Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Als Heinrich nach stundenlangem Umherwandern tief in der Nacht vor seiner Wohnung ankam, bemerkte er Licht in seinem Sprechzimmer. Er machte sich schon Vorwürfe, daß er so lange ohne zwingenden Grund abwesend gewesen und eilte hinauf. Sein Diener empfing ihn schläfrig. Im Sprechzimmer warte ein fremder Herr seit acht Uhr abends. Er sehe aber sehr gesund aus. Auch habe er sich ganz ungescheut benommen und sich Licht anstecken lassen.
Heinrich öffnete rasch die Tür, um sich den sonderbaren Patienten zu betrachten. Als er eintrat lag der Fremde, mit Heinrichs Überzieher zugedeckt, auf dem Sofa, schlief und schnarchte sogar. Beim Geräusch von Heinrichs Schritten erwachte er jedoch hurtig, wie ein Soldat im Felde, öffnete groß die Augen, sagte: »Gute Nacht, Heinrich!« und drehte sich auf die andere Seite.
»Victor!« rief Heinrich lachend aus. »Wie kommst Du denn so plötzlich hierher! Und warum hast Du mir Deine Ankunft nicht angezeigt?«
»Tu mir jetzt den einzigen Gefallen, lieber Freund, und geh schlafen. Herumtreiber Du! Morgen werde ich Dir ordentlich die Leviten lesen müssen! Das also ist aus dem alten Duckmäuser geworden! Ein Nachtschwärmer, der um zwei Uhr morgens nach Hause kommt und mit seinem Gepolter solide Leute aus dem besten Schlafe weckt! Schäme Dich was, Alter! Hätte ich das gewußt, so hätte ich nie einen Fuß über Deine Schwelle gesetzt, sondern wäre gleich in meinem Hotel geblieben! Gute Nacht!«
Mehr war für heute aus Victor nicht herauszubringen. Heinrich ergab sich darein und wollte den Freund nur bewegen, im Bette zu schlafen und ihm, dem Wirte, das Sofa zu überlassen. »Laß mich schlafen, Nachtschwärmer, und begib Dich endlich zur Ruhe! Freilich ist's hier in Deinem Marterkasten wie im Vorzimmer zum Kirchhof: es riecht nach allen möglichen Giften und Betäubungsmitteln. Gute Nacht! und wenn mich die Medikamente zur Strafe dafür, daß ich sie nie gemocht habe, in dieser Nacht ersticken, so kannst Du morgen frei nach Freiligrath ein Gedicht deklamieren: ›Der Apotheke Rache‹. Gute Nacht!«
Wirklich erfuhr Heinrich erst am nächsten Morgen, als die Freunde lustig beim Frühstückstisch saßen, was den andern hergeführt. Und ganz deutlich wurde auch da noch nicht alles. Victor hatte die beneidenswerte Gabe – gegen welche Heinrichs Ordnungssinn seltsam abstach –, über die wichtigsten Gegenstände, über die sich ziffermäßige Belege beibringen ließen, flüchtig hinwegzuhüpfen, dagegen nach Laune bei diesem oder jenem Nebenumstande zu verweilen.
So erzählte er jetzt ausführlich von der Art und dem Werte seines Gutes, von neuen Experimenten der Landwirtschaft, die er mit der Leidenschaft eines Dilettanten trieb, von den Dummheiten und Grobheiten seines Inspektors und fügte nur ganz nebenbei hinzu, daß er diesen Inspektor wegen allerlei Betrügereien habe entlassen müssen.
Mit Mühe nur konnte Heinrich aus dem heiteren Geplauder des Freundes die ernsten, ja schlimmen Nachrichten herausfinden, welche Victor nicht etwa zu verbergen suchte, an die er nur jetzt nicht denken wollte. Wie Heinrich mehr erriet als erfuhr, ging es mit der Bewirtschaftung des Gutes nicht zum besten. Die Übernahme und Einrichtung des gründlich heruntergebrachten Gutes erforderte mehr bares Geld, als Victor besaß. Jahrelang hatte er vergebens gegen die Gefahren gekämpft. Jetzt sah er ein, daß ein besserer Landwirt, als er war, die Sache in die Hand nehmen mußte. Er war Reiteroffizier und wollte es vorläufig bleiben. Darum habe er seinen oft verlängerten Urlaub nicht weiter ausgedehnt, habe sich hierher versetzen lassen, weit weg von seinem Besitz, nur um nicht mehr mit Klagen und Sorgen zu tun zu haben.
