Eugenie Marlitt
Im Schillingshof
Eugenie Marlitt

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3.

Die Majorin kehrte mit einem Achselzucken an den Küchentisch zurück. »Mit dieser Art von Leuten ist nicht viel anzufangen – sie sind gleich außer Rand und Band,« sagte sie gelassen wie immer.

»Nun, den möchte ich doch sehen, der sein inneres Gleichgewicht behält, wenn er ungerecht beschuldigt wird und darüber auch noch sein Brot verliert!« rief ihr Sohn tief erregt. »Sei nicht böse, Mama – aber auf dem Klostergute werden seit Jahrhunderten nur reiche, kluge Leute geboren – kein warmblütiges Menschenherz!«

»Wir backen ,seit Jahrhunderten' wöchentlich sechs Armenbrote, mag das Korn geraten oder nicht,« entgegnete sie, ohne auch nur eine Miene ihres ernsten Gesichtes zu verziehen. »Wir unterstützen auch vielfach auf andere Weise, wenn wir das auch nicht an die große Glocke schlagen. Aber wir sind bedächtiger Natur und rennen nicht mit jedem Kopf, der obenaus will ... Du bist allerdings nicht auf dem Klostergute geboren –« die gelassene, gleichmütige Stimme konnte sehr spitz werden – »du bist auch so ein neumodischer Brausekopf, der den einen in den Himmel hebt und dabei das gute Recht eines anderen zertritt ... Meinst du wirklich, der Onkel solle öffentlich erklären, daß er um ›das Geheimnis‹ des Herrn von Schilling nicht gewußt hat?«

»Das durchaus nicht, aber –«

»Es würde auch dem wunderlichen Menschen, dem Adam, nichts nützen, so wenig wie dem alten Mann im Schillingshofe zu helfen ist,« fiel sie ihm in das Wort. »Die ,brillante' Heirat hat die verpfändeten Güter nicht so unbedingt an die Familie wieder zurückgebracht. Der Vormund der jungen Frau, ein schlauer Fuchs, hat einen Ehekontrakt aufgestellt, der den Schillings sehr viel zu wünschen übrig lassen soll – daher die grimmige Laune, die der Alte drüben nun an der Dienerschaft ausläßt.«

»Der arme, alte Papa Schilling!« rief Felix bedauernd. »Da mag er freilich tief erbittert sein und um den gescheiterten Plan doppelt grollen – der Kohlenfund hätte ihm jedenfalls wieder zu eigenem Vermögen verholfen. Er tut mir unsäglich leid – er büßt doch zumeist für die Sünden seiner Vorfahren.«

Die Majorin räusperte sich vernehmlich – sie wußte es jedenfalls besser –, aber sie erwiderte kein Wort; sie widersprach nur, wenn sie im eigenen Interesse mußte, dann aber auch energisch. Während ihr Sohn einigemal mit raschen Schritten den Hausflur durchmaß, schälte sie eine frische Gurke zum Salat.

»Wunderbar aber ist und bleibt es, daß zwei Köpfe fast zur selben Stunde den gleichen Gedanken hegen, einen Schatz zu heben, an dem alle Vorfahren und sie selbst so lange Zeit ahnungslos vorübergegangen sind!« sagte der junge Mann nach einem augenblicklichen Schweigen gespannt und trat wieder auf die Schwelle der Küchentüre.

»Hm – ich frage den Onkel sehr selten und lege mir alle Vorkommnisse selbst zurecht,« entgegnete seine Mutter, ohne von ihrer Beschäftigung wegzusehen. »Der Onkel wird schon längst ebenso klug gewesen sein, wie der Herr Ingenieur; aber er hat wohl die Unruhe und das Risiko des Unternehmens gescheut ... Nun ist der kleine Veit nachgekommen – die Wolframs blühen wieder auf, und da wird jeder neue Erwerb zur Pflicht.«

»Mein Gott, soll denn dieses fieberhafte Erwerben bis in Ewigkeit fortgehen, Mama? Ich sollte doch meinen, deine Familie hätte längst übergenug!«

Die Majorin fuhr wie entsetzt herum, und ein langer, unwillig überraschter Blick maß strafend den Sohn – es glimmte doch auch nicht ein Funke des Wolframschen Familiengeistes in ihm! »Übergenug haben!« Den vermessenen Gedanken hatte man auf dem Klostergute noch nicht gedacht, geschweige denn laut werden lassen – wie den Schlafwandelnden, so schreckt ja ein unbesonnener Anruf das scheue Glück vom Wege und macht es stürzen. –

»Über die Vermögensverhältnisse spricht man in unserer Familie nicht, das merke dir!« wies sie ihn scharf und schneidend zurecht. Sie drehte an einem Hahn über dem Spültisch und ließ sich das frische Brunnenwasser über die Hände laufen. »Dein spätes Mittagsbrot ist fertig – gehe in die Stube, ich komme gleich nach!« sagte sie kurz über die Schulter.

