Fritz Mauthner
Der neue Ahasver
Fritz Mauthner

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VI.

Seit der denkwürdigen Hochzeit, bei deren Feier Heinrich der schönen Clemence wieder einmal in die Augen gesehen hatte, durfte er das Haus nicht mehr meiden, in welchem das Mädchen ihm stets gleich ruhig schön, gleich heiter lächelnd entgegentrat. Er hätte von hartem Stoff sein müssen, um so viel Freundlichkeit nicht zu erwidern, wie ihm hier entgegengebracht wurde.

Die Hausfrau, von welcher die Töchter erzählten, daß sie nun seit Jahren immer scheuer werde und immer ängstlicher die Berührung mit anderen Menschen vermeide, Frau von Auenheim, die sich sonst allabendlich sehr früh in ihr Schlafzimmer zurückzog – auch wenn Gesellschaft da war –, sie konnte nun bis gegen Mitternacht unter munteren Gesprächen dasitzen, sooft Heinrich ein paar Stunden bei Auenheims zubrachte. Und Heinrich kam oft, so oft, daß es ihn zu beklemmen anfing und er sich endlich selbst die Beschränkung auferlegte, nur zweimal in der Woche vorzusprechen. Frau von Auenheim fand diese Einrichtung in der Ordnung, und so regelmäßig erschien er nun am Montag und Freitag im Auenheimschen Hause, so behaglich war es ihm auf seinem Platze, dem dritten vom Fenster, zwischen Evchen und der Mutter, Clemence gegenüber, daß er an ein Ende dieses paradiesischen Zustandes nicht denken durfte und mochte.

Clemence saß immer so still auf ihrem Stuhle, daß das nun fünfzehnjährige Evchen ihr darüber oft Vorwürfe machen mußte.

Auch in Heinrichs Gegenwart schalt sie die ältere Schwester einmal wegen ihrer fremden Zurückhaltung; Clemence aber öffnete ganz leise die Lippen, daß kaum die Ränder der Zähne hindurchleuchteten und sagte, ruhig weiter stickend:

»Närrchen, Du machst es mir so bequem, Du sagst und fragst ja selber alles, was ich mit dem Herrn Doktor sprechen wollte. Ich bin nun so heimtückisch, mucke nicht, erfahre doch alles, was ich wissen will, und brauche mich niemals wegen einer überflüssigen Frage zu schämen wie Du doch schon manch liebes Mal.«

Wirklich äußerte sich die Zuneigung, welche Evchen in ihrer lebhaften Art zu Heinrich gefaßt hatte, in der Weise, wie eine Schülerin mit einem befreundeten Lehrer verkehrt. Immer war sie um ihn beschäftigt, immer hatte sie ihre beweglichen, neugierigen Augen auf ihn gerichtet, und im Eifer faßte sie ihn wohl gar bei der Hand. Sie mußte deshalb von Mama getadelt werden, noch öfter aber wegen der unziemlichen Fragen, die sie an ihn stellen konnte. Doch war es weder mit der Unziemlichkeit noch mit dem Tadel gar so schlimm. Sie war so neugierig wie ein Kanarienvogel, der auch erregt sein kluges Köpfchen dreht, wenn er was Fremdes erblickt, der aber laut trillernd zu seinem Stückchen Zucker zurückkehrt, sobald er das Geheimnis nicht bald erfahren hat.

So durfte Evchen ihre bald altklugen, bald kindlichen Bemerkungen in alle Gespräche mengen, die sie dadurch belebte. Nur bei der Erörterung eines Gegenstandes mußte Evchen das Zimmer verlassen, falls man nicht vorzog, darüber zu sprechen, wenn sie durch ihre Schularbeiten in einem anderen Raume festgehalten wurde.

Und seltsam – sooft die Freunde über das Ehepaar Kurt und Emma sprechen wollten, gab es auf allen Seiten rücksichtsvolle Verschweigungen, trotzdem daß außer Heinrich, dem Arzte der blassen jungen Frau, niemand eigentlich etwas Bestimmtes zu berichten gehabt hätte.

