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»Nun?« fragte Theodor, als er mit Hans allein auf der Falm stand.
»Ins Boot oder auf die Klippe oder bei mir zu Haus 'n Grog trinken?«
»Meerleuchten ist heute keines?«
»Zu viel Mondschein. Morgen wird's wohl welches geben, wenn der Himmel bedeckt ist.«
»Dann gehen wir morgen ins Boot und heute zur Nordspitze.«
»Recht, Theo!« rief Hans.
»Aber erst zur Südspitze und zum alten Leuchtthurm. Mir ist's gleich, wann ich heimkomme. Im Nothfalle lege ich mich bei dir aufs Sopha.«
»Also rechts hinunter!«
Sie gingen hierauf eine Zeitlang schweigend nebeneinander her, bis sie das Government House und damit die letzten Gebäude hinter sich hatten. Bei der kleinen Batterie, an die man kommt, bevor der Weg sich hart an der Klippe entlang südwestlich wendet, eröffnete Theo die Unterhaltung mit einem: »Gott sei Dank!«
»Ich wußte, daß ich dich noch treffen würde!«
»Ich hoffte das, Hans!«
»Ich wußte auch, daß es an dir nicht lag, wenn du nicht loskommen konntest.«
»Du hattest recht.«
»Und vielleicht sehen andere es auch nicht gern, daß du kommst.«
»Thun wir etwas Unrechtes?«
»Nicht doch, Theo.«
»Also. Ich kümmere mich nicht darum.«
»Und wie lange kann das so gehen?«
»Was?«
»Unsere Freundschaft.«
»Solange wir sie halten, Hans.«
»Solange der liebe Gott es will. Wir wollen nichts fürchten, Theo.«
»Gewiß nicht. Es thut mir wirklich leid, daß ich so spät erst loskam. Aber ich sollte durchaus tanzen …«
»Hab' ich gesehen. Ich habe fast zwei Stunden hinter dem Gartenstaket beim Conversationshause gewartet.«
»Aber Hans!«
»Sei nicht böse – ich wollte nichts ausspioniren, sondern nur aufpassen, wann du nach Hause gingest. Und dann traf ich euch bei dem Lift …«
»Das war eine prächtige Idee von dir, Hans.«
Sie faßten einander nun um die Schultern und wandelten langsam über das kurze Gras des Oberlandes von der Südspitze auf den Hügel des alten Bakenleuchtthurmes zu. Etwa zehn Minuten herrschte wieder tiefes Schweigen zwischen den jungen Leuten. Theodor dachte an sein Gespräch mit Dr. von Sechow; aber jetzt, da der Freund an seiner Seite ging, konnte er dem ältern Manne nicht mehr recht geben. Er fühlte, daß die Vorsehung allein ihre Freundschaft zu glücklichem Ende leiten könne. Gott hatte ihn mit Hans zusammengeführt; Gott hatte so viele Jahre über ihrem Bund gewacht; Gott hatte den trauten Jugendgenossen so sichtbar vor manchen Gefahren seines Alters bewahrt: warum sollte der Allmächtige sich jetzt von ihnen zurückziehen? Theo übte die Religion nicht praktisch; denn seine Familie hielt sich nicht zur kirchlichen Partei, wenigstens seine Eltern nicht. Aber in diesem Augenblicke betete er still im Herzen zu Gott für sich und seinen Freund – nachdem er mehrere Jahre, vielleicht seit der Confirmation, kaum an den Schöpfer und Erhalter seines Lebens gedacht hatte.
»O Gott,« so flehte er, »nimm mir nicht das Liebste, was ich auf der Welt habe!« Und dann wandte er sich zu Hans: »Nun, du bist ja so still heut Abend.«
»Ich dachte gerade nach, wie ich dir etwas sagen könnte, was ich schon lange auf dem Herzen habe.«
»Sag's nur so, wie du denkst.«
»Das wird am besten sein, ja. Wir wollen uns auf die Bank oben am alten Leuchtthurm setzen; was meinst du, Theo?«
»Das ist ja unser Platz vom vorigen Jahre. Nirgends plaudert sich's so gut, wie da oben. Eine Seite an dem Gemäuer ist immer windgeschützt und die Aussicht nach allen Richtungen herrlich. Weißt du übrigens, daß ich letzten Winter ein Gedicht auf unsern andern Lieblingsplatz an der Nordspitze gemacht habe?«
»Du hast mir lange keine Verse von dir vorgelesen. Hast du das Gedicht bei dir?«
»Ich kann es auswendig.«
»Laß also hören.«
Theodor mäßigte seine Schritte und ließ Hans' Arm los, als er begann:
»Wie lebten wir so froh-zufrieden
Im sichern Stolz, uns gut zu sein!
