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Drittes Kapitel

Weihnacht

Während wir jetzt nun weiterritten, hörten wir den Mir einige Male halblaut vor sich hinlachen. Er war wohl bei guter Laune. Er freute sich über die Art und Weise, in der er den Oberpriester geprüft und dieser die Prüfung bestanden hatte. Er ritt uns um eine ganze Pferdelänge voraus, wohl um anzudeuten, daß er jetzt nicht sprechen wolle, sondern nachzudenken habe. Sein silberweißer Schimmel hatte ein unvergleichliches Kamm- und Schwanzbehänge. Er leuchtete uns förmlich wie ein führendes Märchenroß, dem wir zu folgen hatten, voran. Das ging so, bis die Stadt hinter uns lag. Wie groß sie war, ersahen wir daraus, daß wir trotz des schnellen, lebhaften Schrittes unserer Pferde über eine Stunde brauchten, um von ihrem Mittelpunkt, in dem der Schloßdom lag, an die Peripherie zu gelangen.

Als dies geschehen war und die sich nun vereinzelnden Häuser von der Straße zurückzutreten begannen, wurde es Tag. Der Anblick, den er uns brachte, war ein für meine deutschen Augen sehr erfreulicher. Wir kamen durch ununterbrochene Wein- und Obstgärten, an die sich später ein herrlicher, dichter Tschamwald – Tannenwald – schloß, der mir die Fiktion, daß ich in der Heimat sei, erleichterte. Der Anblick dieses Waldes war mir um so willkommener, als Tannen in jenen Gegenden äußerst selten sind. Zudem wird der geneigte Leser sehr bald erfahren, welche Rolle sie bei dem uns gestarteten Fest der Geburt des Erlösers spielten. Ich sah sie schon jetzt gleich daraufhin an und machte zu Halef die Bemerkung, daß es in meinem Vaterland niemals ein Weihnacht ohne brennende Tanne gebe. Der Mir hörte das und fragte, indem er sich zu uns zurückwendete:

»Niemals ohne brennende Tschambäume? Welches ist der Grund, daß ihr sie bei diesem Fest verbrennt?«

»Wir verbrennen sie nicht, sondern wir schmücken mit ihnen das Innere der Kirchen und der Häuser. Jedermann kauft sich einen Weihnachtsbaum und stellt ihn in die Stube, um ihn mit Früchten, Engelsfiguren, bunten Sternen und brennenden Lichtern zu schmücken.«

»Mit brennenden Lichtern? Aus welchem Grund? Und wie macht man das?«

Diese Fragen gaben mir sehr willkommene Veranlassung, ihm unser herzliebes, deutsches Weihnachtsfest zu beschreiben und ihn auf die tiefe, sinnbildliche Bedeutung des Weihnachtsbaumes hinzuweisen. Ich sah, daß ihn das packte und erwärmte.

»Hm!« machte er nachdenklich. »Da liebt man sich! Da beschenkt und beschert man sich! Mir hat noch keiner etwas beschert! So lange ich lebe noch nicht!«

»Würdest du mir gestatten, dir und den Deinen eine so köstliche Bescherung zu bereiten?«

Da richtete er sich mit einem schnellen, frohen Ruck auf und fragte:

»Kannst du das?«

»Ja, ich kann es«, antwortete ich. »Du brauchst es nur zu gestatten.«

»Du sprachst von Mann und Weib, von Eltern und von Kindern, die einander beschenken. Würde das auch bei mir möglich sein?

»Sehr leicht! Und ich bin überzeugt, daß es dich unendlich glücklich machen würde. Du brauchst mir nur die Personen zu nennen, die hierbei in Frage kommen.«

»Mein Weib und vier Kinder, zwei Söhne und zwei Töchter; außerdem die Mutter meines Weibes. Einen Harem habe ich nicht. Du wirst mir beschreiben, wie ich das zu machen habe, und mir dabei helfen! Wir bringen heut eine Tanne mit heim. Und ich bitte dich, sie so zu schmücken, wie ihr es in Dschermanistan tut. Gefällt es mir, so werde ich nicht nur meinem Weib und meinen Kindern, sondern auch den Dienern und Beamten bescheren, mit denen ich zufrieden bin. Das darf man doch?«

»Gewiß! Je mehr du Liebe spendest, desto größer kommt sie zu dir zurück!«

Welch ein Glück, dieses Erwachen des Weihnachtsgedankens! Ich begann zu ahnen, daß uns das Fest ein mächtiger Helfer sein und dann auch bleiben werde. Der Mir war einige Zeit lang still. Er beschäftigte sich innerlich. Sein Blick schweifte wiederholt wie schätzend und berechnend am Rand des Waldes entlang, an dem wir hinritten, und der so groß war, daß er gar kein Ende zu nehmen schien. Plötzlich nickte er vor sich hin. Er hatte eine Idee. Er ließ seinen Schimmel langsamer gehen, so daß wir an seine Seite gelangten, und fragte mich:

»Woher bekommen in Dschermanistan so viele Menschen so viele Tannenbäume?«

»Sie kaufen sie«, antwortete ich.

»Von wem?«

»Von der Regierung und von den übrigen Waldbesitzern.«

»Die Regierung, die bin ich! Und andere Waldbesitzer gibt es hier nicht. Meinst du, daß ich die Tannen verkaufen würde?«

»Warum nicht?«

»Und daß man sie mir bezahlte?«

»Gewiß!«

»Könntest du mir das besorgen?«

»Wenn du es wünschest, gern!«

»Hamdulillah! Der Wald hat mir noch niemals etwas eingebracht: jetzt wird er mich bezahlen! Bedenke, die vielen, vielen Tausende von Christen! Und – und – du sprachst ja auch von Lichtern! Wie viele gehören an einen Baum?«

»Zehn bis zwanzig, oft auch noch mehr.«

»Maschallah! Tausende von Bäumen! Und an einem jeden zwanzig Lichter! Das werden ja Hunderttausende! Woher bekommt man die bei euch in Dschermanistan?«

»Man kauft auch sie.«

»Von wem?«

»Von dem, der sie macht.«

»Wer aber soll sie hier bei uns machen lassen und verkaufen? Ich glaube, ich! Denkst du nicht?«

»Ich denke es!«

»Willst du mir das besorgen?«

»Mit Vergnügen! Nur müßten dazu die nötigen Materialien und auch Arbeiter vorhanden sein!«

»Das wird besorgt! Und, Effendi, du erwähntest auch Engel, Sterne und andere Dinge, mit denen die Bäume geschmückt werden. Woraus werden diese gemacht?«

»Aus Papier, Holz, Metall und anderen Stoffen. Das ist bei uns eine große Industrie für sich. Weil es diese hier aber nicht gibt, so ist es für euch geraten, sie aus Papier zusammenzukleben und aus Teig zu backen.«

»Wie viele Engel und Sterne gehören an einen Baum?«

»Je nach der Wohlhabenheit, zehn, zwanzig, dreißig, fünfzig und wohl auch noch mehr.«

»Wunder Gottes! Das werden ja auch Hunderttausende! Ob ich wohl auch die zusammenkleben und backen lassen und dann verkaufen kann?«

»Gewiß! Es ist auf jeden Fall besser, daß diese ganze Produktion sich in einer einzigen, kräftigen Hand befindet, die mehr und besseres leistet als alle andern ungeübten und unzuverlässigen Leute. Ich freue mich darüber, daß du dich für diese Sache interessierst. Du ersiehst hieraus, wie leicht es für einen intelligenten Menschen ist, sich Einnahmequellen zu erschließen, die andern verborgen bleiben. Solche klugen Leute bezeichnet man bei uns als Finanzgenies.«

»Finanzgenie!« lächelte er geschmeichelt. »Die Hauptsache ist, daß du genau weißt, wie man solche Engel bäckt und solche Sterne leimt!«

»Ich weiß es.«

»Und willst du mir auch das besorgen?«

»Ja. Doch stelle ich die Bedingung, daß ich in allem freie Hand behalte und auch die Preise zu bestimmen habe!«

»Das versteht sich ganz von selbst! Du bist nicht nur ein wohlwollender, sondern auch ein kluger Mann und wirst ebenso auf meinen eigenen Vorteil wie auf den der Käufer sehen. Ich ernenne dich zu meinem Weihnachtsengel und ...«

»Mich auch!« bat Halef, ihn mit lachendem Gesicht unterbrechend.

»Ja, auch dich!« nickte der Mir. »Ich ernenne dich zum Kommandanten der Engelschar, die in allen Straßen der Stadt und ihrer Umgebung einen Probebaum herumzuzeigen und den Leuten zu verkündigen hat, daß Weihnacht kommen soll.«

»So müssen wir heut nicht nur einen Baum, sondern mehrere mit heimnehmen, die sofort zu schmücken sind, damit kein Tag der Vorbereitung unbenutzt vorübergeht!«

»So viele du willst. Meine Ussul werden dir dabei behilflich sein.

»Deine Ussul? Welche?«

»Das fragst du mich? Ihr seid doch bei Amihn, dem Scheich der Ussul, gewesen und habt von ihm gewiß erfahren, daß ich eine ganz besondere, persönliche Leibgarde habe, die aus fünfhundert der riesigsten Ussul besteht. Dem Obersten an ihrer Spitze waren zwei Söhne Amihns und Taldschas beigesellt. Als ich dem Mir von Dschinnistan den Krieg erklärte, weigerten sich diese drei, nämlich der Oberst und die Prinzen, mir zu gehorchen, weil ihr Vater mit dem Herrscher von Dschinnistan befreundet sei und niemals gegen ihn kämpfen werde. Da habe ich sie, nämlich diese drei, nach der Stadt der Toten geschickt, damit sie sich dort entweder eines Besseren besinnen oder sterben. Die fünfhundert aber habe ich von mir entfernt und aus der Stadt verbannt. Sie hausen in alten Gebäuden, die aus der Zeit meiner Urväter stammen und als Strafkasernen benutzt worden sind. Zu ihnen reiten wir jetzt. Sie haben sich allezeit als treu erwiesen. Die Wache aber, die ich an ihre Stelle setzte, hat mich heut töten wollen. Wie werden sich die Verbannten freuen, von mir in eigener Person abgeholt und zur Stadt zurück geführt zu werden! Indem ich ihnen die Bewachung des Schlosses wieder anvertraue, erreiche ich zwei Absichten zu gleicher Zeit, nämlich ich mache gut, was falsch und unklug war, und ersetze die Mörder durch ehrliche Leute, auf die ich mich verlassen kann. Ich habe den Basch Islami laufenlassen und darf also auch nach keinem mit ihm Einverstandenen fassen; aber du wirst sehen, wie schnell die Verschworenen aus der Hauptstadt verschwinden. Wenn sie es nicht selbst tun, so helfe ich nach. Die Rückkehr der Ussul an die Stelle der jetzigen Wache wird ihnen Wink und Warnung sein.«

»Und der Oberst der Ussul? Und die beiden Prinzen?« fragte ich.

Da hielt er sein Pferd an und rief aus:

»Ja, diese, diese! Maschallah! Das habe ich mir noch gar nicht klargemacht! Wenn ich meine Leibwache zurückhole, kann ich doch ihre obersten Gebieter, die mir gar nichts getan haben, unmöglich ins ...«

Er hielt mitten im Satz inne, machte ein Gesicht, welches keineswegs geistreich war, schüttelte den Kopf und fuhr dann fort:

»Was ist denn das mit euch beiden? Ihr schlagt und besiegt mich doch auf Schritt und Tritt! Und das sonderbarste ist, daß ihr gar nichts dabei tut, sondern daß ich gezwungen bin, euch selbst entgegenzukommen. Erst mußte ich euch verraten, daß diese Gefangenen überhaupt noch leben. Dann sagtet ihr mir offen, daß ihr gehen würdet, sie zu befreien. Und nun erweist sich das als gar nicht nötig, weil ich sie selbst befreien muß; ich kann ja gar nicht anders! Es gibt hier eine Macht, die ich nicht kenne. Sie steht an eurer Seite, und ich habe das Gefühl, daß sie sich auch an die meinige stellen wird, sobald ich mich entschließe, in euerem Sinne zu handeln.«

Als er das sagte, tauchte über dem dunkeln Streifen des Waldes die neugeborene Sonne auf und lachte uns strahlend in die Augen. Das war ein ganz alltäglicher Naturvorgang, von dem sich der Mir aber heut rief ergriffen fühlte. Kaum hatte die Hut des Lichtes ihn getroffen, so warf er den Arm in die Luft und rief:

»Und ich werde mich entschließen! Ich tue es! Die Sonne will es haben! Sie ist heraufgekommen, es mir zu sagen! Vorwärts, vorwärts, mag daraus werden, was da will!«

Er gab seinem Schimmel die Sporen und stürmte im Galopp weiter. Wir folgten ihm. Unser Weg führte genau dem Aufgang zu, und so war es, als ob wir die Absicht hätten, mitten in all die Sonnen-, Licht- und Farbenpracht hineinzureiten und in ihr zu verschwinden. War dieser Mir von Ardistan wirklich ein Tyrann, ein Wüterich? Oder war er nur das letzte Glied einer Kette von Despoten, welches ebenso hart wie seine Vorgänger zu erscheinen hatte, obgleich es aus edlerem und weicherem Metall bestand als sie?

Wir sahen bald, daß er stolz auf die Schönheit und Güte seines Pferdes war. Er wollte uns zeigen, was es leistete. Er steigerte den Galopp zur Karriere. Halef hatte große Lust, ihm zu beweisen, daß es uns leicht sei, ihn zu überholen, doch verbot ich ihm das. Der Mann fühlte sich schon in so vielen Stücken übertrumpft; er sollte nicht auch noch in Beziehung auf sein Pferd gekränkt und übertroffen werden. Es war genug, daß wir ihm den Vorrang ließen, ohne grad weit zurückzubleiben. Wir kamen dadurch sehr rasch vorwärts, und es dauerte nicht lange, so sahen wir, an drei Seiten vom nahen Wald und auf der vierten von einem großen, offenen Reit- und Übungsplatz umgeben, den alten, mehr als ehrwürdigen Gebäudekomplex liegen, den er als Strafkaserne bezeichnet hatte. Er bestand aus niedrigen Mannschaftshäusern und Ställen. Ledige Pferde tummelten sich rundum. Es waren echte Ussulpferde, ganz von der Gestalt und Größe des Urgaules Smihk, meines besonderen Busenfreundes. Auch die Leute waren im Freien zu sehen vor den Häusern. Sie beschäftigten sich, wie wir sahen, mit der Zubereitung ihres Morgentrankes. Unser Kommen erregte ungewöhnliches Aufsehen, obwohl die Entfernung zwischen uns und ihnen, als sie uns bemerkten, wenigstens zweihundert Pferdelängen betrug. Es war ihnen also nicht möglich, die Züge des Mirs zu erkennen; aber sie kannten seinen Schimmel. Ein solcher persönlicher Besuch des Beherrschers war noch nie dagewesen, war unerhört. Man ließ alles stehen und liegen und rannte zu den Waffen und Pferden. Glücklicherweise war bei dieser Truppe das Verhältnis der Offiziere zu den Soldaten ein durchaus patriarchalisches. Die ersteren bildeten die Väter, die letzteren die Kinder; sie gehörten zusammen. So befanden sich auch jetzt die Vorgesetzten bei den Untergebenen und brauchten nicht erst geholt zu werden. Zudem war der Mir rücksichtsvoll und ritt jetzt langsamen Schritt. Dadurch bekam die Truppe Zeit, sich zu sammeln und aufzustellen. Als wir den Platz vor den Gebäuden erreichten, hielten sie, zehn Glieder hoch und die Offiziere voran, in regelrechter Front auf ihren Pferden und boten einen martialischen Anblick, der, wenigstens für mich, eine Wonne war. Ich mußte, indem ich die fünfhundert gewaltigen, zum Himmel ragenden Spieße sah, an Goliath, den Philister, denken, von dem die Bibel erzählt, daß der seinige so stark wie ein Weberbaum gewesen sei.

»O Sihdi, wenn ich ihnen jetzt eine Rede halten könnte! Was würde ich ihnen alles sagen!« raunte mir mein kleiner Halef zu, dessen Sprachseligkeil sich bei diesem Anblick ganz gewaltig regte.

