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Als Theodor am nächsten Morgen aufwachte, fiel ihm ein, daß der Brief seiner Mutter noch immer uneröffnet auf dem Tische liege. Da es indessen höchste Zeit war, wenn er den Zug nach Speier noch erreichen wollte, beschloß er, das Schreiben unterwegs im Coupé zu lesen. Der junge Mann wurde gegen seine Gewohnheit schnell mit der Morgentoilette fertig und schellte so früh nach seiner Wirtin, daß diese meinte, ihm müsse ein Unglück passirt sein. Es handelte sich aber nur um eine Tasse Kaffee und den Auftrag, für Buddha das Futter zu besorgen, da Theo erst gegen Abend wieder eintreffen werde. Stürmer, Burschenband und Bierzipfel wurden zu Hause gelassen. In leichtem, hellgrauem Sommeranzug und weichem Filzhut begab er sich auf den Bahnhof. Gerade vor dem Billetschalter traf er auf Luigi Mallatini.
»Ich fahre mit nach Speier,« rief er dem Italiener zu; »nehmen Sie ein Billet für mich mit!«
» O no, Err Gorringe, ich fahren dritte Klasse.«
»Nehmen Sie zwei erster Klasse!«
» No, no, ich kann das nicht thun.«
Mallatini remonstrirte, aber Theo drängte ihn vom Schalter weg und löste die beiden Fahrkarten. Als die beiden dann auf dem rothsamtnen Polster saßen und dem Rheine zurollten, meinte der Maler: »Zu was aben Sie vielen Geld geausgeben, Err Gorringe? Wir kommen nix schneller weiter, und es ist viel eißer in erste Klasse als auf die Olzbanker der dritte.«
»Sie haben eigentlich recht, das Vornehmthun ist ein Mumpitz.«
»Was ist ein Munpitsch?«
»Mumpitz, Signore.«
» Si, was ist das?«
»Nun, eine Handlung, eine Maskerade, durch die man Eindruck auf sich und andere machen möchte, obwohl man weiß, daß nichts dahinter ist.«
»O ich versteen: Schwindel!«
»Eine Art Schwindel, ja. Es gehört aber etwas Lächerliches dazu, etwas Absurdes.«
»Dann ist es etwas Unschönes und Unchristliches,« sagte der Maler naiv.
»Unschön, ja. Was Sie unter ›unchristlich‹ verstehen, weiß ich nicht.«
»Ich denke, Err Gorringe, das ist leicht. Was unser Err Christus nicht gethan oder erlaubt ätte, das ist unchristelich.«
»Ja, wie wollen Sie denn das entscheiden?«
»Betrackten Sie Christus in die Vangelien, wie er redet und wie er andelt. Wenn ich z. B. anfangen, um ein Bild zu malern – ein religioses, sage ich –, dann vorher ich immer betrackten, ob der Sohn Gottes so oder so gethan aben würde. Und auch bei andern Bilden, profane, Err Gorringe, ich fragen mich wenixtens, ob Christus zufrieden sein würde zu dem, was ich malern. Viele Kunstelern, welche das nix thun, folgen das unchristeliche Kunst und Geschmack.«
Theo unterdrückte kaum ein etwas spöttisches Lächeln, als er entgegnete: »Das mag für Sie als religiösen Maler passen, kann aber für andere kein Maßstab sein.«
»O Err Gorringe, doch, doch! Jeder Christ in seinen Worten und Andlungen kann Christus zu sein bestes Modell nehmen. Die Vangelien sind ein sehr gutes Spiegel. Christus ist nicht nur ein Vorbild für die Kunstelern und Maleren.«
Der Student zuckte die Achseln: »Ich bin kein Pietist, Signor Mallatini. Ich lese die Bibel nicht.«
»Sie lesen die Bibel nix? Man at mir gesagt, alle Luterani lesen es sehr äufig.«
»Ja, das mag früher der Fall gewesen sein. Ein paar altlutherische Pastöre und fromme Mütterchen thun es auch noch. Die große Mehrzahl glaubt aber heutzutage nicht mehr, daß ein stummes Buch über die vielen Fragen und Zweifel des Menschenherzens Auskunft geben könne. Außerdem haben unsere Theologen die Schrift derart zerzaust, daß man bei jedem Buche Zweifel an seiner Echtheit haben kann. Was soll einem da die Bibel praktisch nützen!«
»Dazu aben wir die Kirche. Sie erklärt, was der Sinn von dem schweren Buch ist und welche Büchen in die Bibel echt sind.«
»Da müssen Sie aber doch erst wissen, ob die Kirche sich nicht irrt.«
» Si, si, Err Gorringe. Die Kirche kann nix irren, weil Christus ihr gesagt at: ›Ich will euch meinen Geist schicken, welcher euch in alle Wahrheit führen soll, und ich will bei euch sein bis an das End der Welt, und die Porten der Oelle sollen sie nicht …‹«
