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XI.
Die Wiener Oktoberrevolution

 

London, März 1852.

Wir sind nun bei jenem entscheidenden Ereignisse angelangt, das in Deutschland das revolutionäre Gegenstück zur Pariser Juni-Insurrektion bildete und mit einem Schlage die Wagschale auf die Seite der kontrerevolutionären Partei neigte – zum Wiener Aufstand vom Oktober 1848.

Wir haben gesehen, welche Stellung die verschiedenen Klassen in Wien nach dem Siege vom 13. März einnahmen. Wir haben auch gesehen, wie die Bewegung Deutschösterreichs sich mit den Vorgängen in den nichtdeutschen Provinzen Oesterreichs verwickelte und durch sie gehindert wurde. Wir haben also nur noch kurz die Ursachen zu überblicken, die zu dieser letzten und furchtbarsten Erhebung in Deutschösterreich führten.

Der hohe Adel und die Börse, welche die bedeutendsten nichtoffiziellen Stützen des Metternichschen Regimes gebildet hatten, waren auch nach den Märzereignissen im Stande, einen maßgebenden Einfluß auf die Regierung zu üben, Dank nicht nur dem Hofe, der Armee und der Bureaukratie, sondern mehr noch Dank dem Grauen vor der »Anarchie«, das sich rasch in der Bourgeoisie verbreitete. Sehr bald wagten diese Kreise einige Fühler auszustrecken in der Form eines Preßgesetzes, einer ungeheuerlichen aristokratischen Verfassung und eines Wahlgesetzes, das auf der alten Eintheilung in »Stände« beruhte. Das sogenannte konstitutionelle Ministerium, das aus furchtsamen, unfähigen, halbliberalen Bureaukraten bestand, wagte am 14. Mai sogar einen direkten Angriff auf die revolutionären Organisationen der Massen, indem es das Zentralkomite der Delegirten der Nationalgarde und der akademischen Legion auflöste, eine Körperschaft, die eigens zu dem Zwecke gebildet worden war, die Regierung zu überwachen und im Nothfall die Volkskräfte gegen sie aufzurufen. Aber diese That provozirte blos die Insurrektion vom 15. Mai, welche die Regierung zwang, das Komite anzuerkennen, die Verfassung und das Wahlgesetz aufzuheben und einem auf Grund des allgemeinen Wahlrechts gewählten konstituirenden Reichstag die Gewalt zur Festsetzung eines neuen Staatsgrundgesetzes zu übertragen. Alles das wurde am nächsten Tage durch eine kaiserliche Proklamation bestätigt. Aber der reaktionären Partei, die ebenfalls ihre Vertreter im Ministerium hatte, gelang es bald, ihre »liberalen« Kollegen zu einem neuen Angriff auf die Errungenschaften des Volkes zu veranlassen. Die akademische Legion, die Hochburg der Bewegungspartei, das Zentrum ununterbrochener Agitation, war gerade als solches den gemäßigteren Wiener Bürgern unangenehm geworden; am 26. Mai wurde sie durch einen Ministerialerlaß aufgelöst. Vielleicht wäre der Streich gelungen, wenn man die Ausführung nur einem Theil der Nationalgarde überlassen hätte; aber die Regierung, welche dieser auch nicht traute, ließ das Militär einschreiten, und sofort richtete sich die Nationalgarde gegen die Regierung, vereinigte sich mit der akademischen Legion und vereitelte so den ministeriellen Plan.