Aber der Mir war es, der da sprach, wenn auch in ganz kurzer, befehlender Weise. Er sagte, daß er gekommen sei, den Morgenkaffee mit ihnen zu trinken und sie nach der Stadt zurückzuholen. Er gebot ihnen, abzusteigen und sich wieder an ihre Kochtöpfe zu begeben. War das ein Jubel nun!

Einige Minuten später saßen wir beide mit dem Mir, einem alten Major und zwei Kapitänen auf einem wenigstens ebenso alten, schnell herbeigeholten Zeltteppich, ein jeder einen schweren, tönernen Napf in der Hand, aus dem das, was man Kaffee nannte, nach allem möglichen, nur nicht nach Kaffee duftete. Es schmeckte aber; es schmeckte sogar dem Mir, der sich in einer Stimmung befand, über die er sich wohl selbst am meisten wunderte. Er strahlte am ganzen Gesicht und sah dabei doch zuweilen aus, als ob er über sich selbst und seine Leutseligkeit erstaunte.

Er gab die nötigen Befehle zu dem Ritt nach der Stadt, was man alles mitzunehmen habe und was nicht. Als er dabei auch auf die Tannenbäume zu sprechen kam, bat ich, in den Wald gehen zu dürfen, um die, welche mir gefielen, zu bezeichnen. Da sprang er auf und sagte, daß er selbst mitgehen werde, und zwar gleich. Die Offiziere schlossen sich an. Während wir nach hübsch gewachsenen, passenden Exemplaren suchten, machte ich dem Mir einen Anschlag, wie viele ich wohl brauche, große und kleine. Wir hatten auszustellen, und zwar an verschiedenen Orten, damit die Bevölkerung so schnell wie möglich unterrichtet werde, was wir meinten und wie wir es uns dachten. Da machte er einen kurzen Prozeß und sagte:

»Warum so einzeln zählen? Ard ist groß, und was wir heut nicht brauchen, das brauchen wir morgen. Nehmen wir hundert Bäume mit! Wir haben ja Zeit und Menschen genug, sie zu fällen.«

Das geschah. Es dauerte nicht lange, so hatte ich mit dem Säbel des Major hundert Stück gezeichnet, und das Umschlagen, Köpfen und Zurichten konnte beginnen. Ich lehrte die Ussul, Seile aus langen, grünen Zweigen zu drehen, mit denen die Äste eng an den Stamm gezogen wurden, um leicht transportiert werden zu können. Während ein Teil der Leibwache mit dieser Arbeit beschäftigt war, nahm Halef sich die anderen vor. Sie mußten sich, wohl an die dreihundert Personen, wie Schulkinder eng nebeneinander niedersetzen, und er stellte sich vor sie hin und hielt ihnen einen Vortrag über das für sie allerdings hochinteressante Thema, wann, wo und wie wir ihre Verwandten in der Heimat kennengelernt hatten und was seitdem mit ihnen und uns geschehen war. In dieser Weise erfüllte er sich selbst seinen Wunsch, zu diesen Leuten einmal reden zu können. Er tat es in der ihm eigenen, hinreißenden, mit Komik gewürzten Weise, so daß seine Zuhörer gar nicht dazu kamen, ein Auge von ihm zu verwenden. Er ließ sich auch nicht im geringsten stören, als wir mit dem Mir aus dem Wald zurückkehrten und uns hinstellten, um ihm zuzuhören. Doch nahm er sich da nun wohl mehr in acht, als vorher und erreichte dadurch einen Erfolg, dem sich selbst der Mir nicht entziehen konnte, denn dieser sagte zu mir, als der Kleine geendet hatte und die Ussul ihm ihren Dank und ihre Anerkennung zujubelten:

»Dieser dein Hadschi Halef Omar ist ein außerordentlich kluger und brauchbarer Mann! Ein vortrefflicher, guter Mensch! Man muß ihn liebhaben! Ich wollte, er wäre mein Freund, in ganz derselben aufrichtigen Weise, wie er der deinige ist!«

»Das brauchst du dir gar nicht erst zu wünschen, denn es ist dir schon erfüllt«, antwortete ich ihm. »Er ist dein Freund. Du brauchst es nur zu glauben und Vertrauen zu ihm zu haben!«

Er sagte nichts hierzu, schaute mir prüfend in das Gesicht, drückte mir die Hand und wendete sich dann an die Offiziere, um ihnen zu sagen, daß es Zeit zum Aufbruch sei. Dies galt nur den Reitern; die Bagage hatte nachzukommen. Zu dieser aber gehörten die Weihnachtsbäume nicht. Sie wurden gleich mitgenommen. Dies geschah in der Weise, daß man die Lanze am Stamm des zusammengebundenen Bäumchens hinaufschob und sie dann unten, ganz wie gewöhnlich, in den Lanzenschuh des Steigbügels setzte. Das Bäumchen wurde dann, genau so wie sonst die Lanze, mit der einen Hand in der Mitte gehalten, während die andere die Zügel führte. So setzten wir uns denn, eine Art ›Wald von Dunsinane‹ mit uns führend, in Bewegung, voran wir mit dem Mir, dann die Offiziere und hierauf die Truppe.

Als wir die Stadt erreichten, erregte unser Zug ein ganz ungewöhnliches Aufsehen. Man erkannte den Mir trotz der Einfachheit seines Anzuges. Man wußte, daß er die Ussulgarde verbannt hatte. Nun brachte er sie persönlich zurück. Es verstand sich ganz von selbst, daß man hieraus auf wichtige Ereignisse schloß, zumal man zwei ganz fremde Menschen neben ihm reiten sah. Die Wißbegierde wurde erregt und pflanzte sich schnell weiter, von Straße zu Straße, durch die ganz Stadt und noch weit über sie hinaus.

Am Schloß angekommen, brachten wir zunächst die hundert Bäume in einem Hof desselben unter. Dann wurde die bisherige Schloßwache abgelöst und ihre in der Nähe liegende Kaserne umringt Dieses ganze, unzuverlässige Korps mußte die Munition abliefern und hinaus nach der Strafkaserne marschieren, um dort an Stelle der Ussul interniert zu werden. Überhaupt wurde dieser Tage alles Militär, dem nicht zu trauen war, also besonders die bigottmohammedanischen und die Lamatruppen aus der Stadt entfernt. Ich nahm mir nicht die Zeit, mich um diese Maßnahmen zu bekümmern, weil ich mit den Vorbereitungen zum Christfest mehr als genug zu tun hatte. Diese militärischen und diplomatischen Bewegungen hatten nur rein äußerliche Zwecke und Ziele. Wir aber, Halef und ich, standen vor der Aufgabe, die schlafende Volksseele aufzuwecken und in ihr die größte, die herrlichste und wichtigste Bewegung zu erzeugen, die es im Leben der Völker und des einzelnen gibt, nämlich die Bewegung zu Gott empor, die in der Tiefe der Seele beginnt, um nach den ewigen Höhen des Himmels zu steigen. Und ich gestehe aufrichtig, daß mir diese unsere Aufgabe wichtiger erschien als jede andere, obgleich sie mich zunächst zu Dingen und zu Arbeiten zwang, welche man daheim fast nur den Kindern und kindlichen Gemütern anvertraut. So unwichtig diese Sachen zu sein scheinen, ich muß doch über sie berichten und schicke da vor allen Dingen die Bemerkung voraus, daß Ard eine große Stadt mit Hunderttausenden von Einwohnern ist, die nicht etwa nur die niederen Beschäftigungen, sondern auch alle möglichen orientalischen Wissenschaften, Künste und Gewerbe treiben. Die Stadt ist der Mittelpunkt eines weit ausgedehnten Handels. Es gibt da eine mohammedanische, eine buddhistische und eine konfuzianische Universität und eine Menge Schulen für den gewöhnlichen Mann. Daraus folgt, daß es hier keineswegs für mich unmöglich war, alles das zu finden, was ich zur Erreichung meiner Zwecke brauchte, wenn ich auch zugeben muß, daß mir das nicht so bequem lag wie daheim.

Zunächst erwähne ich, daß wir unsere zwei kleinen Zimmer nicht wiederbekamen. Es wurde uns eine Reihe sehr bequemer, prächtiger Räume angewiesen, die unmittelbar an die Wohnung des Mirs stießen. Auch unsere Pferde wurden in dementsprechender Weise anders untergebracht. Das war ein gutes Zeichen. Hierbei erfuhr ich, daß der Panther die Zimmer bewohnt hatte, die ich jetzt bekam. Er hatte sie ganz plötzlich und unvorbereitet verlassen müssen, und zwar schon in der vergangenen Nacht. Als der Mir uns verließ, um zum Ritt nach der Strafkaserne satteln zu lassen, war er mit Halefs Hunden direkt zum Panther gegangen, um ihn über die geplante Verschwörung zu unterrichten und ihm den Befehl zu erteilen, sofort zu den gegen den Mir von Dschinnistan marschierenden Truppen aufzubrechen und den Oberbefehl über sie zu übernehmen, weil der jetzige General ein leidenschaftlicher Mohammedaner und also nun verdächtig war. In echt orientalischer Weise wurde dem Panther keine Zeit gegeben, sich auf diese Reise vorzubereiten. Er hatte sich nur schnell umzukleiden, und binnen zehn Minuten im Sattel zu sitzen. Was er brauchte, wurde ihm nachgeschickt. Der Mir führte ihn selbst in den Stall, wo er ja ohnedies seinen Schimmel für sich satteln zu lassen hatte, und sah ihn dann mit eigenen Augen auf das Pferd steigen und fortreiten. Er selbst erzählte es mir, und als ich ihn fragte »Warum so schnell?« antwortete er:

»Wenn es sich um meinen Thron und um mein Leben handelt, gibt es keine Zeit, die Ausführung meiner Befehle aufzuschieben! Habe ich unrecht getan? Du scheinst den Panther nicht zu lieben!«

Ich antwortete nur:

»Du tatest recht. Nun handelt es sich nur darum, ob auch er das Richtige tut!«

Um diesem nicht ganz ungefährlichen Gespräch eine andere Richtung zu geben, trug ich nun dem Mir die Wünsche vor, die ich in Beziehung auf die Vorbereitung zum Weihnachtsfest hatte. Sie wurden mir alle erfüllt. Ich bekam mehrere Parterreräume angewiesen, in denen wir unser »Weihnachtsbüro« aufschlugen. Schreiber und Arbeiter wurden uns zur Verfügung gestellt, vor allen Dingen auch Zimmerleute zur Herstellung der »Füße« für die Tannen. Händler kamen, um Proben von Pappe und Papier vorzulegen. Ein alter, orientalischer Goldschlägermeister wurde mit zwei Gesellen engagiert. Bekanntlich ist die Goldschlägerkunst eine echt orientalische Kunst. Schon die alten Ägypter hatten es darin zu großer Vollkommenheit gebracht. In diesem unserm Fall handelte es sich selbstverständlich nur um billiges Blattmetall aus Messing und Tombakblech. Ein Drechsler bekam den Auftrag, Lichterdillen aus Holz zu drehen. Bei einem Schlosser wurden sie aus Draht bestellt, Einige Bäcker und Konditoren mußten verschiedene Probeteige backen. In einer Klempnerwerkstatt wurden dünne Blechformen in Auftrag gegeben, um Engel, Sterne und verschiedene andere Figuren in Teig auszustechen. Ein Farbenhändler wurde angewiesen, diese Figuren anzumalen resp. mit Gold- und Silbertupfen zu versehen. Kurz, es gab Arbeit über Arbeit.

Als punkt drei Uhr der alte, liebe, so leicht zu begeisternde Basch Nasrani kam, um sich bei uns zu bedanken, fand er uns in allergrößter geschäftlicher Tätigkeit. Er kannte die hiesigen Verhältnisse genau und war geradezu entzückt, als er hörte, um was es sich handelte. Er schaute sofort in die Zukunft. Er jubelte. Er weissagte, daß aus dieser primitiv beginnenden Weihnachtsarbeit sich für die hiesigen Christen eine Zukunft entwickeln werde, die wohl imstande sei, alles, was die Vergangenheit an Druck und Leid gebracht hatte, wieder auszugleichen. Nur müsse man sofort und kräftig zufassen und keinen Vorteil, der sich biete, wieder aus den Händen geben. Er bat um die Erlaubnis, sich an unserer Arbeit beteiligen zu dürfen, und ich gab sie ihm mit Freuden. Er kannte so viele Menschen und wußte für alle Fälle die beste Auskunft und den besten Rat. Erst durch ihn kam die nötige Klarheit und Übersicht in das, was wir erst berechneten und dann taten.

Die Hauptsache für heut war die Anfertigung des allerersten Weihnachtsbaumes, also, sozusagen, des Modellbaumes, der dem Mir gezeigt werden sollte. Wenn dieser ihm gefiel, so hatten wir gewonnen. Ich machte mich also so zeitig wie möglich an die Herstellung, die oben in der Wohnung des Mirs vor sich gehen sollte. Es wurde mir hierzu ein sehr geräumiges Zimmer angewiesen, und ich bat, bis ich fertig sei, ja nicht gestört zu werden. Das wurde mir zugesagt. Ich beschloß, drei Bäume zu schmücken, einen großen und zwei kleine. Die Lichter kaufte ich von einem Mumedschy – Lichtzieher –, der in der Nähe des Schlosses seinen Laden hatte. Als ich ihm sagte, daß ich, falls sie gut seien, ihm die Anfertigung vieler Tausende übergeben werde, bekam ich sie umsonst. Nun wurden Früchte vergoldet, Sterne und Beutel und andere Dinge aus buntem Papier geschnitten, Girlanden aus weißen, roten und blauen Fäden geflochten. Die fürstliche Küche hatte mehrere riesige Nudelteige zu liefern, aus denen ich Sonnen, Monde, Sterne, Engel, Drachen und allerlei andere Gebilde aus der Tertiärzeit der menschlichen Phantasie schnitt. Als diese teils schönen, teils schaurigen Sachen über Feuer hart gebacken waren, bekamen Halef und der Oberpriester die Pinsel in die Hand, um sie nach Kräften zu bemalen. Sie taten das, wie ich gleich voraussagen will, nicht nur zur allgemeinen Zufriedenheit, sondern sogar zur lauten Bewunderung von der Seite des Mirs und seiner Familie. Ich aber wickelte mir inzwischen mit der rechten Hand sehr fleißig Draht um den linken Daumen, um die achtzig Dillen herzustellen, die nötig waren. Der Abend hatte sich schon längst eingestellt, als wir diese Vorbereitungen vollendeten. Die Sachen brauchten bloß noch an die Bäume gehangen zu werden. Ich zeigte dem Hadschi und dem Basch Nasrani, wie das zu machen sei, und ließ auch noch einen Diener kommen, uns zu helfen. Diese Beschleunigung war nämlich geboten, denn der Mir ließ mir sagen, daß seine Kinder absolut nicht mehr warten wollten, die Schagarat el Muhallis – die Bäume des Erlösers – zu sehen. Jedenfalls aber war er selbst der alte, große Junge, der nicht länger warten konnte!

Der große Baum wurde in die Mitte der einen Wand gestellt, ihm zu beiden Seiten die kleineren. Indem ich den hierzu nötigen Raum mit den Augen abmaß, sah ich in der einen Ecke ein hölzernes Möbel stehen, dessen Form keine hier gewöhnliche war. Ich fragte den Diener, was es sei.

»Eine Musik«, antwortete er.

»Was für eine Musik?«

»Ich weiß es nicht, und niemand weiß es. Es sind weiße und schwarze Tasten; aber man kann darauf drücken, so sehr man will, es ist nichts zu hören. Der Emir von Bochara hat sie unserm Mir geschenkt; aber noch kein Mensch hörte sie singen. Sie ist stumm!«

Ich öffnete. Es war ein altes, sogenanntes Regalharmonium aus früherer Zeit. Man hatte nur auf die Tasten gedrückt, die Tritte unten aber nicht beachtet. Darum war sie »stumm«, aber auch unverletzt geblieben. Als ich probierte, versagte kein Ton. Wie mir das zustatten kam, gerade jetzt, unter Weihnachtsbäumen! Der Diener schrie vor Überraschung laut auf, als die schönen, klaren Zungenstimmen erklangen. Zugleich erschien ein anderer Diener, um uns zu sagen, daß die Herrschaft uns nur noch einige kurze Minuten Zeit gebe; die Kinder könnten sich unmöglich länger gedulden! Da wurden schnell die Lichter in Brand gesteckt und die ›Musik‹ vor den großen Baum gerückt. Durch mehrere übereinandergelegte Kissen bereitete ich mir den zum Spielen nötigen Sitz; dann sagte ich den beiden Dienern, daß die Herrschaft kommen könne. Halef und der Oberpriester zogen sich bescheiden in je eine Ecke zurück. Und da hörte ich auch schon die Schritte des Mirs, der in seiner Ungeduld seiner Frau und seinen Kindern voraneilte.