»Und wenn die Mißstände sich in der Ferne vermehren, wenn sie Dir schließlich über den Kopf wachsen?« warf Heinrich ein. »Hast Du auch bedacht...?«
»Daß Du mir noch eine Scheibe Schinken geben sollst, habe ich bedacht. Und nun nichts mehr von mir! Ich komme mir wie ein Komödiant vor, wenn über mich gesprochen wird. Das ist ja das einzig Schöne am Leben, daß man sich nicht täglich Rechnung zu legen braucht. Hätt's doch das Pferd besser als der Reiter, wenn der bei jedem Schenkeldruck erst an alle Wenn und Aber denken müßte. Also nichts, kein Wort mehr von mir! Leg Du mal los und erzähle, was Du inzwischen angegeben hast. Im Erzählen bist Du mir über, das weiß ich.«
Heinrich mußte sich fügen. Er berichtete über sein Leben, über seine Studien, seine kleinen Erfolge, das Wachsen seiner stillen Tätigkeit. Sie kamen immer vertrauter ins Plaudern. Auch Victor wurde redseliger und gab derbe Späße aus dem Treiben seiner bisherigen kleinen Garnison zum besten, wofür Heinrich ihn mit den neuesten Doktorgeschichten entschädigte. Erst spät, als Victor die zweite Zigarre zu Ende geraucht hatte, fragte er nach der reizenden Familie, bei der sie einst verwundet lagen.
»Weißt Du noch, Heinrich, wo das himmlisch schöne Mädchen war – Donnerwetter, wie hieß sie nur gleich! – und dann die kleine Krabbe, das Evchen. Wie oft habe ich von den schelmischen Augen des kleinen Schwesterchens träumen müssen! Weißt Du vielleicht, was die Leute machen?«
Heinrich scheute sich, den Freund zum Vertrauten unausgesprochener Gefühle zu machen, und hatte in der Angst, sich doch zu verraten, nicht übel Lust, Auenheims geradezu zu verleugnen; aber täuschen konnte er den Freund doch nicht. Er gab zögernd und mit schlecht gespielter Gleichgültigkeit zu, häufig in das Haus zu kommen und erst gestern abend dagewesen zu sein.
»Und das sagst Du mir erst jetzt, Du hinterlistiger Mensch? Und bei Auenheims bist Du allein, ohne daß Gesellschaft da war, bis zwei Uhr morgens geblieben? Sprich, Sünder – ich will alles wissen!« Heinrich sagte schnell, daß er vor der Heimkehr noch einige Stunden im Tiergarten spazierengegangen. Die Nacht sei so schön gewesen.
»Hü!« pfiff Victor lachend vor sich hin. »So, so! Die Nacht war so schön. Na, haben die Nachtigallen im Tiergarten so schön gesungen, oder hast Du einmal das Nachtleben der Pflanzen studieren wollen? So, so! Na, und hättest Du mir weiter gar nichts zu erzählen? Nicht, was die Nachtigallen Dir vorgesungen haben?«
»Ich habe nichts zu erzählen«, sagte Heinrich fast traurig.
»Bedenk es wohl«, rief Victor erregt, »hast Du mir nichts, gar nichts zu erzählen?«
Heinrich ergriff Victors Hand. »Ich habe keine Geheimnisse vor Dir; nur was mir selbst nicht zum Bewußtsein gekommen ist, darfst Du nicht von mir verlangen. Heute Nacht – ganz recht, als die Nachtigallen sangen – glaubte ich eine Stunde lang, die Welt wäre wieder einmal um einen König reicher geworden, und der König wäre ich. Als ich aber im Tageslichte aufwachte, da fiel mir die Königskrone vom Kopf und war nicht wieder aufzufinden. Ich fürchte fast, sie war ein nächtliches Truggold. Ja, hättest Du gestern abend, als ich Dich hier vorfand, die Lampe auslöschen und uns im Finstern traulich plaudern lassen, Du hättest am Ende irgend etwas erfahren. Aber bei Lichte besehen, habe ich nichts zu erzählen. Schade! Ich wäre selbst neugierig zu wissen, was ich Dir gestern gebeichtet hätte.«
Sie sprachen nicht weiter von Auenheims. Heinrich ging seinem Berufe nach, und Victor fuhr ins Hotel, um seine Zivilkleider mit der glänzenden Husarenuniform zu vertauschen und alsbald die wichtigsten Besuche zu machen. Er sagte zu dem Freunde, den er am Abend zu einer Spazierfahrt abholen wollte, daß er sich heute nur bei seinem Vorgesetzten melden werde.
Als er sich aber abends recht unpünktlich einfand, berichtete er anfangs kleinlaut, dann immer lebhafter, er sei zufällig bei Auenheims vorbeigekommen, habe die kleine Krabbe am Fenster gesehen und der Versuchung nicht widerstehen können hinaufzugehen. Man habe ihn recht herzlich aufgenommen. Die kleine Krabbe habe gleich mit ihm gezankt, die himmlische Clemence, die sonst so stille, habe ihn immer wieder zum Dableiben und zum Sprechen aufgemuntert; sie hätten fast eine Stunde miteinander geplaudert – über Dr. Wolff, wie ihm jetzt einfalle –, dann sei der schöne Papa nach Hause gekommen. Die Frau komme ihm sehr leidend vor. Aber Papa Auenheim sei ein prächtiger Mensch, immer jung, immer elegant, immer höflich, das Ideal eines Schwiegerpapas.
