Fritz Mauthner
Der neue Ahasver
Fritz Mauthner

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X.

Das Kind schlief neben dem Fenster, an welchem Oswald sonst zu arbeiten pflegte. Der Schneider war eben fortgegangen zu einem Kunden, einem altgläubigen armen Juden, mit welchem der schwärmerische Oswald bei jeder Zusammenkunft theologische Fragen heftig zu erörtern pflegte. Seine Rückkunft war nicht so bald zu erwarten.

Doretta wollte, unbekümmert um Doktor Stropps Gegenwart, an ihre Arbeit gehen. Sie strich die Ärmel hinauf, um beim Ordnen der Wäsche nicht behindert zu sein, und sang leise vor sich hin. Da trat Stropp rasch auf sie zu, faßte sie heftig am nackten Arm und rief mit zitternder, liebloser Stimme: »Haben Sie denn auch heute keine Minute Zeit für mich übrig, liebste Doretta?«

Mehr verwundert als erschreckt schlug Doretta ihre großen Augen empor. Bevor sie aber noch ein Wort erwidern konnte, umschlang Stropp mit seiner Rechten ihren Leib, preßte sie an sich und drückte ihr einen wilden Kuß auf die Wange.

Zornig errötend versuchte Doretta, sich zu befreien. Aber Stropp hielt mit seiner Linken ihr rechtes Handgelenk umkrallt.

Ohne einen Laut hervorzubringen, mit offenem Munde, mit wirren tränenden Augen duldete Doretta den überraschenden Angriff. Ihre Glieder waren starr, ihr Wille gelähmt. Sie fühlte wohl, wie tief der rasende Mann sie beschimpfte, aber sie war unfähig, ihre Kräfte zu gebrauchen und den Rasenden abzuwehren.

Als Stropp sie so machtlos sah und ihr Körper schwer und hilflos in seinen Armen lag, als gar ihre Lider über die entsetzten Augen niedersanken, da verlor er die feige Befangenheit, mit der er den ersten Angriff unternommen hatte. Er umfaßte das stürmisch atmende Weib fester und rief, während sich sein Gesicht zu einem siegesfrohen Grinsen verzerrte: »Nun ist's vorbei mit den Dummheiten! Nicht wahr? Du hast mich lieber als Deinen Schneider! Was? Und wir wollen zusammen lustig sein und zärtlich wie zwei Tauben!«

Und er versuchte, die starke Frau mit seinen Armen vom Boden aufzuheben, als wollte er ihr seine Übermacht beweisen.

Da schrie sie gellend auf. Drüben beim Fenster erwachte von dem lauten Ruf das Kind, und ein leises Weinen wimmerte ans Ohr der Mutter.

Bevor Stropp den dünnen Ton noch vernommen hatte, fühlte er plötzlich, wie Dorettas Muskeln sich bäumten. Ein Ruck, ein Stoß, und Stropp taumelte gegen die Wand, während Doretta mit einem Blick des wildesten Zornes zu ihrem Kinde sprang. Dort ließ sie sich nieder, keuchte einigemal schwer auf, herzte dann den Säugling, als ob nichts vorgefallen wäre und sang ihn leise ein.

»Schlaf, Friedelchen, schlaf«, murmelte sie nach der alten Weise, »mußt noch einmal schlafen! Mutter wurde sehr geärgert, kann Dir jetzt die Brust nicht reichen. Schlaf, Friedelchen, schlaf, draußen steht ein – Hund!«

Aber Doretta schaute dabei nicht einmal nach dem Zudringlichen um.

Das Kind beruhigte sich wieder und schlief ein. Eine Weile hockte Doretta noch lautlos neben ihrem Knaben, dann aber hob und senkte sich ihre Brust, und sie mußte forteilen, um das Kind mit ihrem hervorbrechenden Schluchzen nicht abermals zu wecken.

Stropp hat die Stelle an der Wand nicht wieder verlassen, bis zu der ihn Doretta geschleudert hatte. Die Hand auf einen Stuhl gestützt, stand er frech und verlegen da und suchte nach einem Entschluß. Als Doretta laut aufschluchzend an ihm vorbei in die Küche eilte, ging er ihr langsam und unschlüssig nach. Doretta ließ ihn die Schwelle nicht überschreiten.

»Hinaus!« rief sie und streckte die Rechte in wilder Bewegung nach ihm aus. »Hinaus aus dieser Stube und aus diesem Hause! Hinaus, bevor Oswald zurückkommt und hört, was in seiner Abwesenheit geschehen ist! Hinaus, bevor Oswald Sie umbringt, wie Sie es verdienen, Sie nichtswürdiger Heuchler Sie!«

Stropp erblaßte.