Frau von Auenheim selbst war gütig wie immer; sie überwand sich und suchte Emma hie und da auf. Ein solcher Besuch gab mehr zu denken als zu sprechen.

Man findet Kurt nicht zu Hause, man wird von einem sehr vornehmen, sehr impertinenten Diener bei Frau Emma angemeldet, die der Besucherin erschreckt aus ihrem Boudoir auf den Korridor entgegenkommt. Sie errötet so stark, daß man nicht sehen kann, ob die Augen noch besonders rot vom Weinen sind. Emma freut sich unendlich und bedauert nur, daß Kurt – bei Nennung des Namens fliegt es immer stolz über ihre Züge – gerade nicht zu Hause ist. Dann wird man durch alle Zimmer geschleppt, nicht nur beim ersten Besuch, nein, jedesmal. Man muß die hübschen Möbel bewundern, welche Tina für die Schwägerin ausgesucht hat und die nun für Kurts Geschmack sprechen sollen. Dann muß man immer die lange Geschichte von Kurts Galanterie anhören, wie er als Bräutigam ihr so schöne Bouquets geschickt habe und wie er jetzt noch ganz unglaubliche Summen für Blumen ausgebe. Sie bekomme Blumen zwar nur selten, aber es müßten wahre Prachtstücke sein, denn die Rechnungen des Gärtners seien ungeheure. Dabei zeigt Emma ein kleines Sträußchen von gefüllten weißen Veilchen und fragt ängstlich, ja zitternd, ob das nicht die kostbarsten Blumen von der Welt seien. Und man muß dazu »ja« sagen und eilen fortzukommen, denn man habe das Gefühl, Emma könnte einem sonst plötzlich um den Hals fallen und sich da totweinen.

Es war für gute Freunde und Beobachter, es war für Heinrich, ihren Arzt, nicht schwer, hinter Emmas lebhaftem Wesen eine tiefe Schwermut zu entdecken. Aber nur Frau von Auenheim konnte ahnen, was Kurts schüchterne Gattin in den wenigen Monaten ihrer Ehe erlebt hatte, was sie täglich empfand. Wußte Emma doch in ihrem bescheidenen Herzen selbst nicht, ob sie wirklich elend war oder vor sich selbst nur so erschien, ob's an ihr oder an ihm lag, daß sie manchmal den Kopf zwischen ihre Hände nahm und die Schläfen preßte, als wollte sie ihrem traurigen Denken ein Ende machen.

Wann war wohl die Angst zuerst über sie gekommen? Heute, wo Kurt sie noch seit dem Morgen nicht angesehen hatte? Gestern, als er sie höhnisch mit der schönen, taktvollen und doch auch reichen Schwägerin verglichen hatte? In den vielen Wochen, in denen Kurt in Berlin sein ehemaliges Junggesellenleben wieder aufgenommen und die Tage mit Sport, bei kleinen Dejeuners und Diners, die Abende wer weiß wo, die Nächte wahrscheinlich beim Spieltisch zubrachte? Wann war die Angst zuerst in ihr erwacht? Auf der unerträglichen Hochzeitsreise, auf welcher er sie so rücksichtslos in den Hotels herumschleppte, sie bei allen Fragen auf das Reisebuch verwies – er, der doch alle diese Orte und Reize kannte und ihr hätte erklären müssen –, auf der Hochzeitsreise, auf der er ihr seine Freude nicht verbarg, da sie einmal zusammenbrach und durch Unwohlsein gezwungen wurde, ihn allein die Table d'hote besuchen zu lassen? Wann zuerst? Am Ende gar schon während der Brautzeit, als er, so sehr sie ihn auch darum mit Blicken bat, kein einziges, einziges gutes liebes Wort zu ihr gesagt hatte?