Da war das Wort heraus, und Victor erschrak, als er den Freund erblassen sah. Da aber Heinrich nichts antwortete und nach einer langen Pause sich Mühe gab, Gleichgültiges über den ersten besten Vorübergehenden zu sagen, so wurde auch Victor trotzig und zwang sich, heute an Auenheims nicht mehr zu erinnern.
Zum Teufel auch, wenn Heinrich dort irgendein Recht oder auch nur irgendeine tiefe Leidenschaft geltend zu machen hatte, so brauchte er's nur zu sagen! Aber wenn er selber schwieg, dann wußte Victor eben nichts und folgte seinem Herzen.
Und wie er ihm folgte! Noch regelmäßiger als Heinrich, der mitunter an das Bett eines Schwerkranken gebannt war, brachte Victor die beiden stillschweigend verabredeten Abende bei Auenheims zu, und oft genug hatte er eine wichtige Angelegenheit zu bestellen, Theaterbillets zu besorgen, ein Buch zu bringen, so daß er bald häufiger im Hause aus- und einging als sein Freund. Heinrich war stark genug, sich's nicht merken zu lassen, wie sehr er unter dem Glücke seines Freundes litt; aber von Tag zu Tag zog er sich mehr auf sich selbst zurück, mied den Freund, der ja auch durch seine neuen Kameraden viel in Anspruch genommen wurde, und wäre von Auenheims wieder ganz fortgeblieben, wenn er nur so bald einen schicklichen Vorwand gefunden hätte.
Der alte Plan, seine Studienreisen wieder aufzunehmen und in Verbindung mit befreundeten Engländern nach Afrika, an den Herd der furchtbaren Seuche, zu wandern, wurde schweren Herzens wieder erwogen. Als er bei Auenheims das erste Wort von seinem Vorhaben sprach, wurden die Damen still. Nur Evchen fing an zu klagen. Victor aber blickte ganz freudig überrascht auf und sah aus, als ob er dem Freund am liebsten gleich ein direktes Eisenbahnbillet nach irgendeinem innerafrikanischen Dorfe gelöst hätte.
Und niemand hätte sagen können, was den Arzt seit Victors Erscheinen im Auenheimschen Hause am schwersten bedrückte. Es ging an den geselligen Abenden, an denen auch einige Verwandte des Auenheimschen Hauses teilzunehmen begannen, nun entschieden lebhafter zu; es wurde gelacht, gestritten, gesungen, Klavier gespielt, wohl auch einmal ein ganz klein bißchen getanzt. Man blieb so länger beieinander und machte, ohne es zu wollen, an die Gastfreundschaft der Wirte etwas größere Ansprüche.
Frau von Auenheim ermunterte die junge Welt in allem, kam ihren Hausfrauenpflichten pünktlich nach, aber Heinrichs geschärftes Auge konnte es nicht übersehen, daß ihr des fröhlichen Treibens zuviel wurde, daß sie ihr Leiden oft nur mit Mühe vor der Gesellschaft verbarg. Niemand außer ihm kannte die Gefahr, in welcher die Frau täglich schwebte; seine Warnung, die ihm überdies kaum gestattet war, hätte wenig geholfen, und dennoch fühlte sich Heinrich von jedem leise schmerzlichen Zucken des feinen Gesichts wie ein Schuldiger getroffen und bemühte sich, der verehrten Frau durch still verborgene Rücksichten im kleinen manchen Dienst zu erweisen.
Frau von Auenheim dankte nur durch Annahme seiner Dienste; sie hätte kaum von einem anderen Gaste geduldet, daß er für sie auf die elektrische Klingel gedrückt, für sie einen Stuhl gerückt und aus Rücksicht auf sie bald ein Fenster, bald eine Tür geschlossen hätte. Ob auch Clemence auf den heimlichen Kampf achtete, den Heinrich so gegen den Opfermut ihrer Mutter begonnen? Sie mußte doch wohl. Denn mehr als einmal war Heinrich eben erst durch den sorgenden Blick der Tochter darauf aufmerksam gemacht worden, daß Frau von Auenheim der Ruhe oder einer kleine Hilfeleistung bedürfe. Und so ruhten die schönen Augen wie mit einer sorgenvollen Frage, die nicht laut zu werden wagte, in den seinen. Heinrich antwortete nicht, weder durch Blicke noch durch Worte.
Herr von Auenheim war jetzt ein fast täglicher Gast in seinem Hause. Seine Frau zuckte jedesmal ganz unmerklich zusammen, wenn er in Gesellschaft erklärte, daß der leidende Zustand seines lieben kleinen Frauchens ihn zwinge, die Freunde im Klub zu vernachlässigen. In der Tat aber hatte es nicht den Anschein, als ob der schöne Auenheim nur seiner kranken Frau wegen zu Hause sei. Ein aufmerksamer Beobachter konnte an ganz unscheinbaren Äußerungen bemerken, daß es ihm unbehaglich war in der Nähe seiner leidenden und in der Krankheit rasch alternden Gattin. Für ihn war Krankheit eine Erinnerung an den Tod und der Tod grauenhaft als das Ende der Jugend. Er sprach öfter als die arme Frau es liebte von ihren Leiden und bedauerte immer, daß sie sich nicht überreden lassen wollte, den Winter im Süden zuzubringen. Er würde sich schon, so schwer es auch für ihn wäre, in die Trennung fügen.