Mein Herz schlägt dir, und du bist mein,
Das ist uns Glück genug hienieden,
Uns Prinzen aus der Träume Reich,
So lieb einander und so gleich!
»Wie haben wir uns stets verstanden!
Wie gern ward jedes Glück getheilt!
Wie schnell manch Herzeleid geheilt,
Seit wir uns wie zwei Brüder fanden,
Zwei Prinzen aus der Träume Reich,
So lieb einander und so gleich!
»Die Geister, die uns gern gefrohnet –
ich meine die Geister aus den Seefabeln und deinen friesischen Geschichten, Hans, die uns so oft gedient und manche Stunde Unterhaltung gewährt haben.«
»O ich verstehe schon, Theo, nur weiter!« drängte Payens.
»Die Geister, die uns gern gefrohnet,
Sie brachten holde Märchen dar;
Ihr Stelldichein die Klippe war,
Wo wir in stiller Nacht gethronet,
Zwei Prinzen aus der Träume Reich,
So lieb einander und so gleich!
»Wir sangen, was am Himmelsbogen
In goldnen Noten leuchtend stand;
Es brauste drein vom Felsenstrand
Der Orgelton der Meereswogen,
Uns Prinzen aus der Träume Reich,
So lieb einander und so gleich!«
»O Theo, wie schön du alles sagen kannst! … Ich verstehe dein Lied sehr gut, aber ich würde so etwas nicht fertig bringen. Die goldenen Noten sind die Sterne, nicht?«
»Natürlich. Haben wir nicht manchmal wirklich diese Schrift miteinander studirt und allerlei wunderliche Gedanken ausgetauscht und auch dabei gesungen?«
»Gewiß, und wie merkwürdig waren all die Sterngeschichten, die du in deinen griechischen und lateinischen Büchern gelesen hattest und mir so schön erzähltest! Da wurden die Sterne zu Menschen und Löwen und Delphinen …«
»Hoffentlich hast du die Märchen nicht immer geglaubt!« lachte Theodor.
»Nicht doch. So viel hab ich denn am Ende noch bei dem guten Pastor Köster gelernt! Aber ich weiß nicht, wie es kam: den Sinn von deinen Geschichten hab ich meist ganz gut verstanden.«
»Du bist eben ein kluges Menschenkind, Hans. Uebrigens kannst du deine friesischen Sagen auch ganz famos erzählen. Heute bist du mir ganz gewiß eine schuldig.«
»Du kennst sie ja schon alle.«
»Keine Ahnung.«
»Doch.«
»Macht nichts, dann höre ich eine zum zweitenmal. Aber ich lausche dir so gern.«
»Wie das nur möglich ist, Theo! Deine vornehmen Freunde wissen doch viel besser zu reden, und sie haben auch mehr gelernt …«
»Eins haben sie nicht, was du hast, Hans … gerade das, was … na, kurz und gut, erzähle!«
Hans lächelte vor sich hin und dachte, was er denn wohl vor Theos gebildeten Bekannten voraushaben könnte. Daß er nichts zu finden vermochte, war im Grunde eine Bestätigung von Theos Behauptung.
»Denkst du nach über eine Geschichte?«
»Nicht doch. Ich will dir statt dessen von einer friesischen Sitte erzählen, aber zuerst müssen wir über etwas anderes sprechen. Komm, leg deinen Arm wieder um meinen Hals: wir wollen zusammen den Hügel hinaufstürmen. Halt noch! … so! Jetzt einen guten Anlauf! Setz deinen Hut fest, Theo … vielleicht ist da an der Ecke mehr Brise! Fertig? Eins … zwei … drei – los!«
Der Spaß bestand darin, daß sie von ihrem Platze aus, einer Bodensenkung folgend, erst bergab liefen und hierdurch einen natürlichen Schwung für die Erstürmung des freilich nach festländischen Verhältnissen ziemlich mäßigen Bakenhügels bekamen. Theodor war kein ungeschickter Turner, aber gegen Ende des Weges ging ihm doch der Athem aus. Mit schnellem Griffe faßte ihn der junge Schiffer um die Hüfte und hob ihn buchstäblich das letzte Stück Weges bis auf die Anhöhe. Dort warfen sie sich beide auf die Bank und lachten und schnauften.
