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Kurt kam am nächsten Morgen wieder, und Emma versuchte sich ein wenig ruhiger und gefaßter zu geben, als sie empfand. Es gelang ihr nicht sonderlich. Heiße Röte flog in ihre Wangen, wenn Kurt sie mit dem Finger berührte. Und wenn er, wie schon während ihrer ersten Unterredung, ab und zu wie geistesabwesend vor sich hinstarrte und auf ihre ängstlich entschuldigenden Reden nicht acht hatte, so konnte sie ihn so lange aus ihren großen Augen ansehen, bis ihr die Tränen hervortraten.
Kurt achtete nicht darauf. Es lag das vielleicht nur an seiner Eile. Auch dafür, daß er nicht der eifrigste, aufmerksamste Bräutigam war, daß er sich nicht beeilte, sie in seinen Kreisen vorzustellen, daß er auch für Besuche bei Emmas Verwandten und Bekannten keine Zeit hatte, sollte seine Eile eintreten.
Es drängte ihn so sehr, es war seinem ruhelosen Naturell so entsprechend, daß er die Hochzeit über sechs Wochen festgesetzt wissen wollte.
Niemand außer Emma glaubte ihm so recht, aber sein Wille geschah.
Der alte Isaak erheiterte sich nur für Augenblicke, wenn er bei Tische das still verklärte Gesicht seiner Tochter ansah; sein Sohn Julius wußte sich nicht wenig mit dem hochgeborenen Schwager, und da Julius fast ganz allein die Kosten des Bräutigamstandes tragen, sogar den Blumenhändler, der seiner Schwester nun täglich regelmäßig Bouquets ins Haus schickte, bezahlen mußte, so war ihm eine Beschleunigung der Hochzeit gar nicht unlieb.
Tina konnte mit keinem Menschen von dem sprechen, was in ihrer Seele vorging. Wohl hatte sie einmal daran gedacht, Heinrich ins Vertrauen zu ziehen, ihm ehrlich die entsetzliche Lage zu gestehen und um Emmas Willen seinen Schutz gegen den übermütigen Freier zu erbitten. Als der ernste Mann jedoch in gemessener Weise seinen Besuch machte und seinen Glückwunsch kühl und mit einem kaum wahrnehmbaren Ton der Sorge vorbrachte, da schämte sie sich ihres Wankelmuts und schwieg.
Um so energischer war sie bereit zu beschleunigen, was sie nicht zu verhindern wagte. Das Hochzeitsfest mußte natürlich bei ihr gefeiert werden. Und in ihren vielen Bemühungen, das Ganze nach ihrer Weise zur Genugtuung für ihre Hausfrauenehre und zum Schmuck ihres Salons herzurichten, vergaß sie erst auf Stunden, dann aber völlig, was dieses Fest für sie bedeuten mußte.
Und Emma? Je weniger sie allmählich sprach, desto feinhöriger horchte sie auf jede kleinste Veränderung in der Stimme des geliebten Mannes. Und auch sie freute sich aus mancherlei Gründen auf die nahe Hochzeit. Das Glück, ihm ganz anzugehören, wagte sie freilich nicht auszudenken; das wäre Wahnsinn, das wäre Raub an der Zukunft gewesen, Aber sie empfand mit ihrem Kurt, daß er sich in den Räumen des alten Lagerhauses, in den unbehaglichen, mit abgepfändeten Möbeln dicht gefüllten Stuben, wo er sie täglich, nein, fast täglich besuchte, nicht heimisch werden konnte, nicht heimisch in der Gesellschaft ihres Vaters. Ja, es war ruchlos von ihr, aber sie konnte nicht anders, sie mußte ihren Mann in einer seiner würdigen Umgebung für sich allein haben, um seiner ohne Scheu froh werden zu können.
So freute sie sich recht über die Eile, mit welcher Kurt alles betrieb. Er nahm sogar für vierzehn Tage, welche noch bis zum Hochzeitstage ausstanden, Urlaub, um seine ganze Familie, wie er sagte, zur Feier einladen zu können. Mit scharfer Betonung fügte er hinzu, seine Braut hätte in ihren Verhältnissen zu Gott und den Menschen sicherlich noch manches zu ordnen. Er wolle sie nicht stören. Und so reiste er ab, vorerst nach dem Gut des alten Egge.
Emma hatte den Teuren wieder rascher als alle anderen verstanden. ihr Übertritt zum Christentum mußte ja selbstverständlich vor der Hochzeit erfolgen. Kurt hatte das zwar nicht in ausdrücklichen Worten verlangt, aber er hatte ruhig die Kirche bestimmt, in welcher die Trauung stattfinden sollte und hatte dabei den alten Isaak so launig – der Alte sagte »giftig« – angesehen, daß ein Mißverstehen ausgeschlossen war. Emma faßte damals erregten Herzens den raschen Entschluß, ihren Glaubenswechsel vorzunehmen, ohne den altgläubigen Vater erst durch eine Beratung zu kränken; ihr selbst war das Judentum als Religion stets fremd geblieben, sie hatte den Vater nur mechanisch die alten Bräuche üben gesehen, und daß sie Kurt zuliebe Christin werden sollte, das schien ihr eine freudige Aufgabe, wie wenn sie ihr Hochzeitskleid selbst hätte nähen müssen. O, wie gern!
Unter den unfehlbaren Gästen ihrer Schwägerin befand sich ein evangelischer Geistlicher, Dr. Braumann, der ihr einmal während des Essens die Irrtümer des Judentums vorgehalten und sich gerühmt hatte, wie viele Juden schon durch seinen Eifer zum Ablegen ihres Unglaubens geführt worden wären. Schon damals hatte sie in ihren lebhaften Träumen immer den feisten Dr. Braumann vor sich gesehen, wie er sie in der Christenlehre unterwies und schließlich ihre und Kurts Hände ineinanderfügte. Jetzt beschloß sie, von der gefälligen Tina geleitet, den Judenbekehrer aufzusuchen und seine guten Dienste in Anspruch zu nehmen. Mit offenen Armen wurde sie aufgenommen.
In einer Viertelstunde waren alle inneren Schwierigkeiten beseitigt, und Tina hatte Mühe genug, sich selbst dem Glaubenseifer des freundlichen Predigers zu entziehen. Emma aber lernte wie in ihrer Kindheit alles, was Dr. Braumann von ihr verlangte, und da sie ein weiches Gemüt besaß und manche Forderung der Evangelien wörtlich mit den Lehren zusammentraf, die sie einst als fleißige Schülerin empfangen hatte, so vollzog sich der Glaubenswechsel bei ihr ganz unmerklich. Mit ihrem Bekenntnis stand es zwar noch schwach; aber Dr. Braumann war kein strenger Dogmatiker, er verlangte weniger die Teilnahme des Verstandes als des Gefühls und gab der jungen Christin einige mystische erbauliche Schriften in die Hand. So träumte sich Emma rasch in ein eigentümliches, herzliches Christentum hinein, das aus pietistischen, nationalistischen und echt evangelischen Elementen bunt genug zusammengesetzt war; doch sie war glücklich darin und erwartete in ernster Seligkeit die Rückkehr ihres Bräutigams.