»Nicht überwältigen; ich weiß schon. Aber das müssen Sie wieder aus der Bibel beweisen. Da kommen Sie an dem Punkte an, von welchem Sie ausgegangen sind.«
»Nix, Err Gorringe. Ich sagen Ihnen zwei Sachen: erstens fang' ich an zu beweisen, daß Gott ein revelazione – Offenbarung, sage ich – at gegeben. Das ich kann beweisen ohne der Bibel. Wenn er nun ein Offenbarung at gegeben, dann muß ich diese georchen. Ist das nicht richtig?«
»Nun ja, ›wenn‹. Aber das werden Sie schwer beweisen.«
»Gerade so, wie jeden andern istorischen Ereigniß. Machen Sie mal Aufmerksamkeit …«
»Ach, ich verstehe mich nicht auf Theologie.«
»Ich auch nix. Aber jeder kann doch mit sein Verstand nachsuchen, ob Christus nix eben so wahr gelebt at wie Cesare, Alessandro und Ciro.«
»Sagen Sie mir lieber einmal, Signore, ob Sie wirklich glauben, daß die Bibel sich so viele Jahrhunderte hindurch unverfälscht erhalten hat.«
»Wie unverfälscht?«
»Ich meine, ›ohne geändert zu werden‹ – besonders ›ohne Zusätze‹.«
»Es scheint mir serr leicht. Warum Sie nix zweifeln an der Echteit von mancher lateinischer und griechischer Autori? Eine Aenderunge der Bibel wurde viel schwerer sein ereignet als eine solche von die autori profani. Und warum, Err Gorringe? Weil die Bibel ein Buch mehr wichtig war als allen andern Büchen. Sie war so viel gekannt und gelest bei alle Christen, daß eine Aenderunge wollte serr schnell bemerkt sein. Ist das nicht richtig?«
Ueber derartige Dinge hatte Theo nie nachgedacht. Er fühlte, daß er auf die Dauer seine Meinung nicht vertheidigen könnte. Er lenkte daher ab und sagte: »Erlauben Sie, daß ich Sie unterbreche; ich habe noch einen Brief von meiner Mutter in der Tasche, den zu lesen ich bisher keine Zeit hatte. Wenn Sie erlauben, so schaue ich eben nach, ob etwas Wichtiges drin steht.«
»O von der Mutter ist alles wichtig. Lesen Sie, Err Gorringe!«
Theo holte den Brief aus der Tasche und öffnete ihn. Mallatini lehnte sich in seine Ecke und schaute zum Fenster hinaus.
Der Brief lautete:
»Mein lieber Theodor!
In den letzten Wochen habe ich wegen unserer Standeserhebung so schrecklich viel zu thun gehabt, daß ich kaum zum Schreiben kommen konnte. Besuche über Besuche. Du hast übrigens Papa gar nicht auf seine Anzeige hin gratulirt! Und er thut doch alles nur für seine Kinder! Du kannst mir nur glauben, daß die Sache ihm große pecuniäre Opfer gekostet hat. Seit dem Ersten ist er nicht mehr Director der Angelsächsischen Bank. Die Stellung paßt auch für unsern jetzigen Rang weniger, obwohl Onkel Senator Papa absolut bestimmen wollte, den Posten nicht aufzugeben. Er und die Senat'rin machen spöttische Mienen; ich glaube, es ist der pure Neid. Papa will aus Bernsloh ein Fideikommiß machen. Dann wird es keine Schwierigkeit haben, den Freiherrntitel auch in Preußen anerkannt zu sehen. Wir haben uns schon nach Berlin gewandt. Nächsten Winter werden wir schon im Gothaischen Taschenbuch stehen. Ich dachte, unsere Nobilitirung würde der Chanoinesse Freude machen. Aber denke dir, Theo, sie nennt das Ganze nur eine › caprice extravagante‹. Kannst du dir so etwas vorstellen? Natürlich will sie jetzt auf ihr blaues Blut sich etwas zu gute halten, obwohl sie kaum einen Pfennig in der Tasche hat. Carlito hat sie neulich feierlichst ermahnt: › Mon cher, Sie werden dich jetzt Baron nennen. Die Hauptsache ist aber der Adel der Gesinnung. Ich habe leider Beispiele erlebt, wo der alte Titel vorhanden war, aber man doch jedes sentiment chevaleresque vermißte.‹ Was sollen derartige Redensarten? Mathilde geht es gut. Sie gedenkt mich nächsten Monat nach Baden-Baden zu begleiten. Helgoland ist mir zu langweilig, man verdirbt sich an der See alle Toiletten. Sonntag in acht Tagen geben wir hier in Flottbeck ein großes Diner. Papa wünscht ausdrücklich, daß du bis dahin in Hamburg bist. Unsere Wohnung in der Bank ist bereits von dem neuen Director Kühlhaupt bezogen. Die Directorin, eine geborne Morgenrot, Schwester des Ingenieurs, ist eine ziemlich simple Frau. Auf dem Diner werden nicht sehr viele Hamburger Bekannte sein, wir haben besonders die Altonaer Offiziere