»Merkwürdig,« sagte Theo, »daß du es mir zuvorgethan hast! Du bist schlanker und behender als ich, das macht es. Muskeln habe ich auch, aber wir Städter sind in der Seeluft, scheint es, nicht so gut bei Athem.«
»Nicht doch, Theo. Du bist stärker als ich, das ist ganz sicher! Du wirst auch viel länger leben als ich …«
»Rede doch kein dummes Zeug …«
»Ja, sieh nur, wie schmal meine Brust gegen deinen breiten Kasten ist! Freilich, kräftige Arme habe ich: das kommt vom Rudern. Nein, ich will dir sagen, weshalb dir mit einemmal die Luft ausging. Schau, wir tragen bei so etwas immer einen strammen Gürtel.«
»Das müßte dich doch eher hindern …«
»Weiß nicht, wieso. Wir Hollunder thun es aber alle. Es gibt mehr Ausdauer. Das ist der ganze Grund, Theo. Glaub mir, du bist viel kräftiger, aber natürlich die Anstrengung nicht so gewohnt.«
Theo mußte dem Freunde recht geben, wie er ihn so im hellen Vollmondlicht an der Thurmwand neben sich sitzen sah. Die ganze Gestalt war auffallend schlank, sogar zart. An der Kleidung und den hart gearbeiteten Händen erkannte man zwar in Hans den Schiffer; aber sein Antlitz, über das der unaussprechliche Zauber der noch nicht ganz zur Kraft des Mannes entwickelten Knabenschönheit ausgegossen lag, verrieth so viel frische Anmuth und natürliche intelligente Bildung, daß man ihn recht wohl für den Sohn eines guten Hauses halten konnte. Was an ihm besonders fesseln mußte, war der Blick seiner warmen, treuherzigen braunen Augen. Sie verriethen, daß noch keine niedere Leidenschaft die Jünglingsseele verwüstet, noch kein zerstörender Sturm den Frieden seines Herzens unterwühlt, noch keine drückende Schuld die Reinheit seines Gewissens befleckt hatte. Und doch war dieser junge Mensch ein Wesen von Fleisch und Blut, ein lebhafter Charakter, der Eindrücke aller Art schnell auffassen und sich für Menschen und Dinge, die ihn ansprachen, recht und ehrlich, ja zu Zeiten feurig begeistern konnte. Wenn er oft eher zurückhaltend erschien, so lag der Grund in jener eigenthümlichen Bescheidenheit, die bei edeldenkenden, feinfühligen Leuten aus den untern Ständen jene anerzogene, zur zweiten Natur werdende Selbstcontrolle ersetzt, welche in den gebildeten Klassen für eine unerläßliche gesellschaftliche Ausrüstung gilt. Und wie unter dieser Patina vornehmer Ruhe sehr wohl das minderwerthige Metall ungezähmter Leidenschaft verborgen sein kann, so vermag auch die Bescheidenheit des geringen Mannes zum bloßen Deckmantel persönlicher Ungeschicktheit und Unbeholfenheit zu werden. Die wahre Selbstcontrolle und die echte Bescheidenheit finden sich selbstverständlich bei willensstarken, richtig urtheilenden Menschen jeden Ranges, doch ist diese Tugend an sich etwas anderes als jene, man möchte fast sagen, angeborene Bescheidenheit, welche oft den sogen. gesellschaftlichen Schliff ersetzt. Hans Payens besaß diese Feinfühligkeit des Gemüthes. Sie hinderte ihn indessen nicht, bei gegebener Gelegenheit sehr offen seine Meinung auszusprechen, offener vielleicht, als es Jünglingen höherer Bildungsstufe gestattet zu sein pflegt.
