in der wir uns befanden, war vollständig trocken und außerordentlich rein. Die schon einmal erwähnte Ventilierung schien eine außerordentlich wohldurchdachte und gute zu sein. Und der Reis verbreitete jenen eigentümlichen, wohltuenden Duft nach frischer Ernte, welcher ein untrügliches Zeichen seiner Güte ist. Wir staunten. Das waren Tausende von Säcken! Denn im Hintergrund ging eine Treppe tief hinab, und als wir nachschauten, sahen wir den unter uns liegenden Raum ganz ebenso gefüllt wie den, in dem wir uns befanden. Der Mir war sehr ernst geworden. Er legte seine Hand an meinen Arm und sagte:
»Besinnst du dich, Effendi, daß du mich einmal fragtest, was ich für mein Volk getan habe? Ob ich Vorratshäuser angelegt habe?«
»Ja«, antwortete ich.
»Ich habe keine angelegt. Der aber, der dieses Bauwerk schuf, hat es getan. Lache nicht über mich, wenn ich dir sage, daß mich der Anblick dieser Fülle anklagt, dieser Duft nach Nahrung und Sättigung!«
»Ob dieser Reis wohl noch genießbar ist?«
»Ganz unbedingt! Je älter er ist, desto besser hat er sich erhalten. Es gab im Altertum eine Zeit, in der man es verstand, jeder Getreidefrucht eine Haltbarkeit für Tausende von Jahren zu verleihen. Derartiges Getreide behält für immer den jungen, frischen Ernteduft. Ich bin überzeugt, daß hier der Reis von dieser Sorte ist. Man besaß damals sogar eine Feuchtigkeit, durch welche man die Körper der Verstorbenen unzerstörbar machte und sie genau in dem Zustand erhalten konnte, in dem sie sich in der letzten Stunde ihres Lebens befunden hatten.«
Wahrscheinlich hatte er recht. Es gibt Entdeckungen früherer Zeiten, die wir nun wieder zu entdecken haben, weil sie inzwischen verlorengegangen sind. Man braucht nur an das Rubinglas zu denken. Auch die Zusammensetzung der Flüssigkeit, in der man Leichen badete, um sie für immer zu erhalten, ist verlorengegangen. In neuerer Zeit aber scheint sie in Italien wieder entdeckt worden zu sein, wenn man den Zeitungen glauben darf, die hierüber berichten.
Wir gingen nun von Raum zu Raum. Das Öffnen der Tür gelang bei ihnen allen, ohne Ausnahme. Über zwanzig von ihnen waren nur allein mit Reis gefüllt, ebensoviele mit Mannah, Weizen, Bohnen, Linsen und andern, mir aber unbekannten Leguminosenarten. Ich habe bereits gesagt, daß ich die Stadt der Toten bei einer andern Gelegenheit ausführlich beschreiben werde. Das bezieht sich auch auf den Gigantenbau am einstigen Maha-Lama-See. Für heut und hier genügen einige kurze, allgemeine Andeutungen und die Hervorhebung nur derjenigen Örtlichkeiten, die für unsern diesmaligen Aufenthalt uns wichtig erschienen.
Vor allen Dingen gilt es zu sagen, daß wir zwei volle Tage brauchten, um, wenn auch nur im schnellsten Tempo, uns jeden der dreihundert Räume anzusehen. Die Mahlzeiten hielten wir im Freien. Zum Kochen, Backen und Braten gab es Töpfe, Geschirr, Brennholz und Holzkohlen mehr als genug. Ursprünglich hatten wir weder die Zeit noch die Absicht zu einem so langen Aufenthalt. Es gab tausend Gründe, besonders politische und kriegerische, die uns zur größten Eile mahnten. Das Land war ohne Herrscher und das Heer der Ussul und der Tschoban ohne Anführer. Die Fahne der Empörung flatterte; vielleicht herrschte gar schon Anarchie! Aber grad die beiden Personen, welche die größte Veranlassung zur Besorgnis hatten, nämlich der Dschirbani und der Mir, fühlten sich derart von dem geheimnisvollen Ort, an dem wir uns befanden, gefesselt, daß sie erklärten, ihn nicht eher verlassen zu wollen, als bis es ihnen gelungen sei, sich wenigstens oberflächlich zu orientieren. Sie empfanden und erkannten, daß ihre beiderseitigen Lebenswege hier an der Pforte einer Entscheidung oder einer Zukunft zusammengetroffen waren, die ihnen unendlich mehr bot, als sie selbst im ungünstigsten Fall an den Panther und seine Verschworenen verlieren konnten. Und sonderbarerweise, sie gingen immer nebeneinander, und sie standen immer beieinander. Sie hatten ein Wohlgefallen aneinander gefunden, welches von Stunde zu Stunde offener und wohltuender hervortrat. Ich störte sie so wenig wie möglich, und da sich Sadik, der schweigsame Prinz der Tschoban, meist zu den beiden Prinzen der Ussul hielt, so forderte ich Halef auf, in meiner Nähe zu bleiben und die andern möglichst wenig zu stören. Ich glaubte, der Zusammenschluß, der sich hier vorbereitete, werde für das ganze Leben sein, und das sollte sich freiwillig vollziehen, ohne von uns beiden direkt beeinflußt zu werden.
Bei einem der Gespräche zwischen dem Mir und dem Dschinnistani brachte der letztere die Rede auf Abd el Fadl, den Fürsten von Halihm. Der Mir fiel ihm sofort in die Rede, indem er fragte:
»Der Fürst von Halihm? Kennst du ihn vielleicht?«
»Ja.«
»Kennt ihn etwa der Effendi auch?«
»Ja, auch er.«
»Woher?«
»Er steht ja bei unserm Heer. Auch du mußt ihn kennen!«
»Wieso?«
»Ich schickte ihn nach deiner Hauptstadt, nach Ard. Er wohnt bei dir!«
Es geschah nicht etwa aus Unbedachtsamkeit, daß der Dschirbani dem Mir diese Mitteilung machte, sondern in voller Absicht, die mir sehr willkommen war. Der Mir wich einige Schritte zurück. Er erkundigte sich, seine erstaunten Augen abwechselnd auf den Dschirbani und auf mich richtend:
»Der Fürst von Halihm heißt Abd el Fadl, und eine seiner Töchter heißt Merhameh. Diese beiden Namen sind nicht selten. Sie kommen sogar sehr häufig vor. Darum sind sie mir nicht aufgefallen. Wollt ihr etwa sagen, daß dieser Sänger Abd el Fadl und seine Tochter Merhameh der Fürst und die Prinzessin von Halihm sind?«
»Ja, das wollen wir allerdings sagen«, antwortete der Dschirbani.
»So wurde ich von euch betrogen?«
»Betrogen?«
»Ja, betrogen! Besonders aber von dir!«
Diese letzteren Worte richtete er an mich. Seine Brauen zogen sich zusammen, und seine Augen blitzten mich zornig an. Ich aber lächelte ihn ruhig an und fragte:
»Fühlst du dich vielleicht als Betrogener?«
»Ja!« behauptete er.