Von dem verrückten Schneider war das Schlimmste zu befürchten, und wenn Doretta nicht zum Stillschweigen zu überreden war, so war er nirgends mehr vor der Rache des beleidigten Gatten sicher. Mit zuckenden Augen blickte er sich verzweifelnd nach Hilfe um. Seine Hand zitterte, während er scheinbar gleichgültig die Tür, an der er stand, hin und her wiegte. Doretta mußte zum Schweigen gebracht werden.

»Oswald wird die Sache nicht so schlimm ansehen«, sagte er fröstelnd vor Todesangst, um doch wenigstens durch ein paar Worte seine überlegene Sicherheit zu zeigen.

»Was?« rief Doretta mit gedämpfter leidenschaftlicher Stimme. »Oswald das leicht nehmen? Glauben Sie denn, Sie garstiger Teufel, wir wären Türken oder Tiere oder Gott weiß was?«

In Stropps Antlitz zuckte es boshaft. »Nun, ein Türke ist Oswald just nicht. Aber zu seinen Idealen gehört auch die Weibergemeinschaft.«

»Hinaus!« rief Doretta wieder und ballte die Faust. »Mit Ihnen hab' ich nichts mehr zu reden!«

Aber Stropp hatte inzwischen seinen Plan gefaßt. Er öffnete höhnisch lachend die Tür, überzeugte sich, daß der Schneider noch nicht heimkehrte, und rief dann drohend in die Stube zurück.

»Ich werde mich selbst bei der Polizei anzeigen und erzählen, daß Oswald den Staat auf den Kopf stellen will und mir selbst die Weibergemeinschaft gepredigt hat.«

»Das ist gelogen!« schrie Doretta. »Das werden Sie mir nicht einreden! Oswald hat mich viel zu lieb und ist viel zu eifersüchtig, um solchen Unsinn zu wollen. Das wäre ja schlimmer als Ehescheidung! Nein, dafür ist mein Oswald nicht.

»Aber Sie wissen doch, meine liebe Doretta...«

»Nennen Sie mich nicht so!«

»Sie wissen doch, wie Ihr Mann oft davon geredet hat, daß der Unterschied des Besitzes aufhören muß, daß alles Eigentum gemeinsam werden soll. Nun, dazu gehören nicht nur Felder und Wälder, nicht nur Nahrung und Kleider, sondern auch die Weiber und die Kinder.«

»Siegfried auch? Das ist nicht wahr! Das ist nicht Oswalds Meinung!«

»Ihr Oswald ist allerdings nicht in allem mit den weitgehendsten Lehren der Partei einverstanden; darum geht er auch oft so sorgenvoll umher, weil er in seinem Herzen einen Kampf zwischen seinen Überzeugungen und seiner Liebe führen muß. Aber endlich muß doch die Partei, der er gläubig angehört, siegen, und auch Oswald wird sich den Befehlen unserer geheimen Oberen fügen müssen, wie jeder andere. Bei Todesstrafe!«

Stropp sah mit innigem Vergnügen, welche Macht er durch diese rasche Erfindung gewonnen hatte. Er fand seine volle Sicherheit wieder und fuhr fort:

»Nun ist's aus mit mir! Ich habe das große Geheimnis ausgeplaudert, und wenn die geheimen Oberen davon erfahren, werde auch ich vom heimlichen Gericht zum Tode verurteilt. Aber die Rache bleibt mir! Ich zeige mich und Oswald noch heute der Polizei an, und auch er wird seiner Strafe nicht entgehen!«

Doretta fuhr empor.

»Um Gotteswillen«, schrie sie. »Nicht meinen Mann! Verschonen Sie ihn! Ich zittere ja immer vor der Polizei! Ich hab's ihm nie gesagt, um ihn nicht zu kränken, aber seit Jahren fürchte ich so ein Ende. Zeigen Sie ihn nicht an! Es wird ja Ihnen gewiß auch nichts geschehen. Woher soll denn das Gericht erfahren, daß ich alles weiß?«

»Wollen Sie denn nicht Ihrem Manne erzählen, wie meine Liebe zu Ihnen alle Rücksichten vergaß? Und wird Ihr Mann sich nicht zu rächen versuchen? Als Mitglied des Bundes darf er aber nichts ohne Wissen der Oberen gegen einen Genossen unternehmen. So muß mein Vergehen ans Licht kommen.«

Doretta verbarg ihr Gesicht in den Händen.