Sobald er eintrat, ließ ich ein kurzes Vorspiel erklingen und begann dann, unser altes Weihnachtslied zu singen: »O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit!« Ich bin kein Sänger und habe auch nur eine ganz gewöhnliche Baritonstimme; aber die Wirkung war trotzdem eine ganz ungewöhnliche. Man kennt den Einfluß unserer deutschen Lieder selbst auf Leute, welche die deutsche Sprache nicht verstehen. Er bewährte sich auch hier. Der Mir war zunächst darüber sehr erstaunt, daß seine bisher stumme ›Musik‹ jetzt plötzlich ›singen‹ konnte. Sodann wirkte der lichtstrahlende und reich behangene Baum auf ihn. Vielleicht war es in seinem Leben der erste poetische Anblick, der sich ihm bot und dessen Hauch er tief in seinem Innern spürte. Und sodann das Lied, dessen Worte er zwar nicht verstand, dessen Seele aber zu seiner eigenen Seele sprach. Kaum hatte er nur einen Augenblick gehört und gesehen, so drehte er sich unter der Türe zurück und winkte. Da folgte ihm zunächst seine Frau. Sie war unverschleiert und ebenso einfach gekleidet wie er. Ihr ernstes, außerordentliche sympathisches Gesicht besaß keinen einzigen Zug, der von Glück erzählen konnte. Sie blieb unter der Tür stehen. Ihre Augen wurden groß und immer größer. Ihre bleichen Wangen röteten sich. Ihre Stirn schien breiter und höher zu werden und leuchten zu wollen wie in Strahlen stehendes Elfenbein. Sie trat einen Schritt näher, noch einen und noch einen und sank dann, obgleich ihr Gesicht hoch erhoben blieb, langsam auf die Knie nieder und faltete, als ob sie beten müsse, die Hände.

Und da kamen auch die Kinder. Erst zwei und dann wieder zwei, je ein Knabe und ein Mädchen, die einander führten. Allerliebste Buberln und Dirndln! Der Älteste vielleicht neun und die Jüngste vier Jahre alt. Als sie die Mutter knien sahen, knieten auch sie nieder, je zwei und zwei zu ihrer Rechten und Linken. Aber ihre Augen strahlten vor Erstaunen und vor Glück, und ihre Mäulchen sperrten sich immer weiter und weiter auf. Da war ich mit dem ersten Lied fertig, spielte einen Übergang zur anderen Melodie und sang dann »Stille Nacht, heilige Nacht«. Das schien noch besser zu wirken als das erste. Besonders die Tonfolge und Wiederholung »schlafe in himmlischer Ruh« riß die Kinder hin. Schon bei der zweiten Strophe begann der kleine, drollige Knabe mitzusingen, natürlich nur auf trallerala. Und bei der dritten Strophe fielen auch der größere Knabe und das größere Mädchen ein. Das kleinste Dirndel aber wartete fein, bis ich fertig war, sprang dann auf, kam zu mir hin und sagte:

»Du, Fremder, wem gehören denn diese Bäume? Sind sie alle dein?«

Da erhob ich mich von meinem Sitz und antwortete:

»Sie gehören nicht mir, sondern euch. Den großen da schenkt euch der Vater, und die beiden kleinen habt ihr von der Mutter bekommen.«

»Ist das aber auch wahr?«

»Ja, gewiß!«

Nun erhob sich großer Jubel. Die Buben eilten zur Mutter, um sich bei ihr zu bedanken, und die Dirndeln kletterten an dem Vater in die Höhe, was diesem wohl noch nie geschehen war. Er half ihnen dabei, bis er beide auf den Armen hatte und sie an das Herz drücken konnte. Ich aber schlich mich hinaus und gab Halef und dem Oberpriester einen Wink, mir zu folgen. Wir gingen nach meiner Wohnung.

Dort half mir der Basch Nasrani bei einem Kostenanschlag für den Mir, um nachzuweisen, wieviel Anlagekapital die Festproduktion erforderte und auf wieviel Gewinn man rechnen konnte. Wir kamen dabei sogar auf eine Festschrift zu sprechen, für welche der Mir zu begeistern war. Sie wirkte jedenfalls nachhaltiger als eine vorübergehende Predigt, und da der Oberpriester die Festrede im Dom zu halten hatte, wünschte ich sehr, daß er auch diese Schrift verfasse, und er ging darauf ein. Sie sollte den Titel »Der Stern von Bet Lahem« führen und von der Holztypographie der mohammedanischen Universität gedruckt werden. In dieser Typographie arbeitete nämlich der einzige Holzschneider, den es in Ard gab, und da der Festschrift das Bild eines brennenden Weihnachtsbaumes mitgegeben werden sollte, so wünschten wir, daß sie an dieser Stelle gedruckt und ausgestattet werde. Es war zwar im höchsten Grade fraglich, ob diese Mohammedaner sich herbeilassen würden, ein christliches Werk zu drucken, doch rechneten wir auf ein Machtwort des Mirs, mit dem ich hierüber noch extra zu sprechen hatte.

Er suchte uns noch im Laufe des Abends auf, als der Oberpriester nicht mehr bei uns war. Er zeigte sich wie umgewandelt. Wahrscheinlich hatte er heut zum ersten Male gesehen und erfahren, wie richtig es im deutschen Lied heißt: »Ein braves Weib, ein herzig Kind, das ist mein Himmel auf der Erde!« Ich teilte ihm mit, daß der Basch Nasrani den Besuch von Hunderttausenden aus Ardistan, Gharbistan und Scharkistan erwartete. Er behauptete, ganz derselben Meinung zu sein. Hierauf legte ich ihm unsern Kostenüberschlag vor. Da staunte er nun freilich über die Größe dieser Summen und über die Höhe des Gewinnes. Das enthusiasmierte ihn noch mehr, als er es so schon war. Dann legte ich ihm die Berechnung vor, die sich auf die Herausgabe und die Einträglichkeit der Festschrift bezog, und seine Verwunderung wuchs noch mehr.

»Das wird gemacht; das wird gemacht!« rief er aus. »Der Basch Nasrani mag sofort beginnen zu schreiben!«

»Die mohammedanische Universität wird sich wohl aber weigern, etwas zu drucken, was der Oberpriester der Christen geschrieben hat«, bemerkte ich.

»Sie muß!« sagte er. »Sie muß! Der Titel wird lauten: ›Der Stern von Bet Lahem, verfaßt vom Mir von Ardistan‹. Verstanden? Ich bin also der Verfasser und der Verleger. Wer will es wagen, das, was ich schreibe, nicht zu drucken? Bringt mir das Manuskript. In der nächsten Minute wird mein Name darunterstehen. Fertig!«

Das war ja viel, viel mehr, als wir erwartet hatten! Ich will in diesem Fall den Ereignissen vorgreifen und schon jetzt berichten, daß er wirklich seine Unterschrift gab, daß die Schrift unter seinem Namen gedruckt wurde und daß sie unzählige Käufer fand und wahrscheinlich auch heut noch findet. An diesem Abend gab es, als ich mich schon niedergelegt hatte, noch ein Ereignis, welches ich nicht übergehen kann. Aacht und Uucht hatten sich vor meinem Lager ausgestreckt Kein Licht brannte mehr. Ich war im Einschlafen. Da taten beide Hunde zu gleicher Zeit einen Satz nach der Tür zum Nebenzimmer. Ein unterdrückter Schrei erscholl; dann war es wieder still. Ich stand auf und machte Licht. Da lag ein Mann, der sich hatte hereinschleichen wollen. Die schweren Körper der Tiere lasteten auf ihm. Sie hatten ihn nur niedergerissen und festgehalten, ihm aber sonst nichts getan. Als ich ihm in das Gesicht leuchtete, war es – der Panther. Ich befahl ihm, aufzustehen. Er tat es. Da zogen sich die Hunde nach der Tür zurück, um diese zu bewachen. Er konnte nicht fliehen. Sein Blick schweifte auf den Teppich nieder, als habe er etwas verloren. Dann sah er mir mit dem Ausdruck des grimmigsten Hasses in das Gesicht und sagte in verächtlichem Ton:

»Natürlich wirst du es sofort dem Mir verraten!«

»O nein!« antwortete ich. »Wenn ich von jemanden spreche, muß er es wert sein; das bist du aber nicht. Ich denke an deinen Vater und deinen Bruder, denen ich die Schande nicht gönne, die du ihnen bereitest. Du kannst dich frei entfernen. Ich werde dich sogar bis vor das Tor begleiten, damit dich nicht etwa ein anderer ergreift, während ich dich entwischen lasse. Aber das sage ich dir: Sehe ich dich nochmals hier in der Stadt, während der Mir dich fern bei dem Heer glaubt, so höre ich auf zu schweigen. Tritt in das Vorzimmer und warte!«

Er gehorchte. Die Hunde gingen mit ihm hinaus und ließen ihn nicht weiter. Ich zog mich vollends an und schaute dabei schief gegen das Licht nach der Stelle des Fußbodens, wo er gelegen hatte. Da sah ich das liegen, was ihm entfallen war. Ein kleiner, eiserner Gegenstand, viereckig, zugespitzt und rechtwinklig gebogen. Jedenfalls ein Drückerschlüssel, mit dem er etwas hatte öffnen oder holen wollen, was er bei seiner eiligen Abreise nicht hatte in Sicherheit bringen können. Das mußte etwas sehr Wichtiges und ihn Belastendes sein, sonst hätte er nicht das große Wagnis unternommen, hierher zurückzukehren. Ich steckte das Werkzeug zu mir und ging dann zu ihm hinaus, um ihn hinunter- und an der Wache vorbeizuführen. Nachdem ich das in scheinbarer Ruhe und Gleichgültigkeit getan und er sich entfernt hatte, eilte ich so schnell wie möglich nach dem Privatstall des Mirs, wo auch unsere beiden Pferde standen. Da waren mehrere Mann der Stallwache munter. Ich fragte, ob einer von ihnen die vor der Stadt liegende Wohnung des Basch Islami kenne. Sie kannten sie alle. Ich befahl dem, der am besten Bescheid zu wissen schien, sich schnell aufzusetzen und mit mir zu reiten, um sie mir zu zeigen. Erst zu satteln, gab es keine Zeit.

Wir verließen das Schloß durch ein Seitentor und durcheilten so schnell wie möglich die vollständig finsteren Gassen und Straßen. Das Gebäude, welches ich suchte, war das letzte aller Häuser auf dieser Seite. Es lag in der Nähe eines kleinen Wäldchens, in welchem wir abstiegen und die Pferde anbanden. Auch die Hunde mußten dableiben; der Reitknecht ebenso. Ich aber näherte mich dem Haus. Da stampfte ein Pferd. Ich schlich mich möglichst leise hin. Es gab da eine Gartenmauer mit einem kleinen Kiosk nach innen. Außerhalb der Mauer aber war ein Pferd angebunden, mit dem aus dem Kiosk heraus eine weibliche Stimme liebkosend sprach. Hier handelte es sich jedenfalls um ein privates Stelldichein und um ein politisches Geheimnis zu gleicher Zeit. Der alte Basch hatte getan, als ob er der Oberste der Verschwörer sei. Nach seiner Meinung war er es vielleicht auch. Ich aber hielt den Panther für die eigentliche Seele des Aufstandes. Diese beiden Männer standen jedenfalls in näherer Beziehung zueinander, als sie wissen lassen wollten. So wahnsinnig das auch klingen mag, ich hielt den Panther für den Nachfolger, der dem jetzigen Mir gegeben werden sollte, und hatte aus diesem Grund vorhin angenommen, daß er, nachdem er mich verlassen harte, den Basch Islami aufsuchen werde, und war hierhergeritten, um mich zu überzeugen, ob ich da irre oder nicht.

Die Mauer war nicht sehr hoch, aber ziemlich breit und von allerlei Buschwerk überwachsen. Auch unten stand Gebüsch, von dem das fressende Pferd sich Zweige riß, deren lautes Prasseln und Knacken sehr geeignet war, mir ein unhörbares Verbergen zu ermöglichen. Ich schwang mich also in gehöriger Entfernung auf die Mauer hinauf und kroch auf derselben hin, bis ich die unmittelbare Nähe des Kioskes erreichte. Dort schob ich mich langsam und äußerst vorsichtig in das Gezweig hinein. Das Rauschen der Blätter, welches ich verursachte, wurde von dem Geräusch, welches beide, das Pferd und das Frauenzimmer, machten, vollständig verschlungen. Ich stieß mit dem Kopf an die Holzwand des Kioskes. Ich lag also so nahe, daß ich alles hören konnte, was hier gesprochen wurde, und brauchte nur darauf zu achten, mich nicht etwa durch Niesen oder Husten zu verraten.

Wenn mich nicht alles trog, so befand sich die Insassin des Kioskes in außerordentlich zärtlicher Stimmung. Sie sprach mit dem Pferd wie mit einem Menschen. Sie offenbarte ihm, daß sie »ihn« außerordentlich, liebe und daß sie alles aufbieten werde, daß »er« an die Stelle des jetzigen Mir gelange. Sie schüttete nach und nach ihr ganzes Herz aus, wodurch ich erfuhr, daß »seine« Liebe nicht so groß und ehrlich sei wie die ihrige. Sie gestand dem Pferd, daß es bange Stunden gebe, in denen sie an »ihm« zweifle und »ihn« für einen Betrüger halte, der ihr nur darum Liebe heuchle, um ihren Vater und dessen Einfluß für seine Pläne zu gewinnen. Gerade als sie mit ihrer Aufrichtigkeit bis zu diesem Punkt gekommen war, ließen sich Schritte hören, die sich schnell näherten.

»Er kommt; er kommt! Nun freue dich; er kommt!« sagte sie zum Pferd.

Und sie hatte recht; er kam. Es war der Panther. Aber das Tier hatte keine Ursache, sich über sein Kommen zu freuen. Er befand sich in äußerst schlechter Laune. Er öffnete die Zügel, riß das Pferd vom Zaun weg, daß das Gebiß in die Lippen schnitt und es vor Schmerz aufstöhnte. Dann schwang er sich auf, grub dem armen Geschöpf die Sporen derart in das Fleisch, daß es vom Schmerz kerzengerade in die Höhe getrieben wurde, und fluchte dabei:

»Allah verdamme die Beine, auf denen man läuft, während man doch Pferde hat, um zu reiten! Welche Zeit habe ich dadurch versäumt, daß ich deinem Rat folgte, zu Fuß durch die Stadt zu schleichen! Der Teufel hole die Weiber!«

»Und auch mich?« fragte sie.

»Wenigstens jetzt noch nicht! Du bist noch nicht die Schlimmste!« lachte er roh.

»Hattest du Glück?«

»Frag nicht so dumm! Ich wurde ertappt. Wahrscheinlich ist alles verloren!«

»Und der Vater? Der arme Vater ...?«

»Kann mir dann nichts mehr helfen!«

»Allah, Allah! Ich bitte dich, ihn zu grüßen!«

»Leb wohl!«

Er ritt fort.

»Schon verlassen willst ...«

»Leb wohl!« wiederholte er, nun schon von weitem.

»So bleib doch nur noch einen ...«

Ich sah, daß sie ihm die Hände nachstreckte, und hörte von ihm einen Fluch und das Klatschen der Peitsche, mit welcher er das Pferd zur Eile trieb. Das war alles so gefühllos, so menschenunwürdig, so grausam! Kann man so etwas wirklich erleben? Wohl nur im Traum, aber nicht im Wachen! Ich hörte im Kiosk ein tiefes, tiefes Atemholen und dann Schritte, die sich entfernten. War das dann ein Schluchzen? Oder nicht? Auch ich entfernte mich und kehrte zum Wäldchen zurück, um nach der Stadt zu reiten. Ich wußte nun, woran ich war. Der alte Basch Islami hatte nicht nur die Stadt, sondern auch sein Haus verlassen. Er befand sich dort, wohin der Panther jetzt ritt, der ihm versprochen hatte, seine Tochter zur Fürstin von Ardistan zu machen, falls er selbst zum Mir gewählt werde. Nun der ›Oberste der Mohammedaner‹ aber hatte fliehen müssen, konnte man sich gestatten, die Tochter nicht gerade fürstlich zu behandeln!