Und war sie sich denn jetzt endlich klar darüber, was sie für den entsetzlichen Mann empfand? Sie fürchtete sich vor ihm. Ja, das war das einzige, was sie mit Bestimmtheit wußte. Aber liebte sie ihn darum weniger, liebte sie ihn nicht noch mehr als damals, da sie im Salon den stolzen Kurt noch von ferne aus ihrem Aschenbrödelwinkel mit leuchtenden Augen beobachtete? Damals war er für sie das Urbild eines Kavaliers gewesen, wie sie's als Kind in der Pension zuerst geträumt, dann in der schmutzigen Ruinenwelt ihrer väterlichen Wohnung phantastisch ausgeführt hatte. Und dieser Kavalier war er ja heute noch! Er spielte, er trank leidenschaftlich. Er liebte vielleicht auch leidenschaftlich. Alle diese entsetzlichen Dinge waren aber doch wohl sein gutes Ritterrecht! Emma wußte es nicht anders, und Tina, die welterfahrene Tina, schätzte ihn ja gerade um dieser Eigenschaften willen auch! Nein, daß Kurt ein Kavalier war und blieb, daß er in der Ehe nicht Philister wurde, das mußte ihm Emma nun einmal verzeihen; das mußte sie tragen, denn so einen Kavalier, diesen, eben diesen Kurt hatte sie ja geliebt, und wie geliebt, diesen Kurt hatte sie in ihrem unseligen Hochmut zum Manne begehrt und gewonnen.

Aber – gewiß nur ganz leise wagte Emma daran zu rühren – aber er war nicht gut, nein, nicht gut. Nicht gut gegen ihren Vater, den er den jüdischen Wucherer in jedem Worte fühlen ließ, das er überhaupt an ihn zu verschwenden nötig fand, nicht gut gegen den rastlos tätigen Julius, über den er sich ganz ohne Scheu lustig machte – nicht gut gegen die lieben, freundlichen Auenheims, von welchen er in Ausdrücken grimmigsten Hasses sprach – nicht gut gegen sein Weib. Nein, gegen Emma sicherlich nicht. Und konnte ein Mann nicht zugleich ein vollendeter Kavalier und gut sein?

Emma hatte schwer zu tragen an ihren eigenen Gedanken, aber fast noch schwerer an den Fragen und Sorgen ihres Vaters. Der alte schlaue Isaak ließ sich nicht täuschen von allen Künsten seiner guten Tochter. Heinrich, der vom Alten überlaufen wurde, sooft Emma »einer Migräne wegen« zu Bette lag, vernahm mit Entsetzen und Teilnahme die wilden Reden, in denen des Wucherers Liebe zu Emma und Zorn gegen Kurt sich mischten. O, der alte Isaak ließ sich von Emma nicht betrügen. Ihr Lachen verbannte die tiefen Falten nicht von seiner Stirne. Und die arme Frau, die selbst ihrem Manne zuliebe die Toilettenkunststücke einer großen Dame nicht nachzuahmen vermochte, hatte doch sogar Rot aufgelegt, als der Vater einmal nach einigen Fiebertagen erklärt hatte, sie sähe kränklich aus und das müßte einen inneren Kummer zum Grunde haben. Da hatte der alte Isaak ihr mit dem nassen Finger die Schminke abgewischt und laut aufgeschluchzt, und Heinrich glaubte ihn immer wieder zu hören, wie er beide Fäuste gegen das Arbeitszimmer Kurts erhoben und gerufen hatte:

»Ich weiß, daß Du ihn als Deinen Mann... Zerstampfen will ich ihn und alle Egges dazu, wenn mein Kind durch ihn... Wein nicht, Emma, mein Leben, ich tu ihm ja nichts. Aber laß mich schreien, sonst sterb' ich dran. Schminken tust Du Dich, damit ich nicht... Bin ich blind, bin ich ein verliebter Geck, daß ich nicht soll unterscheiden können zwischen Blut und Karmin? Emma, mein Leben, ich kann kein Blut sehn, ich hab' mein Lebtag kein Blut sehn können! Aber lieber will ich noch Blut sehn, sein Blut – wein nicht, Emma, mein Leben, ich tu ihm ja nichts! Lieber will ich ihn mit diesen meinen Händen... als daß Du noch einmal sollst foppen wollen mit Komödiantenfarben Deinen leiblichen Vater! Schiel nicht nach dem Doktor hinüber. Vor dem genier' ich mich nicht! Ausgeführt! Schön hab ich's ausgeführt! Gut hab ich's ausgeführt! Mein einziges Kind einem Räuber! Mein einziges Kind! Dein Bruder Julius soll's mir verzeihen, aber wenn Du nicht bist glücklich, bist Du mein einziges Kind«.