Inzwischen hatte jedoch der Kaiser am 16. Mai mit seinem Hof Wien verlassen und war nach Innsbruck geflohen. Hier, umgeben von den bigotten Tirolern, deren Loyalität Angesichts der Gefahr einer Invasion ihres Landes durch die Sardo-Lombardische Armee wieder erweckt ward; unterstützt durch die Nähe der Truppen Radetzkys, in deren Schußbereich Innsbruck lag, fand die kontrerevolutionäre Partei ein Asyl, von wo aus sie, unbewacht, unbeobachtet und sicher ihre zerstreuten Kräfte sammeln und das Netzwerk ihrer Intriguen wieder herstellen und über das ganze Land ausbreiten konnte. Man setzte sich in Verbindung mit Radetzky, mit Jellachich und mit Windischgrätz, sowie mit den verläßlichen Leuten in der administrativen Hierarchie der verschiedenen Provinzen; man spann Intriguen mit den Führern der Slaven, und so wurde eine wirkliche Macht gebildet, die der kontrerevolutionären Kamarilla zur Verfügung stand, während die unfähigen Minister in Wien ihre junge und schwache Popularität in beständigen Zwistigkeiten mit den revolutionären Massen und in den Debatten des alsbald zusammentretenden konstituirenden Reichstags abnutzten. Daher die Politik, die Bewegung in der Hauptstadt für eine Zeitlang sich selbst zu überlassen. Eine Politik, die in einem zentralisirten und homogenen Lande wie Frankreich zu der Allmacht der Bewegungspartei hätte führen müssen, war hier in Oesterreich, in einem heterogenen politischen Konglomerat, eines der sichersten Mittel, die Kraft der Reaktionäre zu reorganisiren.

Die Wiener Bourgeoisie, die da meinte, daß nach drei aufeinander folgenden Niederlagen und Angesichts einer konstituirenden Versammlung, die auf dem allgemeinen Stimmrecht beruhte, der Hof als Gegner nicht länger zu fürchten sei, verfiel mehr und mehr jener Müdigkeit und Gleichgiltigkeit und jenem steten Drängen nach Ruhe und Ordnung, die sich überall dieser Klasse nach heftigen Erschütterungen und damit verbundenen Störungen der Geschäftsthätigkeit bemächtigen. Die Industrie der österreichischen Hauptstadt ist fast ausschließlich auf Luxusartikel beschränkt, nach denen seit der Revolution und der Flucht des Hofes nothwendigerweise nur geringe Nachfrage herrschte. Der Ruf nach der Rückkehr zu einem geordneten Regierungssystem und nach der Rückkehr des Hofes – beides Dinge, von denen man eine Wiederbelebung der Geschäfte erwartete – dieser Ruf wurde nun allgemein unter der Bourgeoisie. Der Zusammentritt der konstituirenden Versammlung im Juli wurde mit Jubel als das Ende der revolutionären Aera begrüßt. Ebenso die Rückkehr des Hofes, der nach den Siegen Radetzkys in Italien und nach der Einsetzung des reaktionären Ministeriums Doblhoff sich für stark genug hielt, dem Andrang des Volkes zu trotzen, und der außerdem in Wien nothwendig war, um die Intriguen mit der slavischen Mehrheit des Reichstags zum Abschluß zu bringen. Während der konstituirende Reichstag die Gesetze über die Befreiung der Bauernschaft von der feudalen Unterthänigkeit und der Zwangsarbeit für den Adel berieth, gelang dem Hof ein Meisterstreich. Man bewog den Kaiser, am 19. August eine Revue über die Nationalgarde abzuhalten; die kaiserliche Familie, die Höflinge, die Generäle überboten sich dabei in Schmeicheleien gegenüber den bewaffneten Bürgern, die schon von Stolz berauscht waren, sich derart öffentlich als eine der maßgebenden Mächte im Staate anerkannt zu sehen; und unmittelbar danach erschien ein Erlaß, gegengezeichnet von Herrn Schwarzer, dem einzigen populären Minister im Kabinet, der den Arbeitslosen die Staatsunterstützung entzog, die ihnen bis dahin gewährt worden. Der Kniff gelang. Die Arbeiter machten eine Demonstration; die Bourgeois in der Nationalgarde erklärten sich für den Erlaß ihres Ministers; sie wurden auf die »Anarchisten« losgelassen, fielen am 23. August wie Tiger über die unbewaffneten Arbeiter her, die gar keinen Widerstand leisteten, und metzelten eine große Zahl derselben nieder. So wurde die Einheit und Kraft der revolutionären Kriegsmacht gebrochen; der Klassenkampf zwischen dem Bourgeois und dem Proletarier war auch in Wien blutig zum Ausbruch gekommen, und die kontrerevolutionäre Kamarilla sah den Tag kommen, an dem sie im Stande war, den großen Schlag zu führen.