Daß ein derartiger Charakter einen Freund wirklich fesseln konnte, ist begreiflich. Beide Jugendfreunde hatten überdies einen gemeinsamen Zug, den Hang zu romantischer Auffassung des Lebens und insbesondere ihres gegenseitigen Verhältnisses. Bei Theo äußerte sich diese Richtung in scheinbar widerspruchsvoller Weise. Denn wie stimmen Romantik und Pessimismus zusammen? Die Lösung dieses Räthsels lag darin, daß der Bankdirectorssohn, in seinen Idealen durch die verlogene und doch wieder so schauerliche, unbarmherzige Wirklichkeit gründlich enttäuscht, seine eigene Sphäre, in der er schon frühe böse Erfahrungen gemacht hatte, mit den Augen des Pessimisten betrachtete, und dann, da er noch zu jung war, um in vollem Ernste zu verzweifeln, sein Heil bei all jenen Menschen und Verhältnissen suchte, wo er Aufrichtigkeit und Natürlichkeit zu finden meinte. Hans, an dem er mit einer Art von Schwärmerei hing, erblickte hinwieder das Ideal seiner Romantik im Opfer, in der gänzlichen Hingabe an den Freund. Die naive Verehrung, welche der Fischerknabe dem Städter zollte, machte diesen zu einem bessern Menschen; denn Theodor wollte nicht nur scheinen, sondern wirklich sein, was der Gespiele und Vertraute an ihm erblickte. Seine eigenen intellectuellen und socialen Vorzüge trugen andererseits zur Ausbildung von Hans' Charakter bei.
Nach einigen weitern Erörterungen über ihre körperliche Leistungsfähigkeit und Kraft – bei jungen Leuten gewissen Alters ein beliebter Gesprächsstoff – kamen sie auf ernstere Dinge. Hans mußte erzählen, was er auf dem Herzen hatte.
»Theo,« so begann er, »du mußt versprechen, mir eine Bitte zu erfüllen.«
»Ich würde dir die ganze Welt schenken, wenn sie mir gehörte.«
Hans schüttelte den Kopf: »Gerade das ist's, worüber wir mal reden müssen. Du hast da was gesagt, worüber ich gerade meine Gedanken hatte. Jetzt sind wir also gleich bei der Bitte angekommen: Theo, du mußt mir niemals etwas schenken …«
»Du kleiner Narr!«
»Auch nicht die kleinste Kleinigkeit.«
»Nein, mit Kleinigkeiten geben wir uns nicht ab.«
»Nicht doch, Theo, es ist mir ganz ernst gemeint. Wenn du mich lieb hast, schenke mir nie wieder etwas.«
»Aber bist du denn ganz verquert? Hat dir der Kieker nicht gefallen? Ich lasse dir einen andern kommen!«
»Theo, hör mal, warum. Der Kieker hat mir solche Freude gemacht, daß ich es gar nicht sagen kann. Ich hab mit meinem Taschenmesser gleich unsere Namen und die Jahreszahl und den Tag darauf eingekratzt – – aber – sieh, die andern Burschen …«
»Beneiden dich? Ganz recht, das sollen sie. Ich wollte, du hättest es besser als … als … als der indische Großmogul oder Rothschild oder … kurz und gut, sie können, sie sollen dich beneiden.«
»Theo, das ist es nicht. Sie sagen …«
»Was sagen sie?« fuhr Theodor auf.
»Sie sagen, daß ich nur darum zu dir halte, weil ich arm bin und … du reich bist, Theo!«
»Schockschwernoth, was für ein Blödsinn!«
»Sei nur nicht aufgeregt darüber. Es ist ja ganz einfach … du schenkst mir nichts als deine Freundschaft. Das ist genug.«
Theodor sprang auf und legte mit großer Heftigkeit los: »Ganz anders werde ich von jetzt an für dich sorgen. Leider bin ich noch nicht volljährig; aber das Geld, welches ich von Papa bekomme, reicht noch zu Besserem. Staunen sollen die Kerle, Hans! Bombenelement, ich sollte meinen besten Freund wegen des einfältigen Geschwätzes schlechter behandeln? Fällt mir im Traume ein! Weil du arm wärest und ich … so? Gut, du sollst schon reich werden … ich …«
»Mach keine Pläne, Theo! Wenn du dich mal verheiratest …«
»Was? Wie? Ich sollte mich in eines von diesen aufgezierten, schmachtenden, Klavier spielenden, Romane lesenden, langweiligen und … und … geistlosen Fräuleins verlieben?«
»Es wird doch auch bessere Mädchen geben …«
»Bitte, zeig sie mir! Möglich! Ich will nicht ungerecht sein, aber das sage ich dir: verstellen können sie sich von der Fußsohle bis zum falschen Zopf. Ich habe die Weiber beobachtet, leider – nein, Gott sei Dank! … Man weiß nicht, was sie denken, wollen und vorstellen …«
»Wenn nun aber die rechte kommt …«
»Laß sie kommen! Die rechte wird gerade mein Verhängnis; sein. Gott bewahre mich vor … oder hast du dich verliebt, Hans, daß du mit einemmal so reden kannst?«
»Ich?« fragte Hans mit natürlichem Erstaunen, »wer soll mich denn wohl wollen!«
Theo lachte fast höhnisch und redete dann mit steigender Erbitterung weiter.