»Wieso? Worin liegt der Betrug, den ich begangen habe?«
»Darin, daß die beiden Namen nun plötzlich eine ganz andere Bedeutung erlangen. Der Fürst von Halihm ist einer der höchsten Stützen des Mirs von Dschinnistan, also einer meiner hervorragendsten Feinde. Und den schickt ihr in mein Land, in meine Residenz, in meinen Palast?! Ist das nicht Betrug?«
»Nein, nur List. Wir meinten es gut mit dir.«
»Gut? Das ist wohl erst noch sehr genau zu prüfen! Vorerst denke ich jetzt nur daran, daß nun doch alles erfüllt worden ist, was die Weissagungen verkündet haben: Der Friede und die Barmherzigkeit haben ihre Stimmen in meinem eigenen Haus, in der christlichen Kirche erhoben! Nur weil ich glaubte, der Sänger und die Sängerin seien ganz gewöhnliche Personen, gab ich ihren Namen die Bedeutung nicht, die sie jetzt plötzlich bekommen haben. Nun befindet sich der treueste Anhänger meines Erbfeindes in demselben Palast, den ich bewohne. Und nicht nur das, denn ich habe ihm auch mein ganz besonderes Vertrauen geschenkt und schwebe also in viel größeren Gefahren, als ich bisher ahnte. Ihr habt mich überlistet. Wehe euch, wenn es mir in den Sinn kommt, euch zur Rechenschaft zu ziehen!«
Der Zorn trieb ihn von uns hinweg. Er ging hinaus und schritt quer über den Platz nach dem Wasserengel hinüber, wo sich unsere Pferde befanden. Wir sahen dann, daß er sich mit seinem Schimmelhengst beschäftigte, und ließen uns von seinem Ärger die gute Stimmung, in der wir uns befanden, nicht verderben. Er mußte ja wiederkommen; er konnte gar nicht anders. Wir setzten inzwischen die Besichtigung und Untersuchung der Örtlichkeiten fort. Es dauerte auch wirklich gar nicht lange, so kehrte er zurück, um uns eine Entdeckung mitzuteilen, die er soeben gemacht hatte. Er hatte nämlich seinem Pferd wieder Wasser geben wollen und war darum in den Engel gestiegen, und zwar bis ganz hinab, weil es ihm gewesen war, als ob sich da unten ein Geräusch vernehmen lasse, welches vorher niemand von uns bemerkt hatte. Er hatte natürlich ein Licht angebrannt und beim Schein desselben gesehen, daß das Wasser inzwischen ganz unvermutet so hoch gestiegen war, daß es den Rand des Bassins überflutete und durch eine hierzu angebrachte Seitenröhre einen laut rauschenden Abfluß fand. Diese Botschaft war für uns so wichtig, daß auch wir uns sofort nach dem Brunnen begaben und hinabstiegen, um die Sache in Augenschein zu nehmen. Es war so, wie er berichtet hatte. Das Bassin lief über, und der Abfluß war ein so bedeutender, daß ihn die hierzu bestimmte Röhre kaum zu fassen vermochte. Es klang wie das Rauschen eines Sturzbaches; das war eine Folge der vulkanischen Ausbrüche droben in den himmelhohen Bergen von Dschinnistan. Diese Berge hatten nun monatelang ununterbrochen geflammt. Die Schnee- und Eisfelder waren geschmolzen. Wenn man früher von Süden aus hinauf nach dem Gebirge sah, hob es sich weiß vom blauen Himmel ab; jetzt aber war es dunkel. Die ununterbrochen ausstrahlende Glut hatte die Firnen und Gletscher von den Höhen geleckt und aufgezehrt. Es waren Massen von Wasser entstanden und entstanden immer noch weiter. Es bildeten sich neue Rinnsale, und wo es keine gab, drang die überreichliche Feuchtigkeit in die Erde ein, um sich unterirdische Wege nach dem tiefer liegenden Land und der Ebene zu suchen. Die Engelsbrunnen lagen, wie bereits erwähnt, an solchen unterirdischen Wasserwegen, und die Wirkung trat bei ihnen demnach am schnellsten und am auffälligsten hervor. Das war nicht mehr bloß Feuchtigkeit, das war schon wirklich fließendes und rauschendes Wasser. Es hätte mich gar nicht gewundert, zu dem auch noch zu erfahren, daß sogar im Bett des ausgetrockneten Stromes das Wasser zutage trete. Als wir unsern Rundgang hierauf fortsetzten, schloß sich der Mir uns wieder an, ohne auf das Thema, welches ihn zornig gemacht hatte, auch nur mit einem einzigen Wort zurückzukommen. Er hatte eingesehen, daß es unter den gegenwärtigen Verhältnissen eine große Torheit gewesen wäre, ganz mit denen zu schmollen, die allein imstande waren, ihn aus seiner bedrängten Lage zu befreien.
Im Lauf des Nachmittags kamen wir durch die Wohnräume der Beamten, wo wir auf die Beweise glücklichsten Familienlebens stießen, durch zahlreiche Arbeitssäle, in welchen alle Handwerke, die es damals gab, vertreten waren, durch Kunsträume, in denen man gezeichnet, gemalt, gemeißelt und musiziert hatte. Wir fanden Krankenstuben, die selbst heute noch einen gar nicht üblen Eindruck machten. An diese schlossen sich sehr weite, ober- und unterirdische Säle an, in denen sich die Begräbnisstellen befanden, die ich an einem andern Ort ausführlich beschreiben werde. Den Beschluß des heutigen Tages bildete gegen Abend die Besichtigung des Tempels, der einen sehr großen Eindruck auf uns machte, und zwar infolge seiner absoluten, nachhilfelosen Einfachheit. Er bildete das Innere des höchsten und kompaktesten Berges der ganzen Runde und war in Form eines Kreiskegels, also eines Zuckerhutes, ganz aus dem Fels gehauen. Auf seiner Grundfläche, also auf dem eigentlichen Fußboden, befand sich kein einziger Sitz; er war überhaupt nicht zur Aufnahme des Publikums, oder sagen wir, der Gemeinde, der Gläubigen bestimmt. Hierzu war vielmehr eine Einrichtung vorhanden, die sich in Form einer ununterbrochenen, immerwährend rundum laufenden Spirallinie von unten bis hinauf zur höchsten Spitze zog. Diese Spirallinie war aus lauter Sitzen zusammengesetzt, die eine nicht waagerecht liegende, sondern nach und nach ansteigende Empore bildeten und zum Schutz mit einer starken Balustrade versehen waren. Vor jedem Sitz war in dieser Balustrade ein rundes Loch angebracht, welches die Bestimmung hatte, ein Licht aufzunehmen. Diese Löcher zählten nach vielen Hunderten, und in jedem steckte ein ganzes Licht, welches noch niemals angebrannt worden war. Das gab den Anschein, als ob in ungemessener, alter Zeit einmal ein Gottesdienst vorbereitet worden sei, der aber nicht abgehalten werden konnte, worauf der Tempel für immer verlassen werden mußte. Ganz unten auf der Grundfläche, da, wo die Spirale begann, stand ein kleine, sehr einfache Kanzel, jedenfalls für den Priester bestimmt. Als ich sie sah, kam mir die Frage, welche akustische Wirkung es wohl gehabt habe, wenn er seine Stimme zu der leuchtenden Spirale über sich erhob. Hierbei nehme ich die Gelegenheit, einige Worte über die Beleuchtung aller dieser am Maha-Lama-See vorhandenen Räumlichkeiten zu sagen.
Ich habe die Fensteröffnungen, die sich über jeder Tür befanden, schon einmal erwähnt. Sie verliefen nicht waagerecht, sondern sie senkten sich von außen nach innen. Hierdurch wurde dem Tageslicht der Eintritt in das Innere erleichtert, aber auch dem Staub und etwaigen Insekten und andern Tieren, welche den hier aufgehäuften Vorräten gefährlich werden konnten. Darum waren diese Fensteröffnungen von innen luftdicht verschlossen, doch so, daß das Licht trotz dieses Verschlusses vollen Eingang fand. Aber womit? Man hätte meinen sollen, es sei Glas, und zwar sehr reines, gutes Glas; aber das war ja ausgeschlossen. Den vollständig durchsichtigen, außerordentlich glasähnlichen Stoff näher zu untersuchen, war bisher unmöglich gewesen, weil die Fenster zu hoch lagen, als daß sie von uns erreicht werden konnten. Nun aber, hier im Tempel, ging ich die Spiralempore hinauf, bis ich das erste Fenster erreichte, und da sah ich denn, daß es eine Art von Kaliglimmer, vielleicht Muskovit war, der, wahrscheinlich auf eine mir unbekannte Weise noch extra zubereitet, vollständig die Stelle des lichtdurchlässigsten Glases vertrat. Das reichte aber selbst am Tage nicht aus, den gewaltigen und außerordentlich hohen Raum des Tempels zu erhellen. Daher die vielen Lichter.
