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Blaß und hastig, wie auf flüchtenden Füßen, war Donna Mercedes in das Säulenhaus zurückgekehrt. Sie hatte eigenhändig alles zur Reise Vorgerichtete wieder weggeräumt, war einige Zeit bei José verblieben, der mit matten Händen ein kleines, hölzernes Pferd auf seiner Bettdecke hin und her spazieren ließ, und sah nun in sich gekehrt vor dem Schreibtisch im Fensterbogen. Ein Sturm ging durch ihre Seele, während die Hände ruhig gefaltet in ihrem Schöße lagen und die Lider über die Augen gesunken waren, als schlummere sie.
Da kam die kleine Paula, ihre Puppe im Arm, aus der Kinderstube, sie lehnte sich an die Knie der Tante und sah mit großen, fragenden Augen zu ihr auf... Das waren in verblüffender Ähnlichkeit die glänzenden, in einem Gemisch von Grün und Braun schillernden Sterne, die Felix Lucian aus seiner Lebensbahn gerissen und in einen frühen Tod getrieben hatten, jene begehrlichen Augen, aus denen jetzt das heißersehnte, berückende Bühnenlicht elektrische Funken lockte.
Und dieses Kind – noch blickte es unschuldsvoll und lieblich wie ein Seraph unter dem wundervollen Goldgelock in die Welt hinein – es sollte unter jenen Irrsternen aufwachsen? – Niemals – niemals! – Sie schlang die Arme um die Kleine und drückte sie in leidenschaftlicher Zärtlichkeit an sich ... Wie oft hatte Felix »seinen Augentrost«, »sein Prinzeßchen« zu sich auf das Leidensbett heben lassen und sein blasses, schmerzverzogenes Gesicht tiefatmend in die blonde Haarflut gedrückt!«Hüte mir die Kinder, Mercedes, hüte sie!« – hatte er angstvoll immer wieder gebeten.
– »Ich glaube, ich kann nicht ruhig in der Erde bleiben, wenn sie irre gehen!« – Und mit der letzten Kraft hatte er eigenhändig alle Verfügungen und auch einen letzten Brief voll heißer Bitten an seine Mutter niedergeschrieben ... Diese Schriftstücke waren ja in den Händen seiner Schwester – sie waren die Schranke, gegen welche die leichtfertige, pflichtvergessene, in die weite Welt entlaufene Frau vergebens anstürmte.
Wie zu ihrer eigenen Beruhigung griff Donna Mercedes in die Ecke des unteren Schreibtischfaches, wo der kleine silberne Rokokokasten mit den Dokumenten stand – sie wußte, daß ein einziger flüchtiger Blick in die Papiere ihr den letzten Rest von Besorgnis verscheuchen mußte – aber das Kästchen war nicht da ...
Bestürzt sprang sie auf. Ihr erster schreckensvoller Gedanke, der ihr den Herzschlag stocken machte, war der, daß Lucile einen Raub begangen habe. Die kleine Frau wußte ja, daß der Rokokokasten die schriftlichen Vollmachten für ihre Schwägerin enthielt – ohne diese Papiere war sie machtlos, und der Mutter fiel das uneingeschränkte Recht über die Kinder zu ...
Mit fliegenden Händen rückte und schob Donna Mercedes an all den Gerätschaften und Bücherstößen, die den Schreibtisch und seine offenen Fächer füllten – vergebens!
Sie rief nach Deborah. Die Schwarze hatte das Abstauben des Tisches zu besorgen,– das tat sie stets mit peinlicher Genauigkeit – nie war ein Stäubchen zu sehen, und dabei behielt jeder Gegenstand, bis auf die kleinste Stahlfeder, seinen Platz ... Sie fuhr erschrocken zurück, als sie in das schreckensbleiche Antlitz ihrer Herrin sah, und erklärte sofort mit aller Bestimmtheit, daß das Kästchen bereits seit dem Morgen nach Josés Erkranken fehle. Das sei ihr wohl im ersten Augenblick aufgefallen, denn die Fachecke habe außer ihm keinen Gegenstand enthalten; allein ihre Dame schließe ja häufig Dinge, die oft wochenlang auf dem Schreibtisch gelegen hätten, wieder weg; zudem sei sie damals vor Jammer über das todkranke Goldkind in ihrem alten Kopfe ganz wirbelig gewesen und habe bis zur Stunde nicht wieder an den kleinen Kasten gedacht.