gebeten, darunter den commandirenden General und den Generallieutenant von Suche. Herr von Suche ist Junggeselle, und ich sehe gar nicht ein, warum Mathilde nicht an eine zweite Ehe denken sollte. Die Schwester des Generals ist an den Prinzen zu Lachsenburg-Hechtingen verheiratet. Mit Dolores ist gar nichts anzufangen. Sie wird ganz bigott und läßt den Jungen von einem katholischen Pastor in ihrem Aberglauben unterrichten. Es ist ein Scandal für die Familie; Carlos hätte nie drüben die katholische Kindererziehung versprechen sollen. Zum Ueberfluß läuft sie jetzt noch in die Predigten eines katholischen Mönches, der hier zu Besuch ist und große Furore macht. Es ist der Sohn des alten Senators Prätorius, der vor Jahren bekanntlich durch seinen Triester Onkel zum Papismus bekehrt wurde. Gut, daß der alte Senator, der übrigens ein hochnäsiger Mann war, das nicht mehr erlebt hat! Ich muß nun aber schließen, Theo, weil ich um 3 Uhr bei der Frau von Kusserow, der preußischen Gesandtin, Visite zu machen habe. Hast du dir schon neue Visitenkarten machen lassen? Man nimmt jetzt ein sehr großes Format. Krone über dem Namen ist nicht genteel. Ich habe wirklich alle Hände voll. Schreibe also, wann du kommst. Papa denkt als Stadtwohnung in Hamburg das frühere Leinewebersche Anwesen am Harvestehuder Weg zu kaufen. In Eile Deine Mutter
Mathilde Freifrau von Göhring.«
»Mumpitz!« sagte Theo und knitterte den Brief in der Rechten zusammen.
»Ein Brief von der Mutter kann doch nix Munpitsch sein,« platzte der lebhafte Maler heraus.
»Unter Umständen wohl. Wenn meine gute Mama mir bloß von Diners, Toiletten, Generälen und hohen Connexionen schreibt – und nichts – und kein Wort der Zärtlichkeit und der Liebe – – dann ist das Mumpitz. Ich kann mir nicht helfen.«
»Sie sind in schlechtes Laune, Err Gorringe. Sie aben es so gut. Reiche Elteren, viele Freunde, Gesundeit, alles – Sie konnten leben wie ein Barone!«
Das war das Stichwort für Theo! Barone! Jetzt ließ Theo seinen Aerger los: »Wissen Sie, Signore, daß das der größte Mumpitz ist?«
»Was? Ich weiß nix.«
»Daß ich wirklich ein Baron bin. Wir haben uns lange nicht gesehen – daher kennen Sie die famose Neuigkeit noch nicht. Mein Vater ist vor vierzehn Tagen Baron geworden.«
»Ah, dann ich gratuliren …« rief Mallatini und faßte entzückt Theos Rechte.
»Da ist absolut nichts zu gratuliren! Eine Verrücktheit ist es, die mich am Ende auch noch toll macht. Wenn ein Ritter im Mittelalter mit eigener Hand ein paar Dutzend geharnischte Feinde niedermäht, um das Leben seines Königs zu vertheidigen, oder wenn einer von einem stolzen Burgschloß aus weite Ländereien mit erbunterthänigen Landsassen zu regieren hat, oder wenn einer zu Wasser oder zu Land mit seinen Reisigen, Schildknechten und Gefolgsleuten großartige Abenteuer besteht, gegen Mauren und Türken zu Felde zieht oder eine Normannenfestung erstürmt, oder – kurz, wenn einer ein handfester, gewaltiger, gebietender Mann ist, dann lasse ich mir's gefallen, wenn der Kaiser ihn zur Belohnung zum Freiherrn macht. Das hat Sinn. Das hat Verstand. Das bedeutet etwas. Darin liegt eine gewisse Großartigkeit. Aber einer, der an der Drehung dieser unsinnigen Welt vollständig unschuldig ist, der gar nichts Glänzendes aufzuweisen hat als seine Goldrollen im Sacke, ein Mann, dessen Turnierplatz die Fondsbörse ist – – der ist ein Mum – nein, ich meine, dessen Baronstitel ist ein Mumpitz. Wenn einer des Morgens aufwacht und auf seinem Frühstückstisch einen Wisch Papier mit Siegel und Handschrift vorfindet, dann soll er plötzlich ein Herr von Adel sein? Das macht mir keiner weis. Oder weil er drei Buchstaben vor seinen ehrlichen Familiennamen setzen darf, muß er mit einemmal auf die alten Freunde von oben herab sehen und neue aristokratische Bekannte machen, die ihn doch nur für einen Parvenü halten? Das ist ja Unsinn. Wenn man noch mit der siebenzinkigen Krone statt des Cylinders spazieren gehen könnte! Aber bloß ein Titel, ein Name, ein Quark …«
»Oeren Sie auf! ören Sie auf!« rief der Italiener und schüttelte sich vor Lachen.