Es war wohl selbstverständlich, daß in uns der Wunsch entstand, auf der rundum gewundenen Empore bis zur Spitze hinaufzusteigen. Wir taten es. Das heißt, zunächst taten es nur die andern, denn ich blieb noch unten, um einige akustische Proben zu machen. Nachdem ich sie instruiert hatte, wann und wie sie mir zu antworten hatten, begannen sie ihren langsamen Kreiselweg. Ich nenne ihn langsam, weil sie im Hinaufsteigen sämtliche Lichter anbrannten, eines immer am andern. Das hielt sie auf. Ich sprach mit ihnen. Sie antworteten. Aber je höher sie kamen, desto leiser wurden ihre Antworten. Endlich hörte ich sie gar nicht mehr. Nun rief ich ihnen mit verdoppelter Stärke meiner Stimme Fragen zu, deren Antworten ich ihnen eingeprägt hatte. Vergebens. Sie gaben diese Antworten, aber ich hörte sie nicht. Das machte einen ganz eigenartigen, unbeschreiblichen Eindruck auf mich. Ich sah, wie die Zahl der brennenden Lichter wuchs. Ihre Linie wurde immer länger und länger und stieg immer höher und höher, bis sie die Spitze des Tempels erreichte. Wie ich später erfuhr, drang meine Stimme mit größter, reinster Deutlichkeit bis dort hinauf; das aber, was sie erwiderten, mußte oben bleiben; es konnte nicht herunter zu mir. Um mich gab es nur tiefes, lautloses Schweigen. War das vielleicht eine gewollte Symbolik derer, die einst diesen Tempel aus dem toten Felsen schlugen? Ich glaubte, dies bejahen zu müssen, denn man unternimmt kein so schwieriges, zeitraubendes Werk, ohne über die Wirkung desselben nachgedacht zu haben. Ich aber beeilte mich, der mich beklemmenden Lautlosigkeit zu entgehen und stieg meinen vorangegangenen Gefährten nach.
Es war inzwischen draußen Abend geworden. Darum befand ich mich hier unten im Innern des Tempels nicht nur in vollständiger Stille, sondern auch in ebenso vollständiger Dunkelheit. Aus dieser Finsternis stieg grad von da aus, wo ich stand, die Lichterlinie empor, einen immer weiter aufwärts dringenden, sich scheinbar unendlich oft wiederholenden und doch niemals zu sich selbst zurückkehrenden Kreis beschreibend. Daß dieser Kreis immer kleiner und enger wurde, kam mir nicht als Wirklichkeit, sondern wie eine optische Täuschung vor und verdoppelte, verzehnfachte, ja, verhundertfachte die wirkliche Höhe des Tempels. Es war, als sei er mitten in den Himmel hineingebaut und als könne man von Licht zu Licht bis direkt vor Gottes Thron gelangen. Und diesen Weg stieg ich jetzt hinauf!
Je höher ich stieg, desto mehr wurden der Lichter unter mir; aber ich schaute absichtlich nicht hinab; ich schaute nur nach oben, um mir die spätere, bessere Wirkung nicht schon im voraus zu verderben. Oben angekommen, sah ich, daß es eine Öffnung nach außen gab, und als ich hinaustrat, befand ich mich mit meinen Gefährten auf einer Felsenplatte, die, wie ich selbst jetzt, des Abends, bemerken konnte, eine außerordentlich weite Fernsicht bot. Die Tür, welche aus der Spitze des Innentempels heraus auf diese Platte führte, war unverschließbar. Sie bestand einfach aus einem Stein, der auf- und zugeschoben werden konnte.
»Da kommst auch du!« sagte Halef, ab er mich sah. »Hast du gehört, was wir hin ab riefen?«
»Nein«, antwortete ich.
»Und wir haben doch förmlich gebrüllt! Wir verstanden jedes Wort von dir. Was du sagtest, das klang so laut und eindringlich, wie eine einzelne Stimme einer Orgel oder wie eine Posaune. Willst du es nicht auch einmal hören? Soll ich hinuntersteigen und zu dir heraufsprechen?«
»Ja, tue es«, antwortete ich.
»Schön! Ich werde dir einige Stellen aus dem Koran sagen, etwas recht Feierliches und Ernstes, wie es sich für dieses Gebäude, welches ein Tempel ist, schickt.«
Da fiel der Mir ein:
»Aus dem Koran? Ist dein Effendi denn ein Mohammedaner? Er soll anderes und besseres hören! Du kannst hier oben bleiben, denn ich selbst gehe hinab. Ich werde ihm etwas heraufsagen, was besser für diese ergreifende Stätte paßt als das, was er von Mohammed hören könnte. Wir befinden uns an einem wunderbaren Ort; ich fühle es. Darum darf hier auch nur wirklich Heiliges, nur wirklich Edles und nur wirklich Wahres und Großes gesprochen werden!«
Er ging. Daß er, der Höchste von uns allen, mir diesen Dienst erweisen wollte, war jedenfalls nicht äußerlich, sondern tief innerlich begründet. Dieser Felsentempel hatte ihn ergriffen, hatte auf ihn gewirkt, und diese Wirkung bestand in dem Wunsch, nun auch uns ergreifen zu können. Darum stieg er hinab in die Dunkelheit, um aus ihr zu uns heraufzusprechen. Aber was wollte er uns sagen? Nichts aus dem Koran, sondern etwas Besseres, Edleres und Heiligeres. Was konnte das sein? Er war doch nicht Christ!
Von der Höhe dieser Platte aus sahen wir den nördlichen Himmel genau so flammen und glühen, wie ich es gesehen hatte, als ich auf dem Tempel von Ussula saß. Und es wirkte hier, wo wir uns inmitten der Wüste und des Todes befanden, seelisch noch ergreifender als dort. Wie innig standen wir mit diesen Flammengluten in Verbindung! Sie waren es ja, die unsern Brunnen speisten; sie waren unsere Lebensretter! So führen feste, wohltätige Fäden im Menschenleben aus der Unbegreiflichkeit in das Begreifliche, vom Himmel zur Erde, vom Schöpfer zum Geschöpf und – und wieder zum Schöpfer zurück, sobald wir nur wollen! Wir traten von der Platte nun in das Innere des Tempels zurück, um den Augenblick, in dem der Mir zu sprechen begann, nicht zu versäumen. Wir setzten uns nieder und warteten still. Dann verging eine lange, lange Zeit. Er mußte schon längst unten angekommen sein und sagte noch immer nichts. Das machte meine Gefährten ungeduldig, ich aber konnte es wohl begreifen. Es war der Anblick des Tempels, der ihn jetzt noch mehr ergriff als vorher. Er fühlte sich innerlich überwältigt. Es gingen Dinge in ihm vor, die ihn so ganz und gar für sich in Anspruch nahmen, daß wir vor ihnen weichen mußten. Es war überhaupt eine ganz wunderbare Fügung des Himmels, welche den Mir gezwungen hatte, unter den gegenwärtigen Umständen nach der Stadt der Toten zu gehen. Schon unser Weihnacht hatte ihn gepackt, die Liebe und die Güte, die Gnade und Barmherzigkeit. Hier kam der Ernst dazu, der gewaltige und drohende Ernst der Jahrhunderte und Jahrtausende. Ich habe schon einmal die Geisterschmiede von Kulub erwähnt, in welcher die Menschenseelen gehämmert, gestählt und geschmiedet werden. Der Mir befand sich jetzt in diesem psychischen Kulub, in dieser Geisterschmiede, und es war mir von höchstem Interesse, zu erfahren, mit welchem Erfolg oder Mißerfolg er sie verlassen werde. Die gewundene Linie der flackernden Lichter führte hinunter zu ihm. Er stand da, wo sie begann, und schaute herauf zu uns, ohne uns aber zu sehen. Was wird er sagen? Jedenfalls doch irgend ein Wort, welches das enthält, was ihn in diesen Augenbücken bewegt! Gerade als ich das dachte, erhob sich in der finstern Tiefe eine Stimme, welche klang, als ob sie aus ganz anderen Welten stamme und auch zu ganz anderen Welten spreche als nur zu unserer kleinen, unbedeutenden Erde und zu uns paar armseligen Menschen. Langsam, deutlich, hehr und gewichtig, wie Glocken oder Posaunentöne stiegen die Worte zu uns herauf:
»Wo soll ich hingehen vor deinem Geist? Und wo soll ich hinfliehen vor deinem Angesicht? – Stiege ich in den Himmel, so wärest du da. Stiege ich in die Hölle, so wärest du da. – Nähme ich mir Hügel von der Morgenröte, und wohnte ich am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten!«
War das der Mir? Natürlich! Wer anders sollte es sein? Aber wie kam er zu diesem Bibelspruch? Wenn die Menschenstimme überall täuschen und sich verstellen kann, hier in diesem Tempel des Maha-Lama-Sees aber nicht! Indem sie hier wie eine Offenbarung klingt, offenbart sie vor allen Dingen auch sich selbst. Und in dieser Stimme lag die Wahrheit. Was der Mir jetzt sagte, bewegte ihn auch wirklich. Nach einer kleinen Pause kam der zweite Ruf:
»Wie der Hirsch sich sehnt nach Wasserquellen, also verlanget meine Seele, o Gott, nach dir. – Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem starken, lebendigen Gott. Wann werde ich hinkommen und erscheinen vor Gottes Angesicht?«
Hierauf wieder eine kurze Weile, dann erklang es:
»Dein Wort ist meinen Füßen eine Leuchte und ein Licht für meine Wege!«
Das waren allerdings drei wirklich hehre, heilige und gewichtige Worte. Der Mir hatte mehr, viel mehr gesagt, als ich für möglich gehalten hätte. Denn daß es sich bei ihm nicht nur um eine akustische Demonstration handelte, das verstand sich ganz von selbst. Er beichtete. Er gab Rechenschaft. Er offenbarte die Tiefe seines Innern. Es drängte ihn; er konnte nicht anders. Aber er war noch nicht fertig. Er mußte auch noch das Allerbeste und Allerwichtigste, was er besaß, aus seiner Seele zu uns steigen lassen. Es erklang:
»Jesus Christus ist derselbe, gestern und heut und auch in Ewigkeit! Amen!«
Dieses Amen sagte uns, daß er fertig sei. Die andern blieben noch einige Minuten still sitzen. Auch sie fühlten, daß jetzt neben dem rein Äußerlichen auch noch etwas rein Innerliches geschehen sei, woran man nicht mit faden Worten rühren dürfe. Dann standen sie auf und schickten sich an, den Stein vor die Öffnung zu schieben und dann hinabzusteigen. Sie glaubten, daß dies auch meine Absicht sei. Ich aber belehrte sie eines anderen, indem ich sagte:
»Geht immer hinunter! Ich bleibe noch hier und werde dann hier schließen. Löscht alle Lichter aus, an denen ihr vorüberkommt; laßt keines brennen!«
»Aber dann, wenn du hinuntergehst, mußt du doch auch Licht haben, Effendi, sonst stürzt du!« meinte Halef besorgt.
»So zünde ich mir eines an«, antwortete ich.
»Aber du darfst nicht lange bleiben; du mußt mit uns essen, Effendi! Weißt du, heut wird einmal gekocht, wirklich gekocht, gebacken und gebraten! Denn es gibt hier alles, was wir dazu brauchen! Unzählige Delikatessen! Ich koche selbst! Und die andern helfen mir alle, alle, alle! Da kannst du dir doch denken, daß es ein Abendessen gibt, wie es selbst der Schah von Teheran oder der Sultan von Istambul nicht besser haben kann. Also du kommst?«
»Ja.«
»So leb einstweilen wohl! Du bist ein Dichter und schreibst Bücher; darum hältst du es gern mit allen Höhen und Spitzen, wo es nichts zu essen gibt. Aber wir, die wir keine Dichter sind und auch keine Bücher schreiben, wir gehören hinunter auf die ebene, sichere Erde und ziehen den Duft eines guten Bratens den fettesten Reimen und den dicksten Büchern vor.«
»So wünsche ich, daß dir der Braten wohlgelingen möge, mein lieber Halef!«
Sie stiegen hinab und verlöschten dabei ein Licht nach dem anderen. Ich sah einige Zeitlang zu, wie die Lichtspirale sich immer weiter von mir zurückzog; dann trat ich wieder hinaus in das Freie und setzte mich dort nieder, um endlich, endlich einmal mit mir und meinen Gedanken allein zu sein und das, was geschehen war, zu prüfen, um das, was nun zu kommen hatte, daraus zu folgern. Aber diese wohltuende Einsamkeit war nicht von langer Dauer. Es erklangen Schritte aus dem Innern. Es kam jemand. Der Mir war es. Er hatte ein brennendes Licht in der Hand, blies es aus, setzte sich zu mir und entschuldigte sich:
»Dein Halef sagte, du wünschst, allein zu sein. Ich habe denselben Wunsch und kann ihn mir doch nicht erfüllen, denn in der Einsamkeit finde ich keinen Halt und keine Stütze; ich muß zu dir. Verzeih!«
»Ja, ich wollte allein sein«, antwortete ich aufrichtig. »Ereignisse wie die, welche wir hier erleben, verlangen Sammlung und ungestörtes Nachdenken, wenn sie die Wirkung haben sollen, die uns nützt und segnet. Doch, befindest du dich in Seelennot, in der du Hilfe von mir erwartest, so bist du mir willkommen, gleichviel, ob ich dir dienen kann oder nicht. Der Wille dazu ist vorhanden.«
»Das weiß ich, und darum komme ich, Effendi. Ich habe dir ein Geheimnis mitzuteilen, ein großes, schweres Geheimnis, welches sich von Generation zu Generation in meiner Familie fortgeerbt hat und so sorgfältig behütet worden ist, daß nicht einmal sämtliche Mitglieder der Familie, am allerwenigsten aber fremde Leute, davon erfuhren. Nur der Herrscher allein wußte es, der Mir, und sobald er es für nötig hielt, teilte er es seinem ältesten Prinzen mit, seinem Nachfolger, nie aber einem andern Menschen. Du bist der erste und einzige Fremde, der es erfahren soll, und magst hieraus ersehen, wie gern ich dich habe und wie hoch ich deinen Wert für mich berechne.«
»Ich danke dir! Geheimnisse soll man achten, zumal, wenn sie Familiengeheimnisse sind, über welche das einzelne Glied nicht frei verfügen darf. Hältst du es für unbedingt nötig, mir diese Mitteilung zu machen?«
»Ja, unbedingt. Du wirst mir darin, sobald du es erfahren hast, recht geben. Diese Angelegenheit ist nämlich in ein höchst bedenkliches Stadium getreten. Das Geheimnis steht vor der Schwelle der Öffentlichkeit. Es ist bedroht, Gemeingut zu werden. Es hiervor zu bewahren, bin ich zu schwach. Ich bedarf deiner Hilfe, und die kannst du mir nur dann leisten, wenn du ebenso eingeweiht bist wie ich selbst.«
»So darf ich dich nicht hindern, dich offen auszusprechen. Doch, ehe du dieses tust, bitte ich dich, mir zu sagen, woher du die Stellen aus unserm heiligen Buch kennst, die wir vorhin aus deinem Munde hörten!«
»Sie sind ein Weihnachtsgeschenk.«
»Von wem?«
»Von deinem und meinem Freund, dem Basch Nasrani, dem Oberpriester aller Christen meiner Länder. Er hat viele solche wichtige Aussprüche der Bibel für mich abgeschrieben und sie mir gebracht. Er sagte, dies sei der Dank des Heilandes dafür, daß ich seinen Gläubigen erlaubt habe, sein Geburtsfest in Ard zu feiern. Die Sprüche gefielen mir sehr. Ich las sie sehr oft durch. Und wenn der Basch Nasrani bei mir war, mußte er mir ihren Sinn und ihren Inhalt erklären. Er war der Meinung, daß aus ihnen mein eigenes Glück und Wohl und auch das Glück meines Reiches wachsen könne. So lernte ich sie auswendig und dachte viel, sehr viel über sie nach. Und als dein Halef dir Koranverse versprach, hielt ich es für besser, dir Sprüche aus diesem meinem Schatz zu. geben. Ich glaubte, dich damit zu erfreuen.«
»Das ist auch geschehen, wirklich geschehen. Es ist keine kleine und keine gewöhnliche Freude, die du mir damit gemacht hast. Darum wünsche ich aufrichtig, dir in Beziehung auf dein Familiengeheimnis von Nutzen sein zu dürfen. Ich bitte dich nun, es mir mitzuteilen.«
Es war wirklich so, wie ich sagte: ich freute mich herzlich. Der alte, liebe, gute Basch Nasrani hatte Mission getrieben, ohne daß ich es ahnte. Und seine stille, geräuschlose Tätigkeit hatte größere und reichere Früchte gebracht, als er selbst vielleicht für möglich gehalten hatte. So schnell! In dieser kurzen Zeit! Daß dies auch dem ganzen Land von Segen sein werde, verstand sich ganz von selbst. Jetzt saß ich mit dem Mir so, daß wir nach Norden schauten. Die dort auf- und niederwallenden Gluten berührten sein Gesicht mit einem leisen, warmen, verklärenden Schein. Er sprach:
»Welch ein Jahr ist das jetzige! Sollte es wirklich jenes große, seit Jahrtausenden vorherverkündete Jahr sein, in welchem die Engel des Paradieses hervortreten dürfen, um zu bestätigen, daß der Friede sich naht und die Völker sich nicht mehr hassen, sondern lieben und achten werden? Weißt du, Effendi, daß jeder Mir von Dschinnistan stets für, jeder Mir von Ardistan aber gegen diesen Frieden gewesen ist?«
»Ich weiß es«, antwortete ich.