»Schweigen Sie«, rief sie schluchzend, »ich will auch schweigen!«

»Sie schwören mir's?«

»Ja!«

»Bei dem Leben Ihres Kindes?«

»Ja!«

Und Doretta hob die Hände flehend zu dem unerbittlichen Manne empor.

Stropp war zufrieden und zog sich mit der Versicherung, den Schneider nicht vernichten zu wollen, auf sein Zimmer zurück. Hier ging er wohl noch lange mit heftigen Schritten auf und ab; und als Oswald endlich nach Hause kam, erblaßte er noch einmal und lauschte am Schlüsselloch, ob Frau Doretta nicht am Ende doch ihres Schwures vergäße und plauderte. Als aber nichts Außergewöhnliches vorfiel, der Schneider seinen Siegfried nun wieder gewachsen fand, wie bei jedem Wiedersehen, und sich dann geräuschlos an seine Arbeit machte, da atmete Stropp beruhigt auf und warf sich, müde wie nach einer Hetzjagd auf einen Stuhl.

Ein böses Lächeln glitt über seine verzerrten Züge.

»Die dumme Närrin«, murmelte er. Dann aber ballte er wieder die Hand gegen die Tür und zischte halblaut zwischen den Zähnen hervor: »Sie sollen mir's büßen, wenn ich erst Millionen zwischen den Händen habe und ihre paar Groschen nicht mehr brauche. Die beiden Narren, sie sollen's büßen.«

Niemand wagte es, von dem letztem Auftritte zu sprechen, und so ging in dem baufälligen Hause das alte Leben weiter fort, als ob nichts geschehen wäre. Der Schneider arbeitete tagsüber wie ein Sträfling und brütete des Nachts über seiner Reformation der Welt, des deutschen Reiches und des Judentums. Samuel Schöpps schien immer an einem Tage auf die Gedanken Oswalds einzugehen und am nächsten Tag desto heftiger und mit einem großen Aufwand von Kenntnissen über jüdische Gottesgelehrtheit zu streiten.

Doktor Stropp unterließ es nie, sobald der Lärm des philosophischen Zweikampfs bis in seine Stube drang, hereinzukommen und leidenschaftlich teilzunehmen. Er nahm sich des Schneiders mit den Waffen seiner besseren Bildung an, brachte den gefälligen Herrn Samuel durch seine Belegstellen aus dem alten Testamente ins Gedränge und sicherte sich so die wertvolle Freundschaft seines Wirtes. Dabei lernte er in der Hitze des Streites manchen lustigen oder häßlichen Zug des rabbinischen Gesetzes kennen, den ihm Herr Samuel in seinen unregelmäßigen Unterrichtsstunden vorenthielt, und freute sich schon im voraus, wie er diese eigentümlichen Kenntnisse dereinst in seinem Blatte gegen das Judentum ausspielen würde.

Es schien sich nichts im Hause geändert zu haben. Nur Frau Doretta war einsilbig geworden. Sie ging nicht, wie sonst wohl, aus dem Zimmer, wenn die Männer sprachen; sie hörte mit einer sichtbaren Angst zu und lauerte auf jedes unbedachte Wort. Ihre schrankenlose Verehrung für Oswald hatte einer Scheu Platz gemacht, welche sie nie mehr besiegen konnte, sooft der Schneider in Feuer geriet und in weitesten Begriffen von den unklaren letzten Zielen seines Denkens und Trachtens redete. Ahnungslos verwebte er mit seinen religiösen Ideen die Schlagzeilen sozialistischer Flugschriften und wußte nicht, wie sehr er damit sein armes Weib kränkte, die erst an Stropps Enthüllungen hatte zweifeln wollen und nun fast täglich erfahren mußte, daß ihr Oswald in der Tat verbrecherische Heimlichkeiten im Kopfe trug.

Zusehends wurde sie ernster und blasser, und auch Siegfried wollte, wie es sogar den Schneider bedünkte, nicht so recht gedeihen. Der Doktor Wolff mußte wöchentlich einmal nachsehen und dem Kinde immer etwas Neues verordnen.