Der Magnet, der den schönen Auenheim nach Hause zog, war offenbar Victor und das heitere Leben, das er so rasch in den kleinen Kreis gebracht hatte. Es war gar nicht unmöglich, daß der schöne Auenheim es den bisherigen alleinigen Hausfreund, den Dr. Wolff, fühlen lassen wollte, wie die kranke Frau wohl ihre kleinen Schwächen haben und diesen jungen Mediziner bevorzugen dürfe, wie aber der Chef die Würde des Hauses wahren und den Unterschied zwischen einem bürgerlichen Arzte und einem adeligen Standesgenossen aufrechterhalten müsse.
So hielten Vater und Mutter das Zünglein der Waage recht in der Mitte. Heinrich mußte sich sagen, daß die kühle Haltung des Herrn ohne die immer wachsende Freundlichkeit der Frau unerträglich geworden wäre. Schließlich aber hing es ja nur von ihr, von Clemence ab, ob Heinrich sein in aller Seelennot tief empfundenes Glück in diesen Räumen ruhig fortgenießen oder wieder, wie schon einmal, in fremde Länder hinausschwärmen sollte.
Clemence aber war für Heinrich nicht so leicht zu ergründen. Als Victor, rasch und feurig wie immer, ihr seine Huldigungen darbrachte, lehnte Clemence durchaus nicht so unerbittlich ab, wie Heinrich es vorausgesetzt. Wenn er selbst jemals gewagt hatte, mit einem unscheinbaren, halben Wörtchen nur auf die Möglichkeit einer Neigung hinzudeuten, so trafen ihn auch schon die wundersamen Augen mit so rührender Bitte, daß Don Juan selber schüchtern sich weggeschlichen hätte. Für Victors ehrliche Schmeicheleien hatte Clemence immer ein herzliches Lachen. Sie suchte sogar schalkhaft den widerwilligen Heinrich ins Gespräch zu ziehen und dadurch dem Wesen Victors fast das Kompliment zu machen, als ob sich von ihm manches lernen ließ. Heinrich suchte sich, obwohl er in vielen Stunden völlig verzweifelte, damit zu trösten, daß Clemencens Munterkeit bei Victors Gesprächen dem Blick nicht gleiche, welcher ihm in stilleren Momenten oft zuteil geworden. Sie blieb dem Leutnant gegenüber immer die wohlerzogene Dame, die wohl in der Fröhlichkeit ihres Herzens lächeln und selbst lachen durfte. Und daß jede wohlwollende Miene schon wie ein Sonnenblick ihr Antlitz erhellte, das bewies ja bei Clemence nichts für den Herrn, mit dem sie gerade plauderte – sie konnte ja nicht anders als so schön sein. Heinrichs Lächeln aber, das Lächeln, mit welchem sie ihn von der Erde hinweg in die Gefilde seliger Träume zu versetzen mochte – sein Lächeln war etwas ganz anderes. Es war nicht so lustig, aber auch nicht so flüchtig wie ihr allgemeines Gesellschaftslächeln. Heinrich hatte es zu oft mit begeisterten Augen kommen und schwinden sehen, um nicht wie ein Maler das Bild im Gedächtnis zu haben. Sein, Lächeln war wie ein Kuß oder wie die Frage unschuldiger Augen: was wohl ein Kuß wäre? Da konnten im Verlaufe eines intimen Gesprächs ihre Augen seltsam zu leuchten beginnen, eine leichte Röte überzog von den Stirnhaaren aus das Antlitz, und an den Augenwinkeln lugte das Lächeln hervor, huschte an den Nasenflügeln vorüber über die Lippen hin, öffnete leise den Mund, zeigte die Zahnspitzen und ließ sich endlich ganz unartig auf den Wangen nieder, wo die Spur von Grübchen noch lange nach dem Entgleiten zurückblieb. Das war sein Lächeln, das ihm allein blieb, mochte sonst was immer geschehen.
Und mit der Aufmerksamkeit, die seine Eifersucht wach erhielt, glaubte er noch manches zu bemerken, was ihm wieder Mut gab. Victor hielt es niemals lange in der Nähe der älteren Schwester aus. Immer wieder blieb er am Ende bei Evchen hangen, stritt mit ihr herum, leugnete, daß man sie schon als Dame behandeln müsse, war aber in allen Kindereien, die er mit ihr trieb, weit natürlicher, als bei den stürmischen Huldigungen, die er der älteren Schwester darbrachte. Freilich sprach er, wenn er ernst wurde, mit Evchen immer nur von Clemence, man konnte aber nicht recht erkennen, ob es ihm mehr um den Gegenstand des Gesprächs oder um das Gespräch selbst zu tun war.