Also Lucile hatte die Dokumente nicht ... Nun fing auch Deborah an zu suchen; Hannchen kam aus dem Krankenzimmer, und Mamsell Birkner, die eben einen Teller voll eingemachter Früchte für die Kinder gebracht hatte, sah auch mit langem Halse in den Salon und trat über die Schwelle, um zu helfen. Man durchsuchte die Schubfächer der Kredenzen und schob die Möbel geräuschlos von den Wänden, und Donna Mercedes durchwühlte selbst die kleinen Lederkoffer, die sie stets in nächster Nähe unter dem Schreibtisch stehen hatte – es war alles vergeblich!
Mamsell Birkner fragte schüchtern nach der Beschaffenheit des Kästchens, und Deborah versicherte, es sei von«fingerdickem« Silber gewesen, und der Spitzbube, der es habe, könne sich gratulieren.
»Es enthielt unersetzliche Familienpapiere,« schnitt Donna Mercedes mit tonloser Stimme den Redestrom ab.
Bei diesen Worten glitt ein bitteres Lächeln schattenhaft über Hannchens düsteres Gesicht. »Die Mäuse haben die Papiere geholt,« sagte sie, und ihr Blick irrte mit jenem Ausdruck, den Lucile für notorisch verrückt erklärt hatte, über die holzgeschnitzte Wand. »Die Mäuse im Schillingshof haben ja auch Ohren für die Geheimnisse der Menschen.«
Deborah schielte sie scheu von der Seite an, und Mamsell Birkner machte allerhand verlegene und lebhafte Gesten hinter ihrem Rücken – sie fuhr verständnisinnig und mitleidsvoll mit dem Finger über die Stirn, zum Zeichen, daß das junge Mädchen von einer fixen Idee beherrscht sei. Übrigens war die gute, dicke Wirtschaftsmamsell ganz trostlos darüber, daß im lieben Schillingshofe einem Gast »etwas weggekommen« sein sollte. Sie hatte nichts Eiligeres zu tun, als die niederschmetternde Neuigkeit im Erdgeschoß zu verkünden. Da kam sie aber schön an – es gab einen wahren Sturm drunten in der Küche.
»So – es wird ja immer schöner!« tobte der Bediente Robert. »Jetzt haben wir die armselige Gesellschaft auch noch bestohlen, diese – daß ihr's nur wißt, Theaterleute sind's – ja, ja, Theaterleute! – Hab' ich's nicht immer gesagt, daß das Geflinkere von Steinen und all das aufgetakelte Zeug in der Schlafstube Komödienkram ist? Und die zwei Mohrenfratzen! Herr Gott, wenn ich die nur einmal ins Waschfaß stecken und gründlich abscheuern dürfte! Ich lasse mich gleich hängen, wenn da nicht die allerschönsten weißen Spitzbubengesichter zum Vorschein kommen!« – Er schnitt mit der flachen Hand energisch durch die Luft, als wolle er reinen Tisch machen. – »Sie muß fort, die Gesellschaft! Sie muß aus dem Hause! Es ist ja eine wahre Schande für den Schillingshof, daß solche Leute da unterkriechen dürfen.« – Und der ganze Chor stimmte empört ein, während die Wirtschaftsmamsell bitterböse, aber schweigend in ihre Stube ging – sie wußte es ja besser, durfte aber nichts sagen; Baron Schilling hatte ihr unverbrüchliches Schweigen auferlegt...
Inzwischen ging Donna Mercedes in qualvoller Aufregung von Zimmer zu Zimmer und suchte. – Sie hatte den Dokumentenkasten am Tage vor Josés Erkranken zum letztenmal in der Hand gehabt. Sie hatte alle Papiere herausgenommen, und vor Baron Schilling hingebreitet, auch den eigenhändig niedergeschriebenen letzten Willen ihres Bruders und das Schreiben an seine Mutter. Es war versiegelt, aber sie kannte seinen Inhalt genau und hatte ihn fast wörtlich gegen Baron Schilling wiederholt. Sie erinnerte sich auch, daß er die köstliche Arbeit und den Silberwert des kleinen Kastens besprochen und ihn immer wieder aufgenommen und bewundert hatte. – Dann hatten sie beide die Papiere, sorglich zusammengefaltet, wieder hinein gelegt, und vor seinen Augen hatte sie das hochwichtige Kästchen an seinen Platz in der dunklen Fachecke zurückgestellt – er mußte ihr das bezeugen können ... Jene Nachmittagsrunde stand ihr überhaupt noch klar vor Augen, auch der Augenblick, wo Lucile in ihrer kindischen Gespensterfurcht am hellen Tage geflohen war und sie mit Baron Schilling allein im Salon gelassen hatte – die Mäuse hatten hinter den Wänden gespukt – die Mäuse, sie schienen eine Rolle in diesem Schillingshof und in – den Köpfen zu spielen.