Das war ein barsches Kommando. Felix biß sich zornig auf die Unterlippe und schritt an seiner Mutter vorüber in die anstoßende Stube. Da hatte zu allen Zeiten der Eßtisch gestanden, und der tiefe Fensterbogen war der unbestrittene Platz der Hausfrau gewesen. Die Fenster gingen, wie die der Küche, auf den Hinterhof, den die Wirtschaftsgebäude und nach dem Schillingshofe zu eine Mauer umschlossen. Vor dem oberen Stockwerk der Gebäude hin lief ein bedeckter Gang; eine Reihe kleiner Fenster, von schmalen Türen unterbrochen – einst die Mönchszellen –, mündeten auf ihn; das waren jetzt die Heu- und Kornböden, die Obstkammern. Spreusiebe und Rechen hingen an den Außenwänden, und auf dem Holzgeländer trockneten Getreidesäcke und Pferdedecken.

Der überhängende Gang verfinsterte den Hof und ganz besonders die Stube, vor deren Fenstern auch noch eine uralte Rüster ihren mächtig entwickelten Wipfel ausbreitete... In diesem grüngefärbten, ungewiß hereinfallenden Licht stand das Nähtischchen, und hier hatte die stille Frau Rätin die Erholungsstunden ihres an Liebe so karg bemessenen Ehelebens verbracht. Das Krähen und Krakeln des Hühnervolkes auf der Düngerstätte, die Brummstimmen der Kühe von den Ställen her, die Hantierung der ab- und zugehenden Knechte und Mägde – das war das Lebensgeräusch für die Einsame gewesen.

Felix erinnerte sich noch, daß sie eines Sonntagnachmittags die Korbwanne mit ihrem schlafenden Töchterchen neben sich gestellt hatte, in der Meinung, ihr gestrenger Eheherr sei ausgegangen. – Da war der Rat plötzlich eingetreten. Die Frau war jäh emporgefahren, die Glut des Ertapptseins auf dem blassen Gesicht, Fingerhut, Schere und Nadelbüchse waren auf die Dielen gepoltert, und der finstere Mann hatte mit einem halben Blick nach dem Korbbettchen beißend gesagt, hier sei sein Eßzimmer und nicht die Kinderschlafstube.

An diesen Vorfall wurde Felix beim Eintreten lebhaft erinnert; denn fast auf derselben Stelle schlief jetzt auch ein Kind; aber nicht in der primitiven Korbwanne, zwischen buntgewürfeltem Bettzeug – ein elegantes Wiegenbettchen stand da – grüne Seide spannte sich über das Verdeck, und ein langer grüner Schleier fiel über die kleine, flockenweiche und weiße Bettdecke ... Und am Nähtisch, auf dem Platze der sanften, schlanken Frau saß eine vierschrötige Person, mit dem bäurischen Kopftuch über dem dummdreisten, vollstrotzenden Gesicht und strickte an einem groben Strumpfe. Sie erhob sich nicht von ihrem Sitze, als der junge Herr eintrat, und fuhr fort, mit der Fußspitze die Wiege zu schwenken – sie war sich wohl bewußt, daß die Amme augenblicklich die Herrschende auf dem Klostergute sei.