Victors Bemühungen konnten in dem kleinen Kreise nicht unbemerkt bleiben. Und wenn auch die Anwesenheit der Hausfrau derartige Neckereien selbst unter den Verwandten nicht aufkommen ließ, so wurde doch heimlich mancher Scherz gemacht, der dann auch oft Heinrich zu Ohren kam.
Clemence aber fuhr unbekümmert fort, sich durch Victors Scherz nur gleichmäßig sanft erheitern zu lassen. Ja, das gemessene Mädchen, dem jede Art von Spott fremd war, widerstand ihm gegenüber nicht der Versuchung, die kleinen Eigenheiten der Aussprache, seine niederdeutsche Betonung, seinen oft seltsamen Wortschatz zum Ziele lustiger Ausfälle zu machen. Sie wußte das Plattdeutsche vortrefflich nachzusprechen und lockte ihn durch unmerklichen Übergang zum Dialekt so tief in die heimatliche Redeweise, bis er schließlich immer erlag und am Ende einen so derben, unverständlichen Ausdruck vorbrachte, daß die ganze Gesellschaft in ein übermütiges Lachen ausbrach. Evchen – ob sie nun der Schwester den leichten Triumph nicht gönnte oder ob sie wirklich eine besondere Vorliebe für die urwüchsigen Sprichwörter Mecklenburgs hegte –, Evchen nahm sich einmal des Leutnants und seiner Muttersprache sehr warm an.
Victor hatte eben für sich gesprochen. Der Dialekt sei das einzig richtige Deutsch, das noch den Duft des Ackers und des Waldes bewahrt habe. Überhaupt seien nur die Dialekte eine lebendige Sprache.
Da rief das Evchen darein: »Das Hochdeutsch, wie sie es sprechen müsse, komme ihr immer ausgestopft vor oder wie die Handschrift ihres Kalligraphie-Lehrers, die vor lauter feinen egalen Strichen gar nicht zu lesen sei. Sie stelle es sich himmlisch vor, auf einem Bauerngute zu leben und nicht die Hälfte von allem zu verstehen, was die Leute reden.«
Clemence war natürlich schon zum Frieden geneigt und versprach der Schwester mit einem herzlichen Kuß, das Hochdeutsche so rasch wie möglich wieder verlernen zu wollen. Victor aber gab sich nicht so leicht zufrieden, nachdem er einen so eifrigen Anwalt gefunden. Er klagte über der schönen Spötterin Ungerechtigkeit.
»Mir werfen Sie mein bißchen ehrliches Platt vor und haben für die sprachlichen Unarten anderer gar kein so feines Gehör. Da sitzt mein Freund Heinrich, freilich wieder so stumm, daß man ihm seine Sprachfehler nur schwer nachweisen kann. Lassen Sie ihn aber nur den einfachsten Satz sagen und Sie werden die fremdartige Dehnung der Vokale und die Schärfung des »S« sogleich bemerken. Der Mensch will Arzt sein und kann nicht einmal »Senfpflaster« richtig aussprechen. Und was tut da meine schöne Feindin? Ja, ich muß Sie denunzieren, so leid es mir tut. Sie hat sich das alles angewöhnt und spricht bald ein Deutsch wie meine freundliche Wirtin in Horzitz bei Sadowa, wo ich nach der Schlacht von Königgrätz zum erstenmal wieder ein derbes Stück Fleisch zu schmecken kriegte. Und nicht nur von der Betonung hat sich das gnädige Fräulein beeinflussen lassen. Ganze Worte hat sie sich von diesem Österreicher angewöhnt. Ich frage alle Anwesenden, ob Ihnen nicht auch schon wie mir, von Fräulein Clemence eine Wiener Schale Café anstatt eines Berliner Kaffees angeboten wurde?«
Während Clemence trotz ihres glühenden Errötens ihre Unbefangenheit zu wahren sich bemühte, stimmten die Gäste dem Sprecher übermütig bei, und nur Heinrich machte den Versuch, dem Mädchen zu Hilfe zu kommen. »Das war recht häßlich, Victor«, begann er erregt; aber schon wurde er mit verdoppelter Heiterkeit unterbrochen und mußte nur froh sein, daß auch Clemence in das Lachen einstimmte. »Das war recht häßlich« war nämlich für Clemence ein Lieblingswort, durch welches sie den höchsten Grad von Unzufriedenheit zu erkennen gab. Und nun mußte Heinrich sich die Redensart angewöhnt haben. Die Scherze über den Zufall, der das Wort gerade in diesem Augenblicke über Heinrichs Lippen gelockt hatte, konnten nur mit Mühe zurückgedämmt werden, und es dauerte lange, bevor das allgemeine Gespräch zu einem anderen Gegenstande überging.
Niemand hatte sich über den drolligen Zufall lebhafter gefreut als Frau von Auenheim. Sie lachte immer wieder von neuem, bis sie ganz rot im Gesicht wurde und die ungewohnte Farbe ihr den Schein der Jugend gab. Sie blieb auch den ganzen Abend munterer als sonst.