Sie blieb inmitten des Salons stehen. »Haben Sie die Mäuse auch schon hier durch dieses Zimmer laufen sehen?« fragte sie mit dem Ausdruck des Widerwillens Hannchen, die unter der offenen Krankenzimmertür stand.
»Ich höre nur das Knirschen, und kleine Staubwölkchen fliegen von der Wand,« versetzte das Mädchen wie atemlos vor Spannung und mit hochgerötetem Gesicht, und den Arm ausstreckend zeigte sie auf das Holzschnitzwerk, das sich wie Spitzengeflecht hinter der grünen Ruhebank erhob.
»Das mag bei jeder Erschütterung geschehen, die durch das Haus geht – das Holz ist ja uralt,« sagte Donna Mercedes achselzuckend. »Bitte, sorgen Sie dafür, daß Fallen aufgestellt werden.«
Die Röte auf den Wangen des Mädchens erlosch – sie senkte sichtlich enttäuscht den Kopf auf die Brust und ging hinaus.
Und als die Sonne untergegangen war, und es kühler zu werden begann, da trieb es Donna Mercedes hinaus ins Freie, in den Garten. Es war ihr, als könne sie nur draußen aufatmen von der unbeschreiblichen Angst und Unruhe, die ihr das Herz zusammenschnürten ... Daheim hatte sie sich in solchen Augenblicken innerer Bedrängnis auf ihr treues Pferd geworfen, und da waren sie wie zusammengewachsen dahingerast, in die Wildnis hinein, an Schlünden, am jäh abstürzenden Wasserschwall vorüber – und die Brust hatte sich ihr geweitet, und sie hatte Himmel und Erde wieder Heller werden sehen unter den Strahlen eigenen, neu hervorbrechenden Jugendmutes ... Hier nun engten Häuser und Mauern den grünen Gartenfleck klösterlich ein – an ein schrankenloses Hinausstürmen in die Weite war nicht zu denken – aber es kam doch harziger Tannenduft von den Berggipfeln herüber; man hörte das Wasserrauschen des kleinen Baches, und um die großen Wiesenflächen, die vollen Lindenwipfel schwebte der Hauch der freien Natur weit eher als im Vorgarten, den die junge Dame vom Fenster aus wie eine Gefangene überblickte, und über dessen Eisengitter fortwährend neugierige Menschenaugen herüberstarrten.
Der Gärtner hatte im Wintergarten die Glaswände aufgeschoben, und auch der Eingang stand weit offen, auf daß der köstlich milde Strom der Abendlüfte hindurchziehe. Die Springbrunnen plätscherten traumhaft, und im leisen Abenddämmern schwebten die großglockigen Blumen, die Blütendolden der Pflanzenfremdlinge wie breitbeschwingte Falter um das Laubdickicht.
Donna Mercedes trat in das Glashaus. Die Gloxinie lag noch auf dem Rand des Bassins, leise schaukelnd durch die Unruhe der bewegten Wasserfläche, und frisch und farbenglänzend wie ihre Schwestern, die in der warmen Erde wurzelten... Baron Schilling hatte recht gehabt, die kleine Blume war nicht so empfindlich wie der Mensch – ihn hatte ein einziger frostiger Augenblick völlig verwandelt...
Die junge Dame biß die Zähne zusammen, und ihre Rechte ballte sich in unterdrücktem Grimm... Zum erstenmal, seit ihre stolze Erscheinung in die Welt eingetreten war, hatte ein Mann ihr gezeigt, daß er nicht gewillt sei, einen schroffen, ungerechtfertigten Wechsel in der Begegnung ungestraft hinzunehmen. – Dieser bärenhafte Deutsche! Er hatte in seiner Seele auch nicht einen Funken jener ritterlichen Unterwürfigkeit, welche man drüben in der Heimat schönen, vergötterten Frauen von makellosem Rufe entgegenzubringen pflegte. Sie hätte nach jenen eleganten, dunkeläugigen Männern, die sich einst in den Salon ihres Vaters drängten, mit der Reitpeitsche schlagen können, und dafür wäre die züchtigende Hand schmeichelnd geküßt worden... Wenn sie freilich wahr gegen sich selbst sein wollte, dann mußte sie sich sagen, daß sie diese Unterwürfigkeit stets in tiefster Seele angewidert hatte. Es war in der letzten Zeit ihrer Verlobung manchmal eine Art von Verzweiflung über sie gekommen, und sie hatte zornmütig, ja bösartig ›den armen Valmaseda‹ zum Widerspruch anzustacheln gesucht, um nur einmal ihm gegenüber das Heft aus der Hand zu verlieren – vergebens!... Aber es war ein Unterschied zwischen jener gewünschten kleinen Niederlage und einer augenfälligen Demütigung. Bis zu ihrem Tod vergaß sie es nicht, daß sie in übermenschlicher Selbstüberwindung ein Einlenken versucht hatte und zurückgewiesen worden war ...