Welche Kämpfe mußte Emma nicht bestehen, um ihren Vater zu beruhigen und zu verhüten, daß irgend jemand auf der Welt ihr Leid erfahre! Solange das nicht geschah, war noch nicht alles verloren. Vielleicht kam Kurt allmählich zur Besinnung, vielleicht – starb sie, bevor die volle Wahrheit, vor der sie zitterte, sie vernichtete. Nur sprechen sollte niemand über ihr Unglück dürfen!

Nicht aus Eitelkeit wollte sie täuschen. Höchstens aus Eitelkeit auf Kurt, den man ja sonst vielleicht falsch beurteilt hätte. Vor allem war es ein empfindliches Schamgefühl, das sie erbleichen machte bei der Vorstellung: dort in irgend einem Café, einem Salon oder auf einer Promenade der Stadt stehen zwei Menschen nebeneinander und sprechen gleichgültig oder gar spöttisch von dem heiligsten Gegenstande der Welt, von ihrer Liebe zu Kurt. Niemand hatte ein Recht, sie, die Frau des glänzendsten, schönsten Kavaliers, mit Mitleid zu kränken, niemand.

Dennoch nahmen sich die Leute dieses Recht, und die's am besten meinten, sprachen am häufigsten von der Ehe des verabschiedeten Offiziers und der Wucherertochter.

Frau von Auenheim wurde nicht müde, sich über die Zukunft des jungen Paares zu bekümmern. Man merkte ihr häufig die Absicht an, ihren Verwandten zu entschuldigen. Sie konnte sogar ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit dies und jenes in Haltung, Sprache und Kleidung Emmas tadeln, aber immer wieder siegte ihr echtes Gefühl, und sie schloß mit dem Bedauern, daß der leichtsinnige Kurt ein so liebes, braves Geschöpf nicht nach Gebühr würdige.

Als das Gespräch an einem gemütlichen Montag, fast ein Jahr nach Emmas Hochzeit, wieder auf die unglückliche Angelegenheit kam, hielt Heinrich mit einer traurigen Mitteilung nicht zurück, zu welcher ihn Emma selbst berechtigt hatte. Sie war ernstlich krank und reiste binnen kurzem nach dem Süden, wo sie den Winter zubringen sollte. Es hatte viele Mühe gekostet, die arme Frau zu überreden. Der alte Isaak riß sich vor Gram und Zorn an Bart und Haaren und war anfangs entschlossen, seine Tochter zu begleiten und sein ganzes Geschäft dem Betrüger, dem elenden Heuchler, dem Bumcke – die Damen kannten ihn ja – zu verkaufen. Aber Emma mochte davon nichts hören. Sie wollte allein sein, nur Ruhe konnte sie heilen. Heut war die Abreise endgültig beschlossen worden. Emma ließ grüßen, weil sie sich zu schwach fühlte, um Abschiedsbesuche zu machen.

»Und Kurt?« fragte Frau von Auenheim beklommen.

»Er lacht die Ärzte aus. Er will an keine Gefahr glauben.«

Es wurde still im Zimmer. Die Frau sah den jungen Arzt an, ob sie den bitteren Ausdruck, mit dem er die letzten Worte gesagt, auch in seinen Mienen finden würde. Und als sie ihn dort fand, schwieg sie und legte die Hände in den Schoß. Niemand schien die Peinlichkeit der langen Pause zu empfinden, ein jeder ging seinen eigenen Gedanken nach. Frau von Auenheim dachte an den alten Egge, ihren ehrenfesten Vater, und wie er solche Nachrichten aufnehmen würde – Heinrich an den widerwärtig spöttischen Ton, mit welchem ihm Kurt gesagt hatte: »Mag Emma doch reisen, wenn der alte Isaak nur bei mir bleibt.«