Am anderen Morgen jedoch wurde Heinrich schon um fünf Uhr mit der Meldung geweckt, Frau von Auenheim sei plötzlich gefährlich erkrankt und lasse ihn sogleich zu sich bitten.
Nach wenigen Minuten war Heinrich bei der Kranken. Im Hause herrschte große Unruhe. Der schöne Auenheim, mit einem prächtigen persischen Hausröckchen bekleidet, kam dem Arzte stürmisch entgegen. Der tüchtige Hausarzt, den Heinrich ja kenne, sei verreist, die arme Frau habe keinen fremden rufen lassen wollen. Heinrich solle nur hineingehen. Er selbst vertrage die Luft des Krankenzimmers und den Anblick seiner guten leidenden Frau nicht.
Als Heinrich leise die Tür zum Krankenzimmer öffnete, lag Frau von Auenheim mit geschlossenen Augen da. Die beiden Mädchen hielten die Hände der Kranken. Heinrich trat näher. Clemence erhob sich mit kummervollem, übernächtigtem Antlitz, die Kranke schlug die Augen auf und begrüßte den Arzt mit ruhiger Heiterkeit.
»Geht, Kinder«, sagte sie gütig. »Ihr seht ja, es geht mir besser. Die Krämpfe kommen gewiß nicht wieder. Und unser Doktor Wolff wird mir schon helfen.«
Gehorsam verließen die Mädchen die Stube. Heinrich begann ruhig und aufmerksam seine Untersuchung. Je trauriger das Ergebnis sich gestaltete, desto sorgsamer forschte der Arzt nach Möglichkeiten, die einige Hoffnung gewähren konnten. Vergebens. Noch niemals hatte er an einem Krankenlager mit solchem persönlichen Anteile gestanden, noch niemals so lange mit der Feststellung seiner Überzeugung gezögert. Endlich mußte er endigen, wollte er die Kranke nicht ungeduldig machen.
Jetzt setzte er sich neben das Lager nieder und sann über die Worte nach, die er sprechen sollte. Die Kranke aber blickte ihm traurig in die Augen und sagte leise:
»Geben Sie sich keine Mühe, Herr Doktor. Ich weiß doch alles. Ich war vor kurzem heimlich bei dem Professor, der nichts kennt als kranke Herzen. Der Herr ist nicht so jung und so gut wie Sie und hat mir auf meinen Wunsch nichts verschwiegen. Ich werden noch eine kurze Zeit leiden und dann einmal plötzlich tot sein.«
Und die Kranke schloß erblassend die Augen.
»Ihr Herz ist allerdings nicht normal...«, begann Heinrich tief erschüttert; aber die Frau schaute ihn schon wieder lächelnd an und sagte:
»Lassen Sie das! Ich wollte nur die Bestätigung, daß es keine Hilfe gebe, in Ihrem lieben Gesichte lesen. Nun ist's gut. Ich bin das erstemal über die Mitteilung erschrocken. Sie wissen, Alter schützt vor Torheit nicht.«
Ein langes Schweigen folgte. Heinrich hielt die Hand der leidenden Frau umfaßt und suchte vergebens nach einem Troste. Endlich begann die Kranke wieder:
»Ich freue mich nur über eins: darüber, daß mein Leiden nicht erblich ist. Nein, gewiß nicht, was Ihr Ärzte auch darüber denken mögt. Als ich heiratete, war ich gesund, glauben Sie mir's. Es brauchte viele Jahre, bevor ich mir langsam die Krankheit erwarb. Doch, das ist nichts Medizinisches. Das versteht nur die Frau eines schönen Mannes.«
Die Kranke hauchte die letzten Worte kaum hörbar hervor. Dann fuhr sie wieder heiterer fort: »Mein Tod wird keine allzu große Lücke in die Welt reißen. Meinem Vater wird's nah gehen, aber er hat seinen Bruno, und ich bin doch keine echte Egge mehr, seitdem ich von Auenheim heiße. Mein Mann... nein, er fühlt sich noch jung, er wird Lebenskraft genug besitzen. Meine armen Mädchen werden's verschmerzen, wie man immer den Verlust der Eltern verschmerzen muß. Wenn ich sie nur vor dem Abschied in sicherer Hut wüßte, in der Obhut braver tüchtiger Gatten.«
Die Kranke errötete leicht.
Auch Heinrich fühlte erglühend die Bedeutung des Momentes. Es war kein Zweifel, Frau von Auenheim hatte seine Liebe erraten und wollte mit ihm über die Zukunft der Tochter sprechen.
Was wird das nächste Wort der Kranken bringen?
Mochte kommen was immer, Heinrich war entschlossen, alle seine Kräfte der mutigen Frau zu weihen, die angesichts des Todes so ruhig ihr Haus bestellte.
