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Als Heinrich zu Beginn des Winters seine Vaterstadt verließ, war es ihm, als erwache er frisch und fröhlich nach einem langen, tiefen Schlafe. Seine Lehrzeit war vorüber! Das »Dr.« auf seinen Karten kümmerte ihn wenig, daß er aber die letzte Prüfung abgelegt hatte, die ihn zu einem arbeitsamen Leben nach freiem Ermessen berechtigte, das kam ihm jetzt so recht deutlich zum Bewußtsein, da er frohen Mutes auf die Wanderschaft ging.
Die Welt sehen! Nicht die Freude an Abenteuern zog ihn hinaus. Er wollte lernen, fleißiger, gewissenhafter, ununterbrochener lernen als in den Hörsälen Leipzigs. Aber es war doch ein ander Ding, wenn er jetzt in Paris seine Empfehlungsschreiben abgab und von den bedeutendsten Ärzten achtungsvoll als junger Kollege begrüßt und in ihre Kliniken und Operationssäle geführt wurde – wenn er im nächsten Jahre eine wissenschaftliche Expedition an die Küste des Mittelländischen Meeres begleiten durfte – wenn er im folgenden Sommer die Verhältnisse Londons studierte. Unbeirrt blieb er seinem Vorsatz getreu, sich nicht zerstreuen zu lassen und unablässig an seinen zukünftigen ersten Patienten zu denken – seinen Ideal-Patienten, dem er dereinst, ausgerüstet mit allen Kenntnissen und Erfahrungen der zivilisierten Welt, kühn entgegentreten wollte.
Und warum nur der zivilisierten Welt? Waren nicht die Kräuterweiber seiner Heimat die Lehrerinnen manches tüchtigen Landarztes geworden? Hatte er nicht auf seinen Reisen allmählich einen bescheideneren Begriff von der Unfehlbarkeit der Kulturländer erhalten?
Und, als der Antrag an ihn herantrat, einige neugierige englische Touristen als ihr Arzt und Gelehrter nach dem nordwestlichen Afrika zu begleiten, da überlegte er nicht lange, sagte zu und schnürte sein Bündel. Ein Testament brauchte er nicht zu machen. Er stand ja allein auf der Welt, so mutterseelenallein, daß es für jeden anderen als einen Afrikareisenden zum Verzweifeln gewesen wäre. Doch auch der Afrikareisende empfand es bitter, daß er seinen Entschluß keinem Sterbensmenschen mitzuteilen hatte als dem uralten Großvater drüben in der Prager Judenstadt.
Als er nach Ablauf eines Jahres gebräunt, gestärkt, männlicher und frischer wieder nach Europa zurückkehrte, als er vor der Rückkehr nach Deutschland noch einmal sein altes Prag mit herzlicheren Gefühlen und milderem Sinn aufsuchte, da war auch hier niemand mehr, der nach ihm fragte. In dem wackligen Hause der Zaikerlgasse, welches nun ihm gehörte, lebte als treue Verwalterin, sie selbst dem Tode nahe, die lange Babette. Der Großvater war eines Nachmittags, während er den letzten Brief des Enkels las, wie gewöhnlich eingeschlummert, aber nicht mehr aufgewacht. Er hatte tags vorher zum erstenmal in seinem Leben geklagt: über seine nun abnehmende Sehkraft. Es sei zwar kein Gegenstand, hatte er gesagt, lesen sei gut, nicht lesen sei besser.
Und die lange Babette erzählte noch viel von dem alten Herrn. Aber auch sie hatte ihre Munterkeit und ihre Heftigkeit eingebüßt, seitdem sie in dem düsteren Hause allein war. Sie konnte nicht mehr schlafen, seitdem Herr Wolff nebenan nicht mehr hustete – sie konnte nicht mehr essen, seitdem sie für Herrn Wolff nicht mehr kochte – sie konnte nicht mehr in Aufregung geraten, seitdem Herr Wolff sie nicht mehr mit seinem »kein Gegenstand« beruhigte.
»So soll mir Gott helfen in meiner Sterbestunde«, sagte sie, »es wäre mir lieber, Herr Wolff säße hier mit Ihnen, und ich läge draußen auf dem guten Ort. Gott, was hab' ich vom Leben! Niemand ist hier, mit dem man reden könnt'. Sie sind fortgelaufen, was weiß ich, zu den Menschenfressern! Und die Tina hat sich aus Gram lassen überreden zu heiraten einen großen Spekulanten aus Berlin. Was weiß ich, vielleicht ist sie nach Berlin gegangen, um Sie dort zu treffen, ja Sie, Heinrich! Was sehen Sie mich so an? Es wär' gewesen ein Glück für Sie beide, wenn Sie hätten geheiratet die Tina. Sie hat gemacht eine feine Partie. Aber wer wird mir schenken das schwarze Seidenkleid, was mir hat versprochen Herr Kolliner? Es ist geworden eine neue Welt, wo die jungen Leut' reisen zu den Menschenfressern, um zu machen eine Heirat aus Liebe. Natürlich, wo die Menschen, mit Respekt zu melden, nackt herumgehen, da braucht man nicht zu schenken Seidenkleider an gute alte Freundinnen.«
Heinrich kaufte der kindischen Frau, wonach sie sich sehnte, und ließ sie mit ihrer Freude allein.