Am nächsten Morgen begann die eigentliche Vorarbeit für das Fest. Es wurden Kontrakte angefertigt und unterschrieben, nach denen die Fabrikanten, Lieferanten und Arbeiter sich zu richten hatten. Diese Oberleitung führte ich. Den direkten Verkehr mit den Leuten übernahm Halef, der hierzu wie geschaffen war. Der dritte von uns, nämlich der Oberpriester, wirkte in geradezu unvergleichlicher Weise, und zwar ebensosehr nach außen wie nach innen. Er schickte Boten nach Gharbistan und Scharkistan, damit man dort überall erfahre, daß man nach Ard zu wallfahren habe, weil dort der Stern von Bet Lahem aufgegangen und der Friede auf Erden gekommen sei. Auch durch ganz Ardistan gingen seine Boten. In der Hauptstadt selbst aber wirkte er durch persönliche Besuche und durch Vertiefung und Veredelung unserer äußerlichen, geschäftlichen Reklame. Wir stellten an allen Plätzen und größeren Straßen der Stadt Musterbäume und Verkäufer aus. Wir ließen mit Christbaumschmuck hausieren gehen. Wir ließen Vorträge halten. Wir gründeten Wohltätigkeitsvereine und Klubs des Sternes von Bet Lahem zur Christbescherung für die Armen und Kranken. Und das alles in nur zehn Tagen! Man kann sich da wohl denken, daß wir während dieser ganzen Zeit fast nicht zu Atem kamen!

Auch für die Unterbringung und Ernährung der erwarteten zahllosen Fremden mußte gesorgt werden. Das erforderte die Herbeischaffung von Vorräten und die Anstellung ehrlicher, zuverlässiger Leute. Höchst wichtig war die sofortige Gründung einer starken, christlichen Freiwilligenpolizei. Es waren von Seiten der Andersgläubigen und der Aufrührer feindliche Kundgebungen, vielleicht sogar noch Schlimmeres zu erwarten; da war es geboten, Gegenmaßregeln zu treffen. So mühevoll und kompliziert das alles war, wir brachten es doch fertig, denn hoch über unserer Arbeit schwebte der Wille und das Machtwort des Mirs, dessen plötzliche Herzens- und Sinnesänderung wie bezaubernd wirkte, und in noch größerer Höhe stand über all diesen Weihnachtssorgen und Weihnachtshoffnungen der all gütige Himmel mit seiner ewigen Liebe, Weisheit und Gerechtigkeit, die in die fernste Zukunft schaut und die richtige Zeit der Erlösung jedes einzelnen und jedes vereinten Volkes kennt.

Darum war ich wohlgemut. Ich wußte, daß alles gelingen werde, äußerlich und innerlich. Denn meine eigentliche Aufgabe hatte sich weniger auf die Außendinge als vielmehr auf die Seele zu richten, auf die Volks- und auf die Menschheitsseele, mit der ich mich beschäftige, seit ich überhaupt beschäftigt bin. Mit dem Geist der Bevölkerung von Ardistan hatten wir jetzt nichts zu tun. Der mochte sich gegen uns aufbäumen, sich empören; er machte uns nicht bange. Aber wenn es uns gelang, die Seele dieses Volkes wachzurufen, wie wenn man zu einem Kind sagt: »Steh auf vom Schlaf, und komm herein aus deiner Kammer; es brennt der Weihnachtsbaum; dein Heiland ist geboren!«, dann hatten wir erreicht, was wir erreichen wollten. In dieser Beziehung geschah etwas, was sehr geeignet war, unserer Arbeit eine schönere Weihe und tiefere Heiligung zu erteilen. Ich erzähle es.

Hier muß ich erwähnen, daß wir nicht mehr als Gefangene betrachtet wurden. Wir waren frei. Wir konnten gehen und kommen, ganz wie es uns beliebte. Jedermann durfte uns besuchen; unser Weihnachtsbüro stand aller Welt offen. Am liebsten sahen wir den Oberpriester kommen. Er lebte sich immer mehr in unsere Herzen ein und hatte die ganz besondere Gabe, immer gute Nachrichten zu bringen. Gleich an einem der ersten Tage brachte er zwei Personen mit, eine männliche und eine weibliche, die ihre Mantelkapuzen so weit vorgezogen hatten, daß sie ihre Gesichter fast ganz verdeckten.

»Hier bringe ich dir zwei liebe Bekannte von mir«, sagte der Basch Nasrani. »Sie sind nicht von hier, doch oft schon hiergewesen. Sie pflegen, ganz wie ich, in dem Haus meines Gastfreundes zu wohnen, in dem du mich mit dem Mir besuchtest. Sie sind soeben wieder einmal eingetroffen und haben den Wunsch, mit dir sprechen zu dürfen. Erlaubst du es?«

Ich nickte. Da warfen sie ihre Kapuzen zurück, und wen sah ich vor mir stehen? Abd el Fadl, den Fürsten von Halihm, und Merhameh, seine Tochter! Das war nicht Zufall, sondern Schickung! Sobald ich sie sah, kam ein Gedanke über mich, den ich festzuhalten hatte. Wie lautete die Weissagung, von der uns erzählt worden war? Die Güte und die Barmherzigkeit sollten hier im Dom ihre Stimmen erheben! Und überhaupt sollten Töne erklingen, die in Ardistan noch niemals erklungen seien! Heißt Fadl nicht Güte? Und Merhameh Barmherzigkeit? Und hatte ich sie nicht ihr herrliches »Morgen- und Abendgebet von Dschinnistan« singen hören? Wenn ihre beiden, unvergleichlichen Stimmen im Solo oder Duett im Dom erschallten, mußte es von größter Wirkung sein! Und gab es nicht eine Orgel, die zwar hier aufgerichtet, aber noch nie gespielt worden war? Ich bin kein berufsmäßiger Orgelspieler und noch viel weniger ein Orgelvirtuos, aber den musikalischen Kenntnissen und Anforderungen der hiesigen Bevölkerung glaubte ich entsprechen zu können. Durfte da vielleicht das, was ich spielte, nicht als jene »Töne« genommen werden, »die in Ardistan noch nie erklungen sind«? Können Weissagungen nur durch unsichtbare Engel erfüllt werden, nicht auch durch sichtbare Menschen?

Die Freude, die wir über das Eintreffen dieser beiden hochstehenden, seltenen Menschen empfanden, war ebenso groß wie aufrichtig. Die eigentliche Veranlassung ihres Kommens waren unsere Hunde, die sie nicht zu halten vermocht hatten. Ihre Flucht hatte besonders den Dschirbani in große Unruhe versetzt. Er glaubte, daß wir hierdurch in die größte Gefahr gebracht werden könnten, und hielt es für höchst notwendig, uns jemand nachzusenden, der die Befähigung besaß, sich heimlich in Ard nach uns zu erkundigen und die zu unserer Rettung geeigneten Maßregeln zu ergreifen. Sollte das nicht gelingen, so war er gesonnen, direkt hierher zu marschieren und uns mit Gewalt zu befreien. Abd el Fadl hatte sich sofort bereiterklärt, mit Merhameh nach Ard zu gehen. Er kannte das ganze Land, und er kannte auch die Stadt. Er war schon oft dagewesen, wenn auch nur heimlich, weil der Mir eine persönliche Abneigung gegen ihn besaß und ihn in seiner Residenz nicht duldete. Er gab sich als Märchenerzähler aus, der mit seiner Tochter nach Ard reite, um dort seines Berufes zu walten. Um nicht aufzufallen, waren sie nicht auf Pferden, sondern auf drei unscheinbaren, aber schnellen Eseln geritten und gestern abend angekommen. Ich sage drei, nicht bloß zwei Esel, weil der Dschirbani ihnen einen treuen, gewandten Begleiter mitgegeben hatte, der sofort den Rückweg antreten sollte, um sichere Nachricht zu bringen.

Glücklicherweise stand alles nicht nur gut, sondern sogar viel besser, als jemals zu erwarten gewesen war. Der Bote bekam außer dem mündlichen von mir auch noch einen schriftlichen Bescheid, durch welchen der Dschirbani von allem genau unterrichtet und also befähigt wurde, sich den Verhältnissen angemessen zu verhalten.

Es verstand sich ganz von selbst, daß die Anwesenheit des Fürsten und der Prinzessin von Halihm geheim zu bleiben hatte. Vom Mir konnten sie nicht erkannt werden, weil er Merhameh noch niemals und ihren Vater einmal nur aus sehr weiter Ferne gesehen hatte. Und auf die wenigen wirklich Bekannten, die es hier gab, konnte man sich verlassen; die verrieten nichts!

Als ich ihnen meinen Plan mitteilte, daß sie zur Orgel singen sollten, gingen sie beide sofort hierauf ein, und zwar mit Freuden. Der Oberpriester aber geriet gar in helle, lodernde Begeisterung, als ich ihn darauf aufmerksam machte, daß durch die persönlichen Namen der beiden Sänger und durch den Orgelklang die alte, in aller Munde lebende Weissagung genau wörtlich in Erfüllung gehe. Er wäre am liebsten aufgesprungen und hinausgerannt, um es aller Welt sofort zu verkünden; ich aber mahnte ihn, ja noch zu schweigen, weil der Mir das jetzt auf keinen Fall schon erfahren dürfe. Er mußte sich ganz unbedingt vor die vollendete Tatsache gestellt sehen, sonst stand zu befürchten, daß alles verdorben werde, und aus dem Fest eine Erniedrigung anstatt Erhebung des Christentums hervorgehe. Ich stellte die Forderung, daß kein Mensch jetzt von dieser Erfüllung der Verheißung zu sprechen habe und daß der Mir ganz allein nur von mir über sie unterrichtet werden dürfe. Der Oberpriester ging nebst Abd el Fadl und seiner Tochter hierauf ein.

Die beiden wichtigen Fragen, die es nun gab, lauteten: Was sollen Abd el Fadl und Merhameh singen? Und in welchem Zustand befindet sich die Orgel? Was die erstere Frage betrifft, so entwarf selbstverständlich der Basch Nasrani das Programm des dreitägigen Gottesdienstes. Abd el Fadl wählte einen dschinnistanischen Lobgesang auf Gottes Güte und Barmherzigkeit, den ich auf der Orgel zu begleiten hatte. Da ich diesen Gesang, der ein zweistimmiger war, nicht kannte und es auch keine Noten gab, mußte ich ihn mir vorsingen lassen, um ihn aufzuschreiben und die Begleitung hinzuzufügen. Hierzu war ein anderes, kleineres Instrument nötig, als die große Orgel. Ich beschloß, den Mir hierzu um sein altes Regalharmonium zu bitten, zumal ich mich ja auch wegen der Orgel an ihn zu wenden hatte, die mir ganz unmöglich ohne seine besondere, ausdrückliche Erlaubnis zur Verfügung stehen konnte. Ihm diese Wünsche mitzuteilen, nahm ich die nächste, passende Gelegenheit wahr. Ich hatte ihm eine Berechnung vorgelegt, die sehr zu seinem Vorteil sprach. Darüber freute er sich. In dieser Freude versicherte er mir, daß er für das Fest alles sehr gern tun werde, was er tun könne, ich solle nur wünschen und bitten. Das tat ich denn sofort. Er hörte mich an und freute sich darüber, mir die beiden Wünsche erfüllen zu können.

»Ich werde die Schlüssel zu der großen Orgel suchen lassen und sie dir geben«, sagte er. »Spiel, was du willst, und wenn sie dabei zugrunde geht! Sie stammt von unserem Feind, dem alten Abd el Fadl! Ich bin neugierig, wie sie klingt. Und weißt du: Ich werde öffentlich verkünden lassen, daß sie an allen drei Tagen und Abenden gespielt wird. Das zieht viele Tausende herbei! Und ein Märchenerzähler mit seiner Tochter sollen singen! Haben die Christen keine anderen, besseren Sänger? Ich will dir gern meine kleine Orgel dazu borgen; aber in deine Wohnung bekommst du sie nicht, sondern du mußt mit den beiden Personen in die meine kommen.«

Ich gestehe, daß ich in diesem Augenblick eine sehr wohl erlaubte Abart jener Freude empfand, von der man scherzhaft zu sagen pflegt: »Die Schadenfreude ist die reinste Freude.« Also sein Feind Abd el Fadl sollte zu ihm kommen! Als ich es diesem sagte, war er sofort einverstanden; es wurde ausgeführt. Wir gingen zum Herrscher, bekamen die »Musik« geliehen, spielten und sangen, und der Mir hörte zu. Beim nächsten Male holte er auch Frau und Kinder. Als wir gesungen hatten, durfte nur ich mich entfernen. Der angebliche arme Märchenerzähler aber mußte mit seiner Tochter bleiben, um Sagen und Märchen zu erzählen. Es versteht sich ganz von selbst, daß er dies nur tat, um auf den Mir und seine Kinder veredelnd zu wirken. Schließlich durfte er gar nicht wieder fort, sondern er bekam mit seiner Tochter im Schloß eine Wohnung angewiesen.

So kam das Fest an jedem Tage näher. Die Spannung wuchs. Die Zahl der Bäume, die der Mir verkauft hatte und noch immer verkaufte, war bereits Legion. Zu jedem Baum gehörte ein Fuß, der eigens bezahlt werden mußte. Die verkauften Lichter, Figuren und sonstigen Schmuckgegenstände zählten nach Millionen. Und doch wollte das noch nicht reichen. Wir konnten nicht genug liefern. Dabei wurde das Geld alle. Einige kluge, voraussichtige Köpfe hatten das geahnt und sich welches aus der Ferne kommen lassen. Das vertauschten sie nun mit Profit. Der letzte Tag war für uns der schlimmste von allen. Wir hatten veröffentlicht, daß an diesem Tage um sechs Uhr nachmittags der Verkauf überhaupt geschlossen werde. An diesem Nachmittag wurden unsere Verkaufsstände fast gestürmt. Aber es ging glatt ab. Schon lange vor sechs Uhr war kein Bäumchen, kein Engelchen, kein Sternchen mehr zu haben. Alles verkauft, alles, bis auf das letzte, bunte Papierschnitzel! Wir atmeten auf! Das war eine wahre Riesenarbeit gewesen. Zuletzt hatten wir alle, bis zum letzten Arbeiter herunter, gar nicht mehr schlafen können. Nun kam aber auch der Lohn. Ich brauchte nicht zu geizen, denn der materielle Erfolg war weit, weit größer, als wir erwartet hatten. Reiche Leute hatten zehn- und zwanzigfache Preise bezahlt, weil sie glaubten, daß dies der Mir erfahre. Das zahlreiche Personal, welches uns nötig gewesen war, erhielt, was wir ihm versprochen hatten, und ein jeder noch eine Geldsumme dazu als unsere Christbescherung. Sie jubelten.

Und der größte aller Bäume, die es gegeben hatte, brannte nun in unserm Büro genau eine Stunde nach dem Schlusse des Geschäftes, also am 24. Kanun el Auwal, abends sieben Uhr. Und vor ihm standen alle die Kisten, Körbe und Körbchen voll Geld, welches wir eingenommen und nach Begleich unserer Schulden übrigbehalten hatten, nach den verschiedenen Münzen geordnet, die in Ardistan kursieren. Und da kam er, den wir hatten rufen lassen, der Mir. Wir sagten ihm, daß jetzt das Geschäftliche erledigt sei, und nun könne das Höhere beginnen. Wir übergaben ihm die Blätter, welche die Buchführung enthielten, und führten ihn dann zur lichtbestrahlten Kasse.

Die Wirkung war überraschend. Er stand eine Weile ganz still und schaute auf das viele, viele Geld, als ob er das, was er sah, gar nicht glaube. Dann bückte er sich nieder und griff mit beiden Händen tief in die Münzen hinein.