Sein häßlicher Kopf – ja, er war entschieden häßlich mit seiner eckigen Stirn, der starken Nase und der habsburgischen Unterlippe – er hatte ihr schon in jenem Augenblick, da er in der Tür der Flurhalle aufgetaucht war, um die Angekommenen zu begrüßen, einen unerklärlichen Schrecken eingeflößt, und es war ihr gewesen, als schreite etwas Übergewaltiges auf sie zu, dem sie nicht auszuweichen vermöchte. Es war eben einer jener geheimnisvollen Berührungen der Fühlfäden in der weiblichen Seele gewesen, eine Art zweites Gesicht, das eine neu auf unseren Weg tretende Gestalt in ihren späteren Beziehungen zu uns mit der Schnelligkeit des wieder erlöschenden Blitzes warnend zeigt ... Seitdem hatte sie das unbestimmte Gefühl, als müsse sie sich fortgesetzt kampfbereit halten; das hatte ihr die deutsche Luft vergiftet und sie schon in der ersten Stunde an der eigenen Kraft bezüglich der Durchführung ihrer Mission verzweifeln lassen ...
Im Atelier nebenan war es lautlos still. Donna Mercedes sah durch den Glasstreifen, den der Samtvorhang freiließ, wie das Abenddämmern drüben hereinsank. Auf der Galerie und in der Ecke, welche die Wendeltreppe füllte, lagerten die Schatten schon tiefer; da und dort blinkte noch ein schwacher Lichtfleck auf dem blanken Metall einer weitbauchigen Trinkkanne, oder im Glasgeschirr auf den Kredenzen; und es war der jungen Dame, als müsse jetzt eine altdeutsche Hausfrau, das langnachschleifende Gewand mit der Gürtelkette aufgenommen, droben in dem geheimnisvollen Düster erscheinen und die Treppe herabsteigen, um dem Maler auf silbernem Brett den Abendtrunk zu bringen ... Das tat die eigenwillige Frau, die Herrin des Schillingshofes, wohl niemals – sie haßte den Beruf ihres Mannes ... Ob sie wohl je hierher kam? – Sicher nicht – wie hätte sie dann auch nur einen Augenblick länger in ihrem Widerwillen gegen die Kunst beharren können? –
Dort trat die greise Hugenottin erschütternd lebendig aus dem Dämmerlicht. Wohl sprach das namenlose Bangen vor den Schrecken der nächsten Augenblicke aus den Zügen der bis in diesen Gartenwinkel Gehetzten; man mußte sich sagen, daß dieses arme Menschenherz in verzweiflungsvoller Mutterangst bis zum Brechen stürmisch klopfe – aber auf der edlen Stirn lag bereits ein feierlicher Glanz, als ströme schon ein seligruhiger Lichtquell aus unbekannten Fernen auf sie herüber – der Glorienschein des Märtyrertums ... Wie anders die Dienerin zu ihren Füßen, die sich an der verschlossenen Tür fast die Nägel von den Fingern riß, um das Freie zu gewinnen! Das kraftstrotzende Weib klammerte sich in grauenhafter Wildheit an das Leben; der fieberisch glühende, rollende Blick, der Angstschrei, der auf den geöffneten Lippen zu schweben schien, jeder angespannte Muskel dieses blühenden Fleisches war ein erbitterter Protest gegen den kalten Tod ...
Donna Mercedes wandte sich hastig ab und eilte hinaus in den Garten – ihre Pulse schlugen so erregt, als sei der heranwogende, todbringende Fackelschein verräterisch auch auf ihr eigenes Haupt gefallen ... Was für ein machtvoller Gedankenstrom wogte hinter der eckigen Stirn des ›häßlichen Kopfes‹! ... Er überwand die trotzigste Menschenseele und machte sie scheu erbeben vor seiner genialen Kraft.