»Daher die immerwährende Feindschaft zwischen diesen Herrschern. Und diese Feindschaft war um so größer und spaltete um so tiefer, als wir von Ardistan glaubten, unsere Feinde hassen zu müssen, während die von Dschinnistan sich für verpflichtet hielten, uns trotz dieses unseres Hasses zu lieben und Gutes zu erweisen. Es war für uns empörend, und wir hielten es für die größte aller Schanden und Beleidigungen, von denen, die wir unablässig befeindeten, immer nur Wohltaten und Verzeihung zu erhalten. Kannst du diesen unsern Grimm begreifen?«
»Leider nur zu gut!«
»Und kannst du dir denken, daß es für gewisse stolze Naturen geradezu fürchterlich ist, Gnade und Barmherzigkeit nehmen zu müssen, wo man innerlich darauf brennt, doch endlich auch einmal auf männlichen Zorn und rächende Kraft zu stoßen?«
»Ja; auch mir ist das begreiflich!«
»Und bist du vielleicht so vernünftig oder so unvernünftig, einzusehen, daß wir den Mir von Dschinnistan und alle, die zu ihm gehören, wegen ihrer ewigen, entsetzlich ermüdenden Liebe, Güte, Gnade, Geduld, Langmut, und wie das alles genannt wird, gründlich verachteten?«
»Wenn man die größte Macht und Stärke, die es im Himmel und auf Erden gibt, nämlich die Liebe, für Unfähigkeit und Schwachheit nimmt, so ist es gar nicht so schwer, auf diese Verachtung zu kommen. Aber sag, verachtest du noch?«
»Bis vor kurzem, ja. Da aber kamt ihr mit eurem Weihnachtsfest. Da kamst du mit deiner absoluten Furchtlosigkeit. Da kam dein Halef mit seiner siegreichen Anhänglichkeit und Treue. Da der Basch Nasrani mit seinen gewaltigen Bibelworten. Da erklangen die Glocken. Da brauste die Orgel. Da krachten die Kanonen zum ersten Male für einen hohen, friedlichen Zweck. Da wagte sich der Fürst von Halihm mit seiner Tochter in mein eigenes Haus, um mir die Güte und Barmherzigkeit des Mirs von Dschinnistan verständlich zu machen. Ja, das war ein Wagnis, ein wirkliches Wagnis, dessen Wert ich ebenso anerkenne wie die Verwegenheit des Dschirbani, dich und Halef zu mir nach Ard, also in die Höhle des Löwen zu schicken. Jetzt will es mir erscheinen, als ob die Liebe und Güte noch viel, viel männlicher, kühner und heldenhafter sein könne als der Haß, der sich blind und unüberlegt in Taten stürzt, deren Ausgang er nicht kennt. Das ist kein Mut, sondern Leichtsinn und Gewissenlosigkeit! Und nach dem allen kam die Verschwörung, der Abfall meiner Offiziere und Beamten, die Undankbarkeit des Panthers, dem ich von meinem Herzen mehr gegeben hatte, als ich selbst besaß. Das waren die Früchte von Ardistan, die Ergebnisse meiner eigenen Saat! Und dann der Ritt nach der Stadt der Toten, wo ich verschmachten sollte, die wunderbare Rettung hier und die noch wunderbareren Offenbarungen aus der von uns verachteten, von den Völkern aber gesegneten alten Maha-Lama-Zeit! Die ich für meine Freunde hielt, sind meine Feinde geworden, und die ich für so gering und armselig hielt, daß ich nur mit einem Lächeln ihrer gedachte, sind nun meine einzigen Stützen, mit deren Hilfe ich mich erheben und wieder werden kann, was ich gewesen bin. Aber ich schwöre dir, Effendi, daß ich Gericht halten werde, daß ich mich rächen werde, daß ich ...«
»Halt! Nicht weiter!« unterbrach ich ihn. »Was du sagtest und noch sagen wolltest, ist richtig. Dein Gedankengang war gut. Aber du hast plötzlich abgebrochen und bist zur Seite gewichen. Der Zorn hat dich gestört. Die Rache will dich um den guten Schluß betrügen, der deiner Rede vorgeschrieben war. Noch bist du nicht gerettet. Noch bist du nicht wieder Mir. Noch können tausend Umstände eintreten, die alle deine Hoffnungen vernichten und alle deine Vorsätze unausführbar machen. Und vor allen Dingen laß dir sagen, daß Gott sich wahrlich nicht deiner annimmt, damit du dich rächen könntest und rächen mögest. Ich bin weder dein Richter noch der Richter deiner jetzigen Feinde, sondern du selbst hast dich und deine ganze Dynastie gerichtet, als du vorhin sagtest, daß ihr alle nur Diener des Hasses, nicht aber der Liebe gewesen seid. Du hast bekannt, daß du nur die Früchte von Ardistan erntest, die Ergebnisse deiner eigenen Saat. Wie kannst du dich für etwas rächen wollen, was du nach deinem eigenen Eingeständnis doch nur selbst verschuldet hast? Noch klingt mir das eine deiner Bibelworte in den Ohren, die du uns nach der Höhe des Tempels schicktest. Es war das Wort: ›Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem starken, lebendigen Gott. Wann werde ich hinkommen und erscheinen vor Gottes Angesicht?‹ Hat dir der Basch Nasrani den Sinn dieser Zeilen nicht auch erklärt? Glaubst du, als Richter und Rächer vor Gott erscheinen zu dürfen, wenn du selbst dich als den wirklich Schuldigen bezeichnest? Und selbst wenn du unschuldig wärest, so würde ...«
»Verzeih, verzeih!« fiel er mir in die Rede. »Du hast recht; der Zorn hat mich gestört. Das Geheimnis, welches ich dir anvertrauen will, ist ein Geständnis, und wer Geständnisse zu machen hat, der soll nicht andern zürnen. Nur bitte ich dich, ja nicht etwa zu denken, daß ich dir böse Taten zu gestehen habe, Verbrechen, die von mir oder meinen Ahnen begangen worden sind. Es handelt sich vielmehr nur um eine anererbte Art von Krankheit, die aber auch wieder keine Krankheit, sondern etwas ganz anderes, völlig Unbegreifliches ist. Glaubst du, daß sich Träume forterben können?«
»Träume? Forterben?« fragte ich. »Hm! Ich kann wohl sagen, daß sich gewisse körperliche oder geistige Zustände forterben, die bei der Entstehung von Träumen mit wirksam sind. In diesem allgemeinen Sinne läßt sich vielleicht behaupten, daß sich Träume forterben können; du aber wirst wohl eine besondere Art von Träumen meinen?«
»Nicht nur eine ganz besondere Art, sondern einen ganz besondern Traum, immer einen und denselben! Der Vater träumt einen ganz bestimmten Traum, den schon der Großvater und der Ahne träumte, und der Sohn und der Enkel träumen ihn wieder, vor vielen Jahren und nach vielen Jahren, mit ganz genau denselben Zeiten, Örtlichkeiten, Situationen, Personen, Worten und Taten.«