»Was ist das?« fragte er. »Wem gehört dieses Geld?«

»Dir!« antwortete ich. »Es ist der Gewinn, der Überschuß, den wir erzielten.«

»Und ihr?« Er sah uns forschend an. »Wieviel habt ihr für euch behalten?«

»Für uns? Nichts! Wir haben nichts zu bekommen. Wir haben es getan, nur dir zuliebe und dem Christentum zur Ehre.«

»Ist das wahr?«

»Glaubst du, ich lüge? Prüfe die Papiere! Da steht die Ausgabe und die Einnahme. Jeder Para, jeder Schahi und jeder Casch! Wenn du vergleichst, wirst du finden, daß nichts fehlt.«

»So nehmt! Nehmt so viel, wie ihr wollt!«

Er machte eine Bewegung, als ob wir mit vollen Händen zugreifen sollten.

Ich trat zurück und schüttelte nur den Kopf. Der Oberpriester aber sprach:

»Wir arbeiteten an Stelle des Erlösers, und den bezahlt man nicht mit Kupfer und mit Bronze. Das Geld ist dein.«

»Aber da hat mir euer Christentum mit diesem einen Male doch mehr eingebracht als die andern Religionen zusammengenommen, so lange ich regiere!«

»Das ist die wahre Religion, die nicht nur nach dem Tod selig macht, sondern auch schon hier im Erdenleben für das Glück ihrer Bekenner sorgt!«

»So danke ich euch! Ich werde Diener senden, das Geld zu mir hinaufzutragen. Ihr aber, wenn ihr Wünsche habt, die im Interesse eueres Glaubens liegen, kommt getrost zu mir; sie werden euch erfüllt! Von jetzt an soll kein Feind mehr das Haupt eines Christen beugen! Um Mitternacht, wenn der Gottesdienst beginnt, stelle ich mich ein, mit Frau und Kindern und allen meinen Dienern und Beamten!«

Er ging. Wir blieben noch, bis das Geld geholt worden war, und begaben uns dann in die Kirche, um die letzte vorbereitende Hand an das dortige Werk zu legen. Wenn ich hier von der Kirche spreche, meine ich immer die gewaltige Mittelkuppel des Domes von Ard.

Das Fest der Geburt des Erlösers hatte zu beginnen um die Mitternacht, die zwischen dem 24. und 25. des Monates Kanun el Auwal hegt. Der Mir hatte versprochen, genau zu dieser Zeit zwölf Kanonenschüsse lösen zu lassen, zwölf, nach der Zahl der Monate des Jahres. Dann sollten die Glocken erklingen, die seit Hunderten von Jahren geschwiegen hatten, nur allein nicht die große, eiserne, die über fünfhundert Zentner wog und von der die Sage ging, daß sie, wenn die Zeit der Erlösung und des Friedens gekommen sei, von kleinen, unschuldigen Kindern geläutet werde. Sie hing im höchsten und stärksten der Türme, mehrere Stockwerke tiefer als die anderen Glocken.

Was der Oberpriester vorausgesagt hatte, war eingetroffen. Es hatten sich aus Ardistan, Gharbistan und Scharkistan Hunderttausende von Pilgern eingestellt, welche nur zum geringsten Teil in der Stadt, dann aber draußen im Freien untergebracht werden konnten. Diese Fremden waren nicht alle Christen. Es befanden sich auch viele unter ihnen, die nicht von ihrer Religion, sondern von ihrer Wißbegierde herbeigetrieben worden waren. Da dieser Umstand sehr leicht zu Streitigkeiten oder noch gar Schlimmerem führen konnte, hatte der Mir bekanntmachen lassen: Wer die Heiligkeit des Festes durch Unfrieden störe, werde unbedingt erschossen, er sei, wer er immer sei. Man kannte ihn nur zu gut. Man wußte, daß er gegebenen Falles keinen Augenblick zögern werde, diese Drohung auszuführen, und so ist es mir glücklicherweise möglich, schon jetzt im voraus zu berichten, daß sie vom besten Erfolg gewesen ist. Große Verstöße kamen nicht vor, und kleine, gewöhnliche Zwiste, die es stets gab und immer geben wird, wurden mit Hilfe der Freiwilligenpolizei sehr schnell geschlichtet.

Was die Orgel betrifft, so hatte ich sie vollständig intakt, aber außerordentlich verstaubt gefunden. Sie war in Indien von einem Engländer gebaut und hatte ein Pedal, zwei Manuale und vierundzwanzig Register. Abd el Fadl wußte gar wohl, aus welchem Grund sein Vater und der vorige Mir übereingekommen waren, sie hier aufzustellen, da er aber nicht freiwillig darauf zu sprechen kam, hielt ich mich nicht für befugt, danach zu fragen. Der Lobgesang, den er mit seiner Tochter vorzutragen hatte, war die Komposition eines der ersten Gesangsmeister von Dschinnistan, ein ernstes, herrliches, tief ergreifendes Stück. Nur schade, daß ich es nicht kannte und daß mir nur die beiden, nach dem Gehör geschriebenen Singstimmen zur Verfügung standen, es für Orgelbegleitung zu arrangieren! Es hat dadurch jedenfalls unendlich gelitten, doch darf ich zu meiner Entschuldigung wohl sagen: Ich kann nicht dafür!

Und nun zur Hauptsache, dem Hochaltar. Er war seit Menschengedenken verhüllt gewesen, und man weiß ja wohl bereits, was für Mythen und Hoffnungen sich an seine Enthüllung knüpften. Wie gern hätten wir die letztere herbeigeführt, aber als der Oberpriester sich den Mut nahm, dem Mir gegenüber nur eine leise Andeutung zu machen, fuhr dieser zornig auf und verbot sehr streng, diesen Gegenstand wieder zu berühren. Das war zwar gleich in den ersten Tagen gewesen, und die Gesinnung des Herrschers hatte sich seitdem ganz bedeutend geändert, aber dennoch hatte es bis heute noch keiner von uns für angebracht gehalten, die Bitte zu wiederholen. So hatten wir die Kirche zwar auf das reichlichste mit Weihnachtsbäumen und grünen Zweigen ausgeschmückt, aber dieser Schmuck machte uns eigentlich keine Freude. Auch rechts und links von dem prächtigen Orgelgehäuse stieg ein Wäldchen von Tannen auf, in deren Licht die blanken Pfeifen funkelten; aber der häßliche Papp-, Latten- und Filzüberzug des Hochaltares wirkte wie ein großer, grauer Klex im künstlerisch vollendeten Gemälde und bildete vor allen Dingen auch in rein religiöser Beziehung einen Schandfleck, der kaum zu ertragen war. Das ärgerte uns auch jetzt, als wir in die Kirche kamen. Es war eine ganze Schar von Menschen beschäftigt, ihr ein weihnachtsfestliches Aussehen zu verleihen, und diese Bemühungen waren vom prächtigsten Erfolg gekrönt; leider aber sahen wir diesen Erfolg durch die entstellende Tüte, die man über den Hochaltar gestülpt hatte, völlig in Frage gestellt. Wir sprachen die Angelegenheit noch einmal ernstlich durch und kamen zu dem Resultat, daß uns doch nichts anderes übrigbleibe, als jetzt, in letzter Stunde, noch einmal eine Bitte an den Mir zu wagen. Wir beschlossen soeben, dies sofort zu tun, da sahen wir ihn durch ein Nebenportal treten. Er kam mit Frau und Kindern, um unser Werk und die Ausschmückung des Altanes zu betrachten, auf dem er mit seinen Hofstaaten Platz zu nehmen hatte. Er war hoch zufrieden. Es sah aus, als sei dieser Altan für einen mächtigen, prachtliebenden König oder Kaiser bestimmt. Er lächelte und sagte, indem er zu mir kam:

»Dazu gehört wohl mein Herrschergewand, in dem du mich zum ersten Male sahst!«

»Um Gottes willen!« entfuhr es mir. Aber in voller Absicht fügte ich hinzu: »Das würde dich ebenso entstellen, wie dich der Filzhut entstellt, unter dem man dort das Allerheiligste und Schönste verbirgt, was es auf Erden gibt!«

»Mich entstellt es? Mich?« fragte er. »Wieso mich?«

»Weil du der Herrscher bist, der Mir, auf dessen Willen man alles wirft, was der Unverstand der Andersgläubigen, der Empörer, verschuldet.«

Es war Berechnung von mir, daß ich mich dieses letzteren Wortes bediente. Es wirkte sofort. Er fragte schnell, indem seine Augen blitzten:

»Der Empörer?«

»Ja«, antwortete ich. »Oder sind sie es nicht? Wer hat dich und deine Vorfahren überredet, das Bildnis dessen, dem alle Macht gegeben ist im Himmel und auf Erden, unter Filz und Pappe zu verstecken? Sind es nicht dieselben, die dich jetzt entthronen und zur Figur aus Filz und Pappe machen wollen?«

»Allah, w'Allah!« rief er zustimmend aus.

»Du hast dir diese Verräter und Mörder großgezogen, indem du die, welche dir treu waren, verkleinertest und entmanntest. Das kann und darf dir die Weltgeschichte nicht vergeben. Sie wird und muß es dir in dein Konto zeichnen, außer du legst noch zur rechten Zeit die Faust auf den rechten Platz! Schau diese Menge grüner, duftender Bäume, die bis empor zur höchsten Empore steigen! Dein Wald kam in die Kirche, um den Heiland der Welt zu feiern. Und du? Welchen erhabenen Anblick wird es bieten, wenn die Zünder von Licht zu Licht zur Kuppel steigen und auch dort oben das Firmament entflammen! Wie tief und froh bewegt werden alle Herzen sein! Und wie enttäuscht, wie zornig werden dann die Blicke auf den plumpen Balg, auf den steifen Mantel niederfallen, den man nicht etwa nur diesem Hochaltar, sondern auch deinem Ruhm, deiner Ehre aufgezwungen hat! Die Diplomaten werden von dir sagen: ›Er bedrückte die Würdigen und machte sich zum Werkzeuge der Unwürdigen!‹ Die Künstler werden sagen: ›Er besaß weder Sinn noch Geschmack. Für ihn war das Schöne häßlich und das Häßliche schön. Eine Scheuche von Filz unter strahlenden Weihnachtsbäumen, das bot er den ...‹«

»Halt!« unterbrach er mich. »Geh nicht weiter, ja nicht weiter! Und wenn du recht hast, tausendmal recht, so hast du doch nicht das Recht, es mir zu sagen! Ich kann dich zertreten, wenn ich will! Glaubst du, daß es mir ...«

Da wurde er unterbrochen, wie er mich unterbrochen hatte. Seine Kinder hatten im Laufe der vergangenen zehn Tage den kleinen Halef liebgewonnen und sich auch jetzt, als sie kamen, sofort an ihn gemacht. Er hatte in der ihm eigenen, drolligen, aber schlau berechneten Weise sogleich etwas auf das Tapet gebracht, worüber sie sich freuten. Sie schlugen die Hände zusammen und lachten vor Vergnügen so laut, daß sie ihren Vater dadurch störten. Er hörte mitten in seiner Rede auf und fragte:

»Warum so laut? Worüber freut ihr euch?«

»Über das Läuten«, antwortete der größere Knabe.

»Läuten? Wieso?«

»Wir werden läuten!«

»Was?«

»Die große Glocke! Die allergrößte! Nicht wahr, lieber Vater, du erlaubst es uns?«

Der Mir war erst still. Dann warf er einen bezeichnenden Blick auf Halef und antwortete:

»Das wird wohl auch nichts anderes als so eine Art von Verschwörung sein! So große Glocken können nicht von Kindern geläutet werden!«

»O doch!« behauptete der ältere Knabe. »Dieser Hadschi Halef Omar weiß genau, wie man es macht!«

»Der weiß es nicht! Der lügt!«

»Oho!« rief Halef. »Wer kann mir eine Unwahrheit beweisen? Ich war auf dem Turm, ganz oben, um einen Blick rund auf die ganze Stadt zu werfen. Ich habe auch die Glocken gesehen, oben die gewöhnlichen, und weiter unten die ganz große. Diese letztere kann nicht auf die gewöhnliche Weise geläutet werden; sie ist zu schwer dazu. Sie wird von einem Klöppel angeschlagen, den ein Räderwerk bewegt, dessen Gewichte im Inneren des Turmes von hoch oben bis tief zur Erde niederhängen. Wenn die Räder gut geölt sind, so geht das Uhrwerk so leicht, daß die Gewichte, trotz ihrer Schwere, von Kindern aufgezogen werden können.«

»Hörst du es?« fragte der kleinere Knabe seinen Vater. »Wir ziehen die Räder auf!«

»Erst schmieren wir sie!« rief das größere Töchterchen, um ihre Überlegenheit zu zeigen. »Der Vater gibt uns Öl; dann läuten wir!«

»Wir läuten; wir läuten! Die große Glocke, die allergrößte!« jubelte das Nesthäkchen, indem es die kleinen, quatscheligen Hände zusammenschlug.

Der Mir machte ein sehr unentschiedenes Gesicht. Er kämpfte zwischen Zorn, Verlegenheit und Liebe. Er wendete sich an mich:

»Das kommt euch wohl so recht? Was rätst du mir?«

»Nichts«, antwortete ich, infolge seines ersten Satzes sehr kühl. »Es handelt sich nicht um meine Ehre, sondern um die deinige!«

»Du hast keine Bitte?«

»Bitte? Nein. Du bekamst von uns das ganze, große, herrliche Fest geschenkt. Was könnten da wohl wir, nämlich wir, zu bitten haben? Ob du es dir verdirbst, ist deine Sache!«

Ich tat, als ob ich mich entfernen wollte. Da hielt er mich mit einer Handbewegung zurück und sprach:

»Das klingt sehr stolz von dir!«

»Stolz nicht, sondern wahr und ehrlich, weil ich dich kenne. Du bist kein kleiner, sondern ein großer Mensch. Ich wünsche, daß du es bleibst!«

»Wozu dieses Lob?« fragte er mit dem Gesicht eines Schachspielers, der einen Verlust maskieren will. »Ich habe euch die Kirche überlassen, natürlich auch alles, was sich darin befindet. Wollt ihr den Filz nicht haben, so schafft ihn fort!«

»Du erlaubst es? Wirklich, wirklich?« fragte da der Oberpriester schnell.

»Ganz selbstverständlich! Ja! Und dem Wächter des Turmes habt ihr zu sagen, daß ich nach Verlauf von zwei Stunden kommen werde, um von da oben aus das Bild der Stadt am Weihnachtsabend zu schauen. Er hat für Licht und Fackeln zu sorgen und vor allen Dingen auch dafür, daß das Räderwerk der großen Glocke in voller Ordnung ist!«

»Wir läuten, Vater?« fragte das kleinste Dirndl.

»Ja, ihr läutet«, antwortete er. »Wir kehren vorher nach hierher zurück, um euern Hadschi Halef abzuholen. Der muß mit hinauf, zur Strafe dafür, daß er es wagte, gerade die größte aller Glocken in die kleinsten und liebsten aller Köpfe zu setzen, die ich kenne!«

»Er muß mit hinauf, mit hinauf!« jubelten sie, indem sie sich mit Vater und Mutter entfernten. Wir aber machten uns mit ebenso großem, wenn auch weniger lautem Triumph an das nicht ganz leichte Werk, in der kurzen Zeit, die uns dafür verblieb, den Hochaltar von seiner Hülle zu befreien und seine Ausschmückung der übrigen Dekoration der Kirche harmonisch einzufügen. Wir wurden hierdurch so sehr in Anspruch genommen, daß wir nach zwei Stunden gar nicht darauf achteten, daß Halef abgeholt wurde und uns verließ, um mit dem Mir und seinen Kindern auf den Turm zu steigen. Nach einiger Zeit erhob sich draußen, rund um das Schloß, ein stürmisches Rufen und Frohlocken, welches sich nach allen Richtungen weiterpflanzte, von Platz zu Platz, von Straße zu Straße, von Gasse zu Gasse. Die Veranlassung hierzu war der pfiffige Hadschi, der, ohne es uns wissen zu lassen, für die Verbreitung der Nachricht gesorgt hatte, um welche Zeit der Mir mit seinen Kindern auf dem Turm erscheinen werde, um die Stadt im Glanz der vieltausend Lichter zu sehen, die sich heut abend durch die Straßen bewegten. Als nun hoch oben die Laternen aus dem Inneren des Turmes auftauchten, wußte man, daß der Herrscher jetzt herunterschaue, und grüßte freudig hinauf. Wie schnell er sich die Herzen so vieler Menschen gewonnen hatte! Und wie leicht! War er der Mann, der das zu würdigen verstand?