Kurt hatte bei dem unerschöpflichen Julius eine neue, große, letzte Anleihe gemacht und mit dem Geld in der Tasche die Stadt verlassen. Er ließ sich aber Zeit, bevor er auf Eggerwitz erschien. Zuerst reiste er nach einer kleinen märkischen Stadt, in welcher sein früheres Regiment stand. Dort versuchte er durch nobles keckes Auftreten seine ehemaligen Kameraden zu dem alten Ton zu zwingen. Es gelang nur unvollständig; der Oberst und die anderen höheren Offiziere waren für ihn nicht zu sprechen. Nur unter den jungen Leuten fand er einige lustige Brüder, welche geneigt waren, die lärmende Gastfreundschaft anzunehmen, mit welcher er in der kleinen Stadt bald Ärgernis erregte.
Schon nach wenigen Tagen mußte er jedoch bemerken, wie sich einer nach dem andern zurückzog, als ob das Treiben des Zurückgekehrten »oben« nicht mit günstigen Augen angesehen würde.
Kurt knirschte vor Wut; er durfte nicht einmal wagen, einen der Abtrünnigen, der Feiglinge und Streber, wie er sie hinter ihrem Rücken nannte, offen zu beleidigen. Das Schrecklichste stand ihm dann wohl bevor: Er wollte es nicht erleben, für »nicht satisfaktionsfähig« erklärt zu werden.
Glücklicherweise war es nun die höchste Zeit, wenn er den Alten noch aufsuchen wollte. Kurt fürchtete sich wie ein Knabe vor dem Blick des Familienoberhauptes, aber es mußte sein. Kurt kaufte für sein letztes Geld einen Fuchs und ritt die drei Meilen nach Eggerwitz hinüber. Das junge Pferd fühlte während des raschen Rittes den bisher verhaltenen Zorn seines Reiters.
Als Kurt gegen Mittag endlich die hohen Pappeln, welche das stattliche Wohnhaus von Eggerwitz umgaben, vor sich sah, nahm er die Zügel fester in die Hand und ritt langsam näher. Da knallte plötzlich ein Schuß, der den Fuchs beinahe scheu gemacht hätte.
Links von der Allee, auf dem kleinen Eggerwitzer See, stand ein schlanker Jüngling allein in einem bedenklich schaukelnden Boot und vergnügte sich offenbar damit, sich im sicheren Schießen auf schwankendem Boden zu üben. Jetzt erblickte er den Reiter, hielt die Hand über die Augen und rief laut: »Willkommen, Onkel Kurt!« herüber. Kurt antwortete mit einem wilden Fluch und ritt weiter.
So lebte also Bruno, der Liebling des Alten. Wenn dieser Junge nicht war oder wenn er plötzlich ins Wasser fiel und versank, wenn ihm sonst ein Unfall zustieß – Kurt hielt unwillkürlich an und faßte nach der Pistole im Halfter –, dann war Kurt von der Egge der einzige männliche Sproß dieses Hauses, dann mußte der Alte wohl doch ihn als seinen Erben anerkennen, dann brauchte er Emmas schmutziges Geld nicht, dann war er der Meister seines Schicksals! Und die alte dumme Geschichte? Bah, der Herr von Eggerwitz würde schon mit der Vergangenheit fertigzuwerden wissen.
Kurt richtete sich hoch im Sattel auf und zog die Pistole hervor. Er wußte wohl, daß die kleine Kugel nicht auf die halbe Entfernung trug; aber mit bösem Lächeln zielte er zu seinem Spaß auf den verhaßten Jüngling, der nun die Ruder rührte, um nicht zu spät im Hause einzutreffen. Kurt drückte ab und steckte die Waffe ärgerlich lachend wieder ein. Bruno aber hatte den Schuß für einen Gegengruß des Hauptmanns gehalten und rief abermals ein Willkommen hinüber.
Indessen gab Kurt seinem Pferde schon die Sporen und war binnen wenigen Minuten auf dem Hofe angelangt. Dort übergab er seinen Fuchs rasch einem Tagelöhner und eilte ins Haus; er mußte den Alten überfallen, wenn er gewiß sein wollte, vorgelassen zu werden. Er klopfte kurz an und trat, ohne auf die Erlaubnis zu warten, in die große schmucklose Wohnstube.
Hier saß Herbert von der Egge in seinem Arbeitskittel, den weißen Kopf mit einer Landwehrmütze bedeckt, vor einem Wirtschaftsbuche und rechnete. Als er den Gast erkannte, fuhr er überrascht auf und richtete sich steif in die Höhe.
»Hoho, ist Matthäi am Letzten, daß man zum Onkel Herbert gelaufen kommt? Doch verzeih, ich bin der Wirt. – Hannes, eine Bouteille vom Rotgesiegelten. Rasch – und dann mach, daß Du fortkommst, Hannes, und dem Pferde auch gutes Futter gibst. – Was willst Du von mir, Kurt?
»Ich heirate morgen und komme, Sie zur Hochzeit einzuladen.«
»Was Du sagst! Du heiratest! Und morgen schon? Geht ja recht eilig. Ist aber doch schön; ich hätte nie geglaubt, daß Dich noch eine nimmt.«
»Großvater!«
»Willst Du vielleicht gar den Empfindlichen spielen? Nun, Du hast recht, ich bin der Wirt. Also es wundert mich gar nicht, daß Du heiratest, wenn Dir's so lieber ist. So so, darf ich auch fragen, wen Du heiratest? Natürlich nicht aus unserem Kreise, natürlich, versteht sich. Aber wo hast Du Dir denn Deine Braut hergeholt?«
»Ich habe sie bei Auenheims kennengelernt«, sagte Kurt mit herausforderndem Lachen.