Felix hätte gern einen Blick durch den Schleier geworfen, um das Gesicht des kleinen, schlafenden Vetters zu sehen, allein der Anblick des Frauenzimmers auf dem Platze der verstorbenen Tante empörte und verletzte ihn. Er setzte sich schweigend an den Eßtisch und zog ein Lederetui aus der Tasche, das er öffnete, um ein zusammengeklapptes Eßbesteck von Silber herauszunehmen ... Das war das einzige von den Lucians herstammende Stück, das die erzürnte, unversöhnliche Frau aus dem Königsberger Hausstand mit heimgebracht hatte, das Patengeschenk des Großvaters, des längstverstorbenen Obersten Lucian, für seinen Enkel Felix, den er selbst aus der Taufe gehoben ... Das Etui war seitdem in der dunkelsten Ecke des Silberschrankes droben im Giebelzimmer verblieben. Bei seinem letzten längeren Aufenthalt auf dem Klostergute aber hatte der junge Eigentümer durch Zufall das geflissentlich verborgene großväterliche Geschenk entdeckt, er hatte es sofort mit heimlich aufjauchzendem Herzen wiedererkannt und, trotz des mütterlichen Protestes, als sein eigen reklamiert.

Nun schob er das einfache, holzstielige Besteck des Hauses beiseite und legte das silberne auf die hingebreitete Serviette.

In diesem Augenblick trat die Majorin ein. Sie trug ein gebratenes Hähnchen und den Gurkensalat auf einem Präsentierbrett und war eben im Begriff, einen gewärmten Teller vor ihren Sohn niederzusetzen, als ihr Blick auf das Silberbesteck fiel. Sie wurde dunkelrot im Gesicht und blieb regungslos stehen. »Nun, ist dir unser Eßzeug nicht blank oder stolz genug?« fragte sie kurz, wie mit zugeschnürter Kehle.

»Das nicht, Mama,« – versetzte der junge Mann und legte mit einem fast zärtlichen Gesichtsausdruck die Hand auf den Messergriff, der den großeingravierten Namen Lucian trug; – »aber ich bin so glücklich, etwas aus der alten Zeit im Gebrauch zu haben – von diesem Andenken trenne ich mich nie! ... Ich weiß noch genau, wie er aussah, mein schöner, stolzer Großpapa, obgleich ich nicht viel über vier Jahre alt gewesen bin, als er gestorben ist. Der Papa« – ein Schmettern und Klirren machte ihn emporfahren, zugleich erschrak er über sich selbst, denn zum erstenmal nach vieljähriger, von der strengen Mutter ihm auferlegten Selbstbeherrschung, war ihm wie unbewußt das teure, seinem Gedankengang so geläufige Wort »Papa« über die Lippen geschlüpft – und nun stand sie vor ihm, die Zürnende, mit funkelnden Augen; aus dem eben noch rot überflammten Gesicht war jeder Blutstropfen gewichen, und die jäh aufzuckende Hand hatte unwillkürlich den Teller zu Boden geschleudert.

Die Amme kreischte auf, und die Kinderstimme in der Wiege stimmte aus Leibeskräften mit ein. »Aber, Frau Majorin, wenn das jetzt der Herr Rat wüßte! – Veitchen kann ja Krämpfe kriegen vor Schrecken!« sagte die Amme in frech zurechtweisendem Ton und nahm das schreiende Kind aus dem Bettchen.

Zum höchsten Erstaunen des Sohnes erwiderte die stolze, strenge Frau keine Silbe. Sie half den Schreihals beruhigen, dann raffte sie die Scherben von den Dielen auf und ging hinaus in die Küche. Felix wußte, wie heiß sein Onkel und auch seine familienstolze Mutter einen direkten Erben des Wolframschen Namens ersehnt hatten; aber er ahnte doch nicht, welche Macht dieser kleine Junge im Wickelkissen auf dem Klostergute war. – Der junge Mann starrte mit einem heimlichen Schrecken nach dem borstigen, schwarzen Haarbüschel, der unter dem verschobenen Mützchen hervorkam. – Hätte die Frau Rätin, die ihre fünf kleinen Mädchen, eines wie das andere, mit kornblumenblauen Augen aus zarten Schneewittchengesichtern angesehen hatten, in ihr irdisches Heim zurückblicken können, sie wäre jedenfalls sehr betroffen gewesen über das zigeunerhafte Kerlchen, zu dem sich der mit ihrem Leben erkaufte Sohn entwickelte – ein braunes, faltig mageres Gesichtchen zwischen den weit abstehenden Ohren, und lange, dürre Fingerchen, die wie Spinnenfüße auf dem weißen Steckkissen krabbelten – das war der Erbe des Klostergutes!