Als die Hülle des Hochaltares gefallen war, zeigte es sich, daß er dem Bild, welches ich mir von ihm gemacht hatte, in keiner Weise glich. Er war schöner, viel schöner als dieses Bild. Er war aus einem mir unbekannten, sehr harten, goldbräunlichen Holz geschnitzt, dem ein leicht bemerkbarer Veilchenduft entströmte. Die Schnitzereien stellten einen zweigeschossigen Tempel dar, dessen Architektur unten altindisch begann und dann, aufwärtssteigend, erst nach buddhistischen und später nach neuorientalischen Formen strebte. Das untere Geschoß stellte das Stübchen Mariens in Nazareth dar, und zwar in dem Augenblick, als der Engel zu ihr trat, um ihr die Geburt des Heilandes zu verkünden. Die Unterschrift bestand in den Worten: »Der wird der Sohn des Allerhöchsten genannt werden.« Im Obergeschoß war der über Erde, Wolken und Sterne schreitende Christus dargestellt, von der Unterschrift getragen: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.« Es gab also nur diese drei Figuren. Sie traten infolge des Materiales, aus dem sie gemeißelt waren, in geradezu köstlicher Weise aus der dunkleren Umrahmung der Holzschnitzerei hervor, als ob sie zu zeigen hätten, daß sie auch künstlerisch von einer viel höheren Welt zu sprechen hätten als diese. Dieses Material war ein weißer Kalkstein, und doch kein Marmor. Mir schien er viel edler als Marmor zu sein. Sehr selten! Jetzt, wo im weiten Raum nur eine beschränkte Zahl von Kerzen brannte, konnte ich seinen Wert noch nicht erkennen. Aber dann, als Tausende von Flammen und Flämmchen leuchteten und ihr Licht den Stein durchdrang, wie die Offenbarung ein erst nur halb durchschautes Geheimnis durchdringt, da erkannte ich wohl den hohen Wert und die Seltenheit dieses herrlichen, tropfsteinartigen Aragonites.

Wer war der Meister gewesen, der diese drei Figuren geschaffen hatte? Zwar als Künstler seiner Zeit schon weit vorausgeschritten, hatte er als Christ leider immer noch an Formen und Gedanken gehangen, die auf dem Feld von Bethlehem überwunden worden waren. Es schien, als ob der Mann ein hochbegabter Lama gewesen sei, dem es gelungen war, sich herüber in das Christentum zu retten und den späteren Zeiten sein Bekenntnis in diesen Werken aufzubewahren. Wir befanden uns hier nicht inmitten der europäischen »Hochintelligenz«. Ich war nicht berechtigt, hohe künstlerische Ansprüche zu erheben. Und auch als Christ war ich hier in eine Diaspora, in eine Ferne gestellt, die mir nicht erlaubte, kritisch zu sein. Ich fühlte nur, daß die Anstrengung ehrlich und rührend war, die es dem Künstler gemacht hatte, seinen Glauben darzustellen, obgleich seine Kunst noch selbst zu erlösen war. Es gelang uns, noch vor der letzten Stunde fertig zu werden und auch den Altar derart mit Bäumen zu schmücken, daß es nur eines Zünderfunkens bedurfte, ihre Lichte alle in Brand zu stecken. Der hoch darüberstehende Stern von Bethlehem war bedeutend vergrößert worden.

Eben als wir diese Arbeit vollendet hatten, kam ein Bote, durch den wir zu dem Mir befohlen wurden. Soeben sei jemand angekommen, den er uns zeigen müsse, ließ er uns sagen. Wen trafen wir bei ihm? Die beiden Söhne des Scheichs der Ussul, die in der Stadt der Toten gefangengehalten und jetzt wieder zurückgeholt worden waren! Der Mir hatte ihnen ehrlich gesagt, wem sie ihre Befreiung eigentlich zu verdanken hatten, und als sie hierzu noch erfuhren, daß wir Gäste ihrer Eltern gewesen seien, war ihre Freude, uns zu sehen, doppelt aufrichtig. Sie bekamen den Befehl über die Schloßwache zurück und hatten im Schloß zu wohnen. Es verstand sich ganz von selbst, daß Hadschi Halef sich sofort in Freundschaft für sie erwärmte. Bot sich ihm durch sie doch reiche Gelegenheit, in der Erinnerung an verflossene Groß- und Heldentaten zu schwärmen!

Als die Stunde nahte, in welcher der Gottesdienst beginnen sollte, versammelten sich alle die Personen, die ich weiter oben ein klein wenig ironisch als Hofstaaten bezeichnet habe. Sie taten das in dem eigentlich zur Kirche gehörigen Prunksaal, in dem wir von dem Mir empfangen und dann von unseren Hunden gestört worden waren. Der geistliche Herr, Halef und ich, wir drei, mußten bei dem Mir und seiner Familie bleiben, bis der erste Kanonenschuß sich hören ließ und sofort hierauf die Kirchentüren geöffnet wurden. Alles, was christlich war, versuchte in dem immer noch von nur wenigen Kerzen erleuchteten Raum einen Platz zu finden. Wer draußen bleiben mußte, hatte sich damit zu trösten, daß auch noch für morgen und übermorgen dieselbe Feier vorgesehen war. Das vollzog sich alles in leidlicher Ruhe und ohne störendes Gedränge. Der Mir aber setzte sich mit seiner Frau, seinen Kindern und uns dreien an die Spitze seiner Offiziere, Hof- und Staatsbeamten, um in einem langen, feierlichen Zug mit ihnen nach der für ihn und sie errichteten Tribüne zu ziehen. Wie stolz mein kleiner Halef war, gleich hinter dem »Herrscher« gehen zu dürfen!

»Und ich bin doch heute weiter nichts, weiter nichts«, flüsterte er mir in scheinbarer Bescheidenheit zu. »Ich trete ja nur die Orgel!«

Er hatte nämlich immer, wenn ich mit Abd el Fadl und Merhameh übte, die Bälge getreten, weil wir keine anderen störenden Personen dabeihaben wollten. Er nannte das »die Orgel treten«. Als ich ihm sagte, daß es »die Bälge treten« heiße, fragte er mich:

»Gehören die Bälge zur Orgel oder nicht?«

»Ja, sie gehören zu ihr«, mußte ich gestehen.

»Gut! So trete ich die Orgel! Bedenke doch: Wenn ich, der Scheich der Haddedihn, die Orgel trete, so vergebe ich mir nichts. Wenn ich aber nur die Bälge trete, so tue ich etwas Unwürdiges und Lächerliches, dessen ich mich schämen muß!«

»Aber, lieber Halef, die Bälge werden nur getreten, und die Orgel wird gespielt!«

»So drehen wir es einmal herum: Wir sagen, ich trete die Orgel, und du spielst die Bälge. Dann ist meine Ehre gerettet, und das kannst du mir doch wohl zuliebe tun!«

Als die Herrschaften sich gesetzt hatten, gingen wir beide hinüber nach dem Orgelchor, in dessen Hintergrund er verschwand, um seinen Pflichten als Kalkant nun obzuliegen. Abd el Fadl und Merhameh standen schon da, ganz vorn an der Brüstung. Sie hatten sich nicht am Zug beteiligt, sondern es vorgezogen, diese ihre Plätze ganz unbemerkt und bescheiden aufzusuchen. Da standen auch die Sänger und Sängerinnen, die vom Oberpriester hierher postiert worden waren, weil sie die Lieder und Melodien, welche gesungen werden sollten, kannten und die Ungeübten mit sich fortzureißen hatten.

Gleich als ich den Chor auf der einen Seite betrat, sah ich drüben auf der andern Seite vier Männer stehen, denen ich keine Beachtung schenkte. Da, eben als ich mich auf die Orgelbank setzte und die Register zu wählen begann, trat Abd el Fadl zu mir und fragte:

»Siehst du die vier Fremden dort unter den letzten Weihnachtsbäumen, Effendi?«

»Ja«, nickte ich.

»Das ist der Schech el Beled – Bürgermeister, Ortsvorsteher – von El Hadd mit seinen drei Begleitern. Er kam erst heut hier an und wünscht, in der Nähe stehen zu dürfen, wenn unser Duett erklingt. Erlaubst du es?«

»O wie gern!« antwortete ich. »Übrigens bin nicht ich der Herr, der hier zu bestimmen hat. Gottes Häuser müssen für jedermann offenstehen. Was ist der Schech? Mohammedaner?«

»Nein, sondern Christ. Ich werde dich bitten, einmal mit ihm zu sprechen, denn er ist ein guter Bekannter von mir, und ich will ...«

Er hielt mitten in seiner Rede inne, weil er unterbrochen wurde, und zwar auf eine nicht ganz gewöhnliche, beinahe heitere, aber doch ganz in die frohe Feststimmung passende Weise. Er hatte leise gesprochen. Es sprach überhaupt jedermann leise, aus Rücksicht auf den heiligen Ort, an dem man sich befand. Nur die Kinder des Mirs machten hiervon eine Ausnahme. Sie fühlten nichts von dieser frommen Scheu. Ihr höchstes Interesse war auf den Augenblick gerichtet, an dem nach dem letzten Kanonenschuß ihre große Glocke ihre Stimme zu erheben hatte. Dieser Moment war jetzt gekommen. Der Untergebene des Oberpriesters trat an den Hochaltar, um den Zünder, der von hier aus überallhin leitete, zu entflammen. Als man das sah, trat augenblicklich eine tiefe Stille der Erwartung ein, bei den Kindern aber gerade das Gegenteil. Sie waren zu erregt, als daß sie auch hätten schweigen können. Als der letzte Kanonenschuß zu hören war, rief das kleinere Mädchen so laut, daß jedermann es hörte:

»Das war der letzte Schuß! Ich habe gezählt!«

Da stiegen die Funken vom Zünder aus nach allen Richtungen empor, so daß jedes Licht seine Flamme bekam. Man war zunächst wie geblendet.

»Nun brennen alle Bäume, alle, alle!« jubelte der jüngere Knabe, indem er die Hände bewundernd zusammenschlug.

»Nun läuten wir! Der Vater hat es erlaubt!« verkündete der größere Knabe.

»Die große Glocke!« stimmte das ältere Mädchen bei.

Die anderen Glocken begannen, die große aber noch nicht. Da hörte man die helle, geringschätzige Stimme des Nesthäkchens:

»Das sind nur die kleinen Glocken! Die werden nur von Männern geläutet! Aber die große, die allergrößte, die läuten wir Kinder, wir!«

Und als ob diese größte aller Glocken nur auf diese Worte des kleinsten der Kinder gewartet hätte, erhob nun auch sie ihre tiefe gewaltige Stimme, die noch kein jetzt Lebender zu hören bekommen hatte.

Da riß es den Mir von seinem Sitz empor. Er erkannte plötzlich die ganze, große Bedeutung dieses Augenblickes, an welchem in Erfüllung ging, was längst verkündet war. Er breitete die Arme aus, als ob er sich hingerissen fühle und etwas sagen wolle, doch hielt ich es für geraten, dies zu verhindern. Ich hatte fast alle Register gezogen und griff schnell mit Händen und Füßen in die Klaviatur und in das Pedal. Ich hatte das wohlbekannte große Halleluja von Händel als Einleitung gewählt. Als der erste, volle Akkord brausend und alles mit sich fortreißend zur hohen Kuppel stieg, war es, als ob alle Lichter erzitterten und alle Augen und alle Herzen mit zur Höhe stiegen. Der Mir aber ließ sich langsam auf seinen Sitz niedersinken und starrte zur Orgel herüber, bis das Halleluja zu Ende war und ich zu Beethovens »Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre« überging. Es galt vor allen Dingen, nicht durch Zartheit und Lieblichkeit, sondern durch die Macht der Töne auf diese Menschen da unten, die noch niemals eine Orgel gehört hatten, einzuwirken, und das schien mir zu gelingen. Die Augen aller Anwesenden hingen an dem Orgelchor, und auch draußen vor den weitgeöffneten Türen, wo Kopf an Kopf eine schier undurchdringliche Menge stand, gab es, wie man mir später berichtete, eine atemlose Stille, die durch kein leises oder gar lautes Wort unterbrochen wurde. Das war nicht etwa die Folge meiner Kunst und Fertigkeit; oh, mit der war und ist es gar nicht weit her! Sondern die beiden genannten, großen Meister sprachen, und das, was sie sagten, mußte für Hörer dieser Art und dieses Schlages überwältigend sein.

Indem ich während des Spiels nach der Seite schaute, sah ich, daß der Schech el Beled von El Hadd mit seinen drei Männern unter den Christbäumen hervorgetreten war und sich der Orgel genähert hatte. Sie schienen darüber, daß es hier eine Orgel gab, und auch darüber, was und wie ich es spielte, nicht im geringsten verwundert zu sein; aber daß sie sich über die Wirkung freuten, das war ihnen anzusehen. Sie erschienen mir überhaupt so interessant, daß meine Augen sich wohl öfter, als nötig war, ihnen zuwendeten, und ein ähnliches Interesse schien man auch mir entgegenzubringen, denn ich bemerkte, daß auch ich von ihnen beobachtet wurde, aber nicht mit feindlichen, sondern mit freundlichen Augen, wie ich hinzufügen will. Sie waren alle ganz in dünnes, sich eng an die Glieder schmiegendes Leder gekleidet, das heißt, in zwar gegerbte, aber nicht gefärbte, mittelbreite Riemen, die quer wie Sandalenschnüre liefen und so fest schlossen, daß sie, wie festgewebtes Zeug, keinen Zwischenraum zwischen sich ließen und den Körper lückenlos bedeckten. An den Füßen gab es Sandalen, als Kopfbedeckung leichte, weiße Amajim – Turbane –, die sie jetzt aber abgenommen hatten und in den Händen hielten. Sie waren ja Christen. Von den Schultern hingen ihnen lange, dünne Mäntel, deren jeder mit einer Kapuze versehen war. Sie waren schöne Männer, zwar nicht so riesig gebaut wie die Ussul, aber doch von so hoher, edler, kräftig ebenmäßiger Figur, wie man sie unter gewöhnlichen Menschen äußerst selten findet. Auch ihre Gesichtszüge waren schön, besonders die des Schech el Beled, aber von einer mir bisher unbekannten, schwer zu beschreibenden Schönheit. Sie war nicht das, was man als klassisch bezeichnet, sondern noch tiefer, durchgeistigter und ausdrucksvoller als dieses. In diesen Gesichtern sprachen sich Selbstbewußtsein, Energie und Kühnheit in auffallender Deutlichkeit aus, ohne daß der untere Teil, der die Kauwerkzeuge enthält, besonders kräftig hervorzutreten hatte. Die Lippenführung war fast frauenhaft lieblich zu nennen. Es lagerte da eine ganze Fülle von Wohlwollen, Güte und Menschenfreundlichkeit. Was sich über dem Munde erhob, Nase, Wangen, Augengegend und Stirn, war durchgeistigt und durchwärmt von jener ruhigen Klarheit, zu der es nur solche Menschen bringen, bei denen Kopf und Herz im vollsten Einklang stehen und die hierdurch gewonnene Lebensanschauung nicht nur eine Frucht des Denkens, sondern auch des Fühlens und Empfindens ist. Besonders zogen die großen, reinen, aufrichtigen Augen des Schech el Beled die meinigen immer wieder zu ihm hinüber. Warum strahlten sie so seltsam? Kam das von innen heraus oder von außen? War es die Weihnachtsfreude und Weihnachtsseligkeit seines Innern oder nur der Reflex des Weihnachtsglanzes, der von den zahllosen Kerzen strömte, die hier in der Kirche brannten? El Hadd ist ein kleines Gebirgsländchen, welches, nur äußerst schwer zugänglich, an der südlichen Grenze von Dschinnistan liegt. Seine Bewohner werden infolge der hohen, abgeschlossenen, einsamen Lage ihrer stein- und felsenreichen Heimat als außerordentlich arm bezeichnet. Diese vier Männer aber machten trotz ihrer einfachen Kleidung ganz und gar nicht den Eindruck, als ob sie sich von dieser Armut bedrückt oder gar niedergeschlagen fühlten. Ich verweile bei ihrer Beschreibung absichtlich länger, als die Situation es mir eigentlich erlaubt, und ich habe meine guten, besonderen Gründe dazu, die ich nur deshalb hier nicht näher bezeichne, weil sie baldigst ganz von selbst in die Augen fallen werden.