Die ungarischen Angelegenheiten gaben bald Gelegenheit, offen die Prinzipien darzulegen, nach denen man zu handeln dachte. Am 5. Oktober erklärte ein kaiserlicher Erlaß in der »Wiener Zeitung« – ein Erlaß ohne die Gegenzeichnung irgend eines der verantwortlichen Minister für Ungarn – den ungarischen Reichstag für aufgelöst, und ernannte den Banus Jellachich von Kroatien zum Statthalter des Kaisers und Oberkommandanten der kaiserlichen Truppen in jenem Lande – Jellachich, den Führer der südslavischen Reaktion, einen Mann, der thatsächlich im Kriege gegen die gesetzlichen Gewalten Ungarns stand. Gleichzeitig erhielten die Truppen in Wien den Befehl, abzuziehen und zu der Armee zu stoßen, die Jellachichs Anerkennung erzwingen sollte. Das hieß jedoch den Pferdefuß zu offen sehen lassen; Jedermann in Wien fühlte, daß der Krieg gegen Ungarn Krieg gegen das Prinzip der konstitutionellen Regierung bedeutete, welches Prinzip in dem Erlaß selbst mit Füßen getreten worden, indem der Kaiser versuchte, Verordnungen mit Gesetzeskraft ohne die Gegenzeichnung eines verantwortlichen Ministers zu erlassen. Das Volk, die akademische Legion, die Nationalgarde von Wien erhoben sich am 6. Oktober in Masse und widersetzten sich dem Abmarsch der Truppen. Einige Grenadiere gingen zum Volk über; ein kurzer Kampf entspann sich zwischen den Streitkräften des Volkes und den Soldaten; der Kriegsminister Latour wurde vom Volk umgebracht, und am Abend blieb letzterem der Sieg. Inzwischen hatte der Banus Jellachich, bei Stuhlweißenburg von Perczel geschlagen, sich in die Nähe von Wien, auf deutschösterreichisches Gebiet geflüchtet. Die Wiener Garnison, die zu seiner Unterstützung hätte ausziehen sollen, nahm nun eine anscheinend feindliche und defensive Haltung ihm gegenüber an, und der Kaiser und der Hof waren abermals geflohen, nach Olmütz, auf halbslavischen Boden.

Aber in Olmütz befand sich der Hof unter ganz anderen Verhältnissen, als wie in Innsbruck. Er war nun in der Lage, unmittelbar den Feldzug gegen die Revolution zu eröffnen. Er war umgeben von den slavischen Abgeordneten der Konstituante, die in Masse nach Olmütz strömten, und von slavischen Enthusiasten aus allen Theilen der Monarchie. Die Kampagne sollte in ihren Augen ein Krieg werden zur Wiederaufrichtung des Slaventhums und ein Vernichtungskrieg gegen die zwei Eindringlinge auf dem Boden, den sie als slavischen ansahen, gegen die Deutschen und die Magyaren. Windischgrätz, der Ueberwinder von Prag, jetzt Kommandant der Armee, die um Wien sich zusammenzog, wurde mit einem Male der Held der slavischen Nationalität. Und seine Armee verstärkte sich rasch von allen Seiten. Aus Böhmen, Mähren, der Steiermark, Oberösterreich und Italien marschirte Regiment auf Regiment in der Richtung auf Wien, um sich mit Jellachichs Truppen und der früheren Besatzung Wiens zu vereinigen. Ueber 60 000 Mann waren in dieser Weise zu Ende Oktober vereinigt, und bald begannen sie die Kaiserstadt von allen Seiten einzuschließen, bis sie am 30. Oktober so weit waren, den entscheidenden Angriff wagen zu können.