»Wie kann Ihnen das nur Spaß machen! Sehen Sie denn nicht die Thorheit?«
»Oeren Sie auf, Err Gorringe! Hihiheheheh! … Und Sie sind wirklich so ein Barone geworden – oder Frei-Err, wie Sie ihn nennen?«
»Ja, wirklich. Leider. Keinen Hemdsknopf geb' ich drum.«
»Ich kann nix so Schreckliches dabei finden … hihiheh!«
»Lachen Sie mich doch nicht aus, Mallatini! So weit kennen Sie mich doch, daß Sie wissen können, wie ich alles hohle Vornehmthun verabscheue.«
»O, Sie geen mit so viele vornehme Studenter!«
»Wird nicht mehr lange dauern. Ich habe die Corpsgeschichte satt – gründlich satt.«
»O, Err Gorr … no, Err Baron …«
»Hören Sie mal, Mallatini: wollen Sie mir einen Gefallen thun? Ja? Gut, dann nennen Sie mich Theodor – und ich nenne Sie Luigi – das heißt, wenn es Ihnen recht ist.«
»O, es ist recht, wenn Sie das wollen. Aber ich bin ein arm und miserabile Mensch …«
»Schon gut. Wir müßten nach Studentenart eigentlich Schmollis trinken. Aber das ist nicht nöthig. Freundschaft kann auch ohne akademischen Mumpitz bestehen. Sie müssen außerdem Nachsicht und Geduld mit mir haben, Luigi, denn ich bin ein sonderbarer Kerl. Bald will ich mit dem Kopfe durch die Wand rennen, bald bin ich melancholisch, bald so böse auf alle Menschen, daß ich ungenießbar für Sie werde. Heuchelei ist mir verhaßt, ebenso Vornehmthuerei, obwohl ich mich selbst nicht immer ganz frei davon halten kann; denn die Atmosphäre des Corpslebens wirkt geradezu mephitisch. Seien Sie nur recht offen und ehrlich gegen mich, Luigi – denn, wie gesagt, ein sonderbarer Kerl kann ich sein.«
»Ich ab das schon gemerkt, Err … no, also Theodor …«
»›Theo‹ können Sie kurz sagen, Luigi. Wissen Sie übrigens, warum ich heute mit Ihnen nach Speier fahre?«
»Nun, um die Processione zu anseen!«
»Auch. Aber die Hauptsache ist, mit Ihnen mal allein zu reden: wissen Sie, ich gehe halb und halb mit der Idee um, das Jus an den Nagel zu hängen und auch Maler zu werden.«
Luigis Augen strahlten. Beinahe wäre er Theo um den Hals gefallen. Er rief unter vielen Gesticulationen: »Nix alb und alb Idee! Machen Sie diesen Idee voll! O das ist serr gut! Madonna santissima, aben Sie endelich eingeseen? Schon lange aben ich auf das gewartet, nachdem ich bewunderten Ihre Bilden von der See und der Marina und den Klippern. Sie aben einen Auge für die Wirkunge der Farben, wie nix serr viele Menschen.«
»Die Frage ist, ob ich ausreichendes Talent habe, etwas über dem Mittelmaß zu leisten.«
Der Italiener wiegte den kleinen Lockenkopf hin und her und behauptete in seinem ungekünstelten, herzhaften Tone: »Sie sind noch roh, serr roh! Aber Sie aben immer allein gemalert und nix gelernt von einem Professore. Sie versteen nix, gar nix – es kann jeder di professione seen im ersten Moment. Sie aben alles zu lernen, alles, alles! Aber ob Sie aben Talent! O, es schlaft in Ihre Kopfe, in Ihre Ge'irn, in Ihre Auge, in Ihre And! Nix nur Talent! Gennajo! großes Talent! Wachen Sie es auf! Machen Sie Ihren Idee voll!«
