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Der »Schillingshof« hieß es, das herrliche, alte Haus, nahe der Benediktinerkirche; im Volksmund aber war und blieb es »das Säulenhaus«, ob auch die Neuzeit ganze Straßenfronten mit Säulen und Säulchen schmückte und so eigentlich die Auszeichnung aufhob. Ein Benediktinermönch hatte das Haus gebaut.
In jenen Zeiten, wo die Beherbergung von Reisenden noch kein städtisches Gewerbe war, nahmen sich die Klöster und Ritterburgen der durchziehenden Fremden an. Mancher Klosterorden errichtete zu diesem Zweck ein Hospiz auf seinem Grund und Boden – so war das Säulenhaus entstanden. – Das Kloster war ein sehr reiches, und Bruder Ambrosius, der Baumeister und Bildhauer, war schönheitstrunken von Italien heraufgekommen; zudem galt es, ein standeswürdiges Unterkommen zu schaffen für gefürstete Häupter und hochgräfliche Herren, die mit Ehegemahl und Gefolge oft des Weges daherzogen und gern an das Klostertor klopften – dies alles machte, daß sich neben dem plumpen Giebelbau des Bruderhauses jene köstliche Fassade erhob, die auf einem hallenartigen, weitgeschwungenen Säulengang ein Obergeschoß mit halbrundbogigen Fenstern trug, und in jeder Bogenfüllung, auf Konsolen und Friesen, und auf den Pfosten der mächtigen Rundbogentür, innerhalb der offenen Halle, den bewunderungswürdigen Schmus einer ganzen steinernen Vegetation zeigte. Während der Oberbau zu beiden Seiten zurücktrat, lief das Erdgeschoß mit feinem Säulengang um je drei Fenster flügelartig weiter; so stieß nur dieses untere Stockwerk hart an die südliche Klosterwand und bildete, durch Steinbrüstungen gekrönt, zwei luftige Seitenterrassen, auf die verschiedene Türen des Obergeschosses mündeten.
Was dieser Fremdling auf deutschem Boden in jenen versunkenen Zeiten erlebt und gesehen, davon wußte das neunzehnte Jahrhundert nur wenig. Damals hatte das Benediktinerkloster außerhalb der Stadt, im freien Felde gelegen; nur einige Lehmhütten hatten sich wie versprengt am gegenüberliegenden Saum der Heerstraße in das Strauchwerk geduckt und kaum die Holzladen ihrer Fensterlöcher gelüftet, wenn abends Pferdegetrappel und herrische Stimmen vor der gewaltigen, die Klostergebäude umschließenden Mauer laut geworden waren.
Der grell auftauchende Flammenschein der Pechfackeln im Hofraum, der höllische Lärm, den die tobenden Klosterhunde und die Reisigen mit ihren wiehernden und stampfenden Rossen verursachten, erlosch nach kurzem wie ein toller Spuk, und die Hüttenbewohner krochen neidisch in ihre Höhlen zurück; denn so viel wußten sie, daß das Kloster einen herrlichen Wein schenkte und seine Schlote Tag und Nacht dampften ... Drin aber, hinter den teppichverhangenen Fenstern der weiten Säle flimmerte das Licht dicker Wachskerzen von den eisernen Reifen der Deckenleuchter, und die hochgeborenen Herren und Frauen, der beengenden und verhüllenden Reitertracht ledig, sammelten sich um die langen, mit dem fürstlich reichen Silbergeschirr des Abtes beladenen Eichentische. Da kreisten die Becher oft bis weit über Mitternacht, die Würfel klirrten, und die fahrenden Spielleute, denen drüben im Bruderhause zur nächtlichen Rast Stroh auf die Steinfliesen geschüttet morden war, durften kommen und aufspielen, solange die müden Finger und Kehlen aushielten.
Sie kamen oft von verschiedenen Seiten her, die großen und mächtigen Herren, um in dem durch Klosterschutz gefeiten Säulenhause geheime Vereinbarungen zu treffen: manche wichtige Urkunde aus jenen Zeiten bezeichnet das Benediktinerkloster als den Ort ihres Ursprunges. Und die Herren Benediktiner hatten sich nicht schlecht dabei gestanden. Sie waren stets, ohne im Säulenhaus gegenwärtig zu sein, lediglich vermöge ihres Scharfsinnes, ihrer feinen Kombinationsgabe, den geheimen Verhandlungen ihrer Gäste gefolgt, und dieses oft an ein Wunder grenzende Wissen hatte ihnen einen unberechenbaren Einfluß in die Hände gespielt.