Und als er den Fuß auf deutschen Boden setzte, da erfuhr er erst, was er im Auslande wohl so in den Blättern gelesen, aber nie recht deutlich verstanden hatte. Deutschland erstand. Der alte Traum, unter dessen Zauberbanne auch er manches Glas geleert und manches Lied gesungen hatte, wurde Wirklichkeit. Und eben jetzt, da er versuchen wollte, sich zurecht zu finden und alles inzwischen Geschehene zu fassen, da grollte es zwischen Deutschland und dem alten Widersacher, als ob ein Entscheidungskampf bevorstände um Deutschlands Ehre und Deutschlands Größe.
Und der große Krieg brach aus. Wieder war Heinrich bereit, den Verwundeten seine Dienste zu weihen, aber es war anders als damals in Prag im Kloster der Piaristen.
Umsonst sagte er sich, daß das Vaterland überall der treuen Hände bedürfe, daß er auch in einer stillen Tätigkeit in friedlichen Städten nützlich werden könne. Unerbittlich zog es ihn hinaus ins Feld, wo blutig um die Zukunft, um die Unabhängigkeit gekämpft wurde. Er fühlte sich ein säumiger Schuldner seiner Volksgenossen, solange nicht eine Kugel ihn traf oder doch an seinen Ohren vorbeipfiff. Und als er die Möglichkeit wahrnahm, als Militärarzt mitten im Feuer, vom Tode umdroht, mit dem Tode um das Leben zu kämpfen, da war kein Besinnen möglich. Jubelnd zog er den Soldatenrock an, und stillfreudig tat er seine Pflicht. Offiziere und Soldaten freuten sich ihres unermüdlichen Arztes, der ohne Tollkühnheit doch nirgends fehlte, wo man seiner bedurfte.
Der Feldzug nahte freilich seinem Ende, als Heinrich endlich dazukam. Er fühlte die Pflicht, die Ermüdeten abzulösen und seine frische Kraft zu brauchen.
Jenseits der Loire war's, fern von der Hauptmacht. Keine hundert Schritte vor ihm stand das Bataillon im heftigen Feuer und beschäftigte den Feind, während sich hinten ein Husarenregiment zu einem neuen Angriff sammelte. Der erste Anprall war abgeschlagen worden. Er hatte viele Opfer gekostet. Die Ambulanz war unter Heinrichs Führung beschäftigt, die Verwundeten fortzuschaffen.
Drüben lag ein hübscher junger Leutnant ohnmächtig in seinem Blute, sein totes Pferd auf ihm. Mit Mühe wurde er von der Last befreit. Heinrich konnte in der Schnelligkeit nur sicherstellen, daß die linke Hand durch einen tiefen Säbelhieb verletzt war und auch von einer Kopfwunde das Blut niederfloß. Er half den jungen Offizier aufrichten. Da öffnete dieser stöhnend die Augen, schaute dem Arzt mit wirrer Miene ins Gesicht und flüsterte: »Ich werd's nicht wieder tun. Seien Sie mir nicht mehr böse. Die Jüdin war so schön!« Und die Augen schlossen sich wieder.
Bevor Heinrich noch recht wußte, was er denken sollte, hörte er schnelle Kommandorufe. Er hatte keine Zeit aufzublicken. Er ahnte nur unklar, daß dem Feinde von der rechten Seite Verstärkung gekommen sein mußte, daß das eigene Bataillon seine Stellung veränderte. Das Schießen wurde heftiger, kam näher. Plötzlich ein stechender Schmerz, irgendwo im Kopfe oder an der Hüfte. Heinrich sank ohnmächtig neben dem Leutnant hin.
Dann kamen schlimme Tage. So oft Heinrich aus seinem Wundfieber erwachte, sah er außer dem phantasierenden Leutnant keinen Deutschen um sich. Offenbar waren sie in feindlichem Gebiet zurückgeblieben; und feindlich war jeder Blick, den man ihnen schenkte, freundlich nur jeder Dienst geleistet, der ihnen von den frommen Wärterinnen erwiesen wurde.