In diesem Stile ging es nun fast bis Speier. Theo ward zu Muthe, als ob er zum erstenmal seit Jahren wieder leicht und froh in die Zukunft schauen könnte. Ein Luftschloß nach dem andern stieg in rosigem Scheine aus der melancholischen, dunklen Tiefe seines Herzens auf und erfüllte das Auge seiner Phantasie mit Entzücken. Und jede Schwierigkeit, die sich etwa als mißgestaltetes Ungeheuer aus der Finsterniß erheben wollte, ward in den Abgrund zurückgestoßen oder löste sich auf wie Morgennebel im Sonnenschein. Denn für Luigi galt es als ausgemacht: »Der wahre Kunsteler at Vertrauen, und gerade in der Noth das stärkste Vertrauen, und dann ist er erst der rechte Kunsteler. Wer sein Kunst nix liebt wie sein Braut und nix kämpfet, um sie zu eiraten, ist die Braut nix werth. Die Kunst ist eine schöne Principessin, welche sitzt in altes, festes Thurm. Und der Kunsteler ist der Cavaliere, welcher soll sie frei setzen. Bevor das er muß kämpfen mit wilde Thiere und übersteen tausend Gefahren.«
So baute sich also Theo in Gedanken stolze Burgen und schimmernde Tempel, und Luigi stand auf den Zinnen, um muthig alle nahenden Feinde abzuwehren.
In Speier, auf dem Wege vom Bahnhof zum Dom, ließ Theo sich die Bedeutung des Frohnleichnamsfestes auseinandersetzen. Der aufrichtig fromme Künstler erklärte ihm mit südländischem Feuer: das sei der glorreiche Ehrentag des eucharistischen Erlösers; die Gelegenheit, bei welcher die verfolgte und verkannte Kirche ihren unerschütterlichen Glauben an die sacramentale Gegenwart Gottes aus dem Dunkel und der Heimlichkeit ihrer Tempel hinaustrage in die Welt, um vor aller Augen sich dessen zu rühmen, der einst im himmlischen Jerusalem für seine Getreuen ein Fest bereiten werde, von welchem der allergrößte kirchliche Prunk nur ein schwaches Vorbild sei. Wer immer glaube, daß es Jesu Christo ernst gewesen mit seinem Worte: »Dieses ist mein Leib«; wer es als der ewigen Wahrheit ganz und gar unwürdig erachte, diesem Ausspruche eine so zweifelhafte und seinem Wortlaut völlig fremde Bedeutung zu Grunde zu legen, wie sie durch die gesuchten und spitzfindigen Erklärungen der Irrlehrer dem um sein süßestes Erdenglück betrogenen Volke zurechtgeflickt werde; wer Gottes Liebe, Macht und Weisheit nicht zu gering schätze, um mit festem Glauben dem anbetungswürdigen Sacramente die Huldigung der Seele wie des Leibes entgegenzubringen – kurz, wer die zweitausendjährige Lehre der katholischen Kirche dankend und jubelnd bekenne, dem sei Frohnleichnam das Fest der Feste, die Krone aller Christenfreuden auf Erden, das Unterpfand der Hoffnung, jenseits des Grabes den König und den Geliebten auf ewig wiederzufinden, für den es diesseits gelte zu wirken, zu leiden und zu streiten.
Solche Sprache tönte zum erstenmal an Theodors Ohr. Dieser begeisterte Sohn seiner Kirche – so sagte sich der in der kalten Zone des Rationalismus aufgewachsene Student – geht einer kirchlichen Feier entgegen, als ob es sich um eine Begegnung mit dem König der Könige handle, um den persönlichen Anblick des Lenkers aller Welten. Wenn diese Religion wahr wäre – o wie würde dann alles menschliche Leben mit seiner Bitterkeit und seinen Enttäuschungen verklärt und vergeistigt! wie würde der gebrechliche, armselige Mensch selbst aus der dumpfen Atmosphäre, in der seine wahrheitsdurstige, nach dem Glücke ringende Seele so schwer und langsam athmet, herausgehoben in die reinere Region des Idealen! Theodor verstand nicht alles, was er hörte; aber wenn ein Herz trotz des Mangels aller religiösen Vorkenntnisse instinctiv der Wahrheit entgegenschlug, so war es das seine. Hatte er doch die Hohlheit der Welt und ihrer Gaben vom ersten Momente empfunden, da er in sie eingeführt wurde!