»Das ist unmöglich, vollständig unmöglich!«
»Nein, denn es ist wirklich!«
»Beweis!«
»Es geschah und geschieht noch jetzt in meiner Familie!«
»Dann handelt es sich unbedingt um eine Täuschung, nicht aber um eine erwiesene Wirklichkeit!«
»Sie ist erwiesen! Ich bitte dich, mir zu glauben! Solange Ardistan von meinen Vorfahren regiert wird, gibt es einen Traum, einen ganz gewissen und ganz bestimmten Traum, den sie alle, alle geträumt haben, vom ersten bis zum letzten Herrscher, nicht einen einzigen ausgenommen. Mein Vater war der letzte, der ihn träumte.«
»Wovon träumten sie?«
»Von einer Dschemma der Lebendigen und einer Dschemma der Toten.«
»Ah! Sonderbar!«
»Nicht wahr? Mein Vater hat mir diesen Traum ganz genau erzählt, ebenso genau, wie er ihm von meinem Großvater erzählt worden war und wie ich ihn wahrscheinlich meinem ältesten Sohn erzählen werde.«
»Hast auch du ihn schon geträumt?«
»Noch nicht. Aber ich weiß, daß ich ihm nicht entgehen werde.«
»Du fürchtest dich vor ihm?«
»Gewiß, ja! Ein jeder hat sich bisher vor ihm gefürchtet; aber sobald er überstanden war, hörte diese Angst auf, denn noch niemals hat sich die furchtbare Drohung erfüllt, welche dem Träumenden von dem Traum mitgegeben wurde.«
»Welche Drohung?«
»Daß er nicht eher sterben könne und auch nicht eher begraben werde, als bis sich endlich einmal ein reuiger und mutiger Mir von Ardistan finden werde, der bereit ist, die Schuld und die Missetaten aller seiner Ahnen auf sich zu nehmen und derart zu sühnen, wie sie begangen worden sind.«
»Jetzt sprichst du von den Missetaten deiner Ahnen, und noch soeben erst hast du mich ermahnt, ja nicht etwa zu denken, daß du mir böse Taten oder Verbrechen von ihnen zu gestehen habest!«
»Ganz richtig! Gestehe ich dir etwa welche? Ich erzähle dir nur, daß im Traum die Rede von ihnen ist, aber ich nenne keine; ich zähle sie dir nicht auf.«
»Aber den Traum willst du mir erzählen?«
»Ja. Höre mir zu! Der Mir träumt nämlich, er sitze in einer uralten, aber sehr schönen Sänfte, wie es sie vor mehreren tausend Jahren gab, und wird erst über einen großen, runden Platz und dann durch viele nur mühsam erleuchtete Zimmer getragen, bis man in einen großen Saal gelangt, über dessen Tür die Worte ›Dschemma der Toten‹ zu lesen sind. In diesem Saal sitzen alle Maha-Lamas und alle Emire von Ardistan, die es gegeben hat. Aber die Emire, die im Leben hoch über den Maha-Lamas gestanden haben, stehen jetzt im Tode tief, tief unter ihnen. Sie sind gefangen, an Händen und Füßen gefesselt und sollen gerichtet werden. Sie haben ihr Urteil zu erwarten. Die Maha-Lamas aber sind frei. Sie bilden die Richter, die das Urteil zu sprechen haben. An ihrer Spitze sitzt der berühmteste, gerechteste und gütigste von ihnen, nämlich Abu Schalem, der Maha-Lama, der den Maha-Lama-See ausgetrocknet und da, wo einst Wasser war, diese riesenhaften, wohltätigen Gebäude errichtet hat. Vor ihm liegt das Schuldbuch sämtlicher Emire, das Schuldbuch des ganzen Geschlechtes. Vor jedem der gefesselten Emire liegt ein besonderer Kontoauszug aus diesem Buch. Der Inhalt dieses Buches und diese Auszüge beziehen sich nicht allein auf die rein menschlichen Sünden, die begangen worden sind, sondern vor allen Dingen und ganz besonders auf die Vergehen und Unterlassungen, die sich die Angeklagten als Herrscher zu Schulden kommen ließen. Die Haupt- und schwerste Frage aber ist, ob sie das Leben ihrer Mitmenschen geachtet haben oder nicht. Am unerbittlichsten wird der Mord bestraft, der Mord einzelner und der Massenmord im Krieg. Für den Anstifter eines Krieges ist der Dschemma kein Erbarmen erlaubt. Das kann nur der höchste Richter, nur Gott allein verzeihen!«
Er machte hier eine Pause, wie um nachzudenken, und fuhr dann fort:
»Das sind die Toten, und doch sind sie nicht tot. Ihr Fleisch ist warm und weich. Sie können sehen und hören. Sie können sprechen. Sie stehen auf; sie gehen fort, und sie kommen wieder, ganz wie die Lebenden ...«
»Allerdings im Traum!« fiel ich ein.
»Ja, im Traum! Mein Vater hat es mir erzählt. Er hat sich alles genau angesehen. Auch sein Vater war da, der vor mehreren Jahren Verstorbene. Er war wie lebend. Er verließ seinen Sitz und ging mit in den andern Saal, um an der dortigen Beratung teilzunehmen. Über der Tür dieses andern Saales stehen die Worte ›Dschemma der Lebenden‹. Dort saßen Menschen, die noch lebten, zu Gericht, Menschen, die mein Vater kannte; er hat mir sogar ihre Namen genannt. Zu diesen Lebenden gesellten sich einige der Toten aus dem vorigen Saal, vor allen Dingen der Vater meines Vaters und der alte, berühmte Maha-Lama Abu Schalem, welcher auch hier den Vorsitz führte.«
»Und wie verlief die Verhandlung?« fragte ich, um die Erzählung möglichst abzukürzen.«
»Zunächst wurde ein Sarg geöffnet, in dem mein Vater als Toter lag. Man sagte ihm, das sei seine bisherige Leiche. Er könne sie und alle seine Vorfahren erlösen, indem er alle ihre Sünden und alle ihre Schuld auf sich allein nehme und derart sühne, wie sie begangen worden sind. Hierauf wurde ihm der ganze Inhalt des großen Schuldbuches, welche der Maha-Lama Abu Schalem mit hereingebracht hatte, vorgelesen, und dann fragte man ihn, ob er seine Ahnen erlösen und alle diese Sünden, diese Kriege und dieses Blutvergießen von ihnen weg und auf sich nehmen wolle. Tue er es, so seien ihre Seelen sofort frei und die seinige, sobald er gesühnt habe, auch. Tue er es aber nicht, so bleiben ihre Seelen gefesselt wie bisher, und er selbst könne nicht eher sterben und auch nicht eher begraben werden, als bis ein späterer Mir von Ardistan so kühn und opferfreudig sei, sie alle zu erlösen.«
»Und welchen Bescheid gab dein Vater?« fragte ich.