Das dauerte lange, sehr lange. Es war grausam, unter schadenfrohen Feinden vielleicht sterben zu müssen, noch grausamer, über das Ende des schrecklich schönen Krieges nichts zu erfahren.
Eines Morgens aber – die Blicke der Leute waren noch böswilliger geworden als sonst – wurde die Tür geöffnet, und ein preußischer Militärarzt, begleitet von einigen bayerischen Soldaten, trat ein. Heinrich war gerade bei Besinnung, aber er konnte nicht sprechen. Doch die Tränen traten ihm heiß in die Augen und dem fremden Landsmann auch. Es war der Führer eines Sanitätszuges, der in den von den Deutschen geräumten Landestellen nach versprengten Verwundeten suchte.
Mit liebender Vorsicht wurden die beiden Kranken nach dem Wagen gebracht. Wenn auch das Fieber sich am ersten Tage ein wenig verschlimmerte – was schadete das jetzt? Es ging ja der Heimat zu. Auch der Kamerad, der schwer verwundete Leutnant, kam jetzt zum Bewußtsein. Es war richtig Victor von Laskow, der kecke Freiwillige aus Prag. Heinrich schloß mit ihm innige Freundschaft, während der Sanitätszug, der indessen seine Aufgabe gelöst hatte, die Rückreise antrat.
Die beiden wurden bis Berlin gebracht, wo sie im Hause eines Freiherrn von Auenheim Ruhe und Pflege fanden.
Die beiden Betten standen nebeneinander an der Längswand eines wohnlichen stillen Zimmers. Die Verwundeten konnten, ohne sich anzustrengen, miteinander plaudern und einander auch die Hand reichen. Nur so viel Raum war zwischen ihnen gelassen, daß die Pfleger bequem hindurchgehen konnten.
Der kleine, immer unruhige Hausarzt der Familie, der Sanitätsrat Friedmann, der sie jetzt in Behandlung nahm, machte niemals ein bedenkliches Gesicht. Er tröstete Heinrich, dem eine Kugel in den Oberschenkel gedrungen war, sofort damit, daß seine vollständige Heilung nur von der Zeit und von vollkommener Ruhe abhinge. Er nickte zu dem Zustande Victors bloß mit dem Kopfe und traf ruhig seine Anordnungen. Als aber nach einigen Wochen Victors Fieber nachließ, da konnte der kleine Doktor doch nicht umhin, nachträglich zu bemerken, daß er für das Leben des Husaren keine Liebeszigarre mehr gegeben hätte. Jetzt wäre aber die Gefahr überwunden, wenn man vernünftig sein und sich recht sehr schonen wollte.
Für Heinrich begann nun eine fröhlichere Zeit. Sein Zustand war durchaus nicht so schlimm, und nur die unabänderliche Ruhelage, die ihm verordnet worden und die er auch selbst als geboten erkannte, hatte ihn durch die unausbleibliche Langeweile trübselig gestimmt. Nun aber hatte er für jemand zu sorgen, noch dazu für einen sehr launischen Kranken. Heinrich war nun Patient und Krankenwärter zu gleicher Zeit. Täglich hatte er den ungeduldigen Leutnant durch Plaudern zu beschwichtigen und auf eine baldige Genesung zu vertrösten. Am besten gelang dies, wenn er mit seinem tiefen weichen Organ zu ihrer beider Freude etwas Gutes vorlas. Da mußte Victor stille schweigen. Wenn das Buch ihn fesselte, so hatte Heinrich das Spiel gewonnen; wenn Victor aber einschlief, so lächelte Heinrich vor sich hin, las für sich weiter und war's so auch zufrieden. Die lebenden deutschen Schriftsteller und englischen Dichterinnen las er gewöhnlich zur Erheiterung des Freundes vor, seinen lieben Spinoza aber, der in einer hübschen lateinischen Ausgabe auf dem Nachttisch lag, nur zum Einschläfern.
Heinrich wurde in seinem Pflegewerke trefflich unterstützt. Anfangs hatte ein fremder Wärter Tag und Nacht an Victors Bett zugebracht, dann stand ein Diener des Hauses vollständig zu ihrer Verfügung. Überdies verging kein Tag, ohne daß die Verwundeten Besuch erhielten. Nach dem Frühstück regelmäßig, mitunter auch noch einmal des Abends erschien der Hausherr in tadelloser Gesellschaftstoilette, ging vom einen zum anderen, nannte sie mit einem gewählten patriotischen Worte und ging wieder, nachdem er jedesmal dasselbe versichert hatte: Er wünsche ihnen in seinem eigenen Interesse keine allzu rasche Genesung, hoffe aber das Gegenteil.