Da unterbrach Clemence das lange Schweigen. Sie hatte wohl stets aufmerksam zugehört, wenn von den jungen Egges gesprochen wurde, sich aber niemals mit etwas anderem als irgendeiner nebensächlichen, von Teilnahme für Emma zeugenden Frage in die Unterhaltung gemischt. Deshalb waren die beiden anderen ein wenig erstaunt, als Clemence mit sicherer Stimme sagte:

»Kurt hätte eine Frau aus seinen Kreisen heiraten sollen, dann wäre all das Unglück nicht gekommen.«

Und als die Mutter rief: »Clemence, ich kenne Dich nicht wieder!« und auch Heinrich sie vorwurfsvoll und erregt ansah, schüttelte Clemence den Kopf, wie sie überhaupt die Gewohnheit hatte, mit einer kurzen natürlichen Geste ihren Worten zuvorzukommen, die dann nach stummer Überlegung ordentlich folgten.

»Ich meine natürlich nicht«, sagte sie mit leisem Erröten, »daß Kurt eine Adelige hätte heiraten müssen oder daß überhaupt der Unterschied der Stände an diesem Unheil die Schuld trage. Ich meine nur so: Kurt hätte eine Frau aus seinen Kreisen heiraten müssen, Mama – die ja nicht unsere, nicht adelige Kreise sind. Ich meine, er hätte unter den minder jungen, minder unerfahrenen, minder guten und nachsichtigen Mädchen aus seiner Bekanntschaft leicht eine finden können, der er gefallen und die doch seine Fehler gekannt hätte. Dann wäre das Schlimmste ausgeblieben: die Enttäuschung für die arme Emma. In dieser Ehe leidet ja nur Emma unschuldig, nicht Kurt. Und Emma ist es, die Kurt nie hätte lieben dürfen, weil er nicht ihrem Kreis angehört.«

Die Mutter lächelte.

»So geht's einen mit den Kindern, Herr Doktor. Was habe ich mir nicht für Mühe gegeben, die Kinder zu einer vernünftigen, menschlichen Lebensanschauung zu erziehen! Wieviel habe ich in meinen letzten Jahren nicht lernen und nachholen müssen, um den milden Humanismus meines Vaters zu verstehen und seinen Enkelkindern mitzuteilen! Und nun wird die Älteste gleich zu einer ganz fanatischen Aristokratin, die jeden Mitmenschen nach seinen sechzehn Ahnen fragt. Mich wundert es nur, daß sie einen Bürgerlichen wie Sie in Ihrer Nähe duldet.«

Clemence aber wollte in diesem Punkte keinen Scherz verstehen und antwortete sehr lebhaft:

»Du hast mich mißverstanden, Mama, und es sollte mir recht weh tun, wenn auch Herr Doktor Wolff mich mißverstanden hätte. Ich habe ja mit keinem Wort von Aristokratie gesprochen. Im Gegenteil, in diesem Verhältnis scheint mir die arme Emma die edlere Natur zu sein im Vergleich zu unserem Vetter. Ja, Kurt steht unter Emma! Ich dachte bei den bestimmten Kreisen, aus welchen niemand heraustreten soll, an eine Vereinigung der verschiedensten Menschen, die durch Gleichheit und Ähnlichkeit der Anschauungen von Ehre, Pflicht und den höchsten Dingen entsteht. Ich habe das zwar noch nie im Leben gesehen und eigentlich auch noch nie beschrieben gelesen; aber es ist eine Vereinigung im Geiste, welche alle unsere Dichter voraussetzen müssen, da sie ihre Helden und Heldinnen in diesem Sinne handeln lassen. Und diese Vereinigung im Geist muß in der Tat vorhanden sein, sonst könnten wir über diese Dichtungen nicht lachen und nicht weinen.«

Frau von Auenheim forderte Heinrich mit leichten Neckereien auf, Clemence eines Besseren zu belehren. Als er aber ungebührlich lange schwieg und dann begeistert in gleichem Sinne wie Clemence sprach, brach sie das Gespräch ab, wurde aber bald ebenso ernst wie die beiden jungen Leute, so daß an diesem Abend ein jeder dazu kam, einen Teil seiner Lebensanschauung zum besten zu geben.