»Denselben, den seine sämtlichen Vorfahren auch gegeben hatten. Er sagte, daß er keine Lust habe, Schulden zu bezahlen, die er nicht gemacht habe, und gewiß auch nicht berufen sei, Ahnen zu erlösen, die genau ebenso keine Lust hatten, die übrigen zu erretten. Jeder sühne seine eigene Schuld, wenn es überhaupt nach dem Tode ein ferneres Leben gebe!«
»Was geschah, als er diesen Bescheid gegeben hatte?«
»Man steckte ihn wieder in die köstliche Sänfte und trug ihn fort. Als er erwachte, lag er daheim in seiner Schlafstube, auf seinen Kissen. Er hatte geträumt.«
»Wirklich geträumt?«
»Ja. Aber sonderbar! Er hatte volle sechs Tage lang auf seinem Bett gelegen und geschlafen, ohne ein einziges Mal aufzuwachen.«
»War man nicht besorgt um ihn geworden?«
»Nein. Man erfuhr es gar nicht. Die Leibwache nahm sich des Geheimnisses an und sorgte dafür, daß niemand etwas davon erfuhr, nicht einmal ich, bis er es mir selbst erzählte.«
»Und nun erzählst du es mir. Warum?«
»Weil seit gestern mich alles an diesen Traum erinnert. Jeder Mir von Ardistan hat ihn geträumt, genau so wie mein Vater; ich wiederhole das. An jeden wurde dieselbe Frage gestellt, und jeder hat ganz dieselbe Antwort gegeben. Es ist also kein gewöhnlicher Traum. Es steht irgendeine Wahrheit mit ihm in Verbindung, die niemand noch ergründen konnte. Nun denke dir, daß es hier auch eine Dschemma der Toten und eine Dschemma der Lebenden gibt! Kannst du dir nicht denken, daß der Gedanke an diesen Traum mich außerordentlich beschäftigt?«
»Oh, das kann ich sehr wohl begreifen. Ich denke da sogar noch an ganz andere Dinge als du. Aber du hast mir dein Vertrauen doch wohl nur aus gewissen Gründen und in einer gewissen Absicht geschenkt. Darf ich sie erfahren?«
»Selbstverständlich! Du sollst mir beistehen, sollst mich unterstützen! Sollst nicht von mir weichen, wenn die Reihe nun vielleicht hier an mich kommt. Ich befürchte, daß der Traum mich nicht daheim, sondern hier überrascht. Wenn es geschieht, so wünsche ich, daß es verschwiegen bleibe, daß es nicht hinausgetragen wird in die Öffentlichkeit. Mir ist zumute wie einem Menschen, welcher fühlt, daß sich ihm eine schwere Krankheit naht. Er wendet sich schon vorher an den Arzt und spricht die Bitte aus, ihm beizustehen. Wie man dem Arzt vertraut, so vertraue ich dir. Du wirst das, was geschieht, in solche Wege lenken, die mir heilsam sind.«
»Nicht nur dir, sondern auch deinem Land, deinem ganzen Volk, vorausgesetzt, daß es mir möglich ist, überhaupt mit einzugreifen. Ich will dir aufrichtig sagen, daß ich dasselbe ahne wie du. Ja, ich ahne es nicht bloß, sondern bin überzeugt, daß du die Stelle des einstigen Maha-Lama-Sees nicht verlassen wirst, ohne den Traum deiner Väter auch geträumt zu haben. Bei keinem von ihnen allen ist die Notwendigkeit dieses Traumes so zwingend gewesen wie jetzt bei dir. Er muß kommen, und er wird kommen. Die einzige Frage, die hierüber noch zu erheben ist, ist zugleich auch die wichtigste, nämlich die Frage, wie du dich verhalten wirst.«
»Meinst du, daß ich das weiß?«
»Ja.«
»Das bezweifle ich. Kein Mensch kann wissen, was er im Traum tun und sprechen wird.«
»In einem gewöhnlichen Traum, ja. In diesem aber ist es anders. Du wirst ganz genau so handeln, wie du im wachen Zustand handeln würdest. Und wenn du dich nun in dieser wunderbaren Dschemma befändest, nicht schlafend und träumend, sondern bei voller Besinnung, Überlegung und Willenskraft, was würdest du da antworten, wenn man dich fragte, ob du die Sünden deiner Vorfahren auf dich nehmen willst, um sie zu sühnen?«
Da sprang er von der Stelle, wo er saß, auf und sagte schnell und in energischem Ton:
»Ich würde ›Ja‹ sagen. Ich würde sofort bereit sein, auf alles, was ...«
Da aber hielt er mitten im Satz inne. Er hatte sich von seinem Herzen hinreißen lassen; sofort aber griff das, was wir den Verstand zu nennen pflegen, zu und riß den goldenen Faden, der sich entspinnen wollte, entzwei. Der Mir machte eine langsame, widerstrebende Armbewegung und fuhr fort:
»Halt! Nicht so schnell, nicht voreilig! Diese Sache ist von ungeheurer Wichtigkeit. Keiner meiner Ahnen hat bisher den Mut gehabt, diese Berge von Schuld, die im Verlauf von Jahrtausenden emporgewachsen sind, auf sich zu laden. Wenn es kein zukünftiges Leben gäbe, welches auf das gegenwärtige folgt, könnte ich getrost ›Ja‹ sagen, denn es wäre ein bloßer Wortschall, der nichts, gar nichts zu bedeuten hat. Ich habe an diesem kommenden Leben gezweifelt, bin aber vollständig überzeugt, daß dieser Zweifel Torheit war. Dieses andere Leben wird kommen, unbedingt kommen, sofort nach dem Tode. Ja, es kommt vielleicht gar nicht erst nach dem Tode, sondern schon im jetzigen Dasein. Denn ich mag zu der Frage der Dschemma ›Ja‹ oder ›Nein‹ sagen, ich lege damit doch den Grund zu dem, was nach dem Tode mit mir geschieht und was ich im nächsten Leben zu bereuen, zu tragen, zu tun und zu erringen habe. Da habe ich vorsichtig zu sein, unendlich vorsichtig. Wenn ich ›Ja‹ sage und alles auf mich nehme, kann ich mich mit einer ewigen, niemals endenden Verdammnis belasten ...«
»Nicht auch mit einer ewigen, niemals endenden Seligkeit?« fragte ich.
»Vielleicht auch! Wer kann es wissen!«
»Ich weiß es, ich!«
»Ja, du! Du bist Christ!«
»Du etwa nicht?«
»Nein!«
Da stand auch ich auf, legte ihm die Hand auf den Arm und fragte ihn:
»Was hast du vorhin getan, als du die Bibelstellen zu uns heraufriefst? Wer und was bist du gewesen, indem du dies tatest? Du bist der Herrscher von Ardistan. Der Boden, auf dem dieser Tempel steht, gehört dir. Hast du etwa geglaubt, daß die vier Worte, welche du zur Höhe sandtest, Lügen seien?«
»O nein! Sie sind wahr!«
»So hast du dich zum Christentum bekannt und diesem Heidentempel die Bestimmung gegeben, eine christliche Kirche zu sein! Es bedarf nur noch des priesterlichen Segens, so ist diese Umwandlung geschehen, bestätigt und geheiligt!«
»Ist das wahr?« fragte er.
»Würde ich es sagen, wenn ich es nicht für wahr hielte? Ich bin nicht Theologe und auch nicht Priester, sondern Laie. Es ist also möglich, daß ich mich irre. Ich wünsche lebhaft, dich als Christ und als den Beherrscher eines christlichen Volkes zu sehen; so mag es also wohl sein, daß dieser mein Herzenswunsch der Vater der Behauptung war, die ich aussprach. Aber ich glaube doch, ich habe recht. Erkundige dich bei andern, die keine Laien sind, und laß mich dann erfahren, was sie sagen!«
»Das werde ich tun; ja, das werde ich tun! Einstweilen darf ich dir wohl anvertrauen, daß mein Weib mich schon gebeten hat, Christin werden zu dürfen, und daß es in meiner Hauptstadt Ard vier christliche Missionäre und Missionärinnen gibt, deren Lehren, Predigten und Wünschen ich vielleicht nicht mehr lange widerstehen kann.«
»Wer sind diese vier?« fragte ich.