Später, zu Ende der Reformation, wanderten die Klosterbrüder aus. Das Säulenhaus und den größeren Teil von Wald, Wiesen und Feld brachte das Geschlecht derer von Schilling an sich; die kleinere Hälfte aber und das Kloster selbst mit seinen Wirtschaftsgebäuden kam in die Hände des Tuchwebers Wolfram. Die von Schilling brachen die hohe Mauer weg, die das Säulenhaus von der Heerstraße trennte, und verlegten sie, so hoch sie war, zwischen ihr Grundstück und das des Tuchwebers, denn dazumal war eine freundnachbarliche Gemeinschaft undenkbar ... Die Lehmhütten verschwanden; der betriebsame Geist der Stadt sprengte die enggewordenen Stadtmauern; er schob neue Straßen wie Fangarme in das Feld hinaus, und nach Verlauf kaum eines Jahrhunderts lag das Säulenhaus inmitten eines stattlichen, volksbelebten Stadtviertels, wie ein wunderseltenes Goldkäferlein, verstrickt in die Netzfäden einer fleißigen Spinne.
Und die Herren von Schilling waren mit diesem neuen Geist gegangen. Ein Nürnberger Meister hatte ihnen an Stelle der niedergerissenen Mauer, die Straße entlang ein kunstreiches Eisengitter, klar und durchsichtig wie ein brabanter Spitzenmuster aufgestellt; den ehemaligen grünen Anger dahinter durchkreuzten schmale, mit farbigem Sand bestreute Gänge und teilten ihn in einzelne Rasenstücke und Blumenbeete voll Rosen, Salbei und bunter Nelken; vor der Säulenhalle sprangen Brunnen aus einem hochgetürmten, schönen, schneeweißen Steinabbild, und seitwärts schatteten seltene Zierbäume. Die Tuchweber nebenan aber waren viel konservativer, als die Ritterlichen im Schillingshof. Sie rissen nicht nieder und bauten nicht; sie stützten nur, und wo ein Stein wankte, da wurde er mit ängstlicher Sorgfalt wieder eingekittet; deshalb hatte das »Klostergut«, wie sie ihr Besitztum fort und fort benannten, nach fast drei Jahrhunderten noch vollkommen das Aussehen, das ihm die Mönche gegeben. Altersdunkel zwar, in der gewaltigen Balkenlage ein wenig verschoben, und scheinbar tiefer in die Erde eingesunken, hob sich der Giebelbau ungeschlacht und finster wie immer hinter der Straßenmauer. Und diese Mauer war eitel Flickwerk, wie das eichene Bohlengefüge in ihrem hochgewölbten Torbogen, wie das Pförtchen zur Seite der großen Einfahrt, an welchem einst die müden Fußgänger um Einlaß geläutet, und das heute noch wie damals in denselben Lauten rasselte und schnarrte, wenn um sechs Uhr abends die Leute aus allen Gassen und Straßen herbeikamen, um, ebenfalls wie seit alten, alten Zeiten, die Milch bei den ehemaligen Tuchwebern zu holen; denn die Wolframs hatten sehr bald den Webstuhl mit der Ackerwirtschaft vertauscht, und emsig, wo sie irgend konnten, Grund und Boden und Triftgerechtigkeiten der Stadtflur käuflich an sich gezogen. Sie kargten und sparten, und zäh, hartköpfig und beständig von Charakter waren sie alle, wie sie nacheinander kamen. Die Männer scheuten sich nicht, hinter dem Pflug herzugehen, und die Hausfrauen, eine nach der anderen, standen zur Abendzeit pünktlich auf ihrem Posten am Milchschanktisch, auf daß kein Pfennig durch ungetreue Mägde in fremde Hand komme. Und sie taten recht, die Wolframs, wie es sich im Lauf der Zeiten auswies. Ihr Reichtum wuchs, und mit ihm das Ansehen; sie wurden fast ohne Ausnahme in den Rat der Stadt gewählt, und endlich nach abermals hundert Jahren kam