Auch Frau von Auenheim ließ sich täglich auf einige Augenblicke sehen. Hinter ihr sprang oft ein kleines allerliebstes Mädchen von etwa zwölf Jahren herein, das Evchen gerufen wurde. Zwischen dem Kinde und den Kranken knüpfte sich bald eine innige Freundschaft. Man nannte einander »Du« und Victor, der entschieden bevorzugt wurde, durfte der Kleinen hie und da von dem Obst zu naschen geben, das neben ihm stand. Und Evchen wollte sich totlachen, wenn sie die Apfelschale am Ende über den Kopf hinwegwarf und nach ihrer Behauptung regelmäßig ein schönes B oder ein noch schöneres E zum Vorschein kam. Als einmal Victor sie ein kleines naseweises Ding nannte, rächte sie sich, indem sie dem Verwundeten, der sich nicht regen durfte, einige sanfte Nasenstüber gab.
Mit Heinrich war sie lange nicht so intim. Er durfte ihr zwar bei ihren französischen Aufgaben helfen, aber ihre Achtung erwarb er durch seine Hilfe nicht.
»Ich habe mir alle Verwundeten so vorgestellt wie Onkel Victor«, rief sie einmal ärgerlich, als Heinrich einen falschen passé défini verbessert hatte. »Du bist gar nicht lustig wie ein Verwundeter, Du bist wie ein Lehrer.«
Auch die näheren Freunde des Hauses kamen häufig, um den Kranken die Zeit zu kürzen. Aber nicht alle diese Herren waren ihnen gleich angenehm. Der eine benutzte das Krankenzimmer nur als Durchgang, um der angesehenen Familie häufiger seinen Besuch machen zu können; der zweite brachte – namentlich Victor – durch sein Geschwätz zur Verzweiflung; ein dritter gar schien nur der Zigarren wegen zu kommen, die er sehr sorgfältig behandelte, ohne sich darum zu bekümmern, ob der Rauch im Krankenzimmer erwünscht war oder nicht. Die Freunde hatten Zeit genug, ihre stillen Beobachtungen zu machen. Doch all die Fremden reizten ihre Wißbegier nicht so sehr wie die Mitglieder der Familie, bei der sie so freundliche Zuflucht gefunden hatten.
Es tat ihnen weh, aber sie empfanden für ihren Gastfreund, den schönen Eberhard von Auenheim, nicht dasjenige Wohlwollen, das die Dankbarkeit ihnen vorschreiben wollte. Sie hüteten sich wohl, jemals ein böses Wort über ihn miteinander zu sprechen, aber oft begegneten sich ihre lächelnden Blicke, wenn der Hausherr sie nach einer liebenswürdigen Verbeugung verließ.
Eberhard von Auenheim war ein schöner Mann und wußte das. Das Unglück war nur, daß er sich um nicht viel anderes zu kümmern schien als um diese Kenntnis. Er war wirklich, trotz seiner fünfzig Jahre und der paar grauen Härchen, die er recht kokett sichtbar machte, ein so bildhübscher Mann wie je einer in dem durch Schönheit berühmten Geschlechte derer von Auenheim. Kein Fältchen verunstaltete seine herrliche weiße Stirn. Die Farbe seiner Wangen war gesund, ohne auch nur eine Spur zu viel Röte zu besitzen. Der Mund, die Zähne, die fein umrissenen Augen, die kleinen feingliederigen Hände – alles war allerliebst wie an einer Wachspuppe. Es verstand sich von selbst, daß ein Auenheim sich zu kleiden wußte. Wenn ein Stäubchen am Rock haften geblieben war, so nahm Herr von Auenheim es fort, vorsichtig und liebevoll, nicht anders, als wenn eine Mutter eine Fliege von ihrem schlafenden Kinde scheucht. Doch die wirklich edle Natürlichkeit in der Haltung des schönen Mannes konnte einigermaßen mit seiner Eitelkeit versöhnen. Freilich durfte man den Beau nur nicht in Gegenwart seiner Frau betrachten oder gar mit ihr vergleichen. Frau von Auenheim war in der Mitte der Dreißig. Sie mochte kränklich sein; jedenfalls hatte ihre einstige Schönheit stark gelitten, und es gab Tage, an denen man sie gar nicht mehr für eine junge Frau gelten lassen konnte, Tage, an denen sie der schöne Eberhard mit einer Zartheit behandelte, die bald etwas von einem Vorwurf, bald etwas von Mitleid hatte. Auch waren die einzelnen Teile ihres Gesichts nicht so ebenmäßig gebaut wie bei ihm, die Nase nicht ganz so zierlich geschnitten, die Ohren nicht ganz so klein, und um die Augen und um den Mund spielten schon einige Fältchen. Wenn aber diese Augen und dieser Mund nur zu einem Lächeln ansetzten, so hatte Herr Eberhard gut sein allerliebstes Bärtchen streichen, er kam mit seiner ganzen interesselosen Schönheit gegen dieses ergreifende Lächeln nicht auf.