»Dich wollen, mein Prinz? Warte nur, bis du ein oder zwei Jahre älter bist. Dann werden sie nach dir angeln. Werden's übrigens schon jetzt thun, aber du bist zu edel. Uebrigens … wenn du einst dein Glück zu finden vermeinst, meinetwegen. Ich werde euch dann eine glänzende Hochzeit halten lassen. Auch dann, Hans, sollen deine Kameraden staunen. Es ist der Lauf der Welt, ich weiß es; aber ein furchtbares Glücksspiel. Acht Tage Seligkeit – dann jahrelange Hölle. Freilich, wenn man ihnen trauen könnte wie dem Manne …«
»Theo, du hast doch auch eine Mutter! Und denkst du, daß meine Schwester kein Vertrauen verdient? Es gibt doch auch Männer, die schlecht sind.«
Der Redner wurde ruhiger. Er fühlte, daß sein Eifer kindisch war, und Hans mit seinem klugen Tadel hatte das Richtige erkannt. Deshalb nahm er sich zusammen und suchte wieder einzulenken. Uebrigens waren seine Nerven sehr angegriffen.
»Schau, Hans. Ich spreche nur im allgemeinen. Natürlich gibt es auch brave Mädchen. Heutzutage kannst du sie aber zählen, und verzählen kommt dabei auch noch vor. Jedenfalls glaube ich … daß mancher besser ledig bleibt. Die ganze Welt braucht ja nicht zu heiraten. Ich werde jedenfalls auf meiner Hut sein. Aber einerlei – um auf das zurückzukommen, wovon wir sprachen: ich will, hörst du es? ich will, daß du an meinen Gütern theilnimmst, soviel es geht. Und später, wenn ich mein eigener Herr bin, wollen wir …«
Mit schalkhaftem Blicke unterbrach ihn der verständige Freund: »Wir Prinzen aus der Träume Reich – so lieb einander und so gleich!«
»Was soll das jetzt?«
»Theo, laß uns keine Zukunftspläne träumen. Der liebe Gott wird für uns sorgen!«
»Aber alles bleibt wie vorher, auch die paar lumpigen Geschenke!«
»Gewiß, wenn du so viel darauf gibst. Es ist mir auch lieb, wenn du es so willst. Aber du glaubst mir doch, daß ich nicht der Geschenke wegen dein Freund bin?«
»Aber, Hans! Du bist zu so etwas viel zu nobel. Ich verdiene deine Freundschaft gar nicht; eben habe ich mich wirklich sehr schlecht benommen …«
»Nicht doch! Ich kenne ja den Grund. Wenn du mich nicht so gern hättest, wärest du ruhiger gewesen.«
»Ach, Hans … wenn du wüßtest, wie öde es in meiner Brust ist ohne dich! Du bist mein Sonnenschein, mein Rettungsanker, mein Glaube! Als ich confirmirt wurde, da … nun, da hatte ich Freude an der Religion und war glücklich …«
»Das kannst du noch sein, nicht?«
»Ich könnte es. Aber welcher Glaube ist der wahre?«
»Aber Theo! Der christliche! Du kannst doch nicht Heide oder Jude …«
»Hans, du weißt nur von einem Christenthum!«
»Natürlich; unser Herr Christus ist doch nur Einer! Es kann doch nicht mehrere Christenthümer geben, Theo!«
»Du unbewußter Philosoph! Sieh, Hans, die Menschen haben aus der Lehre Christi … doch wozu dieses Gespräch? Bleibe du glücklich und … mache mich auch glücklich. Deine Freundschaft ist das Beste, was ich auf der Welt habe.«
»Und das kannst du mir auch glauben, mein Theo: gleich nach unserem Herrgott kommst du! Noch vor meiner Schwester!«
Theodors Nerven waren so überreizt, daß er anfing zu schluchzen. Da hub Hans an zu singen:
»Mein Süsterken sitzt im Kämmerlein
Und bessert grobe Netze aus;
Die Schwiegermutter kommt herein,
Die kann noch zehnmal gröber sein.