»Bah! So – Junge, Du hast doch nicht meine schöne Clemence gewonnen? Dann soll...«
Der alte Herbert stand erregt auf. Aber schon war Kurt mit purpurrotem Gesicht aufgesprungen und rief: »Wenn Sie mich verspotten wollen, so gehe ich wieder!«
Der Alte ging einige Mal stumm auf und ab; dann blieb er vor Kurt stehen und sagte gütig: »Nichts für ungut, Kurt! Verzeih mir der Himmel, mir kam aber in diesem Augenblick der verwünschte Einfall wieder. Wir Alten leben zu sehr in der Vergangenheit. Du weißt ja, Kurt, früher warst Du zum einstmaligen Haupt der Familie bestimmt und solltest darum die Clemence heiraten. Das war früher.«
»Quälen Sie mich nicht!«
»Als es dann nicht mehr möglich war, mußte ich mich an Bruno halten. ich hab's nie vor Dir verleugnet, daß ich mit dem Tausch sonst ganz zufrieden war. Bruno soll auch das Evchen heimführen, ja, guter Stamm soll beieinander bleiben; wir sind nicht katholisch. Da geht denn die Clemence leer aus, und wenn ich Dich so vor mir seh', so schlank und frei und – Donnerwetter, so äußerlich ganz ein Egge, da fällt es mir wieder einmal ein: Es wär ein schönes Paar geworden! Wer einmal ein Egge war, der kann nicht ganz verlorengehen, und wenn eine es vermöchte, Dich wildes Roß zu lenken, Clemence vermöchte es, die liebe Nonne die.«
Herbert stützte seinen Kopf auf die Hand. Auch Kurt schwieg einigermaßen bewegt. So hatte er sich den Empfang nicht vorgestellt; er glaubte in dem Alten seinen unerbittlichen Feind zu sehen und hatte sich auf einen ernsten Kampf gefaßt gemacht. Nun sah er, daß die lange Fernhaltung viel verändert hatte. Der alte Chef des Hauses zeigte noch immer die frühere Unerbittlichkeit. Aber es war kein Zweifel, der alte Herr war weichmütiger geworden. Kurt wollte seinen Vorteil wahren, rückte dem Alten näher und reichte ihm die Hand hin. Da fuhr der Alte aus seinem Sinnen auf und, ohne die dargebotene Hand zu berühren, fragte:
»Wen heiratest Du?«
»Eine Jüdin.«
»Auch das noch!«
»Natürlich wird sie Christin.«
»Einerlei. Der Vater?«
»Nun, ein Jude!«
»Wie vornehm Du das sagst. Ein Jude! Die Egges haben ihre Grundsätze bisher nicht vom Pöbel geborgt. Wer wie ich die Befreiungskriege mitgekämpft hat, der weiß den Menschen in jedem Kleide zu schätzen. Oh, es gibt Juden und Juden! Deine Großtante, meine selige Mutter, war eine Französin, nicht wahr? Und Du weißt ebenso, wie ich die Franzosen hasse. Und nun – Juden sind noch lange keine Franzosen. Schnell, wer sind Deine neuen Verwandten?
»Der Bruder ist eine Art Getreidehändler.«
»Landmann und Getreidehändler, das gehört zusammen«, lachte der Alte ungeduldig. »Aber der Vater, der Vater!«
»Was liegt denn am Stande des Vaters! Nach Deinen liberalen Prinzipien sind die Kinder für das Leben der Eltern nicht verantwortlich zu machen!«
»Kurt! Reize mich nicht, Junge! Wenn der Vater ein armer Schlucker ist – meinetwegen! Ist er aber reich und heiratest Du sein Geld – still –, so kommt es doch darauf an, ob ein anständiger Mann es anfassen darf oder nicht. Woher kommt das Geld Deiner Braut? Die Wahrheit! Ich bin nicht leichtgläubig.«
Kurt zuckte höhnisch die Achseln.
»Ich sagte es Ihnen ja; er ist ein Jude, ein Wucherer, was weiß ich? Ein Herr Feigelbaum.«
Der alte Freiherr stand langsam und feierlich auf und sprach, die Fäuste auf den Tisch gestützt, mit kühler Höflichkeit wie ein Fürst, der eine lästige Audienz beenden will:
»Nehmen Sie meinen pflichtschuldigen Glückwunsch entgegen, Freiherr Kurt von der Egge. Sie werden mich entschuldigen, wenn ich mit Rücksicht auf meine gebrechlichen Kräfte« – der Alte lachte dabei grimmig und ließ die rechte Faust wie einen Hammer auf die Tischplatte fallen – »darauf Verzicht leiste, der Trauung als Zeuge beizuwohnen. Auch werde ich in Ihrem Hause niemals essen können. Ich fürchte mich vor dem Silberzeug des Herrn Feigelbaum. Und so wird Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin nichts anderes übrig bleiben, als auch mich nicht zu besuchen.«
Der Alte verbeugte sich, als wäre Kurt entlassen. Der biß sich auf die Lippen und wandte sich zum Gehen. Er hatte schon die Türklinke in der Hand, da wandte er sich noch einmal um:
»Ist das Ihr letztes Wort? Auch in bin ein Egge und wahrhaftig nicht der am wenigsten Starrsinnige. Und wenn Ihr mich alle auf die Straße stoßt, einer alten dummen Geschichte wegen, so sollt Ihr noch erfahren, daß auch ich von den Egges abstamme, die einst auf den Straßen mordeten!«
»Drohungen?« schrie der Alte außer sich. »Ich aber bin nicht feig und schwach und verliebt wie die arme Bäckerstochter, die sich von Dir einschüchtern ließ, als sie Dich ins Zuchthaus bringen konnte! Hinaus, wenn Du drohen willst!«
Sofort schlug Kurt einen anderen Ton an.
»Ihr treibt mich zur Verzweiflung«, rief er schmerzvoll aus. »Meinen Sie denn, Großvater, es falle mir so leicht, dieses gute Judenmädel zu heiraten? Aber es ist die einzige Rettung für mich. Ich habe kein Haus, keinen Beruf, kein Geld! Ihr werdet mir das alles nicht geben! Unsere Welt will nichts von mir wissen! Wo finde ich anderswo ein Mädchen, welches mehr für mich täte, als mich mit ihrer Liebe beglücken. Diese Emma wird mich retten; sie gibt mir ein Vermögen und ein Haus. Das alles zu verwalten – ist schon ein Beruf für mich Vagabunden! Ich werde wieder aufatmen! Aber ich brauche meine alte Welt, um in dieser Umgebung nicht trotzdem zu ersticken. Wenigstens meine Familie wird, darf mich nicht fallen lassen!«
Der Alte hatte teilnahmsvoll zugehört.