Das kleine Evchen sah der Mutter ähnlich. Ihre ältere Schwester, von welcher Evchen mit schwärmerischer Verehrung sprach, hatten die Freunde nie zu sehen bekommen.
Zur Familie gehörten noch einige Besucher des Hauses, deren Beziehungen zueinander und zu Auenheims nicht ganz klar zu durchschauen waren. Der Großpapa, der Vater der Frau von Auenheim, ein Herr von der Egge, kam einige Male vom Lande herein. Ein rätselhafter Herr. Er trug immer denselben Mantel, dessen unerhört dilettantenhafter Zuschnitt und dessen verschossenes, verfärbtes Tuch auf Armut des Trägers hätte schließen lassen. Und wie ein Bauer legte er das sonderbare Stück auch in der Stube nicht ab.
Sein Benehmen gegen die Verwundeten war immer gleich zuvorkommend, gegen Victor besonders fast anmutig, sein Auftreten im Hause frei und selbstbewußt. Er brachte einmal seinen Großneffen mit, einen aufgeweckten Jungen namens Bruno, der als Großpapas Liebling draußen auf dem Gute Eggerwitz lebte und für seinen zukünftigen Beruf vorbereitet wurde, den Beruf: das Haupt der Familie von der Egge zu werden. Der schöne Eberhard erschien neben dem verschossenen Mantel stets etwas gedrückt, fast wie ein armer Sünder; dagegen begegnete die Frau des Hauses ihrem Vater äußerst herzlich, und Evchen jubelte nur so, wenn Großpapa eintrat.
Kurt von der Egge, ein entfernter Vetter der Hausfrau, der die Verwundeten sonst täglich besuchte, blieb regelmäßig fort, wenn Großpapa in Berlin war. Nur einmal trafen beide unversehens zusammen, und die Begegnung sah unerfreulich genug aus. Der alte Herr übersah den Gast vollständig. Als Kurt endlich mit einem bösen Blicke laut grüßte, wandte sich der Alte halb herum und sagte kurz:
»Sie auch da, Herr von der Egge? Sie machen sich hier wohl um das Vaterland verdient? Wie schmecken die Kranken-Zigarren?« Und Kurt war für den Alten nicht weiter da.
Dieser Kurt war ein recht angenehmer Gesellschafter, und die Kranken dankten ihm seine Beständigkeit. Aber es war kein Zweifel darüber möglich, daß Kurts Stellung weder zum Hause noch zur Gesellschaft als eine ehrenvolle angesehen wurde. Namentlich Victor hatte für gewisse Anzeichen einer sozialen Ablehnung ein empfindliches Gefühl. Heinrich war eher geneigt, da eine Ungerechtigkeit anzunehmen, wo Victor die Folgen irgendeines schweren Fehls vermutete.
Niemand duzte sich mit Kurt, der bei seinen vierzig Jahren schon Offizier außer Diensten war, den Krieg nicht mitgemacht hatte, offenbar nicht viel Vermögen besaß und doch in Berlin als Privatmann lebte. Herr und Frau Auenheim waren gegen ihn freundlich, aber ein wenig zu auffällig duldsam, die jüngeren Hausfreunde kameradschaftlich, aber sie nahmen sich gegen den älteren Mann manches heraus.
Das Verhältnis zwischen den Verwundeten und dem Hause hatte sich nach Monaten noch nicht herzlicher gestaltet. Schon sprachen sie, wenn sie allein waren und bald auch offen davon, nicht länger zur Last zu fallen. Aber das wollte der Hausherr nicht zweimal hören, und der kleine Sanitätsrat verbat sich zornig solche Einfälle. Er wolle die Burschen nicht halb geflickt aus seiner Werkstatt entlassen. Jetzt seien sie nicht ohne Gefahr transportabel. Heinrichs Fuß verlange noch große Vorsicht. Und Victor gar solle froh sein, daß man ihm schon so viel Freiheit gestattete. Sie hätten gewiß Lust, sich die Einholung mit anzusehen oder gar mitzumachen? Unsinn! Hübsch im Bett liegenbleiben, sonst stehe er für nichts.