auch die Stunde, wo die Herren von Schilling es für angezeigt hielten, zu bemerken, daß sie einen Nachbar hatten. Von da an entspann sich ein freundlicher Verkehr. Die hohe Mauer blieb zwar stehen – sie hatte sich inzwischen vom Schillingshofe her mit dem undurchdringlichen Geflecht einer köstlichen Weinrebensorte bedeckt, und drüben umklammerte sie dunkler Efeu mit zähen Armen – aber der Geist einer humaneren Zeit schlüpfte über sie weg; die von Schilling fanden es nicht mehr unter ihrer Würde, einen kleinen Wolfram über das Taufbecken zu halten, und wenn sie den nachbarlichen Senator zu Tische luden, so fiel es ihm nicht ein, besondere Ehre darin zu sehen. Ja, es trat die Macht des Wechsels allmählich, im Laufe des letzten Jahrhunderts, so hart an beide Geschlechter heran, daß, während die einst mißachteten Tuchweber mit Patriziernimbus vor ihren Truhen voll verbrieften, reichen Besitztums standen, die Kästen derer von Schilling sich in erschreckender Weise leerten. Sie hatten zu vornehm, in stolzer Üppigkeit gehaust, und der letzte Senior der Familie, der Freiherr Krafft von Schilling, stand bereits voll zitternder Angst mit einem Fuße über dem Abgrund des selbstverschuldeten Unterganges, als der Vetter starb, dem sie Hab und Gut verpfändet hatten. Und das war die Rettung des sinkenden Geschlechtes – der einzige Sohn des Freiherrn heiratete die einzige Tochter des Verstorbenen und mit ihr kamen alle Güter an das Schillingsche Haus zurück. Das geschah im Jahre 1860.
In dieses rettende Jahr fiel aber auch ein Ereignis, das im Nachbarhaus« mit einem wahren Jubel begrüßt wurde. Durch mehrere Generationen hindurch hatte die Familie Wolfram immer nur auf zwei Augen gestanden; seit fünfzig Jahren aber war kein männlicher Erbe auf dem Klostergut geboren worden. Der Letzte des Stammes, der Rat und Oberbürgermeister der Stadt, Franz Wolfram, hatte sich infolgedessen zum finsteren wortkargen Eheherrn umgewandelt, dem der Groll sichtlich am Herzen nagte. Fünf Töchterlein hatten nacheinander das Licht der Welt erblickt, alle so »unausstehlich« flachshaarig wie die Mutter, alle mit der Neigung im kleinen, bangen Kerzen, sich vor dem gestrengen Vater in dunkle Winkel zu verkriechen, bis sie nach kurzem Dasein die hellockigen Köpfchen erlöst und friedfertig auf das weiße Kissen des Totenschreins betten durften... Die Frau Rätin waltete befangen und schweigend, wie eine Schuldbewußte, neben dem verbitterten Eheherrn; nur sein näherkommender Schritt jagte ihr stets die Flamme heftigen Erschreckens über das blasse Gesicht, sonst glich sie einem wandelnden Steinbild mit ihrem stillen, freud- und klaglosen Wesen.
Und nun, sieben Jahre nach dem Tode ihres letzten Töchterleins, lag sie wieder droben in der Hinterstube, unter dem schneeweißen Betthimmel; draußen zogen schwere, dunkle Wolken vorüber, aber ein einzelner Sonnenblitz durchzuckte sie und spielte über der Stirne der blassen Dulderin.
»Ein Sohn!« sagte feierlich die alte Wartfrau.
»Ein Wolfram!« brach es wie ein Jubelschrei von den Lippen des Rates. Er warf zwei Goldstücke in das Bad, das die braunen Glieder des Kindes benetzte, dann trat er an das Bett und küßte zum erstenmal nach zwanzigjähriger Ehe die Hand der Frau, die seinem Sohne das Leben gegeben.
Dann kam ein Tag, wie ihn das Klostergut wohl noch nicht gesehen hatte.