Die Kranke schien auf eine bestimmte Antwort gehofft zu haben. Als Heinrich sie nur erwartungsvoll ansah, begann sie aufs neue:
»Für meine gute Clemence besonders wünschte ich einen ernsten, tätigen Genossen, einen gebildeten Mann, zu dem sie liebend emporblicken kann. Clemence ist schön wie ihr Vater und hat daneben auch manche Eigenschaft von meiner Mutter überkommen. Ich möchte nicht, daß auch das Herz meiner Clemence krank würde. Und ein Schwiegersohn mit einer bürgerliche Tätigkeit wäre mir lieber als ein Aristokrat ohne jeden Beruf.«
Da war's gesagt. Die Kranke schloß die Augen, um den Arzt nicht durch ihren Blick noch mehr zu verwirren. Heinrich konnte diese Sprache nicht mißverstehen. Es war kein Zweifel mehr: Die Mutter seines geliebten Mädchens verstand ihn, sie billigte seine Liebe, sie nahm an, daß Clemence auch einige Neigung für ihn empfand, sie wollte den Bund segnen.
Warum also verstummte er? Warum begnügte er sich damit, die Hand der verehrten Frau zu ergreifen und sie mit heißen Küssen zu bedecken, während seine Wangen von Tränen feucht wurden? Warum bekannte er nicht stolz und freudig seine Liebe? Warum rief er Clemence nicht herein an das Bett der todkranken Mutter, welche die Liebenden vereinen wollte? Wollte er einer aufgeregten Kranken sein Glück nicht verdanken? War er zu stolz, um den Tod als Freiwerber anzunehmen? Oder... oder wagte er es nicht, die verhängnisvolle Frage an Clemence zu stellen, solange auch Victor sich um ihre Hand bewarb? Fürchtete er, den Freund zu besiegen – oder fürchtete er gar, vom Freunde schon besiegt worden zu sein?
»Warum antworten Sie nicht« sprach jetzt Frau von Auenheim, indem sie besorgt und erstaunt zu ihm aufschaute.
»Sie lassen mich in den Himmel blicken«, rief er. »Aber darf ich denn glauben, hoffen, glücklich sein?«
»Ich verstehe Sie vielleicht nicht recht«, sagte die Kranke. »Doch – sprechen wir erst von Eva. Verzeihen Sie der alten kranken Frau, daß sie Sie mit ihren letzten Sorgen belästigt. Aber ich habe Sie recht lieb gewonnen, Herr Doktor, recht lieb. Evchen also macht mir schwere Sorgen. Sie würde ja, wenn mein Blick mich nicht täuscht, mit Ihrem Freunde, Herrn von Laskow, glücklich werden.«
»Victor und Fräulein Eva?« rief Heinrich überrascht.
»Das ist so mein Eindruck«, sagte die Kranke lächelnd. »Sie wundern sich wohl, weil Ihr Freund für die Schönheit meiner Ältesten nicht blind ist und weil Eva noch so jung ist? Glauben Sie nur den Augen einer... einer sehr kranken Mutter: Herr von Laskow kommt Evchens wegen hierher, und das Kind sieht ihn so gern, als ein so gutes und braves Kind eben einen liebenswürdigen Husarenoffizier sehen kann und darf. Aber es tut mir leid um die beiden. Evchen ist schon, ohne daß sie es weiß, versprochen und hat ihren zukünftigen Mann recht lieb, ebenfalls ohne es zu wissen. Mein Vater würde diesen Plan kaum aufgeben wollen. Doch was kümmern uns die Fragen, die noch gar nicht gestellt sind? Ihnen sei es genug, daß Ihr Freund meine Clemence mehr in seiner Einbildung liebt als in Wirklichkeit. Haben Sie mir auch dann nichts zu sagen?«
Heinrich konnte nicht länger an sich halten; er faßte die Hand der Kranken und stammelte, daß er Clemence liebe mit einer untilgbaren grenzenlosen Liebe, daß er es nicht gewagt habe, als einfacher Arzt um die Enkelin der vornehmen Egges zu werben, ohne ihrer Liebe gewiß zu sein. Und plötzlich verdüstert fügte er hinzu, daß er ohne diese Stunde niemals gesprochen hätte, weil bei der Familie auch noch ein anderes Vorurteil gegen ihn sprechen konnte als das seiner bürgerlichen Abkunft.
»Sie erschrecken mich«, rief Frau von Auenheim und richtete sich, auf ihren Arm gestützt empor.
»Es ist auch just nichts Schlimmeres als meine bürgerliche Abkunft, die ich ja wahrhaftig für keinen Makel ansehe. Ich bin nebenbei auch Jude.«
Die Kranke sank wieder lächelnd in ihr Kissen zurück.