O Süsterken, Süsterken, nur nich bang,
Gau kommt dein Mann vom Schellfischfang!«
»Das garstige Lied!« rief Theo, verbiß sich aber das Lachen.
»Ich wollte nur, daß du wieder vergnügt wirst. Wenn du noch traurig bist, kann ich noch den andern Vers singen.«
»Nein, Hans. Komm, laß uns wieder aufbrechen und zur Nordspitze gehen.«
»Bist du nicht zu müde, Theo? Sollen wir heute nicht lieber schlafen gehen?«
»Kann ich mit zu dir kommen?«
»Zu Hause hast du ein besseres Bett. Mein Sopha ist hart und unbequem. Aber du kannst meine Koje kriegen. Ich schlafe gern auf dem Sopha.«
»Laß uns nur noch zusammenbleiben – wo, ist mir einerlei. Ich fürchte mich, allein zu sein.«
»Nicht doch. Vor wem denn?«
»Vor mir selbst. Du bist mein Schutzengel.«
»Siehst du da hinten in Nordwest die Wolkenbank, Theo? Es kommt mehr Wind morgen. Oder heute? Es muß schon Mitternacht sein.«
»Ach, was geht uns die Zeit an! Sag mal, du wolltest ja noch von einer friesischen Sitte erzählen, Hans.«
»Das ist auch wahr. Thea, hast du schon einmal von der Blutbrüderschaft gehört?«
»Ich weiß nicht recht … ist es dasselbe wie Blutfreundschaft?«
»Ich meine wohl. Weißt du davon Bescheid?«
»O kaum.«
»Theo, wollen wir Blutsfreunde, Blutbrüder werden, du und ich?«
Das war romantisch! Theodor ergriff des Freundes Hand und erwiderte voll Eifer: »Was ist es? Erkläre es mir, Hans!«
Feierlich äußerte sich der junge Schiffer: »Fremden bieten wir sie selten an. Aber du bist kein Fremder.«
»Nein, Hans, nein!«
»Du mußt sie kennen lernen. Nur zwei Freunde, die einander bis in den Tod lieben wollen, können Blutsbrüder werden. Sie nehmen einen Becher Wein und mischen dazu Tropfen ihres eigenen Herzblutes. Dann sprechen sie den alten Willebrordsegen über den Becher und leeren ihn – jeder trinkt mit seiner Hälfte das Blut des andern. Von der Stunde sind sie wahre Brüder, und Gott selbst wird sie wieder vereinigen, wenn das Schicksal sie scheidet. Liebe und Treue müssen sie einander bewahren bis zum letzten Athemzuge. Ihr Auge muß klar sein, Herz muß wahr sein. Hand muß rein sein. Mein Gott muß dein sein. Uns schreckt nicht Noth, uns trennt nicht Tod. Wir sind uns nah in fernem Land. Nur schwere Schuld zerreißt das Band.«
»Das ist das Rechte, Hans! Mein Freund, mein geliebter Bruder …«
»Nur einer darf dein Bruder werden …«
»Gut, nur einer. Das versteht sich. Noch diese Nacht schließen wir den Bund … O warum hast du mir nicht eher davon erzählt!«
»Jetzt weiß ich, daß du's wohl tragen kannst.«
»Was tragen? Wie meinst du?«
»Jetzt hast du dem armen Schiffer jahrelang die Treue gehalten. Du bist nicht stolz geworden, darum wirst du den Bund nicht brechen. Schau, Theo, so leicht ist's nicht: wenn wir Blutsbrüder sind, darf dir unter allen Menschen keiner lieber sein als dein Bruder, es sei denn, daß Gott dir ein Weib bestimmt …«
»Sprich nicht davon. Laß uns den Bund eingehen.«
»Und wenn der Bruder in Noth und Gefahr ist, darf er den andern rufen, und der muß folgen.«
»Einverstanden, Hans! Du kannst meiner sicher sein.«
»Aber bist du ganz gewiß, Theo, daß ich nicht an meine Armut und deinen Reichthum denke?«
»Ich traue dir vollkommen. Erwähne nichts mehr davon.«
»Gut denn, so komm!«
Der junge Schiffer erhob sich.