Es war nicht die Art der Wolframs, mit Hab und Gut zu prunken; sie entzogen im Gegenteil ihre Silber- und Leinenschätze, das Familiengeschmeide, die alten, kostbaren Weine in ihren Kellern sorgfältig der Öffentlichkeit – ihnen genügte es, sich im Besitze zu wissen; in den Nachmittags- und Abendstunden jenes Tages indessen breitete sich in der sogenannten großen Stube, dem ehemaligen Refektorium der Mönche, der öffentlich verleugnete Glanz des Hauses in seinem ganzen Umfang aus. Auf der mächtigen, damastgedeckten Speisetafel funkelte das Jahrhunderte hindurch aufgespeicherte Silbergerät, die Schalen und Schüsseln, Kannen und schlanken Becher, die riesigen Salzfässer und rings an den braunen, holzgeschnitzten Wänden vielarmige Leuchter, alles gediegen, in herrlich getriebener Arbeit. Und in der kleineren Stube nebenan stand der Tauftisch. Die Wolframs waren keine Blumenfreunde; nie hatte sich ein Blumentopf auf den Fenstersimsen breitmachen dürfen, und im Obst- und Gemüsegarten hinter den Wirtschaftsgebäuden blühten kaum einige wilde Rosensträucher, die sich freiwillig angesiedelt, in den Ecken, – heute aber umstand eine duftende, den Treibhäusern der Stadt entliehene Orangerie den weißbehangenen Tisch mit dem Taufgerät; den Täufling umrauschte das alte Familienerbstück, eine Taufschleppe von dickem, apfelgrünem Atlas, und auf dem dunkelhaarigen Köpfchen saß die dazu gehörige altfränkische Mütze mit einer kaffeegelben Mechelner Spitzengarnitur und Stickereien von indischen Staubperlen.
Die alte Wartfrau saß derweil droben in der Wochenstube am Bett und erzählte der Frau Rätin von der Pracht drunten, von der stolzen Gevatterschaft in Samt und Seide, von dem Weine, den man wie Gewürz durchs ganze Haus röche, und daß das »Ratssöhnchen« wie ein Prinz unter Rosen- und Myrtenbäumen getauft worden sei.
Das vergrämte Gesicht der Wöchnerin lächelte in bitterer Wehmut; ihren kleinen Mädchen hatte die grüne Taufschleppe nicht gebührt – sie war von der Urahne nur für die männlichen Nachkommen gestiftet worden –, es hatten auch keine Rosen und Myrten um das Taufbecken gestanden, und der Silberschatz des Hauses war unter seinen schützenden Lederdecken verblieben... Auf den Wangen der blassen Frau begannen auch Rosen aufzublühen, dunkle Fieberrosen, und während drunten die Gläser klangen zum Wohl und Gedeihen des heißersehnten Stammhalters, teilten sich droben die weißen Bettvorhänge, und fünf Kinder schlüpften herein – sie waren alle da bei der Mutter, die kleinen Mädchen, und sie herzte sie heiß, inbrünstig und spielte mit ihnen Tag und Nacht in sel'ger Mutterlust, und die Ärzte standen ratlos um die unaufhörlich flüsternde Frau, bis sie mit müdem, seligem Lächeln den Kopf in das Kissen drückte und einschlief für immer. – – – –
Ihr Heimgang hinterließ keine bemerkenswerte Lücke. Der kleine Veit hatte eine Amme, und wenige Stunden nach dem letzten Atemzuge der Hausfrau kam die Schwester des Rates, die schöne, bitterernste Frau, aus ihrem Wohngelaß im oberen Stockwerk herab, um die Schlüssel und mit ihnen die Leitung des verwaisten Hauswesens zu übernehmen.
Sie war eine echte Wolfram in ihrem ganzen Tun und Wesen, wie in der äußeren Erscheinung, an der sechsundvierzig Lebensjahre fast spurlos vorübergeglitten waren. Nur einmal in ihrem Leben hatte sie die Leidenschaft über die anerzogenen strengen Grundsätze siegen lassen, und das war ihr »folgerichtig« zum Unheil ausgeschlagen. Sie war neben dem Rat die einzige Miterbin des Wolframschen Besitztums und dabei ein selten schönes Mädchen gewesen. Im Schillingshofe hatte man das Nachbarkind wie eine eigene Tochter gehätschelt, und dort hatte sie auch den Major Lucian aus Königsberg kennen gelernt, mit dem sie sich auch verheiratete, allen Ermahnungen des Bruders, ja, der eigenen inneren Warnstimme zum Trotz... Und sie hatten in der Tat zusammengepaßt wie Wasser und Feuer, die herbe, in ihre Familientraditionen verbissene Wolframsnatur und der elegante, leichtlebige Offizier. Sie hatte darauf bestanden, ihn in ihre Lebensgewohnheiten zu zwingen, und er war »dem Spießbürgertum« mit scharfem Spott entschlüpft, wo er nur konnte. Das hatte zu bösen Auseinandersetzungen geführt, und eines Abends war die Majorin, ihr fünfjähriges Söhnchen an der Hand, aus Königsberg zurückgekehrt – sie war heimlich abgereist, um fortan auf dem Klostergut zu bleiben...