»Du bist ein guter Schauspieler«, sagte er. »Geh zu Auenheims, sie sollen Deiner Trauung beiwohnen. Mein Herr Schwiegersohn mag mich meinetwegen auch vertreten. Ich aber, ich werde mit der Frau von Egge, geborne Feigelbaum, nie ein Wort zu sprechen haben, niemals!«
Kurt ging finster davon. Unten auf dem Hofe traf er Bruno, der nicht müde wurde, den feurigen Fuchs zu bewundern. Kurt wollte den langweiligen Weg bis zur Eisenbahnstation, von wo er in zwei Stunden Berlin erreichen konnte, zu Wagen zurücklegen. Einem plötzlichen Einfalle folgend machte er seinem Neffen das prächtige Tier zum Geschenk. Der Bursche sollte sich auf dem Rücken des bösen Tieres nur tüchtig herumtummeln. Bruno vergaß fast zu danken, so sehr war er von dieser Großmut verblüfft. Kurt aber fuhr davon und stieß zwischen den Zähnen hervor:
»Vielleicht erhalt' ich morgen noch vor der Trauung ein Telegramm, daß der Kerl den Hals gebrochen hat; dann wär' das Pferd bezahlt. Ach was, es ist ein Einsatz wie ein anderer.«
Und als er einige Monate später von Bruno einen Dankbrief bekam des Inhalts, der Fuchs sei jetzt famos zugeritten und so zahm, daß Bruno ihn während der freiwilligen Dienstzeit – Bruno wollte auf der Flotte als Matrose dienen – der Cousine Clemence zur Verfügung gestellt hatte, da lachte Kurt auf und sagte nur: »Den Einsatz verspielt.« –
Die Trauernachricht traf also vor der festgesetzten Stunde nicht ein; Kurt mußte nach Berlin eilen, sich die Teilnahme derjenigen Personen zu sichern, die er zu Zeugen seiner Hochzeit machen wollte. Er ging vor allem zu Auenheims, an welche er gleich nach der Verlobung geschrieben hatte. Die Damen sagten ihre Gegenwart ohne weiteres zu, und auch der Vater ließ sich gern überreden.
Tina war es in den letzten unruhigen Tagen vor der Vermählung vollends gelungen zu vergessen, was zwischen ihr und dem Bräutigam vorgefallen. Sie lebte nur für den großen Hochzeitsball, bei welchem die vornehmen Auenheims ihr Haus besuchen mußten, bei welchem auch die Zurückhaltenden von Kurts Freunden sich einstellen wollten. Sie hatte diesen seltenen Gästen zu Ehren die Einladungsliste oft und oft verkleinert und dadurch stets verbessert. Nur in wenigen Ausnahmefällen durften die Namen der reichen Geschäftsfreunde stehenbleiben. Großer Reichtum galt für diesen Tag nichts, wenn er nicht wenigstens durch ein paar hübsche Töchter, einen Orden oder Titel entschuldigt war. Dagegen wurde ängstlich alles versammelt, was Kunst und Geist bedeuten wollte und konnte.
Zwei Tage lang hatten Julius und Tina nichts anderes zu tun, als bald gemeinsam, bald getrennt überall da Besuche zu machen, wo eine Zusage Schwierigkeiten kostete. Julius befand sich nicht wohl dabei; die jungen Künstler machten so seltsame Gesichter, wenn er ein falsches Zitat aus »seinem« Schopenhauer vorbrachte. Und anstrengend war dies ganze Treiben, so anstrengend, daß Julius zweimal täglich die Wäsche wechseln mußte. Und durch das Wäschewechseln wurde die Sache ja nur noch anstrengender. Es sei ein cercle vicinal, klagte er schmerzlich.
Tina aber war fröhlich. Alles gelang. Auf diejenigen Gäste, welche für sie die Zierde ihres Salons bedeuteten, durfte sie rechnen. Als Zeugen ihres Triumphs mußten mehr als hundert andere kommen; sie mußte heute beneidet werden.
Schon gestern bei dem bürgerlichen Trauungsakte hatte sie eine Probe ihres Talents abgegeben. Wie nett hatte der Beamte ihr zuliebe die Promenadenzeit zur Vornahme der feierlichen Handlung bestimmt; wie prächtig hatte sich der Wagenzug gemacht, der mit einem ganz kleinen Umwege die Siegesallee berührte. Das Wetter war köstlich. Und ihre Standesamts-Toilette! Das war kein Einfall mehr, das war eine Dichtung! Das dunkle Kleid mußte dem Beamten sagen: »Ich nehme Dich nicht für voll! Ich bin nur provisorisch. Morgen erst ist Hochzeit. Da die Ziviltrauung aber einmal eingeführt ist, so will ich Dir doch zeigen, wie eine vornehme Dame auf dem Standesamt erscheint.«
Heute, am Hochzeitstage, war Tina die bescheidene Hausfrau, welche man neben der schwer geschmückten, von dem Reichtum ihrer Juwelen fast erdrückten Braut nicht bemerken sollte. Sie konnte nichts dafür, wenn man sie doch bemerkte, wenn schon in der Kirche aller Augen auf sie gerichtet waren, wenn beim Diner sogar der Bräutigam die verwirrte Braut einigemal verließ, um der guten Hausfrau mit warmen Händedrücken seinen Dank so lebhaft auszusprechen, daß sie rot wurde, und daß ihr Nachbar, der schöne Auenheim, sie mit der Wirkung necken durfte, die sie wie eine Helena sogar auf alte Herren – sein Lächeln sagte, daß er sich selbst meinte – ausübte.
Der schöne Auenheim fühlte, daß er neben der üppigen Frau glänzte und mit ihr ein wirklich malerisches Bild abgab. Jeder mußte das zugeben. Sogar Julius, der Frau von Auenheim zu Tische geführt hatte, sagte, daß die Egges alle schöne Leute seien, daß seine Frau ihnen jedoch nichts nachgebe. Und Frau von Auenheim lächelte dazu milde wie zu allem, was Julius zu ihr redete, während er stöhnend innerlich den Toast überlegte, den er als Vertreter seines Vaters sprechen mußte. Der alte Isaak saß abseits zwischen zwei prächtig frisierten Kommis festgebannt, er durfte nicht laut reden, damit niemand auf ihn aufmerksam würde. Erst als die Braut sich einmal weinend erhob und sich dem Alten an die Brust warf, fiel es den Hochzeitsgästen ein, daß dieser seltsame Herr, der keinen Bissen berührte, seine lauernden Blicke feindlich über die Tafel schweifen ließ und ab und zu mit häßlichem Grinsen an seinem Frack oder seiner weißen Binde riß, der Vater des Hausherrn war.
» Soyons amis, Tina!« hatte Kurt zu Tina gesagt, als er das letzte Mal an sie herangetreten war.