Heinrich, der den Zustand seines Freundes und seinen eigenen wohl beurteilen durfte, wußte wohl, was der kluge Arzt beabsichtigte. Heinrich selbst konnte freilich noch nicht aufstehen. Aber Victors Befinden hätte vielleicht größere Freiheit gestattet, wenn von den Aufregungen des Einholungstages nicht das Schlimmste für ihn zu erwarten gewesen wäre. Der Freund sollte für diese Stunden noch unter der Vormundschaft des Arztes bleiben und von dem Rausche des unerhörten Festes nicht berührt werden.
Aber so streng auch das Krankenzimmer von den übrigen Teilen der Wohnung getrennt war, etwas von dem Treiben der Hauptstadt drang doch wohl herein. Sie hörten tagelang die lebhaften Gespräche, die immer und immer wieder von der Einholung handelten; sie sahen die strahlenden Augen Evchens, die vor Ungeduld nicht essen, nicht schlafen und nicht ihre Aufgaben machen wollte. Und Herr von Auenheim erzählte ihnen genau, mit wie vielen Fahnen das Haus geschmückt war, in welchem sie lagen.
Am Tage vor der Einholung blieben sie den ganzen Tag allein, weil alle Welt mit den letzten Zurüstungen vollauf beschäftigt war, und am nächsten Morgen wurden sie sehr zeitig geweckt – sie wußten selbst nicht, wovon.
Der Salon neben ihrem Krankenzimmer, sonst der stillste Raum der Wohnung, mußte heute den Freunden geöffnet werden. Drei Fenster gingen von dort, zwei von der Nebenstube auf die Linden hinaus. Ein großer Haufen von Blumen und Kränzen lag in der Ecke aufgestapelt, und auch ein reich besetztes Buffet war vorbereitet.
Schon vom frühen Morgen an kamen die Gäste, welche für die vorhandenen Fenster eingeladen waren. Das eine sollte für Herrn von der Egge, seinen Liebling Bruno und für Herrn und Frau von Auenheim frei bleiben. Beim zweiten Fenster derselben Stube faßten bereits die beiden Töchter und ihre Freundinnen Posto. Von der Straße konnte man sechs blühende heitere Mädchengesichter im engsten Rahmen beieinander erblicken, und in dem Übermut des Tages wurde mancher Gruß hinausgeschickt. Im Salon trieben sich mehr als zwanzig Personen umher, uneinig, wie sie sich an die Fenster verteilen sollten. Schon waren eichene Stühle und Tische bereitgestellt, um im letzten Augenblicke den Herren als Galerie zu dienen.
Auch das stille Krankenzimmer wurde nun in das allgemeine Treiben hineingezogen. Früh schon hatte sich Herr von der Egge anmelden lassen und trat in seinem verschossenen Mantel höflich zu den Verwundeten. Er wechselte mit jedem von beiden ein paar ruhige Worte, aber sie empfanden, daß der seltsame Mann eine tiefe Erschütterung mühsam verbarg.
Dann kamen andere Besucher. Die Freunde des Hauses, die mit ihnen das eine oder das andere Mal eine Partie Schach gespielt hatten, ließen es sich nicht nehmen, die beiden Tapferen zu begrüßen, während die Damen im Salon aufgeregt plauderten. Und jeder hatte irgendein begeistertes Wort für die Weihe des Tages, jeder fühlte sich verpflichtet, die Hände der Verwundeten innig zu pressen. Manche kamen mit der brennenden Zigarre, andere brachten von dem reichen Buffet ein Frühstück und volle Gläser herein und wollten die Kranken zum Anstoßen verführen. Der Arzt hatte doch recht gehabt. Die Aufregung des Tages war zu groß für sie, Heinrich fühlte sich matt und bemerkte mit Besorgnis, daß Victor wirklich ein Glas Wein auf das Wohl der Armee geleert hatte und jetzt mit leuchtenden Augen kleine Kriegserlebnisse erzählte.
Da klingelte es – der Diener brachte die Karte herein. Ein Herr und zwei Damen, die Herrn Doktor Wolff zu sprechen wünschten.
»Ich kenne keinen Julius Feigelbaum«, sagte Heinrich verdrießlich.
Der Diener lächelte verschmitzt: Die eine Dame, die schöne große, hätte gesagt, sie wäre eine alte Bekannte aus Prag. »Sie werden ja wohl wissen, Herr Doktor. Wenn man verwundet ist und unter den Linden, und die Einholung geht vorüber, da erinnern sich an einen die Bekannten. Auch ist drinnen kein Platz mehr.«
»Diese Zudringlichkeit!« rief Heinrich seinem Freunde hinüber. Und dem Diener gab er den Auftrag, die Fremden abzuweisen. Es wäre ihm heut aus Rücksicht auf den Hausherrn unmöglich, Fremde zu empfangen.