Er ließ den Italiener weiter reden, bald dem eigenthümlichen Zauber der neuen Weltanschauung sein Ohr leihend, bald in die eigenen Gedanken vertieft. Neu, völlig neu klang fast jeder Satz. Hatte die Sprache ihr Gewand gewechselt? Konnten die deutschen Worte Zeichen von Begriffen sein, die Theo niemals bisher mit ihnen verbunden hatte?
Lebte denn das Göttliche, Ewige wirklich so greifbar, so den Sinnen zugänglich auf dieser Welt? Wenn es wahr wäre …! Nein, daß es wahr wäre! Armes Herz, daß du noch nicht von den Wassern des Heiles getrunken! Aber auch glückseliges Herz, denn die Schwüle, die Bitterkeit deines jungen Lebens ist so groß, daß unnennbarer, quälender Durst dich nach dem Borne des Segens lechzen läßt!
Da ragt der hoheitsvolle romanische Bau in die Lüfte – ein steinern Abbild, ein sichtbares Denkmal jenes Glaubens, der die Welt bezwungen. Eine sinnigfrohe, festlich gekleidete Menge strömt in die weihevollen Hallen. Gerade hat das Opfer begonnen, und die beiden jungen Leute finden kaum noch Platz an einem Pfeiler des Mittelschiffes. Theo lehnt sich gegen die mächtige Steinmasse, Luigi kniet zu seiner Rechten und scheint des Freundes zu vergessen.
Cibavit eos ex adipe frumenti, alleluia!
Et de petra melle saturavit eos, alleluia! alleluia! alleluia!
Im hohen Chore steigt die Weihrauchwolke zur Wölbung des Tempels empor, bald ihr nach das neunmal flehende Kyrie, Christe eleison!
Herr, erbarme dich! Christus, erbarme dich unser!
Der Bischof am Altäre singt mit verhallender Stimme, der Chor antwortet ihm mit mächtigem Schwalle oder seht den vom Hirten begonnenen Lobpreis und das Bekenntniß des Glaubens in feierlichem Jubel fort. Die Stimmen der Diakonen verkünden Epistel und Evangelium. Der Bischof, nachdem er wieder duftendes Rauchwerk gesegnet, singt abermals. Von seinen Priestern umgeben, mit reich gestickten Gewändern angethan und von jugendlichen, weiß gekleideten Akolythen bedient, wandelt er langsam hierhin und dorthin, bald die glänzende Mitra tragend, bald unbedeckten Hauptes zum Allerhöchsten flehend. Einmal stimmt er einen feierlichen Wechselgesang mit dem Chore an, dann fährt er allein in der wundersamen Melodie fort, um am Schlusse wieder dem Chore zum jubilirenden Sanctus zu weichen. Glocken ertönen im Heiligthum, und Stille herrscht plötzlich im Sanctuarium, auf der Orgelbühne, unter der Gemeinde. Dann noch ein Glockenzeichen, und die knieende Menge neigt das Haupt und schlägt an die Brust. Theo wagt nicht, sich umzuschauen. Er steht allein aufrecht; reich und arm um ihn her betet an.
Bei dem Benedictus, zum Preise des vom Himmel herabgestiegenen unbefleckten Gotteslammes erwacht der Jubelgesang des Chores von neuem. Jetzt hebt Theo das Auge. Nichts oder gar wenig hat er verstanden von den Ceremonien; aber sein scharf beobachtender Blick sieht, daß die Gläubigen alle, auch die geringen und ungebildeten, wissen müssen, um was es sich handelt. Die beredte Sprache ihrer Sammlung, ihrer Würde und ihres andächtigen Ernstes spricht lauter zu ihm als die rauschende Musik. Er weiß, daß diese Schar von Betern vor dem Könige weilt, den er nicht kennt, von dem ihm aber Luigi gesprochen. Bei den Worten des Vaterunser betet Theo mit. Er versteht diesen Theil wohl und ist zufrieden, auch mit der glücklichen Menge flehen zu können. Heimlich ruft er zu dem wunderbaren Gotte, der heut mit den Seinen das große Triumphfest begeht, er möge sich auch ihm offenbaren, wenn es möglich sei. Die Messe nähert sich mittlerweile ihrem Ende. Mit Schluß des Agnus Dei suchen viele bereits das Freie.
Luigi flüstert Theo zu: »Kommen Sie, wir wollen die Processione draußen erwarten.«
An der Straße, die auf das Hauptportal des Domes zuführt, suchen sie sich einen Platz in der harrenden Reihe zu erobern. Die Häuser sind mit Blumen und Guirlanden geschmückt; Blätter und Blüthen sind gestreut auf den Pfad dessen, der da kommen soll; erwartungsfrohe, gläubige Herzen bilden das Ehrenspalier des Königs aus beiden Fußsteigen; der wolkenlose Himmel strahlt über der weihevollen Scene als leuchtender Baldachin, unter welchem der verborgene Herr durch sein Volk dahinziehen wird. Nun beginnen auch die ehernen Stimmen der Domglocken ihr weithin schallendes Alleluja, Alleluja; denn aufgethan hat sich die Pforte des Tempels.