Oswald war mit den allgemeinen Ideen des Arztes nicht recht zufrieden. Er sei ein moderner Realist, habe gar kein Herz für die großen Fragen der Philosophie, Menschenliebe und Brüderschaft. Aber im Grunde hatte Oswald doch ein herzliches Zutrauen zu dem neu gewonnenen Verbündeten im Lichte gefaßt und übertrug ein wenig von der Liebe zu Auenheims auf ihren Gesandten,

Heinrich machte den Schneidersleuten regelmäßig seinen Besuch, wenn er auch mit seiner Wissenschaft nicht viel für das schwache Kind tun konnte. Er hatte auf seinen Bericht von Eggerwitz keine Antwort bekommen, und je länger er ohne Nachricht von Clemence war, desto lieber kam er in das schwarze Haus, wo er mit der Frau so oft und so lieb von ihr plaudern konnte und mußte. Mußte, denn ihm allein gelang es, der guten Doretta die Schwermut zu vertreiben, indem er ihre Sorge für Siegfried und ihre Anhänglichkeit an die Familie Auenheim zu Hilfe rief. Er verstand zwar den Blick, den Doretta oft so hilfeflehend auf ihn richtete, nicht; aber er fühlte doch, daß sie Zutrauen zu ihm hatte und daß sein Wort etwas bei ihr vermochte. Nur dazu wollte sie sich nicht verstehen, weniger zu arbeiten. Solange ihr Oswald sich keine Ruhe gönne, dürfe auch sie nicht nachlassen. Und doch mußte sie manchen Abend das Plätteisen früher als sonst aus der Hand legen, so müde und schwach fühlte sie sich.

Schon waren eines Morgens die Rinnsteine der Klosterstraße mit einer dünnen Eisdecke überbrückt, da trat Heinrich einmal zu ungewöhnlich früher Stunde in des Schneiders Häuschen. Auf der Treppe vernahm er, wie Doretta lebhafter und fröhlicher plapperte, als er sie seit Monaten gehört hatte.

Als er eintrat, erblickte er mit freudigem Schrecken ein neues, unerwartetes Bild. Am Fenster saß fleißig wie gewöhnlich, aber heute mit vergnügtem Schmunzeln der Schneider. Doretta saß müßig, das Kind auf dem Schoß, neben ihrem Wäschekorb, und hinter dem Plättbrett – das heiße Eisen in der Hand – stand Clemence, die Wangen von der ungewohnten Arbeit leicht gefärbt.

Als Heinrich in der Tür erschien, wurde sie von Purpur übergossen. Sie machte eine Bewegung, als wollte sie das Plätteisen verstecken; dann besann sie sich aber, fuhr mit einem ruhigen Strich über das Taschentuch, das sie gerade in Arbeit hatte, und sagte mit einem köstlichen, verlegen stolzen Lächeln:

»Willkommen, Herr Doktor Wolff! Ich mache schon Fortschritte im Plätten. Sehen Sie nur, wie gut es gelingt!«

Heinrich konnte sich kaum fassen; während er ratlos das herrliche Mädchen anstarrte, erzählte Doretta eifrig, was die seltsame Gruppe erklären sollte.

Vor drei Tagen war Clemence angekommen und hatte sofort ihre Doretta aufgesucht.

Mit den Befürchtungen des Doktors sei es nichts. Clemence habe den Siegfried selbst auf den Armen gehalten und für sein Alter erstaunlich klug und kräftig gefunden. Und auch über Dorettas gutes Aussehen habe das gnädige Fräulein sich gefreut. Und ein ganz besonderes Glück habe das Fräulein mitgebracht. Sie wollte sich zur Hausfrau heranbilden, habe sie gesagt; sie müsse wohl wissen, warum. Sie wolle kochen, nähen und plätten lernen. Das Kochen und Nähen studiere sie schon anderswo, aber das Plätten wolle die gute Clemence bei niemand anders lernen als bei ihrer Doretta. Nun komme sie – und das sollte vier Wochen dauern – jeden Tag auf eine Stunde her, übe sich im Plätten und zahle schrecklich viel Geld für den Unterricht.

Doretta lachte schallend. Eigentlich nehme ihr das Fräulein, das so geschickt sei wie keine Plätterin weiter, für eine Stunde die ganze Arbeit ab, und von Rechtswegen müßte Doretta ihr noch Lohn geben. Da aber Fräulein Clemence, wie sie sage, auch der Kochfrau und der Näherin Lehrgeld zahle, so sehe sie nicht ein, warum sie das redlich erworbene Geld nicht einstecken sollte! Der kleine Engel, der Siegfried, werde schon einmal die paar Groschen brauchen können, wenn er erst Student sei.

Clemence bat den Arzt mit einem raschen Blicke, seine Gedanken nicht auszusprechen, und Heinrich wollte auch das gute Werk des Mädchens nicht stören, in dessen Ausübung sie ihm schöner und lieblicher erschien als je zuvor.

Während er nach dem Vater und Evchen fragte, packte Oswald seine Sachen zusammen, um seinem frommen Kunden einen Winterrock zu bringen. Und bald darauf verließ auch Doretta mit Siegfried die Stube. Das Kind mußte heute, da Besuch da war, im Schlafzimmer eingesungen werden. Heinrich war mit Clemence allein.