Bevor aber der Auftrag noch ausgeführt war, hörte man draußen die Stimme Kurts in ihren einschmeichelndsten Tönen die Damen beschwören, doch ohne weiteres einzutreten. Und schon öffnete sich die Tür, und am Arme des Hauptmanns trat Tina Kolliner herein. Hinter ihnen kam zögernd ein ehrlich blickender, grobknochiger Herr, der aussah wie ein Ochsenhändler und gekleidet war wie ein eitler Minister. An dessen Arm hing ein unbedeutendes, blutjunges Mädchen, das man um seiner rotblonden Haare und großen grauen Augen willen am Ende hätte für hübsch gelten lassen können, wenn nur die bösen Sommersprossen nicht gewesen wären. Und unter den Sommersprossen war sie so rot, als schämte sie sich für jeden der kleinen Flecken besonders. Heinrich, der ärgerlich und überrascht die Halbvergessene erkannt hatte, konnte sich eines bitteren Gefühls nicht erwehren. Das also war aus dem schönen Mädchen geworden – Frau Julius Feigelbaum, die sich in fremde Häuser drängte!
Tina hatte in dem Augenblicke, da Kurt sich als Verwandten des Hauses vorstellte und ihr den Arm bot, ihre ganze Fassung wiedergewonnen. War sie erst innerhalb der Wohnung, so war sie ihres Erfolges auch sicher. Als bemerkte sie die anwesenden Herren gar nicht, eilte sie mit fast mütterlicher Zärtlichkeit auf Heinrich zu. Sie nannte ihn »lieber Heinrich«, streichelte ihm die Hand, trocknete sich die Tränen aus den Augen und begann wie in seligem Selbstvergessen, Geschichten aus ihrer Kinderzeit zu erzählen. Plötzlich unterbrach sie sich. Sie schien die Anwesenden zu bemerken und errötete – sie errötete wirklich – über ihr Ungestüm und darüber, daß sie die einzige Dame unter so vielen lächelnden Herren war. Ihre kleine Schwägerin zählte nicht mit.
»Nicht wahr, lieber Heinrich, trotz meiner Jahre bin ich noch immer die kindische Tina. Ich vergaß ganz, Ihnen meinen Mann und seine liebe Schwester vorzustellen. Hier – das ist mein Mann, Julius Feigelbaum, der Name ist nicht das beste an ihm. Und hier – meine kleine liebe Schwägerin, Emma Feigelbaum, ein gutes stilles Mädchen.«
Während das gute stille Mädchen noch tiefer errötete und Heinrich trotz seinem inneren Zorn sich zwang, zu ihr einige gutmütige Worte zu sprechen, hatte sich Victor auf seine linke Hand aufgestemmt, um, wie die anderen Herren, die schöne Frau zu betrachten.
Tina war wirklich schön geworden. Groß und harmonisch gebaut, die Formen voll ohne Übermaß, so war sie in den Theatern und auf den Straßen Berlins eine auffallende Erscheinung. Fast alle anwesenden Herren kannten das verführerische Weib, das man anfangs für eine Spanierin gehalten hatte, bis man erfuhr, daß sie einem Großen der Berliner Börse ehelich angehörte und in der Tiergartenstraße wohnte. Die Herren benutzten die günstige Gelegenheit, sich der schönen Frau und auch ihrem Gatten vorstellen zu lassen, und Kurt übernahm das Amt wie ein alter Freund des Hauses Feigelbaum. Er hatte ein Art, beim Vorstellen kurz und abgehackt zu sagen: »Herr Feigelbaum«, dann nach einer kleine Respektspause mit verändertem Ton hinzuzufügen: »Seine Gattin«, daß alle Anwesenden sich in der Stille ergötzten.
Victor hatte schon lange in das schöne Gesicht gestarrt, und als Kurt ihn jetzt vorstellen wollte, sagte er in sichtlicher Verlegenheit und dabei nicht ohne Schelmerei:
»Ich fürchte fast, von Ihnen gekannt zu sein, meine Gnädige.«
Tina schaute ihm einen Moment scharf in die Augen. Dann brach sie in fröhliches Lachen aus und klatschte vor Freude in die Hände. Das war ein wirkliches Abenteuer. Sie hatte das alles so schlau berechnet. Sie hatte ihre Ungeduld, Heinrich zu sprechen, bis heute verschoben, weil sie an diesem bewegten Tage das ganze aristokratische Nest beisammen zu finden hoffte. Es war über Erwarten gelungen, und nun mußte der glückliche Zufall ihr abermals in die Hände arbeiten.