Und Tina hatte sich froh mit ihm versöhnt. Sie sah schon den Kavalier bei seinen einstigen Kameraden in Gnaden aufgenommen, sah ihn seine alten glänzenden Verbindungen wieder anknüpfen, sah ihn dabei der schönen Schwägerin, der Tina Feigelbaum, vielleicht einmal der Tina »von« Feigelbaum zu Füßen liegen, sah mit ihm seinen ganzen aristokratischen Anhang in ihren Salons sich drängen. Die Brillanten in ihren kleinen Ohren zitterten, die wundervolle Halskette von Smaragden und Topasen hob und senkte sich; Tina genoß in ihrer Vorstellung die Zukunft und warf nur einen überlegenen Blick auf ihren Julius hinunter, der mit seinen Künsten Frau von Auenheim zu gefallen suchte. Lächerlich!
Doch er konnte wenigstens nichts verderben. Frau von Auenheim war eine gute Dame ohne Energie, überdies offenbar recht kränklich. Von ihr hatte Tina nichts zu fürchten. Nur die jungen Damen waren von Bedeutung für sie, und diese mußten eine Genugtuung erfahren für den peinlichen Zufall, der ihnen heute eine so unglückliche Nachbarschaft gegeben hatte.
Tina entschuldigte sich deshalb immer wieder beim schönen Auenheim, der stets mit einer herablassenden Bewegung seiner zierlichen Hand anzudeuten schien, daß es ihm bei einer so ungewöhnlichen Gelegenheit auf einen Verstoß mehr oder weniger nicht so genau ankomme.
Als Auenheims vorfuhren, hatte »der Graf«, der vornehmste Freund Kurts, eben im letzten Augenblick absagen lassen. Und der Graf sollte doch Clemence zu Tische führen! Tina war für den Moment außer Fassung. Wen als Tischherrn für die schöne Verwandte des Bräutigams ausfindig machen? Hatten doch alle irgendwie ansehnlichen Herren schon ihre Damen am Arm. Tina klagte der Frau von Auenheim im ersten Schrecken das Unglück, als eben Heinrich Wolff herzutrat und die Damen begrüßte. Tina selbst dachte einen Augenblick daran, daß Heinrich sie aus der Not erlösen könnte. Aber es ging nicht. An ihren kleinen Landsmann, einen wenig bekannten Armenarzt, der nach Schätzung ihres Julius kaum von zwei Kommerzienräten konsultiert wurde, konnte doch nicht die »beste« Dame verschwendet werden. Mit der Nachbarschaft der schönen Clemence mußte einer der schwierigsten Kavaliere belohnt und zum häufigen Wiederkommen aufgemuntert werden. Heinrich brauchte überhaupt keine Dame. Er war weder berühmt noch lustig noch reich. Daß Tina ihn privatim immer noch ein bißchen lieb hatte, durfte sie nicht für die Interessen ihres Salons blind machen. In der Verzweiflung dachte sie sogar an Bumcke. Bumcke hatte sich beklagt, daß man ihn ohne Dame gelassen. Wenn sie ihm nun die gute, bescheidene Frau Auenheim zuwies und Julius für Clemence frei wurde? Der alte Feigelbaum würde sich ärgern!
Da löste Frau von Auenheim in ihrer kindischen Gutmütigkeit die Frage. Sie bat Heinrich mit Erlaubnis der Hausfrau, er möchte ihre Tochter zu Tische führen. Tina konnte nichts einwenden, und Heinrich reichte Clemence den Arm. Schon hing aber Evchen an der anderen Seite. Sie lasse sich von Clemence nicht trennen.
So wurde denn Heinrich mit seinen beiden Damen aufs beste gesetzt. Die Anwesenheit seiner kleinen Verehrerin, des plaudernden Evchen, kam ihm sehr erwünscht. Er hatte freilich die Einladung nur angenommen, um nach beinahe zwei ganzen arbeitsvollen Jahren die schöne Clemence wieder einmal lächeln zu sehen; jetzt aber fürchtete er die Frage, die nicht ausbleiben konnte: warum er die Familie Auenheim nicht mehr besuchte? Was konnte er antworten? Sollte er die Augen vor der Zukunft verschließen und sich dem Zauber hingeben, der aus den Augen des Mädchens mächtig über ihn hinströmte? Sollte er ihr sagen, daß er sie liebte?
Er wußte zwar selbst nicht, seit wann, er wußte nicht wie sehr. Er war sich seiner Empfindung aber doch klargeworden, als vor einigen Minuten Clemence in den Saal getreten war. Das war Liebe! Wie wenn ein Kranker an einem frischen Maimorgen erwacht: Das Fieber ist verschwunden, die Sonne scheint herein, als ob es immer so sein müßte, und nur eine wohlige Müdigkeit lehrt ihn, daß die Sonne ihn erst noch vollends wird heilen müssen. Er hätte es sich ja längst sagen können, daß er sie liebte, wenn er nur den Mut gehabt hätte, sich danach zu fragen. Was aber sollte er jetzt antworten, wenn sie nach dem Grunde seines Ausbleibens fragte?
Sie fragte nicht. Sie richtete überhaupt kein Wort geradezu an Heinrich. Was sie sprachen, bezog sich alles auf das liebe Evchen. Und Evchen, die zum ersten Male in ihrem Leben eine Gesellschaft mitmachte, hatte so viel zu fragen, daß Clemence und Heinrich wohl gar nicht dazu kamen, miteinander zu reden.