Das Mädchen plättete rüstig weiter und schaute auf ihre Arbeit.

»Sie haben mir noch nicht die Hand gereicht, Fräulein Clemence«, sagte Heinrich, nachdem er eine Weile stillvergnügt ihrem Tun zugeschaut hatte.

Clemence blickte auf und reichte die Rechte über das Brett hinüber.

Wie sie ihm in die Augen sah, fiel ihr auf einmal alles ein: daß sie ihn seit dem Tode der Mutter nicht gesehen. Und plötzlich war der Schelm aus ihren Mundwinkeln verschwunden, ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie mußte das Tuch, das sie eben zur Hälfte geplättet hatte, an den Mund drücken, um nicht laut zu schluchzen.

Heinrich ergriff ihre Rechte und bedeckte sie mit heißen Küssen. Clemence duldete es still. Endlich aber wollte sie sich losreißen und ergriff mit der Linken wieder das Eisen, als solle die Arbeit wieder beginnen.

Heinrich faßte auch die Linke und rang über das Brett hinweg sanft um den Besitz der Hände. Da kam er mit dem eigenen Gelenk dem heißen Eisen zu nahe und fuhr lachend mit einem leisen Aufschrei zurück.

Schon hatte aber Clemence das Eisen fortgestellt, war um das Brett herum herbeigelaufen und fragte erschreckt: »Habe ich Ihnen wehe getan?« Und sie reichte ihm freiwillig beide Hände.

Heinrich hielt sie fest, und beide standen lange da, Augen in Augen getaucht. Nebenan sang Doretta dem Kinde ihr Wiegenlied vor.

Heinrich öffnete einige Male die Lippen, um ein Wort zu sagen. Aber immer unterbrach ihn Clemence mit ihrem Blick, der ihn bat zu schweigen. Heißer und heißer stieg in ihm der Wunsch auf, dem geliebten Mädchen von seiner Liebe zu sprechen und sein Glück zu fassen, da er es stetig um sich her flattern fühlte, fester und fester hielt er ihre Hände und näher und näher glaubte er, ohne daß sich eins von beiden bewegte, ihren Hauch zu spüren.

Und wieder öffnete er die Lippen, wieder wollte ihn ihr Blick unterbrechen. Diesmal aber mochte es ihr nicht mehr ganz ernst sein mit der Bitte, daß er schweige. Müde beugte sich ihr Kopf nach rückwärts, müde senkten sich für die Zeit eines Augenblicks die Lider, und Heinrich benutzte den Moment und sprach:

»Ich habe Dich ja so lieb, Clemence!«

Da flog ein Zittern durch das Mädchen; mit stiller Seligkeit öffnete sie die Augen und blickte ihn zur Antwort an mit inniger Liebe. Und wieder sagte er:

»Willst Du, kannst Du die Meine werden?«

Und langsam, langsam beugte Clemence ihren Kopf vor und bot dem Geliebten ihre Stirn zum Kusse dar. Er faßte andächtig das teure Haupt mit beiden Händen und drückte einen langen Kuß auf die Stirn, während Clemence seine Hände leise berührte. Dann fuhr sie zurück, wandte sich erglühend ab und sagte bittend:

»Geh jetzt! Auf Wiedersehen! Aber geh jetzt!«

»Clemence!« rief Heinrich leidenschaftlich und streckte die Arme nach ihr aus.

»Was willst Du, Heinrich?« sagte sie mit seliger Ruhe. »Jetzt bin ich ja Deine Braut. Auf Wiedersehen morgen bei uns! Geh jetzt, ich bitte Dich!«

Heinrich ging und wunderte sich auf der Straße, als er sich vergebens nach den Fenstern umsah, daß dort noch immer das schwarze Häuschen des närrischen Schneiders stand.

Oben aber war Clemence auf einen Stuhl gesunken und blickte mit gefalteten Händen zur Decke empor.

Als Doretta wiederkam, war sie erstaunt, das Mädchen allein und müßig, das Eisen kalt zu finden. Clemence entschuldigte sich: sie sei die Arbeit noch nicht gewöhnt, es sei ihr so heiß geworden dabei.

Doretta blickte sie scharf an und sagte:

»Und der Doktor ist fortgegangen, ohne mir Adieu zu sagen. Ach, ach, gnädiges Fräulein, wenn das nur kein Unglück gibt! Daß doch die selige Mama noch lebte!«

Und Clemence fiel der guten Doretta weinend um den Hals.

 
Ende des ersten Teils



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