Ihre Überraschung kannte keine Grenzen. Sie wußte nicht, ob sie noch zürnen solle. Aber sie hatte ja schon so lange verziehen. Sie sagte das mit einem so entzückenden Schmollen, daß Victor gar nicht übel Lust empfand, sein Attentat zu erneuern. Und nun mußte das Abenteuer erzählt werden. Victor berichtete mit vielem Humor die Vorgeschichte, und als er bei der Hauptsache zu stocken anfing, löste ihn Tina ab und schilderte den eigentlichen Angriff mit so koketter Zurückhaltung, daß schließlich sogar Heinrich sich im Herzen mit der schönen Frau aussöhnte und in die allgemeine Fröhlichkeit einstimmte.
Plötzlich hörte man ein dumpfes Geräusch von der Straße, und im Salon stürzte man an die Fenster. Ein neugieriger Backfisch, der schon lange um die Tür des Krankenzimmers herumgeschlichen war, steckte den Kopf herein und rief: »Sie kommen!« Die Herren blieben verlegen stehen. Der große Augenblick, auf welchen Tina es abgesehen hatte, war nahe.
Sie streckte sich zur vollen Höhe empor und sagte gleichmütig mit dem Tone eines schlechten Schauspielers, der sich empfiehlt und doch weiß, daß seine Szene noch nicht zu Ende ist:
»Adieu, lieber Heinrich; es freut mich, Sie so wohl gefunden zu haben. Wir müssen uns jetzt beeilen, zu unserem Platze zu kommen. Es ist ein ziemlich schlechtes Fenster bei Verwandten meines Mannes.«
Und Tina reichte Heinrich die Hand und nickte den Herren freundlich zum Abschiede zu.
Heinrich, der ihren Plan wohl durchschaute, war hart genug zu sagen:
»Dann eilen Sie nur, daß Sie durch das Menschengedränge noch zur Zeit hinkommen.«
Das konnte Kurt jedoch unmöglich zugeben. Die gnädige Frau finde in ganz Berlin kein besseres Fenster als hier, auch sei der Zug schon so nahe, daß sie in Gefahr komme, unter dem Pöbel bleiben zu müssen. Nein, er lasse die gnädige Frau nicht fort. Und um seinen Worten mehr Nachdruck zu geben, faßte er die nachgebend Widerstrebende bei der Hand.
Tina blickte wie ratlos ihren Gatten an und fragte dann endlich, ob der Herr auch zu einer so überaus liebenswürdigen Einladung bevollmächtigt wäre. Aber inzwischen war Herr von Auenheim selber von einem der dienstbeflissenen Herren gerufen worden und brachte mit einer tadellosen Verbeugung einige Worte vor. Er und seine Damen würden sich herzlich freuen, eine Freundin seiner Verwundeten bei sich zu begrüßen. Die Fenster wären bei dem zahlreichen und alten Freundeskreise allerdings schon so ziemlich besetzt, aber für zwei Damen würden die Herren gewiß noch Raum schaffen.
»Nun, so bleibe ich mit meiner Schwägerin; ich bitte, uns Ihren Damen vorzustellen. Du, lieber Julius«, wandte sie sich an Herrn Feigelbaum, »tust am besten, wenn Du eilst, zu unserem Fenster zu kommen. Du kannst uns ja im Wagen abholen, wenn alles vorüber ist.«
Feigelbaum warf seiner Frau nur einen halb mißbilligenden, halb bewundernden Blick zu und ging.
Auenheim führte Tina und deren Schwägerin in den Salon, wo sie von den fremden Damen sehr kühl aufgenommen wurden. Auch Herr von der Egge und Frau von Auenheim waren zurückhaltend. Während aber Emma, die gute stille Schwägerin, sich sofort in den Winkel zu den Blumen zurückzog und dort unter dem Schein einer Blumenliebhaberin ihr Gesicht verbarg, trieb sich Tina wie zu Hause umher. Sie schien die feindlichen Blicke der jungen Damen nicht zu bemerken, und auch von dem Triumphe, den sie so voll wie nur selten in ihrem Leben empfand, war in ihrem Gesichte nichts zu lesen.
Bald hatte sie den besten Platz vorn am Mittelfenster. Und da mehrere Herren, besonders der Hauptmann, in ihre Nähe zu kommen trachteten, so fühlten sich die Damen, welche bisher die Plätze innegehabt hatten, arg gekränkt. Ob Tina das empfand oder ob sie sich davon sonst eine gute Wirkung versprach – sie verließ plötzlich, ohne die Damen zu beachten, ihren Standort und verlangte als Spätgekommene nur ein Plätzchen auf der Galerie. Sie belegte eine Stelle auf dem Tisch mit ihrem Opernglase, und als die Straße mehr als bisher die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken begann, schwang sie sich, auf Kurts Arm leicht gestützt, elastisch auf den Tisch.