Langsam und gemessen quillt der Triumphzug aus dem Dunkel hervor, hinein in den Glanz des leuchtenden Morgens. Hoch über den Häuptern der Christen schwebt das gebenedeite Kreuz daher; die Fahnen, Standarten und farbigen Bänder rühren sich leise in dem leichten Luftzuge. Wie ein zarter Schleier umspielt die warme Luft zitternd die qualmenden Kerzen, wie feiner Wohlgeruch keuscher Tugend mischen sich Weihrauchdüfte mit dem sonnigen Hauche des Junitages. Liebliche Kinder schreiten dem Fürsten vorauf. Helle, jugendliche Stimmen verkünden seine Nähe. Gesenkten Blickes folgen seine geweihten Getreuen, in den heiligen Gewändern ihres Ranges, in den Farben der Freude, des Engelsdienstes, der flammenden Liebe.
Und nun erreicht der silberne Klang der Schellen deutlich das Ohr der beiden Freunde. Luigi ist längst in den Staub gesunken. Leise zieht er Theo an seinem Rocke: »Knien Sie nieder, Theo, jetzt ist Er in unserer Mitte!«
»Aber ich bin ja kein Katholik, Luigi. Mein Glaube …«
»Knien Sie! Ihr Glaube oder Unglaube, ändert er an der Wahreit?«
Betroffen beugt auch der Protestant sich nieder.
Sit laus plena,
Sit sonora,
Sit incunda,
Sit decora
Mentis inbilatio
Laut soll unser Lob erschallen und das Herz in Freude wallen..
Theo hört die Worte des Hymnus und versteht sie. O könnte ich mitjubeln, mitfeiern, mit diesen Scharen glücklich sein und glauben!
Die Procession muß einen Moment auf ihrem Wege stocken, aber der Gesang tönt weiter. Wieder setzt sich der Zug in Bewegung. Theo schaut auf: da schreitet die würdevolle Gestalt des Bischofs einher. In den Händen trägt der tief gesammelte Greis die kostbare Monstranz. Theo ist sich bewußt, daß die Gedanken und Herzen der Menge auf die unscheinbare weiße Hostie gerichtet sind, welche das goldene Kleinod umschließt. Herr, wenn es wahr ist, was all diese Beter glauben, so gib mir Elenden ein deutliches Zeichen!
Quod non capis,
Quod non vides,
Animosa firmat fides
Praeter rerum ordinem
Was dabei das Aug' nicht siehet, dem Verstande selbst entfliehet, sieht der feste Glaube ein..
Ein Blick des Erlösers ist auch auf Theo gefallen. Wie ein Blitz erleuchtete seine Seele der Gedanke: Was ich nicht fasse, lehrt mich sicher der Glaube! Der Moment der Gnade hat gewirkt: Theo beschließt, den Glauben, der so selige Geheimnisse lehrt, zu studiren – Gottes Geist selbst möge ihn bei diesem Unternehmen leiten! Nicht lange dauert es, und er folgt mit Luigi unter den nachschreitenden Männern und Frauen, noch nicht gläubig wie sie, aber fest entschlossen, sein Heil zu suchen. Als die beiden dann wieder allein sind, fragt er den Italiener, der sein ehrfurchtsvolles Benehmen mit heimlicher Freude gewahrt und beobachtet hat: »Meinen Sie, Luigi, daß ein Mensch wie ich sich zu einer so heiligen Religion bekennen könnte?«
»Wer suchet, der wird finden, Teodoro. So – at Ihnen das Fest gefallen?«
»O was gäbe ich darum, könnte ich glauben wie Sie!«
»Beten Sie, Teodoro. Aber eines müssen Sie wohl bedenken: die große Pracht, die Sie aben geschaut, die feierliche Musik, die Sie aben zugeört, ist nix die Auptsache für die Katholiken. Die Lehre, der Glaube, das ist es. Wenn Sie können auch in das ärmste Kirche und ohnes alles Singen und Feierlichkeit Freude und Verstand aben von unser großen Wahreit, dann, erst dann Sie sind auf dem sichern Wege.«
In einer Gartenwirtschaft nahmen sie ein einfaches Mittagsmahl ein. Theo wollte plötzlich nichts mehr von katholischen Dingen hören. Er nahm sich aber vor, mit Sechow über die Angelegenheit zu sprechen. Der Doctor war ein so ruhiger, welterfahrener Mann: dessen Urtheil mußte werthvoller sein als dasjenige dieses enthusiastischen Künstlers. Es gelang Luigi nicht, Theo noch zum Besuche der Vesper zu bewegen. Der Pessimist war nach dem ersten, glanzvollen Eindrücke, den er von der Vormittagsfeier empfangen hatte, wieder auf seinen alten Gedankengang verfallen. Selbst ein gewisses Mißtrauen gegen Luigi vermochte er nur halb zu überwinden.