Die vorliegenden Verhältnisse hatten den Oberpriester veranlaßt, den Gottesdienst möglichst einfach zu gestalten und auf allen liturgisch-künstlerischen Schmuck für jetzt zu verzichten, besonders auch auf die erhebenden Wechselgesänge zwischen den Geistlichen und der Gemeinde. Ein Kirchenlied; hierauf die Vorlesung der Weissagungen und des Evangeliums vom Altar aus; dann Abd el Fadls und Merhamehs Lobgesang; ein zweites Kirchenlied, dem die Festpredigt von der Kanzel aus zu folgen hatte; sodann ein kurzes, drittes Lied; der vom Altar aus gesprochene Segen und endlich ein allgemeiner Schlußgesang, der den Dank der Gemeinde brachte. Das war der Inhalt, oder sagen wir, das Programm der heutigen Feier, die an den würdigen Basch Nasrani ganz ungewöhnlich schwere Forderungen stellte, weil er es noch nicht mit einer festgeschlossenen Gemeinde, sondern nur erst mit einer ungeordneten und ungeübten Zuhörerschaft zu tun hatte, die nur durch den Eindruck dessen, was ihr geboten wurde, zu fassen und zu erheben war. Es galt vor allen Dingen zu begeistern, und das gelang ihm allerdings im vollsten, reichsten Maße. Wir hatten uns aber auch tüchtig eingeübt, Abd el Fadl, Merhameh und ich. Das war besonders von meiner Seite aus sehr notwendig gewesen, weil ich kaum so spielen konnte, wie in Deutschland jeder gute Dorfkantor oder Dorfschulmeister spielt. Die frühere Fertigkeit war dahin; die Übung fehlte; die Finger wollten nicht mehr mit. Wie gern hätte ich den Orgeldienst einem anderen, besseren überlassen, aber es gab eben keinen anderen. Darum freute es mich doppelt, daß alles gut und so verlief, wie es von uns gewünscht worden war, einen einzigen, häßlichen Vorgang abgerechnet, der aber nicht von uns, sondern von dem Maha-Lama von Ardistan veranlaßt wurde. Dieser mächtige Herr, der sich infolge seines sogenannten geistlichen Amtes für höherstehend hielt als selbst der Mir, hatte bisher nur abgewartet und sich ganz ruhig verhalten. Heut trat er nun aus dieser Ruhe heraus, und zwar mit einer Demonstration, die so gewagt und unbesonnen war, daß jeder andere an seiner Stelle sie wahrscheinlich unterlassen hätte.

Das erste Lied war gesungen, und die Verlesung der Weissagungen hatten begonnen. Ich stand von der Orgelbank auf, um nun erst jetzt den Anblick des Raumes, dem ich bisher den Rücken zugekehrt hatte, zu genießen. Hoch oben leuchtete der Stern von Bet Lahem. Die ganze, als Firmament der Davidsstadt gedachte Kuppel erglänzte von seinem Licht. All die unzähligen, kleinen, flackernden und flimmernden Lichter der Erde strebten, von grünen Bäumen, Ästen und Zweigen getragen, ganz unten beginnend, über alle Chore und Emporen, von Bank zu Bank, von Platz zu Platz zu diesem Stern und zu diesem Firmament hinauf. Es war etwas nicht nur hier in diesem fremden Land, sondern auch von mir in der Heimat noch nie Gesehenes. Es war, als ob ich mich an einem überirdischen, mir völlig unbekannten, innerlich mir aber doch vertrauten Ort befinde und nicht etwa in einem Hause, von Menschen gemacht. Denn die Mauern und Wände waren unter dem Tannengrün verschwunden. Hinter den Bäumen, weit über sie hinaus, schien eine neue, heilige, zauberische Welt des Lichtes zu hegen, eine Welt der gelösten Rätsel, der aufgeklärten Geheimnisse, der erfüllten Hoffnungen und Wünsche. Und mitten aus der ringsum brennenden Frage, woher uns diese Lösung, diese Aufklärung und diese Erfüllung kommen werde, ragte der Hochaltar als sich von der Erde bis zum Himmel erhebende Antwort empor, mit seinen drei laut sprechenden Figuren, die von der allgemeinen Fülle des Lichtes nicht etwa nur bestrahlt, sondern auch innerlich so durchdrungen wurden, daß sie nicht mehr irdisch zu sein schienen und grad darum auch nicht mystisch, sondern erklärend und überzeugend wirkten.

Indem ich dies alles auf mich wirken ließ, war der Basch Nasrani in seiner Vorlesung bis an das Evangelium der Geburt gekommen, Lukas, Kapitel zwei. Er las soeben die Engelsworte »Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede ...«, da hielt er inne. Er war dazu gezwungen, denn es erhob sich draußen vor dem offenstehenden Haupttor ein Lärm, der ihm nicht erlaubte, fortzufahren. Man hörte Peitschen klatschen. Die eng zusammenstehenden Menschen wurden auseinandergedrängt. Vorläufer erschienen, die mit lauten Rufen und drohenden Kurbatschen Bahn brachen, hinter ihnen drei große, umfangreiche Staatssänften, die kleinen Gebäuden glichen und von je acht dienenden Lamas getragen wurden. Sie drangen herein in die Kirche, wo die Andächtigen so dicht standen, daß es selbst für einen einzigen Menschen keinen Raum mehr zu geben schien. Dennoch schrien und klatschten sie sich vorwärts, mit größter Rücksichtslosigkeit, durch die zornig aber still sich noch mehr zusammendrängende Menge hindurch bis vor den Hochaltar, wo man die Sänften niedersetzte. Der vorderen entstieg der in kostbare, rituelle Gewandstücke gekleidete Maha-Lama von Ardistan, mit sämtlichen Insignien seiner hohen, »geistlichen« Würde beladen. Aus den beiden anderen krochen seine zwei sogenannten Oberministranten hervor, die mit Gebetsmühlen, Gebetsposaunen, Gebetstrompeten, Gebetsklappern und ähnlichen »geistlichen Waffen« ausgerüstet waren. Diese Gegenstände bestanden aus den reich mit Gold und Silber verzierten Röhrenknochen und Schädeln verstorbener Lamas. Unter Vorantritt dieser beiden Unterbeamten stieg der Maha-Lama, während die vierundzwanzig Sänftenträger bei den Sänften blieben, zu dem Altan empor, auf dem der Mir mit seinen Offizieren und Beamten saß. Auch dort war jede Stelle besetzt. Nur ganz vorn an der Brüstung, grad vor dem Mir, seiner Frau und seinen Kindern, gab es einen schmalen, leeren Raum, den man gelassen hatte, um dem Herrscher etwas mehr Bewegungsfreiheit zu ermöglichen, als den gewöhnlichen Besuchern des Festes. Dorthin stiegen die drei. Sie grüßten den Mir nur mit einem kaum merklichen Neigen des Kopfes und winkten ihren Trägern, die Kissen aus den Sänften hinaufzubringen. Dies geschah. Die Kissen wurden grad vor dem Mir so übereinandergelegt, daß drei hohe Sitze entstanden, auf welche die drei illustren Personen sich dann gemächlich niederließen. Nun sah es gerade so aus, als ob unsere christliche Weihnachtsfeier nur zu Ehren oder doch wenigstens unter der Oberaufsicht dieser drei Lamas stattfinde. Daß hierdurch dem Mir und seiner Familie jede Aussicht geraubt wurde, das schien diesen Herren sehr gleichgültig zu sein.

Ich hielt es infolge seiner ganzen Charakteranlage für unmöglich, daß er sich das gefallen lassen werde; aber er blieb zu meinem Erstaunen still. Er rührte sich nicht. Er tat nicht das mindeste, die rücksichtslosen Menschen in ihrem beleidigenden Beginnen zu unterbrechen. Aber als sie es sich bequem gemacht hatten und nun triumphierend um sich blickten, da stand er mit seiner Familie auf und kam mit ihr herüber zu uns auf den Orgelchor, wo man ihnen sofort die besten Plätze bot.

Bis zu diesem Augenblick hatte der Oberpriester nicht weiterlesen können. Und so wie er, hatte auch die ganze, tausendfältige Versammlung warten müssen. Das war eine Störung sondergleichen! Ihre Wirkung verdoppelte sich durch die brutale Art und Weise, in der sie ausgeführt wurde. Man hatte sich das Kommen dieser Leute gefallen lassen; aber als der Herrscher von ihnen gezwungen wurde, seinen Platz aufzugeben und einen anderen zu suchen, da blieb man nicht länger still. Ein erst leises, dann immer lauter werdendes Raunen und Rauschen ging durch den weiten Raum. Man hatte sich in heiliger, seelischer Erhebung und Bewegung befunden, und war aus ihr in roher Weise herausgerissen worden. Man fühlte sich empört. Es erhoben sich Stimmen, zunächst unverständlich, bald aber deutlicher.

»Hinaus mit ihnen!« rief jemand von einer Empore hinab.

»Ja, hinaus, hinaus!« antworteten andere.

»Erst die Diener, dann die Herren! Greift zu; greift zu!« erklang es vom Altar her.

Ich sah, daß dort eine Bewegung entstand, sich der Träger und der Sänften zu bemächtigen. Nur noch ein einziger Augenbück, so hatte man es mit einem Tumult zu tun, dessen Verlauf nicht abzusehen war. Da rief der geistesgegenwärtige Oberpriester mit lauter Stimme:

»Halt! Haltet ein!«

Die schon vorwärts Drängenden standen wieder still. Aller Augen richteten sich auf ihn. Er hob das Buch in seinen beiden Händen hoch empor und fuhr fort:

»Um des heiligen Evangeliums willen sei Friede auf Erden! Friede sei auch hier mitten unter uns! Wehe dem, der diesen unsern Frieden stört! Er vernichtet dadurch nicht uns, sondern nur sich selbst. Dem Christen aber ziemt Geduld. Wir wollen von neuem beginnen!«

Er schaute bei diesen Worten herauf zu mir. Ich verstand diesen seinen Blick. Er hielt es für unmöglich, so ohne alles Weitere in der unterbrochenen Verlesung fortzufahren. Es machte sich eine Überleitung nötig, und so begab ich mich zur Orgel und spielte, bis ich annehmen konnte, daß sich der allgemeine Zorn gelegt habe und die Versammlung wieder bereit und geschickt zur Andacht sei.

Als der Basch Nasrani dann das Evangelium zu Ende gelesen hatte, gab mir die Begleitung des Lobgesanges eine treffliche Gelegenheit, nun auch die zarten, milden Register der Orgel erklingen zu lassen. Ich liebe da ganz besonders vox humana, flauto amabile und viola di gamba. Während des Vorspiels dachte ich an die alte Weissagung, daß hier in diesem Raum zur Zeit der Erfüllung nicht nur die Güte und die Barmherzigkeit ihre Stimmen erheben, sondern auch Töne erklingen würden, die man hier in diesem Land noch niemals gehört habe. Daß dies in höherer, humaner, ethischer und menschheitsgeschichtlicher Beziehung gemeint sei, darüber gab es für mich keinen Zweifel. Aber zum Menschenauge sprechen nahehängende Bilder deutlicher als ferne, und so mochten die Stimmen von Abd el Fadl und Merhameh und die Töne meiner Orgel immerhin ihre naheliegende Geltung behalten. Ich nützte die drei angegebenen Register so viel wie möglich aus, die beabsichtigte Wirkung zu erzielen, und da man bekanntlich die beste Wirkung oft gerade nur mit den einfachsten und bescheidensten Mitteln erreicht, so ist es wohl keine Überhebung von mir zu erwähnen, daß mein orgeltretender Halef sagte, es sei ganz so gewesen, als ob Engel miteinander sprächen. Er übertrieb bekanntlich gern, aber in diesem halb oder dreiviertel wilden Land war es gewiß kein Wunder, daß gerade die zarten, reinen, der Menschenstimme ähnlichen Klänge der vox humana den Erfolg fanden, den Halef in dieser seiner überschwenglichen Weise beschrieb.

Der Lobgesang, den Abd el Fadl und Merhameh vortrugen, war, wie ich bereits erwähnte, ein Duett mit arabischem Text. Der letztere bestand aus einer wörtlichen Übersetzung folgender Verse des hundertunddritten Psalmes: »Meine Seele und alles, was in mir ist, lobe den Herrn und seinen heiligen Namen. Lobe, meine Seele, den Herrn. Der dein Leben vom Untergang erlöset und der dich krönet mit Gnade und Erbarmen. Der Herr ist gnädig und barmherzig, langmütig und von großer Güte. Er zürnet nicht immer, und er drohet nicht ewig. So hoch der Himmel über der Erde ist, so mächtig ist seine Barmherzigkeit über die, so ihn fürchten. Die Barmherzigkeit des Herrn währet von Ewigkeit zu Ewigkeit. Lobet den Herrn, all seine Heerscharen ihr. Lobet den Herrn, ihr all seine Werke. An allen Orten seiner Herrschaft lobe, meine Seele, den Herrn!«

Abd el Fadl besaß einen schönen, kräftigen Bariton und seine Tochter einen Mezzosopran, von dem man meinen konnte, daß er nicht aus der Brust, sondern aus der Seele komme. Ich bin nicht Musikrezensent und unterlasse es daher, mich über den Vortrag des Duetts zu äußern. Aber ich darf nicht verschweigen, daß seine Wirkung eine große, eine außerordentliche war. Wo gab es hier, im hintersten Orient, wohl jemand, der schon so etwas gehört hatte! Also schon die Seltenheit wirkte. Sodann auch das Geheimnisvolle. Man sah den Sänger und die Sängerin nicht. Sie standen beide hinter Weihnachtsbäumen. Ebenso auch der Orgelspieler. Die Menge des Lichtes, die den weiten Raum erfüllte, schien hörbar geworden zu sein. Die vielen, verschiedenen Klangfarben der Orgeltöne waren wohl geeignet, Illusionen zu erwecken. Man begriff sie nicht. Und der Bariton schien aus der Erde, der Sopran aber vom Himmel zu kommen. Die Zuhörer schauten zuweilen überrascht nach oben, zuweilen schnell wieder herab, je nachdem der Vater oder die Tochter einsetzte. Und überdies war es das ganze Milieu, welches gewiß ebenso wirkte wie der Vortrag an sich selbst. Am tiefsten ergriffen von allen, die es hörten, war vielleicht der Mir. Wenn ich mich zur Seite wendete, konnte ich ihn gerade noch sehen. Sein Gesicht war ganz anders als sonst. Es war, als sei er in eine Handvoll warmen, frohen Sonnenscheines gehüllt, den man unmöglich mit dem Schein der Kerzen verwechseln konnte. Es schienen von seinem Gesicht leise, heimliche Strahlen auszugehen, die er gern verbergen wollte. Die Augen seiner Frau, die sich endlich, endlich nun einmal glücklich fühlte, hingen fast nur an ihm. Wie freute sie sich! Und auch die Kinder sahen öfter zu ihm auf, als es sonst zu geschehen pflegte. Ich sah, daß er wie erschrocken zusammenfuhr, als ich ihn am Schluß des Lobgesanges aus seinem Entzücken riß, indem ich zu dem Kirchenlied hinüberleitete, welches dem Duett zu folgen und die Festpredigt einzuleiten hatte.

In dieser letzteren zeigte sich der Oberpriester als ein Redner, der es sehr wohl verstand, seine Hörer hinzureißen. Seine Rhetorik war unstudiert und ungekünstelt. Was er sagte, kam aus dem Herzen und wurde unterwegs vom Verstand kristallisiert. Er war nicht etwa ein guter Redner, weil er gut sprechen konnte, sondern weil ein großer Gedanke, der Erlösungsgedanke, seine Seele derart füllte, daß er nach ganz natürlichem Gesetz überströmte und alles mit sich zog, was er dabei berührte. Ich wunderte mich gar nicht darüber, daß nach dem gesprochenen Segen und dem vollendeten Schlußgesang sich niemand eher entfernen wollte, als bis der alte, liebe Herr sich noch einmal, noch zweimal, noch fünfmal, noch zehnmal zeigte.