»Wohin?« fragte Theodor, ebenfalls rasch aufspringend.
»Wir gehen zu mir. Von meinen Eltern habe ich einen silbernen Taufbecher, der schon lange in unserer Familie ist. Der soll uns dienen.«
»Und der Wein?«
»Meine Schwester hat ein paar Flaschen gestrandeten Wein verwahrt für den Fall, daß eines von uns mal krank würde. Davon nehmen wir.«
»Gut. Und was ist es mit dem … wie nanntest du den Segen?«
»Willibrordsegen.«
»Wie lautet der?«
»Du wirst ihn hören. Er ist aus alter Zeit. Ich habe einmal vernommen, daß Willibrord ein heiliger Mann gewesen sei, der vom Festland kam, als alle Hollunder noch Heiden waren. Er schaffte die Thieropfer auf der heiligen Insel ab, sagen sie, und vertrieb die bösen Geister und Gespenster. Ich weiß nicht, was daran ist.«
»Vielleicht war es der Bischof Willibrord. Ich las einmal, daß er den Friesen das Evangelium gepredigt habe. Die Geister sind vermuthlich die alten Heidengötter Freya, Fosites und …«
»Mag sein. Ich kann's nicht sagen, das ist etwas für euch Studirte. Ich muß dir aber noch etwas ans Herz legen, Theo: von dem Augenblicke an, wo wir den Becher füllen, bis zum Schlüsse, d. h. bis wir den Wein und das Blut getrunken haben, darfst du kein Wort reden. Ich darf auch nichts sprechen als den Segen. Vergiß das nicht, Theo, hörst du?«
»Gut, ich werde gewiß schweigen.«
Sie schickten sich zum Gehen an.
»Wenn du willst, kannst du mir den Segen nachsprechen, aber auf keinen Fall irgend etwas anderes.«
»Ganz recht. Ich mache alles, wie du es mir angibst.«
»Sieh mal, wie schnell die Wolkenbank heranrückt! Und hör die leise Brandung unten an der Klippe. Vorher war es ganz still, aber jetzt rauscht es schon deutlich heraus. Wenn der Tag kommt, gibt es steife Brise, und wenn es so beibleibt, in 24 Stunden Sturm aus Nord-West.«
»Laß nur kommen, das ist … hui, mein Hut! Halt, er geht über die Klippe!«
»Nur langsam, wir kriegen ihn gleich wieder. Der Wind steht ja gegen Land, er treibt ihn zurück.«
Sie hatten Theos Hut nach wenigen Augenblicken bereits gepackt. Dann gingen sie an der weißen Mauer des neuen Leuchtthurms vorbei und bogen nach Durchquerung der Felder in das Dorf ein. Nach zehn Minuten standen sie in der niedrigen Wohnung des Schiffers. Von Hans' Schwester war nichts zu sehen.
»Sie wird lange droben in ihrer Kammer schlafen,« meinte Haus, als er Licht gemacht hatte. »Sie ist so gut gegen mich und hat mir die Mutter recht ersetzt. Wenn sie hörte, was wir vorhaben, würde sie froh sein. Sie wird dich lieb haben wie ihren leiblichen Bruder.«
»So ist die Blutsbruderschaft kein Geheimniß?«
»Nicht doch. Es ist ja nichts, wovor man sich schämen muß. Du kannst es aber halten, wie du willst. Jedenfalls werden dich alle unsere Burschen, wenn sie es erfahren, wie meinen Bruder behandeln – oder willst du, daß es geheim bleibe?«
»Nein, Hans, durchaus nicht. Ich dachte nur, es wäre vielleicht Sitte.«
»Was vor Gott recht ist, muß ja auch den Menschen gefallen. Aber mach dir's doch bequem, Theo, so gut es bei uns geht. Ich suche den Wein.«
»Deine Stube ist wahrhaftig der gemüthlichste Ort auf der Welt, Hans. Ich ziehe meinen Rock aus und nehme diesen langweiligen Modeschlips ab …
»O der Schlips ist ja ganz hübsch …«
»Willst du ihn haben? Da! fang!«
»Aber Theo, ich kann bei dir gar nichts hübsch finden, ohne daß du es weggibst. Nein, behalte den Schlips. Ich trage ja kein gesteiftes Hemd wie du. Ueber dem Jumper kann ich doch das Ding nicht brauchen.«
»Das ist freilich wahr. Nimm wenigstens die Nadel, es ist ein echter Rubin.«
»Nicht doch, Theo – sei vernünftig. Warte … ich bin gleich wieder da.«
Als Hans das Zimmer verlassen hatte, ging Theodor an die Kommode. In der obersten Schublade – das wußte er – bewahrte Hans seine kleinen Schätze. Er öffnete die Lade und legte die Busennadel hinein. Bei dieser Gelegenheit sah er, daß die Photographie, welche er Hans im Winter geschickt hatte, schön eingerahmt auf der Kommode stand. Leise kehrte er wieder zum Sopha zurück, denn erhörte den Freund kommen.