Wie das bei so allgemeinen Gesprächen zu gehen pflegt, dachte Heinrich bei den Worten der anderen zunächst an sich selbst und die Bedeutung, welche solche Grundsätze für ihn haben konnten. Und zum ersten Male, seitdem er sich wieder in Clemencens Nähe gewagt hatte, stellte er sich heute auf dem Heimwege plötzlich die Frage nach der Zukunft.

Er war wie im Traume die Linden hinunter bis zum Brandenburger Tore gekommen. Hier blieb er stehen und blickte mit leuchtenden Augen zu der Siegesgöttin empor, die sich nur nebelhaft von dem dunklen Nachthimmel abhob. Wie ein Trunkener streckte er beide Hände aus und rief hörbar genug, daß der Wächter an der nächsten Ecke mißtrauisch stehenblieb:

»Ich liebe Dich ja, wie ich's nie für möglich hielt, daß man lieben kann. Clemence, komm herab! Gelt, Du liebst mich auch ein bißchen!«

Dann wandte sich Heinrich rasch durch das Tor dem Tiergarten zu, unter dessen Bäumen er noch stundenlang die Unruhe zu ermüden suchte, die sich seiner bemächtigt hatte. Es duldete ihn nicht in der Siegesallee, wo immer noch einzelne verspätete Spaziergänger und nimmermüde Liebespärchen einander im Vorübergehen musterten. Er eilte tiefer in die vielfach verschlungenen Wege hinein, bis er selbst nicht mehr wußte, wo er sich befand und halb lachend, halb ärgerlich ernsthaft darauf achten mußte, daß er nicht in das pfadlose Gebüsch geriet. Im Suchen nach einem besser beleuchteten Wege gewann er allmählich seine Selbstbeherrschung wieder; aber je mehr sich sein erregtes Blut besänftigte, desto strahlender stieg vor ihm ein Bild auf, das ihn nun schon seit einer Stunde umschwebt hatte, ohne daß er's bisher deutlich zu erkennen vermochte. Jetzt – auf einmal stand es vor ihm, ein Wunder des zweiten Gesichts, ein glückverheißendes Ahnen, nein, Sehen der Zukunft.

In einem kleinen, einfach ausgestatteten Speisezimmer saßen zwei Leute an einem Tisch unter der prächtigen Petroleum-Hängelampe, welche schon jetzt in Heinrichs Speisezimmer leuchtete. Das Abendessen war abgetragen. Das junge Paar plauderte; sie haben eben in einem Buche gelesen, und offenbar bemühte sich Heinrich – der Mann war nämlich Heinrich –, eine Behauptung des Verfassers für Clemence verständlicher zu machen – die Frau war nämlich Clemence. So deutliche Farben nahm das Bild an, daß Heinrich, der sich von jedem Aberglauben frei wußte, erstaunt stehenblieb und sich – die Augen fest auf die Dunkelheit gerichtet – gleichzeitig an der merkwürdigen Schöpfung seiner Phantasie ergötzte und durch Selbstbeobachtung eine Erklärung zu finden suchte. Und wie er über die Erscheinung nachdachte, verschwand sie langsam, und ihm blieb beim Weiterschreiten nur die Erinnerung daran, daß er sich wie mit leiblichen Augen als Gatten des Fräulein Clemence von Auenheim gesehen hatte.

Droben rauschte es in den Baumkronen, und Heinrich lauschte, ob er aus der Sprache des Windes einen Ruf vernähme, der den jubilierenden Stimmen seines Herzens entsprach. Aber wenn der brausende Wind der hochragenden Victoria auch von noch so gewichtigen Dingen erzählt: von ungeheuren Schlachten und Siegen, bei denen auch Heinrichs Blut geflossen – von der großen Liebe des jungen Arztes wußte der alte Wind nichts.