Evchen konnte sich an der Gesellschaft nicht satt sehen. Sie wollte wissen, ob bei jedem Feste so viel komische Leute beieinander wären und ob sie überall solchen gewaltigen Hunger hätten. Sie wollte sich totlachen, als Julius Feigelbaum zu reden begann und zum Schluß seines Toastes sich plötzlich an den Namen seiner Schwester nicht erinnern konnte, sondern bloß sagte »Kurt von der Egge und Emma – Emma – Emma –, und als die Hälfte der Gäste lustig einfiel und rief »Emma Feigelbaum!«
Erst als Evchen müde wurde, zu plaudern und zu lachen, fragte sie ihn mit einem herzigen Vorwurf im Ton: »Warum kommen Sie denn gar nicht mehr zu uns, Herr Doktor? Es ist zu langweilig ohne Sie. Wie Sie und der boshafte Leutnant noch in unserer Wohnung krank lagen, war's am schönsten bei uns. Warum kommen Sie nicht zu uns?«
»Ich habe so wenig Zeit, liebes Fräulein«, sagte Heinrich zu Eva gewendet, aber deutlich genug, daß es auch Clemence hören mußte. »Ein Arzt gehört seinen Patienten und darf nicht seinem Vergnügen leben.«
»Ach, das ist aufgeschnitten«, rief Evchen. »Nicht wahr, Clemence, Du glaubst auch nicht, daß der Doktor Wolff so schrecklich viele Patienten hat?«
»Aber Evchen!«
»Ja, jetzt kannst Du heucheln und »aber Evchen« rufen; aber erst vor acht Tagen hast Du geradeso geredet wie ich.« Und Evchen verzog ihren Mund und sagte, indem sie den Tonfall und den Augenaufschlag der älteren Schwester, dann wieder die sanfte Sprache der Mutter nachzuahmen suchte: »Ob wohl Doktor Wolff auch da sein wird? Er hat sich lange nicht blicken lassen. – Du mußt ihm nicht böse sein, Clemence, er hat wohl zu viel zu tun. – Das kann es nicht sein, Mama. Er hat nur wenige Kranke und verreist im Sommer auf viele Wochen. – Woher weißt Du das? – Ach, unser kleiner Sanitätsrat hat's mir erzählt, ich weiß nicht, warum.« Und in ihrer natürlichen Redeweise fuhr Evchen fort: »So denkt Clemence über Sie. Wenn ich's Ihnen aber ehrlich ins Gesicht sage, dann heißt es gleich: Aber Evchen!«
Jetzt erst bemerkte sie, daß sie etwas Schlimmes angerichtet haben mußte, denn Heinrich kehrte ihrer Schwester fast den Rücken zu und schaute der kleinen Plaudertasche mit einem aus Freude und Verlegenheit gemischten Gefühle in das kluge Gesichtchen, Clemence hatte sich errötend über ihren Teller gebeugt und machte sich mit einigen Kirschen zu schaffen. Evchen erschrak und sagte: »Das hätte ich wohl wieder nicht erzählen sollen? Warum sprichst Du zu Hause auch nur so oft vom Doktor Wolff?«
Clemence errötete noch tiefer, erhob aber jetzt ihren Kopf und wandte sich an Heinrich, der mit keiner Miene zu verraten wagte, was er empfand, und darum recht unverständig vor sich hinsah. Clemence zog dem Schwesterchen ein ganz, ganz leises Mäulchen, dann schlich aber wieder ihr Lächeln von den ersten Augen hinab zu den Mundwinkeln, und sie sagte mit freundlicher Ruhe: »Ich hatte einen besonderen Grund, Ihr Ausbleiben oft zu bedauern. Mama ist nicht gesund. Sie will's zwar nicht eingestehen, und unser Doktor darf ihr gar nicht von einer gründlichen Kur reden. Ich aber fühl' es doch, sie ist nicht recht gesund. Da hätte ich gern einmal Sie gebeten, Mama im Stillen zu beobachten und im Notfalle Ihren Einfluß anzubieten, daß Mama ein wenig auf sich achtet. Mama hält viel von Ihnen.«
Nun hätte Heinrich zwar aus allen seinen Himmeln fallen sollen, weil diese Erklärung nur den Arzt, gar nicht den Menschen anging; es lag aber in der Stimme des Mädchens etwas, was Heinrich nötigte, seinen mit edelstem Rauenthaler gefällten Römer zu ergreifen und mit Clemence auf irgend etwas anzustoßen, das er nicht nannte und sie darum nicht verstehen konnte. Sie neigte jedoch ganz leise ihr Köpfchen, als ob sie sich erst besinnen wollte; dann erhob sie ihr Glas, es klang zusammen, und während Heinrich fast feierlich seinen Wein austrank, nippte Clemence von dem ihren, wie eine Schwalbe sich im Fluge ein Tröpfchen Wasser holt. Die Augen der beiden aber blieben bis zum Ende dieser ganzen stummen Unterhaltung fest und freundlich aufeinander gerichtet.
Als man von Tische ging, eilte Clemence zu ihrer Mutter, und Evchen erzählte – was eigentlich gar nicht richtig war –, daß Herr Doktor Wolff versprochen habe, von jetzt ab häufig zu kommen. Nun schalt ihn auch Frau von Auenheim wegen seiner bisherigen Untreue aus, und Heinrich mußte ganz ausdrücklich sein Wort geben, schon in den nächsten Tagen vorzusprechen. Dann stellte es sich heraus, daß die Mädchen nicht tanzen durften. Evchen war noch zu jung, und Clemence sollte dem Schwesterchen das Herz nicht schwer machen. Nun freute sich Heinrich erst recht. Er war ein schlechter Tänzer und durfte jetzt mit der Familie Auenheim – nur Papa ließ sich von den schönen Frauen Angenehmes über sich und seine Töchter sagen – in einem stillen Winkelchen des Wintergartens niedersetzen und von dort aus unter freundlichen Gesprächen durch die Glasscheiben in das bunte Treiben des grell erleuchteten Gartens hinausblicken.
Es ging überall fröhlich genug zu, aber man konnte nicht sagen, daß es nur eine heitere Gesellschaft sei, die sich's in den stattlichen Räumen wohl sein ließ. Es hatten sich größere und kleinere Gruppen gebildet, zwischen denen nur einzelne gewandte Herren ein Fühlung herstellten.
Das Orchester war auf der Veranda eingerichtet, so daß sowohl in den Sälen als auch im Garten nach den neuen beliebten Weisen getanzt werden konnte. Drinnen im großen Saale ging es ziemlich steif zu. Da wurde von den Mitgliedern der reichen Finanzwelt ein förmlicher Ball abgehalten, bei welchem die hübschen Tanzordnungen, die Orden und Kotillonsträußchen zu Ehren kamen. Die Toiletten waren so prächtig, die Mädchen und Frauen so anregend, daß die adeligen Herren sich gar nicht aus den heißen Räumen entfernen mochten.
Im Garten hatten sich inzwischen die Künstler und Künstlerinnen niedergelassen, und mancher ältere Bankier, dessen strahlende junge Frau sich im Saale von einem Freiherrn den Hof machen ließ, flüchtete hierher, um mit einer übermütigen Sängerin nach seinem Geschmack zu plaudern. Zahlreiche Gäste wiederum, welche zu wenig Bekannte oder zu wenig Übung hatten, um sich an den großen Verbänden zu beteiligen, gingen entweder stumm und gekränkt bald da, bald dorthin oder schlossen sich vor einem der stattlichen Buffets zu kleinen Kneipgesellschaften zusammen, in denen die Hausfrau öfter leben gelassen wurde, als der Selbstbeherrschung der Begeisterten gut war.