»Ich meinte schon, Sie hätten irgendein Verbrechen begangen. Glauben Sie mir, lieber Heinrich, ich bin eine gute evangelische Christin. Aber je näher ich mich dem Himmel fühle, desto weniger kann ich es begreifen, daß dieser Himmel wie ein Theater viele verschiedene Eingänge für die verschiedenen Rangklassen haben soll. Und doch, Sie haben vielleicht Recht; es kann Schwierigkeiten geben. Lassen Sie mich jetzt allein, ich bin müde. Ich will ein wenig schlafen, und sobald ich erwache, will ich an Euer Glück denken. Nein, jetzt um Gotteswillen keinen Dank, keine Szene, ich bin zu schwach – Sie sind ja selber Arzt – besinnen Sie sich doch nur ein wenig. Lassen Sie mich allein!«
Heinrich verließ mit klopfendem Herzen das Zimmer. Es tat ihm weh, daß die Mädchen, welche ihn ungeduldig erwartet hatten, aus seinem verklärten Gesicht schlossen, es müsse der Kranken gut gehen, es wäre keine Gefahr vorhanden.
»Nein, es geht noch nicht besser«, sagte er zu Clemence. »Wer aber am Krankenlager dieser Frau steht, den überkommt bei aller Sorge etwas von der heiligen Heiterkeit, mit welcher Ihre Mutter die Schmerzen erträgt.«
Die Mädchen schluchzten, und Herr von Auenheim sagte, indem er liebevoll mit dem Finger über seinen bunten Rock fuhr: »Ja, sie macht es uns leicht, die gute Seele.«
Frau von Auenheim schien sich einige Tage nach ihrer Unterredung mit dem jungen Arzte wieder ein wenig zu erholen. Wieder konnten die Freunde des Hauses sich einige Male versammeln, wieder erschien das blasse Gesicht der Hausfrau unter ihnen; aber dem sorgenden Blicke Heinrichs entging es nicht, daß die Gedanken der Kranken nicht mehr auf der Erde weilten. Auch beklagte sich Clemence bei Heinrich über ihre Mutter; der Sanitätsrat sei zurückgekehrt und habe ihr sofort jede Anstrengung, vor allem das Schreiben verboten, Mama aber stehe eben jetzt mit Großpapa in einem lebhaften Briefwechsel. Gar so wichtig könne die Sache doch nicht sein.
Heinrich sprach selbst mit der Kranken, und sie gab ihm ihr Wort, nur noch eine Zeile, die letzte, zu schreiben. Sie fühle selbst, daß sie nicht mehr viel Kraft übrig habe.
So schrieb sie denn noch ihre letzte Zelle, und tags darauf kam der alte Herr von der Egge in seinem grauen Mantel, ernster und verschlossener als sonst, vom Lande herein. Die Kranke bat ihren Vater zu sich, und hinter verschlossenen Türen blieben sie fast drei Stunden zusammen. Und seltsam: Als der alte Herr das Krankenzimmer verließ, sah Clemence aus seinen Augen dieselbe wehmütige Heiterkeit leuchten, die sie erst vor kurzem an Heinrich wahrgenommen hatte. Es wurde dem Mädchen beklommen zumute, als der Großvater auf sie zutrat, sie sein liebes Kind nannte und ihren Kopf zärtlich zwischen seine Hände nahm.
Und wieder an einem frühen Morgen wurde Heinrich geweckt. Man hatte Frau von Auenheim tot in ihrem Bette gefunden.
Und Heinrich eilte hin an das Totenbett.
Die Mädchen waren nicht zu sehen. Nur der Hausarzt, der mürrisch auf und nieder ging, und Herr von Auenheim, der in seinem persischen Schlafrock auf dem Sofa saß und heftig weinte, empfingen ihn. Heinrich ließ sich vom Sanitätsrat zu der Toten geleiten.
Als er zurückkehrte, saß der verwitwete Mann noch immer weinend in seiner Sofaecke. Heinrich gab sich Mühe, ihm Trost zuzusprechen, doch ohne Erfolg. Immer reichlicher rannen die Tränen, und Herr von Auenheim wehrte ihnen nicht, sondern zeigte das feuchte Gesicht jedesmal, bevor er es abwischte, den Ärzten.
Endlich wurde der kleine Doktor Friedmann ungeduldig und sagte. »Sie müssen nicht so viel weinen, Auenheim, Sie sehen plötzlich um fünfzehn Jahre gealtert aus.«
Da fuhr Herr von Auenheim jäh in die Höhe und blickte erschreckt in den nächsten Spiegel. Seine Züge waren in der Tat entstellt. Als er sich in diesem Zustande schaute, schluchzte er erst eine Weile noch heftiger, dann aber machte er eine mächtige Anstrengung, kämpfte das Schluchzen nieder und wartete vor dem Spiegel ab, daß seine Züge sich wieder glätteten.
Der kleine Sanitätsrat nickte grimmig mit dem Kopfe und führte Heinrich mit sich fort, aus dem Trauerhause hinaus.
Bei dem prunkvollen Begräbnisse der Frau von Auenheim hielt Heinrich sich in gemessener Entfernung und sah nur über die Köpfe von hundert Leidtragenden hinweg die schlanke Gestalt des geliebten Mädchens, schwarz gekleidet, etwas gebeugt am Grabe der Mutter stehen.
Als er endlich wieder einen Besuch zu machen wagte, stand die Wohnung leer. Herr von Auenheim war mit seinen Töchtern zum Großvater auf das Gut Eggerwitz gefahren.