Der Mir war voll befriedigt. Er dankte vor allen Dingen und zunächst Adl el Fadl und Merhameh. Mit dem Basch Nasrani konnte er jetzt nicht sprechen, weil dieser anderweitig in Anspruch genommen war. Da sah er die Leute aus El Hadd stehen. Er stutzte und ging dann auf sie zu. Dieses Stutzen hatte nicht den Grund, daß er sie kannte; er hatte sie noch nie gesehen. Ihre fremde, wenn auch außerordentlich kleidsame Tracht fiel ihm auf. Abd el Fadl kam schnell herbei und sagte ihm, wer sie seien. Da freute sich der Mir; man sah es ihm an. Er richtete das Wort an den Schech el Beled:

»Ihr seid aus El Hadd? Ich liebe dieses kleine, schöne Ländchen, obgleich ich noch nicht dort gewesen bin und auch noch niemand von dort kenne. Ich weiß, seine Bewohner sind mir freundlich gesinnt. Sie haben, obgleich sie ebenso eng an Dschinnistan wie an Ardistan grenzen, niemals etwas gegen mich unternommen, sondern sich mir immer nur förderlich erwiesen. Du bist ihr Schech el Beled?«

»Ich bin es«, bejahte der Schech.

»So schulde ich doch wohl vorzüglich dir den Dank, zu dem ich mich verpflichtet fühle. Welches Glaubens bist du? Du trägst den Turban in der Hand, hier in der Kirche?«

»Wir sind Christen.«

»Bei wem wohnt ihr? Wo seid ihr abgestiegen?«

»Im Karawanserei, wo jedermann wohnt, der fremd in der Fremde ist.«

»Habt ihr Pferde?«

»Nein. Wir sind arm. Wir kamen zu Fuß.«

»Ihr seid nicht mehr fremd in der Fremde. Ich kenne euch nun und heiße euch willkommen. Ihr sollt meine Gäste sein. Für Leute, wie ihr seid, habe ich immer Raum genug. Es findet nach Verlauf von einer Stunde ein Weihnachtsmahl bei mir im Schloß statt; auch dazu seid ihr geladen.«

Von diesem Mahl wußten wir noch nichts. Es war als besondere Festüberraschung geheimgehalten worden. Der Schech el Beled nahm diese Einladung durch eine Verbeugung an, die den freien Sohn der Berge erkennen ließ. Sie war höflich, aber nicht devot. Er gesellte sich, während der Mir sich mit den Seinen entfernte, zu Abd el Fadl und Merhameh. Ich aber trat nun an die Brüstung des Chores vor, um zu schauen, wie die Kirche sich leerte. Es geschah das in ruhiger, sehr würdiger Weise. Auf jedem Gesicht war der Ausdruck der Befriedigung, wohl gar der Begeisterung zu sehen. Ich zog hieraus die Berechtigung, anzunehmen, daß von heute an sich das Verhältnis der Christen zu der übrigen Bevölkerung und zu dem öffentlichen Leben von Ardistan ganz anders gestalten werde als bisher. Der Mir hatte zwar kein einziges Wort über das Verhalten des Maha-Lama gesagt, aber es stand für mich fest, daß der bisher so mächtige Lamaismus heute wenn nicht seinen ganzen Einfluß, so doch einen ganz bedeutenden Teil desselben verloren habe. Legte man das, was das Christentum gewonnen hatte, darauf, so ergab es einen doppelt großen Abstand gegen früher.

Die vor dem Altar stehenden Sänften waren, um etwaige Feindseligkeiten zu verhindern, von vorsichtigen, ruhigen Männern umringt worden. Darum konnten die Lamas nicht einsteigen. Sie mußten warten, bis die Kirche leer geworden war. Dann entfernten sie sich, vollständig unbeachtet, wie man nach einer verlorengegangenen Schlacht sich aus dem Staube macht. Da krachte jetzt plötzlich ein Kanonenschuß, noch einer, noch einer und so weiter. Das konnte nicht geschehen, ohne daß der Mir den Befehl hierzu gegeben hatte, und zwar nicht schon vorher, sondern soeben erst. Das war ein sicherer Beweis, daß die Feier tief und nachhaltig auf ihn gewirkt und ihn auf unsere Seite herübergezogen hatte. Ganz dasselbe sagte man sich auch draußen auf den Straßen. Ich hörte jubelnde Rufe und ging hinunter und hinaus, um einige der Gassen abzuschreiten und mich an dem frohen Weihnachtsgewirr zu erfreuen. Es war fast so hell wie am Tag. Laternen und brennende Lichter, illuminierte Türen und Fenster fast überall! Halef begleitete mich. Er war außerordentlich stolz auf seine heutigen Leistungen als Kalkant.

»Bist du mit mir zufrieden, Sihdi?« erkundigte er sich.

»So leidlich«, antwortete ich.

»Warum nur leidlich? Hat es dir während der ganzen Feier auch nur ein einzigesmal an Luft in der Orgel gefehlt?«

»Nein. Aber hast du auch nur ein einzigesmal ein kleines bißchen Luft mehr gegeben, als nötig war? Beweise es!«

Auf diese raffinierte Schlechtigkeit von mir war er zunächst still. Er dachte nach. Dann sagte er:

»Konnte ich wissen, daß du mehr verlangst, als du brauchtest? Du betrübst mich sehr! Aber morgen werde ich schneller treten und dir so viel Luft zuschicken, daß du von Dankbarkeit überquellen mußt, wenn du nicht platzen willst; darauf kannst du dich verlassen!«

Was das erwähnte Festessen betrifft, so finde ich keinen Grund, es ausführlich zu beschreiben. Ich war, wie man mir glauben wird, von den Anstrengungen der letzten Tage her und also auch von heute ermüdet und bedurfte der Ruhe und des Schlafes. Darum verabschiedete ich mich mit Halef, noch ehe das Essen ganz zu Ende war, und ging nach meiner Wohnung. Was die Leute von El Hadd betrifft, so hatten sie in meiner Nähe gesessen, doch nicht so nahe, daß es zu einer wirklichen Unterhaltung zwischen ihnen und mir hätte kommen können. Es waren nur einzelne Handreichungen, Fragen und Antworten hin- und hergegangen, wobei ich an dem Schech el Beled, je öfter mein Blick auf ihn fiel, je mehr etwas mir Bekanntes bemerkte, was ich aber nicht bestimmen, nicht genau bezeichnen konnte. Vollständig sicher war, daß ich ihn noch nie im Leben gesehen hatte. Gab es vielleicht im Kreis meiner Bekannten eine Person, die irgendeine Ähnlichkeit mit ihm besaß? Ich dachte nach, konnte aber keine finden.

Wir hatten unsere Zimmer heute nur einige Male für sehr kurze Zeit betreten und wurden darum von unseren Hunden sehnsüchtig erwartet. Ein Diener hatte inzwischen für sie gesorgt. Sie waren schon längst zu ernst, um noch zu spielen, aber diesesmal war ihnen die Zeit denn doch zu lang geworden, und so hatten sie sich so gut unterhalten, wie es eben ging und ihnen möglich war. Halefs Hu und Hi hatten sich sehr eingehend mit dem Teppich beschäftigt und das Futter als nicht zu ihm gehörig betrachtet. Die für richtig gehaltene Trennung beider war bis zum letzten Stich durchgeführt. Das machte dem Hadschi Spaß. Es fiel ihm gar nicht ein, sie zu tadeln. Er freute sich darüber und lobte und streichelte sie. Als wir dann in mein Zimmer kamen, stellte es sich heraus, daß Aacht und Uucht sich nur vorübergehend mit dem Teppich abgegeben hatten. Er war von ihnen nur ein wenig zurechtgewiesen worden. Er lag nämlich quer anstatt lang. Ihr Hauptaugenmerk schien vielmehr auf die Wandverkleidung gerichtet gewesen zu sein. Diese bestand aus einem dünnen Stoff, der teils festgenagelt, teils in Falten geordnet war, um schmückende Bogen zu bilden. Und diese Bogen waren es, mit denen die braven Hunde nicht einverstanden gewesen waren. Sie hatten sie so gründlich entfernt, daß sie alle jetzt unten am Boden lagen und die Wände sich nun unbekleidet zeigten, die genagelten Stellen natürlich abgerechnet.

Ich erschrak zunächst ein wenig. Dieser mir von den sonst so vernünftigen Tieren gespielte Streich konnte mir natürlich nicht angenehm sein. Aber sie verhielten sich ganz eigenartig dabei. Sie taten nicht im geringsten schuldbewußt, sondern sie empfingen uns so munter und, ja, siegesgewiß, als ob sie überzeugt seien, ein gutes, lobenswertes Werk verrichtet zu haben. Uucht sprang, kaum daß wir eingetreten waren und noch ehe ich einen Tadel aussprechen konnte, nach der einen Wand, reckte sich an derselben hoch empor und begann, da oben zu kratzen. Als Aacht dies sah, tat er ganz dasselbe auch an der anderen Wand. Ich ging hin, um die Stellen zu untersuchen. Diese Wände waren nicht gemauert, sondern aus Holzwerk zusammengesetzt, und in diesem Holz sah ich kleine, schmale, senkrechte Öffnungen, welche nichts anderes als Schlüssellöcher sein konnten. Es waren nicht nur eines oder zwei, sondern mehrere da, sie alle in genau derselben handlichen Höhe und immer an einer Stelle, wo eine Falte des Stoffes sie vollständig verborgen hatte. Daß die Hunde jetzt genau wußten, daß sich hier leere, verdächtige Räume befanden, das verstand sich ganz von selbst. Wie sie zu dieser Entdeckung gekommen waren, das konnte für mich Nebensache sein. Sie hatten den Prinzen der Tschoban unter sich gehabt und festgehalten; sie kannten also seine Witterung. Er hatte die Stellen, an denen die verborgenen Kästen lagen, so oft berührt, daß der Geruch seiner Hände daran haftete. Das war für ihre feinen Nasen genug und erklärte alles.

Es versteht sich ganz von selbst, daß ich sofort an den kleinen, winzigen Drückerschlüssel dachte, den er, als er sich bei mir einzuschleichen versuchte, hier verloren hatte. Er war gut aufbewahrt; nur hatte ich keine Zeit gehabt, mich näher mit ihm zu beschäftigen. Ich holte ihn und probierte. Er paßte, paßte ganz genau. Ich schloß die Kästen auf und zog sie heraus. Es waren ihrer fünf. Sie enthielten Skripturen, und zwar so außerordentlich wichtige, daß ich sofort selbst ging, um den Mir zu holen, und Halef aufforderte, inzwischen ja keinen Menschen hereinzulassen.

Der Mir war noch im Speisezimmer. Er folgte mir unverweilt, obgleich ich ihm in Gegenwart anderer nicht sagen konnte, um was es sich handelte. Aber unterwegs machte ich ihm eine Andeutung, die seine Schritte beschleunigte. Wir saßen dann die ganze, ganze Nacht, um die Papiere zu ordnen, zu entziffern und zu lesen. Wir waren so müd gewesen; jetzt aber gab es keine Müdigkeit mehr; sie war vollständig verschwunden. Es handelte sich um die schon vorerwähnte Verschwörung. Ihr geistiger Leiter war der Basch Islami, der sich wünschte, der Schwiegervater des Mirs von Ardistan zu werden. Ihre Seele der Maha-Lama von Ardistan, der sich heut so herausfordernd betragen hatte. Und ihre rechte Hand der Panther, der sich in den Kopf gesetzt hatte, Herrscher sein zu müssen. Als der Morgen kam, waren wir fertig und von allem vollständig unterrichtet. Es gereichte mir zur Genugtuung, daß der Mir keinen einzigen anderen zu Rate zog und nur mit mir und Halef allein die Maßregeln besprach, die zu ergreifen waren. Er beschloß, alles Aufsehen zu vermeiden und das, was vorgenommen werden sollte, nur ganz im stillen geschehen zu lassen. Dadurch wurde jedenfalls sehr viel Blutvergießen vermieden. Zunächst hatten die Oberanführer so schnell wie möglich zu verschwinden, nicht etwa indem man sie tötete, sondern indem man sie durch einstweilige Gefangennahme unschädlich machte. Das war bei dem Maha-Lama von Ardistan nicht schwer, bei dem Basch Islami und dem Panther aber nicht leicht, weil beide bereits argwöhnisch geworden waren und sich nicht mehr in der Stadt befanden. Die Verzeichnisse der Verschworenen enthielten die Namen von so vielen Offizieren, daß der Mir erklärte, eigentlich an der Treue und Zuverlässigkeit all seiner Truppen zweifeln zu müssen. Ich war zwar nicht dieser Meinung, hütete mich aber, ihm das zu sagen, denn es kam mir vor allen Dingen darauf an, ihn die Unterstützung der Christen so hoch wie möglich bewerten zu lassen. Es genügte, ihn zunächst darauf hinzuweisen, daß das gegenwärtige Christfest ganz bestimmt zu seinen Gunsten wirken werde und keine andere Partei ohne die größte Gefahr es wagen werde, den Frieden dieser jetzigen Tage zu stören. Für alle ungeahnten oder unvorhergesehenen Fälle stellte ich ihm noch einmal den Dschirbani mit seinen Truppen zur Verfügung. Das beruhigte ihn. Er teilte mir aufrichtig mit, daß es auch ohne den Fund dieser Akten der Verschwörer mit dem Maha-Lama aus gewesen sein würde, weil er den an ihm in der Kirche begangenen Schimpf nicht auf sich ruhen lassen könne. Er sei nur still gewesen, um die Feier nicht zu stören, die einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht habe. Er bestimmte, daß die Wände meines Zimmers schnell wiederherzustellen, die Skripturen aber nach seiner Wohnung zu schaffen seien. Dann fragte er in plötzlich anderem, aber auch in hohem Grade nachdenklichem Ton:

»Weißt du denn, was heut und dieser Tage alles geschehen ist, Effendi?«

»Ich glaube es zu wissen«, antwortete ich.

»Die Erfüllung alter Weissagungen?«

»Ja.«

»Des Sternes von Beth Lahem?«

»Ja.«

»Der Sage von der großen Glocke?«

»Ja.«

»Jetzt brauchte nur noch die Stimme der Güte und der Barmherzigkeit hier in der Kirche zu erklingen und der Herrgott von Dschinnistan nach Ardistan herabzukommen, wie damals, bevor der Fluß wieder rückwärts strömte, so wären alle Weissagungen der wartenden Christen erfüllt und die Engel könnten berichten, daß der Friede nun endlich auf Erden eingezogen sei! Du lächelst, Effendi?«

»O nein! Die Sache ist ernst, hochernst!«

»Das ist sie mir auch, mir auch! Bisher ist sie mir nur lächerlich vorgekommen; seit gestern aber denke ich anders.«

Er griff sich mit der Hand nach der Stirn. Mir war, als ob er wanke.

»Auch ich bin müd, wie du, und schwach dazu!« fuhr er fort. »Es stürmte in diesen Tagen allzuviel auf mich ein! Bin ich denn wirklich noch der Mir von Ardistan? Oder bin ich ein anderer, der hin- und hergeblasen wird wie eine Feder, die weder Gewicht noch Willen besitzt? Auch ich muß schlafen, muß ruhen, muß wieder zu mir kommen!«

Dann ergriff ihn ein anderer Gedanke. Er fragte:

»Was sagt du zu den Leuten von El Hadd, Effendi?«

»Sie gefallen mir«, antwortete ich.

»Mir auch. Besonders der Schech el Beled! Schade, daß er ein so kleiner Mann und nicht ein Herrscher ist! Man müßte ihn ehren und lieben und könnte mit ihm verkehren! Doch, nun müssen wir schließen! Hast du einen Wunsch?«

»Nein.«

»Bedenke, was ich dir schulde! Wünschest du keinen Dank?«

»Nein.«

»Auch für die Christen nicht?«

»Nein. Sie haben ihre Schuldigkeit getan und werden sie auch ferner tun. Danken kannst du überhaupt nicht; das kann allein der Himmel!«

Er sah mich verständnislos an, schüttelte den Kopf und sagte nur noch:

»Das begreife ich nicht. Schlaft wohl!«

Dann ging er hinaus.


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