In Wien herrschte inzwischen Verwirrung und Rathlosigkeit. Die Bourgeoisie wurde, sobald der Sieg errungen, wieder von ihrem alten Mißtrauen gegen die »anarchischen« Arbeiter ergriffen. Die Arbeiter, der Behandlung, die sie sechs Wochen vorher von den bewaffneten Geschäftsleuten erfahren, und der unstäten, schwankenden Politik des Bürgerthums im Allgemeinen eingedenk, wollten diesem nicht die Vertheidigung der Stadt anvertrauen und verlangten Waffen und militärische Organisation für sich. Die akademische Legion glühte vor Eifer, gegen den kaiserlichen Despotismus zu kämpfen, war aber völlig unfähig, das Wesen der Entfremdung der beiden Klassen zu verstehen oder sonst zu begreifen, was die Situation erforderte. Verwirrung herrschte in den Köpfen des Volkes, Verwirrung in den leitenden Kreisen. Der Rest der deutschen Abgeordneten des Reichstags mit ein paar Slaven, die, von einigen revolutionären polnischen Deputirten abgesehen, für ihre Freunde in Olmütz Spionendienste verrichteten, tagten in Permanenz. Aber statt energisch mitzuthun, verloren sie ihre ganze Zeit in müßigen Debatten über die Möglichkeit, der kaiserlichen Armee zu widerstehen, ohne die Grenzen konstitutioneller Formen zu verletzen. Der Sicherheitsausschuß, aus Abgeordneten fast aller populären Organisationen Wiens zusammengesetzt, war zwar zum Widerstand entschlossen, ward aber beherrscht von einer Majorität ansässiger Bürger und kleiner Geschäftsleute, die ihn nie zu entschiedenem energischen Handeln kommen ließen. Der Ausschuß der akademischen Legion faßte heroische Resolutionen, war aber in keiner Weise im Stande, die Führung zu übernehmen. Die Arbeiter, mit Mißtrauen angesehen, waffenlos, unorganisirt, kaum aus dem Sumpf der geistigen Knechtschaft des ancien régime auftauchend und kaum erwachend – nicht zur Erkenntniß, sondern zu einem bloßen instinktiven Empfinden ihrer gesellschaftlichen Stellung und der ihnen entsprechendsten Politik, konnten sich nur durch laute Demonstrationen bemerkbar machen; man durfte von ihnen nicht erwarten, daß sie den Schwierigkeiten des Moments gewachsen seien. Aber sie waren – wie überall in Deutschland während der Revolution – bereit bis zum Aeußersten zu kämpfen, sobald sie nur Waffen in die Hände bekamen.

So standen die Dinge in Wien. Außerhalb die reorganisirte österreichische Armee, berauscht von den Siegen Radetzkys in Italien; sechzig- bis siebzigtausend Mann, gut bewaffnet und gut organisirt, und wenn nicht gut geführt, so doch wenigstens mit Führern versehen. Innerhalb Verwirrung, Klassengegensätze, Auflösung; eine Nationalgarde, von der ein Theil entschlossen war, überhaupt nicht zu fechten; ein anderer Theil unentschlossen, und nur der kleinste Theil bereit zu handeln. Eine proletarische Masse, mächtig an Zahl, aber ohne Führer, ohne jede politische Bildung, ebenso leicht geneigt in panische Schrecken wie fast ohne allen Grund in Wuthausbrüche zu verfallen, die Beute eines jeden falschen Gerüchts, das verbreitet wurde, durchaus bereit, zu kämpfen, aber unbewaffnet, wenigstens zu Anfang, und nur unvollständig bewaffnet und kaum organisirt, als man sie schließlich in die Schlacht führte; ein hilfloser Reichstag, der noch theoretische Haarspaltereien diskutirte, als schon das Dach über seinem Haupte in Flammen aufzugehen drohte; endlich ein leitender Ausschuß ohne Feuer und Thatkraft. Alles hatte sich geändert seit den Tagen des März und Mai, wo im Lager der Kontrerevolution völlige Verwirrung herrschte und die einzige organisirte Macht, welche bestand, die von der Revolution geschaffene war. Man konnte kaum noch zweifeln, wie der Kampf ausgehen werde, und jeder Zweifel, der etwa noch bestehen mochte, wurde behoben durch die Ereignisse vom 30. und 31. Oktober und vom 1. November.

 

(Erschienen in der »Tribune« vom 19. März 1852.)


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