»Meine Kinder!« antwortete er im Ton des Glückes und des Vaterstolzes. »Die sind von euern Weihnachtsbäumen noch heut begeistert und werden es immer bleiben. Was mich betrifft, so mag für jetzt genügen, daß ich nicht mehr ein Feind, sondern ein Freund des Christentums bin und daß ich auf das, was ich in dieser Angelegenheit aus deinem Munde höre, größern Wert lege als auf meine eigenen Gedanken. Ich bitte dich, mir aufrichtig zu sagen, was du beschließen und antworten würdest, wenn die Dschemma dich an meiner Stelle fragte, ob du die Sünden meiner Väter auf dich nehmen und büßen wollest!«
»Ich würde ein schnelles, frohes Ja sagen.«
»Also auch ein Ja! Wirklich, Effendi, wirklich?«
»Ja, wirklich!«
»Und warum?«
»Warum? Weil es so in mir liegt, weil es meiner seelischen Natur, meinem Charakter, meinem Naturell, meinem Temperament entspricht. Ferner, weil ich als Christ an die ewige Liebe glaube, und weil du doch wohl nicht zu leugnen vermagst, daß deine Ahnen, die sich alle weigerten, weder für mich noch für dich maßgebende Personen sind, nach denen man sich richtet.«
»Effendi, sie waren Herrscher. Das bedenke!«
»Herrscher? Pah! Sie konnten nicht einmal sich selbst beherrschen, viel weniger andere! Sie gehorchten den Stimmen, welche tief unter ihnen, nicht aber denen, welche hoch über ihnen erklangen. Das Wort Herrscher bedeutet für mich etwas ganz anderes. Abu Schalem, ›der berühmteste, der gerechteste und der gütigste‹ unter den Maha-Lamas, war ein Herrscher! Er herrscht noch heut, sogar über dich und mich! Er ist unser Retter, viele, viele hundert Jahre nach seinem Tode! Und ich bin überzeugt, daß der Segen, der von ihm ausgegangen ist, noch weiter fließen wird, zum Heile Ungezählter, die noch kommen. Wo ist unter deinen Ahnen einer, der ihm gleicht, der ihm auch nur von weitem gleicht? Oder kennst du einen?«
Er schwieg.
»So höre, was ich dir jetzt noch sage! Aber zürne mir nicht wegen meiner Aufrichtigkeit! Du schweigst, wenn ich dich nach ihrer Herrschergröße frage. Betrachten wir sie nun nur nach ihrem Wert als Menschen. Sag mir: Waren sie gute Menschen? Wurden sie geliebt?«
»Vielleicht einige!« antwortete er zögernd.
»Also nur einige! Und die auch nur vielleicht! Ich sage dir, daß sie Feiglinge waren! Feiglinge und Selbstlinge, sie alle, alle, vom ersten bis zum letzten!«
»Effendi, der letzte war mein Vater!«
»Das ändert nichts an meinem Urteil; im Gegenteil, es wird dadurch begründet und verschärft. Hat er etwa als Vater an dir gehandelt, als er der Dschemma ein ›Nein‹ entgegenrief? Hat ein einziger von allen diesen deinen sogenannten Vätern auch nur mit einem einzigen Atemzug an das Wohl und an das Glück seiner Kinder, seiner Enkel und seiner ferneren Nachkommen gedacht? Das ist es ja, was ich dir noch sagen muß! Du bist blind; ich muß dir die Augen öffnen. Du hast die Feigheit und die Selbstsucht deiner Ahnen nicht nur nach rückwärts, sondern auch nach vorwärts zu betrachten. Merke wohl auf meine Worte, die jetzt kommen: Deine Vorfahren waren zu feig, die Taten ihrer Väter auf sich zu nehmen. Sie waren sogar zu feig, auch nur allein sich selbst zu erlösen, indem sie sich zu einem andern, edlern, besseren Leben entschlossen. Und sie waren so feig, so ohne alle Eigenehre und so faul, daß sie, um ihre Taten nicht selbst büßen und sühnen zu müssen, alle ihre Schuld auf ihre unschuldigen Nachkommen vererbten und in elender Memmenhaftigkeit nur auf den einen armen, unglücklichen Mutigen warteten, der mitleidig genug und stark genug war, ihren ganzen Schmutz auf sich zu nehmen und unter ihm womöglich zu ersticken! Was sagst du zu einem Menschen, der sich ändern, der sich bessern, der sich heben, veredeln und verklären kann und es doch nicht tut, sondern alles, was er an äußeren und inneren Fehlern und Gebrechen an sich hat, auf seine beklagenswerten Kinder und Kindeskinder vererbt, weil er zu faul, zu feig, zu egoistisch und zu genußsüchtig ist, als daß er sich verpflichtet fühlen könnte, sich aus eigenem Entschluß und aus eigener Kraft emporzuarbeiten und lieber der letzte seines Stammes zu sein, als auf eine Erlösung zu warten, die er keineswegs verdient? Pfui, sage ich, pfui! Und indem ich es sage, denke ich nicht nur an die lange Reihe der Emire von Ardistan, sondern überhaupt an jedes Haus, an jeden Stamm, an jede Familie, die es gibt, gleichviel ob von Adel oder bürgerlich, ob alt oder jung, ob berühmt oder unbekannt. Ein jeder einzelne Mensch hat Vorfahren und darf auf Nachkommen rechnen. Ein jeder einzelne Mensch, gleichviel, ob er Fürst oder Bettler ist, hat die Aufgabe, seine Ahnen und sich selbst zu erlösen, indem er sich mutig und energisch von den angeborenen und anerzogenen Fehlern befreit und sich hierdurch das gottgewollte, große Glück bereitet, in dieser seiner Weise an der Gesundung, Erstarkung und Veredelung der ganzen Menschheit teilzunehmen. – So, das war es, was ich dir noch zu sagen hatte. Nun zürne mir, wenn du kannst!«
Ich wendete mich von ihm ab und schaute hinunter nach dem weiten, runden Platz, in dessen Mitte der Wasserengel stand. Quer über diesen Platz waren die Emire von Ardistan getragen worden, in der »köstlichen Sänfte«, um vor die Dschemma gestellt zu werden. Was sie da geantwortet hatten, das wußte ich. Und was der jetzige Mir antworten würde, das wußte ich nun auch. Ich hatte nicht ohne Grund, sondern in voller Absicht so offen und unverblümt, zuweilen sogar in direkt beleidigender Weise gesprochen. Ich glaubte, dies wagen zu dürfen, wie ich es schon wiederholt gewagt hatte und dabei niemals fehlgegangen war. Er stand still und bewegte sich nicht. Sein Gesicht war nach Norden gerichtet, wo den rastlos arbeitenden Vulkanen gerade jetzt zahlreiche Feuersäulen entstiegen, die infolge der Perspektive eine einzige zu sein schienen und so hoch emporstrebten, als ob sie bestimmt seien, den ganzen Himmel zu erobern und den Glanz aller Sterne in sich aufzunehmen. Dann drehte er sich mit einem plötzlichen, energischen Ruck zu mir herum, legte die Arme um mich, küßte mich auf die Stirn und sagte:
»Mein lieber, lieber Effendi! Du bist ein schrecklicher, ein ganz schrecklicher Kerl, aber doch ein guter, ein herzensguter Mensch! Willst du mir einen Wunsch erfüllen? Denselben, den ich dir vorhin nicht erfüllt habe?«
»Welchen?«
»Ich möchte gern allein sein! Hier! Es muß klar in mir werden!«
»Gut, ich gehe!«
Ich küßte ihn ebenso auf die Stirn, wie er vorher mich, und trat von der Platte in das Innere des Tempels. Dort zündete ich mir eines der Lichter an und stieg langsam hinunter in die Tiefe. Das Schwerste war geschehen: Der Mir war besiegt. Was nun noch kommen mußte, mochte es noch so schwer sein, es war doch nur die Folge des heutigen, von Gott gesegneten Tages. Was wird der morgige bringen?