Auch Doktor Stropp ging einsam in dem Gewühl umher. Er war bei seiner schlechtesten Laune. Er war eigentlich immer schlechter Laune, sooft er von einem reichen Manne bewirtet wurde und dabei heimlich seine bejammernswerte Lage verglich. Heute wußte er überdies, daß er den guten Julius Feigelbaum wieder um eine große Summe werde angehen müssen und daß der Bankier sie ihm ohne weiteres schenken werde. Das machte ihn wütend. Zwei fürchterliche Augenblicke standen ihm bevor: Er mußte einmal »ich bitte« und zum zweiten »ich danke« sagen. Er haßte den guten Julius nach jedem gelungenen Anlehen nur noch grimmiger.
Als Stropp in seinem verhaltenen Zorn schon vor einem Buffet neben einigen fremden Herren Platz genommen hatte, trieb ihn ein Toast auf Frau Tina hinweg, den der junge Buchhalter des Hauses Feigelbaum, ohne den Arm des alten Isaak loszulassen, mit schwerer Zunge lallte. Dr. Stropp knirschte etwas wie »Hundeseelen« zwischen seinen gelben Zähnen hindurch und flüchtete, nicht ohne vorher eine volle Champagnerflasche und ein Glas an sich genommen zu haben. Er wollte sich mit der kleinen Erfrischung auf die Veranda zum Orchester zurückziehen, wo er vorhin ein leeres Plätzchen ausgespäht hatte.
Doch auch hier war ihm jemand zuvorgekommen. Ein kleiner dicker Herr mit roten schlaffen Wangen, die wie Backentaschen aussahen, saß da vor einer Flasche Heidsieck und lüpfte eben stöhnend seine aschblonde Perücke. Stropp wollte sich fluchend sofort wieder zurückziehen, als der Unbekannte ihn erblickte und im gröbsten Berliner Dialekt herüberrief:
»Kommen Sie man immer 'ran, Dokterchen. Sie haben sich ja ooch sone Pulle for 'ne jesundheitspolizeiliche Untersuchung gelangt. Flüssigkeit hätte ick Ihnen nich abjetreten. Aber was Festes zu 'ne Unterlage sollen Sie haben. Hier is noch en Fohtellch. Sitzen Sie ihn man durch.«
Doktor Stropp wollte sich mit einem verächtlichen Blick wieder entfernen. Der andere ließ sich jedoch nicht abschrecken:
»Sie können sich ruhig bei mir neben setzen, Herr Doktor. Ick bin keener, vor den Sie mit Ihre schöne Seele zurückzuhalten brauchen. Ick mag ooch nischt von diese janze Judenbagage wissen. Trinken wir'n Jlas uf Juliussen seinen Krach. Nieder mit die Juden!«
Stropp setzte sich. Das war einmal ein neuer Fluch, in welchem sich seine ewigen Geldsorgen Luft machen konnten.
Er hatte es in der letzten Zeit mit den Sozialisten versucht und an zwei Abenden recht vergnügt auf die Kapitalisten geschimpft. Das hatten ihm aber die verdammten Bourgeois selbst übel genommen, ihn einmal beinahe in der Klemme steckenlassen und schließlich nur mit einer Verwarnung herausgezogen.
Auch war mit den Sozialisten nicht leicht verkehren. Es waren darunter anspruchsvolle Narren, welche dem herablassenden Doktor Stropp in seine Vergangenheit hineinblicken wollten, phantastische lächerliche Menschen das, die an ihre Ideen wahrhaftig selber glaubten, für sie sterben und verderben wollten und dem neuen Freunde nicht gleich zu trauen schienen.
Und er hatte wahrhaftig nicht die Absicht, sich diesen Verrückten mit Haut und Haar zu verschreiben, wenn sie ihn nicht wenigstens auf der Stelle als ihren Führer anerkennen und ihm durch ihre Macht zu Ansehen verhelfen konnten. Nein, wenn keine der Parteien von Doktor Stropp etwas wissen wollte, so mußte er sich eine neue schaffen. Er suchte schon lange nach einer neuen Fahne, um welche man ein paar Dutzend Leute scharen konnte. Darum hatte ihn der letzte Ruf des freundlichen dicken Herrn so lebhaft ergriffen. »Nieder mit den Juden« – das klang zwar sehr, sehr niedrig, sehr pöbelhaft, aber – bah! Doktor Stropp durfte nicht wählerisch sein.
»Sie sind dem Hausherrn und seinen Glaubensgenossen nicht freundlich gesinnt, lieber Herr«, sagte er vorsichtig, indem er sich mit herablassendem Gruße neben dem Dicken niederließ.
»Na, glauben Sie denn, es macht einem ehrlichen Christenmenschen ne große Freude, sone Selterflaschen zu zehn Mark intus zu nehmen, wenn man weiß, wo's Geld dazu hergekommen is? Der alte Feigelbaum – na, den sollten Sie kennen, ein jüdischer Halsabschneider schlimmster Sorte, ein Kerl, wegen dem sich alle Jahr mindestens ein Dutzend Menschen im Tiergarten aufhängen. Und solche Geschäfte haben diese Pulle bezahlen helfen. Uff! Is des 'ne Hitze! Prost Dokterchen!«
Beide tranken. Doktor Stropp hatte das Gefühl, als ob ihm unerwartet eine neue Fernsicht gezeigt worden wäre; so lebhaft malte er sich in seinem erfindungsreichen Kopfe schon die Bewegung aus, an deren Spitze er sich zu stellen gedachte, eine Bewegung gegen die jüdischen Reichen. Daß ihm das nicht von selber eingefallen war! Es schien doch in der Luft zu liegen! Ein so einfacher Mann, wie dieser behäbige alte Herr, dachte gar nichts anderes. Doktor Stropp wurde sehr freundlich, wenn er auch seinen zurückhaltenden Ton nicht aufgab.