Zwischen den Wolkenflocken schimmerte der Mond herunter. Heinrich suchte zu ergründen, warum die Liebenden seit unvordenklichen Zeiten die matte Scheibe schön finden konnten. Ja, das milde Licht tat wohl wie ein freundliches Wort von des Mädchens Mutter. Aber der Mond mit seinem geborgten Glanze und die Sterne, die so kokett hinter jeder Wolke wie hinter einem großen schwarzen Fächer hervorglitzerten und hervorblinzelten, all die himmlischen Lichter verschwanden in ferner Dämmerung, wenn er die Augen seines geliebten Mädchens auf sich niederblicken sah, lebensspendend wie die Sonne, heimlich wie die Nacht.

Ja, er liebte Clemence. Er liebte sie, wie noch nie ein Mensch vor ihm geliebt hatte. Seine Liebe mußte eine völlig neue Schöpfung sein. Er wußte das ganz bestimmt, denn die Nachtigall, welche eben im Gebüsche drüben zu schlagen begann, hatte mit ihrem Liede Jahrtausenden als Symbol der Liebe gedient, und ihm kam die einfache Tonfolge im Verhältnis zu seiner unendlichen Sehnsucht unbedeutend, nichtssagend vor.

Also, er liebte sie unsäglich. Und sie? Nun gewiß, sie sah ihn nicht ungern, sie schätzte ihn, sie zeichnete ihn aus. Und wenn sie ihn auch kaum liebte, unbedingt nicht so wie er sie, so liebte sie doch sicherlich keinen andern. Aber war damit eine Ehe zwischen Dr. Heinrich Wolff und Fräulein Clemence von Auenheim schon ermöglicht?

Zwar die äußeren Hindernisse wären am Ende zu besiegen gewesen. Die Mutter war ihm geneigt; Heinrich fühlte das und er fühlte auch den Grund, aus welchem die müde Frau für ihre Tochter einen tätigen, selbständigen Mann, keinen Kavalier wünschte.

Papa Auenheim tat am Ende alles, was seine Töchter verlangten, und nach dem alten bärbeißigen Großvater brauchte der Liebende, wenn er mit Clemence einig war, gar nicht erst zu fragen. Sein reiches Gut Eggerwitz verlangte er nicht, seine Autorität erkannte er nicht an.

Wie aber sollte ein einfacher Dr. Heinrich Wolff um das Freifräulein werben? Und da für ihn das Geständnis seiner Liebe und die Werbung um ihre Hand nur eines gewesen wäre, wie sollte er ihr seine Liebe gestehen? Gewiß, Heinrich empfand stolz und modern genug, um einen jeden zu verachten, der Standesunterschiede über die Liebe hätte den Sieg davontragen lassen – er dünkte sich Demokraten genug, um als Baron die Hand seiner Tochter dem ersten besten Bürgerlichen und diesem mit Vorliebe zu schenken. Aber er war nicht Demokrat genug, um als Bürgerlicher unbefangen um ein adliges Mädchen zu freien. Sein Stolz empörte sich gegen die Möglichkeit einer Ablehnung, die seine bürgerliche Herkunft zum Vorwande nahm. Und was noch schlimmer war – er fühlte, so sehr er sich mit heimlicher Freude gegen diesen Abfall sträubte – seine demokratischen Grundsätze gegenüber der Geliebten schwanken. Hundert Auenheims waren in seinen Augen einem einzigen tüchtigen Arzte nicht ebenbürtig; ihn setzten die stolzen Egges – ganz abgesehen von dem jämmerlichen Kurt – durchaus nicht in Erstaunen; aber Clemence, freilich Clemence war ein Wesen besonderer Art, ein königliches Mädchen, um welches zu werben Vermessenheit schien, wenn der Freier nicht selbst ein König war. Heinrich ärgerte sich über sich selbst, aber Clemence konnte er sich nun einmal nicht als die Tochter eines bürgerlichen Fabrikanten vorstellen.