Der kleine Felix hatte den Kopf in ihren Reisemantel gedrückt, als sie ihn an jenem Abend durch ihr Vaterhaus geführt. Die Treppe, die in die verlassene Stille der oberen Stockwerke führte, mit ihrem fratzenhaft geschnitzten Geländer und ihren kreischenden Stufen voll ausgetretener Astknorren, die lagernde Dämmerung in den klaftertiefen Türbogen, und in den Schiebefenstern die bleigefaßten, glanzlosen Scheiben, an denen aufgescheuchte Nachtmotten lautlos taumelten, und durch die das Abendsonnenlicht gelb und träge wie Öl auf das zersprungene Estrich des Vorsaales floß – das war dem Knaben spukhaft erschienen, wie das Menschenfresserhaus im Walde ... Und das schlanke, feingliedrige Kind in seinem blauen Samtröckchen, seinem glänzenden, goldgelben Gelock war auch wie verirrt gekommen – sie bringe ihm einen buntscheckigen Kolibri in das alte Falkennest, hatte ihr Bruder, der Rat, finster und mit scheelem Blick gesagt.
Fremden Blutes war und blieb der kleine Entführte auch. Die kühle Luft des Klostergutes blies ihm umsonst gegen die Idealgestalten in Kopf und Herzen – er war eine poetische, warmblütige Natur wie sein Vater ... Der verlassene Mann in Königsberg hatte übrigens alles aufgeboten, seinen Knaben wieder in die Hand zu bekommen; allein an der juristischen Meisterschaft des Herrn Rat Wolfram waren alle Versuche gescheitert – die geschiedene Frau war im Besitz des Kindes verblieben. Infolgedessen hatte Major Lucian seinen Abschied genommen; er war aus Königsberg verschwunden und nie hatte man erfahren, wohin er sich gewendet.
Seitdem bewohnte die Majorin wieder, wie in ihren Mädchenjahren, das große, nach der Straße gelegene Giebelzimmer. Sie paßte mit Leib und Seele zwischen diese einfach gestrichenen Wände, vor deren tief eingelassenen Schränken breite, braungebeizte Flügeltüren lagen; sie saß wie vordem auf dem steiflehnigen Lederstuhl in der tiefen Fensterecke und schlief hinter dem dickfaltigen härenen Türvorhang der anstoßenden Kammer, zu welchem einst ihre Großmutter die groben Fäden eigenhändig gesponnen... Den Schillingshof aber hatte sie nie wieder betreten – sie floh jede Erinnerung an ihren geschiedenen Mann, wie einen mörderischen Feind. Der kleine Felix dagegen war sehr bald heimisch drüben geworden. Der einzige Sohn des Freiherrn Klafft von Schilling war sein Altersgenosse. Beide Knaben hatten sich vom ersten Augenblick an zärtlich geliebt, und die Majorin war mit diesem Verkehr einverstanden gewesen, jedoch nur unter der ausdrücklichen Bedingung, daß ihr Kind nie mit einem Wort an seinen Vater erinnert werde.
Später waren die jungen Leute auch Studiengenossen in Berlin gewesen. Sie hatten beide Jura studiert. Arnold von Schilling hatte die Staatslaufbahn in Aussicht genommen, und Felix Lucian sollte, ganz in die Fußstapfen seines Onkels tretend, anfänglich ein städtisches Amt bekleiden und später das Klostergut übernehmen; denn seit auch die letzte der kleinen, flachshaarigen Cousinen gestorben, hatte ihn der Rat zu seinem Erben und Nachfolger bestimmt, vorausgesetzt, daß er seinem väterlichen Namen den Namen Wolfram anfüge. Da änderte, wie bereits erwähnt, das Jahr 1860 alle Familienverhältnisse im Schillingshof und Klostergut – Arnold von Schilling kam heim, um auf die Bitten seines kränkelnden Vaters hin mit der Hand seiner Cousine die Schillingschen Güter wieder zu übernehmen, und auf dem Klostergute blies der Spätling, der kleine Veit Wolfram, mit seinem schwachen Lebensatem die Erbansprüche seines Vetters Felix über den Haufen ...