»Im wesentlichen kann ich Ihnen nicht Unrecht geben, lieber Herr, wenn wir auch gerne alle Überzeugungen achten und alle Religionen nach Verdienst ehren wollen. Allerdings aber ist es für einen Volksfreund, wie ich es bin, betrübend zu sehen, welche Anziehungskraft selbst das übelriechendste Geld auf alle Gesellschaftskreise unserer verblendeten Stadt ausübt. Die Doppelkronen dieses Julius Feigelbaum sind wirklich von niedriger Herkunft; und doch könnte ich sie selbst in meiner Tasche von konservativem Golde nicht unterscheiden. Und das geschieht am grünen Holze! Blicken Sie doch einmal hinein in den Saal und hinunter in den Garten. Ist das nicht der leibhaftige Tanz um das goldene Kalb?«
»Nu, Dokterchen, mir kommt es schon eher vor – wenn ich mir nämlich Juliussen dabei ansehe – wie 'ne Polka um den goldenen Ochsen!«
»Sehr gut, lieber Herr, Sie haben Witz«, sagte Stropp, indem er kräftig lachend näher heranrückte. »Kennen Sie aber auch die Leute, welche hier ihr Heiligstes verleugnen, um ein paar Stunden lang auf Kosten dieses Börsenhais schlemmen und prassen zu können? Sie kennen sie nicht! Da haben Sie Vertreter alter Adelsgeschlechter! Ich bin persönlich Demokrat, aber wer von Adel ist, sollte doch auf dieses Glück etwas halten! Und was wollen die Leute hier? Der da, der lange Geck, der durch einen tänzelnden Gang zu verbergen sucht, daß ihn sein wohlerworbenes Rückenmarkleiden nicht mehr geradestehen läßt, angelt mit Greisenitzens Hilfe nach einer reichen jüdischen Braut. Der junge Attaché dort macht seit Monaten einer schönen Bankiersfrau den Hof, ist noch immer nicht zum Ziele gekommen und macht deshalb in jedem Hause des Tiergartenviertels Visite, wo die schöne Melanie verkehrt. An dem Tage, wo der Attaché nicht mehr öffentlich neben der Bankiersfrau zu finden ist, können Sie sicher sein, daß er sie heimlich sieht. Die beiden dicken Barone da und der alte Präsident dazu – schauen Sie sie genauer an und Sie werden bemerken, daß sie alle schlecht passende, geliehene, geschenkte oder im Laden fertig gekaufte Kleider am Leibe sitzen haben –, die kommen nur her, um besser zu essen und zu trinken, als es ihnen ihre Mittel zu Hause oder im Restaurant erlauben. Und unser lieber »Graf«! Wissen Sie nicht, wovon der lebt? Ich glaube fast, er bezieht von ein paar Börsenspielern und reich gewordenen Lieferanten eine feste Jahresrente dafür, daß er bei ihren Gesellschaften erscheint und als »Herr Graf« vorgestellt werden kann. Er lebt von seinem Titel.«
»So is ihm sein Titel doch zu was gut«, warf der Dicke ein, indem er, vergnügt über die unverhoffte Unterhaltung, sich und dem neuen Freunde ein frisches Glas einschenkte.
»Und mit unserer Künstlerwelt steht's um nichts besser«, fuhr Doktor Stropp fort, der allmählich in ein fast rednerisches Pathos überging und sich an seinem eigenen Reden berauschte. »Unsere stolze Sängerin, welche in den ersten Häusern nicht leicht zur Mitwirkung bei einem Konzerte zu haben ist, preßt dort ihren ungeheuren Körper in die Sofaecke, weil Herr Feigelbaum ihr Bankier ist und ihr Vermögen sich unter seinen Händen vermehrt wie das Fett ihres Leibes. Diese Virtuosen und Sänger und Schauspieler schicken nach jeder Gesellschaft, die sie in dieser Gegend besucht haben, ihre Rechnungen ein. Sie werden dafür bezahlt, daß sie freundlichst mitessen und mittrinken. Sogar einen Maler haben wir hier, einen Professor, bei welchem die armen jungen Akademiker lernen sollen, wie man die Größe des Vaterlands zollweis auf die Leinwand bringt und der hier allen Leuten schön tut, damit ihm Julius Feigelbaum sein neues Bild teurer abkauft, als der allzu materialistische alte Adel es bezahlen will. Und die Schriftsteller! Sie werden hier mit den Austern und den Schmeicheleien der eitlen Börsenweiber so üppig gefüttert, daß sie bald für eine andere Gesellschaft nicht mehr passen. O über diese Elenden, welche flüchtigen Genüssen zuliebe ihren Stolz so weit vergessen, bei Leuten zu schmarotzen, welchen bei uns alles unrein vorkommt! Sie sind schlimmer als die Juden selbst; sie sind nicht Feinde, sondern Verräter, Überläufer und Spione aus unserem eigenen Lager! – Ich bitte, noch ein Glas, lieber Herr!«
»Nu, nu, lieber Dokter, werden Sie nich gleich so grob. In Ihrem famosen Eifer haben Sie jütigst vergessen, daß ick ooch mang diese Verräter bin. Denn ich schütte doch ooch Juliussen seinen Champagner man so runter, und Sie leisten mir ja ganz sachte dabei Jesellschaft. Also man ruhig mit das von den Spionen. Wissen Sie, Dokterchen, was können wir denn Besseres tun, als diese reichen Juden arm trinken? Julius sein Magen verträgt lange nicht so viel wie seine Kasse. Also müssen unsere germanischen Kehlen ihre Pflicht tun. Nee, lassen Sie man, det is ganz jut, daß wir hier sind. Wir ruinieren das Judentum schon. Was mir aber besonders fuchst, das is was ganz anderes: daß diese verdammten Juden sich für ganz was Besonderes halten! Und ist nicht der letzte christliche Straßenkehrer noch eher unseres Gleichen als so 'ne aufgekratzte und aufgebürstete, belesene und musikalische Judenfrau? Wenn so'n Judenkerl Geld hat, gleich kriegt er's mit die Bildung, kauft Bücher und Tinte und Papier, schickt seine Jöhren in zehn Schulen uf eenmal und nimmt womöglich noch selber heimlich Unterricht im Lesen, Schreiben und Bilderbegucken. Das sollte verboten werden! Dann könnte sich der Amtsrichter, bei dem ich vor kurzem in einer Geldangelegenheit vorgeladen war, nicht mehr über mein richtiges Berliner Deutsch lustig machen, dann könnte die schöne Frau Tinaleben nicht ihre krumme Nase über unsereinen rümpfen, dann könnten unter uns nicht so verdammte Schufte herumlaufen, denen man's nicht mal mehr anhören kann, ob sie Juden sind oder nich. Ein Unterscheidungszeichen zwischen uns und den Juden muß sein, das sag' ich!«
Stropp schüttelte dem Genossen herzlich die Hand.
»Wir haben nicht das letzte Mal miteinander gesprochen, lieber Herr! Sie sollen wissen, daß es ein guter Geist war, der uns heute hier zusammengeführt hat. Sie haben einen Samen in mein Herz gelegt, welcher dereinst aufgehen soll zur Freude aller Gerechten; denn was ich im Kopfe zu tragen pflege, das wird groß. Nun aber sagen Sie mir auch, wer Sie sind. Mich scheinen Sie zu kennen, da ich als einflußreicher Publizist...«
»Ja, Sie sind der Doktor Stropp, Zuchthauslehrer, Zeitungsschreiber und Projektemacher. Ick weiß. Ick aber bin Bumcke. Bumcke, in Firma: Feigelbaum und Bumcke.«