Wenn er also selbst das Kühne einer Verbindung dieser Auserwählten mit einem schlichten, arbeitsamen Menschen einsah, wie durfte er ihr von Liebe sprechen? Und da sie gewiß nicht zuerst davon begann, wie sollte sie von seinen Gefühlen erfahren? Heinrich konnte den Gedanken nicht fassen, sie zu verlieren, aber auch seine Seele nicht zwingen, das teure Mädchen im Kampfe zu erringen.

Doch hatte nicht eben am heutigen Abend Clemence selbst die Brücke geschlagen? Hatte er es nicht im Dunkel seiner Sehnsucht wie einen Regenbogen auf Wolken aufleuchten sehen, da sie plötzlich von der Vereinigung im Geiste gesprochen hatte, die sie dem Stande, der Geburtsgleichheit kühn entgegenstellte? War sie bei diesen Worten nicht so erregt gewesen, als fühlte sie, daß diese Gesinnung für ihr eigenes Leben wichtig werden müßte! Ja, Heinrich durfte es sich sagen – und seine Brust hob sich vor Lust – , nicht das Freifräulein, nicht die Enkelin derer von Egge stand zu hoch über ihm, nur Clemence selbst, die edle Persönlichkeit des Mädchens, stand fern von ihm – nicht ferner als von allen anderen Menschen. Und über diese Kluft – das glaubte Heinrich in stiller Siegeshoffnung doch – half die Liebe hinweg.

Nur noch ein kleines Hemmnis lag zwischen ihm und der Geliebten. Er war ja nicht ein Bürgerlicher wie Hinz und Kunz, er war Jude, war nicht Christ.

Heinrich ballte die rechte Hand zur Faust, da ihm dieser Gedanke plötzlich wie der boshafte Streich eines Feindes vor der Seele stand. Er war ein Jude! Wenn es ein Makel war, so mußte er wohl untilgbar sein; denn jetzt, nach vielen Jahren, in denen ihm die Erinnerung völlig fremd geworden war, jetzt packte ihn wieder der alte Zorn gegen das Schicksal, das ihn nicht werden ließ wie die Millionen um ihn her, das ihn zu einer Ausnahmestellung zwingen wollte, ihn, den es nach keiner Ausnahmestellung verlangte, der inmitten seines Volkes, des deutschen Volkes, an seinem Platze wacker wirken wollte.

War er aber nicht ein Tor! Wenn er selbst imstande gewesen war, vollständig sein bißchen Judentum zu vergessen, und jetzt im geistigen Kampfe um sein höchstes Lebensziel sich fast gewaltsam daran erinnern mußte – wie durfte er dem hohen Sinne seiner Clemence so kleinliche Rücksichten zutrauen! Clemence hatte von einer Vereinigung im Geiste über die Standesunterschiede hinweg gesprochen! Wie durfte er glauben, daß sie dann noch an einem fremden Umstand Anstoß nehmen werde, der seit Jahren keine rechtliche, seit Ewigkeit keine seelische Bedeutung hatte. Nein, weg mit dem Schatten, den nur sein grüblerischer Verstand, nicht sein vertrauensvolles Herz heraufbeschworen hatte! Weg mit allen düsteren Gedanken! Zeige dich wieder, du trautes Bild, du herrliches Weib, über die Arbeit gesenkt, unter der Lampe... so! Und schwinde nicht mehr! Fülle deine Adern mit lebendigem Blute, atme, seufze, lächle... so! Damit ich sehe, daß du lebst, daß du wirklich kein Traumbild bist, sondern mein süßes angebetetes Weib, meine liebe, liebe Clemence!

Und wieder stürmte Heinrich über die nächtliche Landstraße, aber mit leuchtenden Augen, mit fröhlichem Sinn. Wußte er auch noch nicht, wie es werden würde, so hatte er doch an die Möglichkeit des Glückes glauben gelernt, die Möglichkeit eines Wunders gesehen! Wenn aber das Wunder ihm zuliebe geschah – was kümmerte ihn die Logik, was das Naturgesetz!


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