Hans stellte einen silbernen, innen vergoldeten Becher auf den Tisch und schenkte aus einer staubigen Flasche den dunkelrothen, öligen Wein mit Bedacht und Würde ein. Dann warf er seine blaue Jacke ab, streifte den Aermel des linken Armes zurück und machte Theo ein Zeichen, dies auch zu thun. Hierauf öffnete er sich eine kleine Ader und ließ einige Tropfen Blutes in den Wein fließen. Dann hielt Theo ihm schweigend den Arm hin, und sein Blut vermischte sich gleichfalls mit dem Tranke. Der junge Schiffer, welcher Theo in diesem Augenblicke feierlichen Ernstes als ein vollendetes Bild edler jugendlicher Anmuth erschien, senkte die Augen auf den Becher, machte mit der Hand ein Kreuz über die purpurn funkelnde Mischung und sprach die Formel:
»Willibrord, wirke den Kreuzessegen,
Falscher Freunde Furcht entgegen,
Fluch und Finsterniß entgegen!
Verschon das Schiff
Vor Rack und Riff;
Wind und Wellen laß sich legen,
Neid und Noth sich nimmer regen:
Gott mit uns auf allen Wegen!«
»Gott mit uns auf allen Wegen!« wiederholte Theodor mit leiser Stimme. Hans reichte ihm stumm den Becher. Er leerte ihn halb und hielt ihn dann selbst an die Lippen des Freundes. Mit den Worten:
»Bruder, den mir Gott gegeben,
Geh mit mir ins ewige Leben!«
küßte dieser Theo, der glücklich und froh die herzliche Umarmung erwiderte.
Schnell stillten sie nun das Blut der unschuldigen Wunden mit kaltem Wasser und Leinwand. Der Rest der Weinflasche ward bald geleert.
»Willst du heim oder hier bleiben?« fragte Hans.
»Hier bleiben. Wenn ich nur morgen zum Frühstück daheim bin, vermißt mich kein Mensch. Vor acht Uhr trinken wir keinen Kaffee.«
»Schön. Meine Schwester steht um halb sechs auf … sie macht dir dann gleich eine Tasse Thee. Jetzt solltest du schlafen. Du bist sehr müde, ich sehe es dir an.«
»Es ist wahr. Aber hier auf dem Sopha schlafe ich.«
»Laß mich dort liegen. Du ziehst die Kleider aus und kriechst in meine Koje.«
»Nein, Hans. Ich liege hier ebensogut.«
»Wie du willst. Zieh dich nur aus, ich lösche das Licht gleich und gehe auch schlafen.«
So geschah es. Theo warf die Stiefel von sich und streckte sich auf das altmodische Sopha. Hans wirtschaftete noch eine Weile in der Stube herum, dann wurde es dunkel. Keine fünf Minuten später ruhten die beiden glücklichen Jünglinge in den Armen des Schlafes. In einer Ecke schnurrte Hans' alter Kater.
Draußen begann der zunehmende Wind an den Fensterläden und Dachluken zu rütteln. Der Himmel war noch ziemlich klar; doch verriethen viele Anzeichen, daß das Wetter sich ändere. Kein Geräusch weckte indes die süß schlummernden zwei Prinzen aus der Träume Reich, so lieb einander und so gleich.