Gegen Abend kehrte man wieder nach Heidelberg zurück. Theodor begab sich sofort in das Hotel, und fragte den Portier: »Ist Herr Dr. von Sechow oben?«
»Dr. von Sechow? Der Herr auf Nr. 8 und 9? Bedaure, der Herr ist 2 Uhr 30 Minuten heute Nachmittag abgereist.«
»Unmöglich! Sie täuschen sich. Ich meine den Herrn, der gestern Mittag erst von Basel kam.«
»Sehr wohl, mein Herr.«
»Sie müssen ihn mit jemandem verwechseln. Ich gehe selbst …«
»Ah, bitte um Verzeihung – sind der Herr vielleicht Herr Baron von Göhring?«
»Ja, allerdings …«
»Dann hat der Herr Doctor ein Billet für den Herrn Baron zurückgelassen, – hier, darf ich bitten?«
Auf das höchste überrascht, riß Theo den Umschlag herunter. Das Schreiben lautete:
»Lieber Freund!
Verzeihen Sie meine scheinbare Rücksichtslosigkeit! Wenn Sie wüßten, warum und wohin ich abgereist bin, würden Sie mich sofort entschuldigen. Sorgen Sie nicht um mich und warten Sie, bis Sie einen Brief von mir erhalten, der Sie über alles aufklären wird. Mir ist nichts passirt, was Sie im geringsten beunruhigen könnte. Wenn Sie Heidelberg verlassen, geben Sie Ihrer Wirtin Ordre betreffs der Briefe. Nochmals: verzeihen Sie mir! Ich mußte diesen Entschluß für meine Ruhe fassen – er hängt mit der Angelegenheit zusammen, die Sie gestern von mir erfahren haben. Mehr kann ich Ihnen nicht andeuten. Mit herzlichem Gruß Ihr aufrichtig
ergebener
Heinrich Sechow
Dr.«
»Sonderbar und ganz unerklärlich!« rief Theo. »Wohin ist der Doctor gereist?«
»Nordwärts. Das Gepäck wurde nach Köln aufgegeben. Das ist alles, was ich weiß, Herr Baron.«
»Nach Köln? Höchst sonderbar!«
Theo wollte gehen, da kam der Oberkellner gelaufen, der Theo kannte: »Herr Baron, ich habe einen Brief an Sie abzuliefern von den englischen Herrschaften, die vor zwei Stunden nach Baden-Baden fort sind.«
»Was? Earl Cantire auch fort? Er wollte ja drei Tage bleiben!«
»Se. Lordschaft haben sich anders entschlossen.«
Theo kam sich wie verzaubert vor. Der Oberkellner und der Portier zwinkerten sich mit den Augen zu, als der Student den zweiten Brief durchflog:
»Lieber Baron Göhring!
Mein Onkel beauftragt mich, Ihnen für Ihre gestrige Begleitung zu danken und die Hoffnung auszusprechen, daß wir Sie nächstens in Baden-Baden einmal begrüßen können. Es ist ja nicht weit von Heidelberg. Wir sind plötzlich abgereist, weil Lady Cantire sich so schlecht fühlte, daß sie möglichst bald mit ihrer Kur in Baden beginnen möchte. Sie haben gesehen, daß der Carl an den Augen leidet, daher bin ich sein Geheimsecretär. Es ist übrigens gar nicht hübsch von Ihnen, daß sie der Freundin Ihrer Schwägerin Dolores verheimlicht haben, daß Sie Baron geworden sind. Wir hörten es im Speisesaal vom Oberkellner, als wir nach ›Mr.‹ Göhring fragten! Wir wären gern noch ein paar Tage in dem herrlichen Heidelberg geblieben. Vielleicht auf der Rückreise. Dann dürfen Sie aber nicht vor uns nach Speier fliehen – meint mein Onkel.
Ihre ganz ergebene
Ethel Douglas.«
In äußerst schlechter Laune wegen dieser zweifachen Ueberraschung begab sich Theo in seine Wohnung. Buddha sprang ihm begeistert entgegen, aber zum erstenmal wurde das treue Thier unfreundlich abgewiesen.