»Schlaf, Kindlein, schlaf – schlaf sanfter als ein Graf!« – sang die Amme in rucksenden Tönen. Sie ging am Eßtisch vorüber, und den Takt auf das Steckkissen patschend, stieß sie eine Tür auf und marschierte in die anschließende Stube. Das war das Geschäfts- und Arbeitszimmer des Herrn Rates – es tat sich auf wie ein weiter Saal, und sein mächtiges Bogenfenster ging auf den Vorderhof.

Das Kind war still, und die Amme schlug drüben den Fensterflügel zurück und rief den draußen beschäftigten Knechten plumpe Witzworte zu – das war nun etwas ganz Unerhörtes auf dem Klostergute. So schlicht bürgerlich auch der Zuschnitt des gesamten Hausstandes war – das Gesinde wurde in strenger Zucht, in sklavischer Demut, fast wie Leibeigene, zu Füßen der Herrschaft niedergehalten; die Wolframs verstanden es, sich in Respekt zu setzen.

Die Majorin, die inzwischen wieder hereingekommen war und einen anderen Teller auf den Tisch gesetzt hatte, streifte mit einem Seitenblick das Fenster, an dem es so geräuschvoll zuging, aber sie sagte kein Wort. Die gleichmütige Ruhe, die ihr schönes Profil wieder angenommen hatte, erschien dem Sohne heute zum erstenmal unnatürlich und unheimlich – er wußte seit einigen Augenblicken, daß alle Nüchternheit und Besonnenheit, aller Schutt der Alltäglichkeit eine verstohlen glimmende Stelle in der Seele seiner Mutter nicht zuzuschütten vermochten – ein einziges Wort hatte Flammen aufschlagen lassen ...

Dem Eßtisch gegenüber wölbte sich der plump gemeißelte, steinerne Rundbogen einer Türe; hinter ihr, durch die klafterdicke Mauer hindurch, hatte einst eine Treppe nach dem erhöhten Parterre, in den Korridor des Säulenhauses geführt; sie war der Verbindungsweg zwischen der Klosterküche und den Speisesälen des Hospizes und überhaupt der einzige gewesen, der die zwei Häuser miteinander verbunden hatte. Bei der Teilung des Klostersitzes war der Türbogen in seiner ganzen Tiefe massiv vermauert worden; die praktischen Wolframs aber hatten ein wenig Raum als flachen Wandschrank hinter der Türe belassen. Diesen Schrank schloß die Majorin jetzt auf. Die Haushaltungsbücher lagen drin, und auf dem schmalen Regal stand ein lackierter Blechkasten, – dahinein floß der Erlös für Geflügel und dergleichen und das Milchgeld.

Felix sah mit verfinstertem Gesicht zu, wie seine Mutter eine derbe Ledertasche vom Gürtel nahm und den Inhalt, lauter kleine Münzen, in den Kasten schüttete. Sie mußte also jetzt auch, wie vordem die arme Rätin, am Schanktische stehen und die Milch nößelweise verkaufen; sie mußte das verlangte Geflügel in Hühnerstall und Taubenschlag zusammensuchen und den fremden Köchinnen im Gemüsegarten Salat und Kohlrabi abschneiden und sich die Groschen und Pfennige dafür in die Hand zählen lassen ...

Dem jungen Mann quoll der Bissen im Munde vor Verdruß; zudem kreischte in diesem Augenblick die Amme laut auf vor Vergnügen. Er warf Messer und Gabel hin und sprang auf. »Ist es dir wirklich möglich, so viel Gemeinheit in deiner Nähe zu dulden, Mama?« rief er entrüstet.

»Wenn ich unverständig wäre, dann empörte ich mich wahrscheinlich auch dagegen,« sagte sie, gelassen den Schrank schließend. »Das Kind ist schwach und elend – sein Leben liegt in der Hand der ungeschliffenen Person – da heißt es schlucken und schweigen.«

Ihr Sohn fühlte, wie ihm das Blut nach dem Kopfe schoß – welche große innere Opfer brachte diese Frau dem Kinde ihres Bruders, und ihr eigenes hatte sie vaterlos gemacht, weil sie – nicht schweigen wollte! Er erinnerte sich der Szenen zwischen seinen Eltern; er wußte noch, daß die Mutter dem aufbrausenden Manne gegenüber kalt und unerbittlich stets das letzte Wort behauptet hatte, bis er wie rasend vor Ungeduld aus dem Zimmer gestürmt war.

Sie hatte schwerlich eine Ahnung von der unsäglichen Bitterkeit, die augenblicklich in ihrem Sohn aufwogte, sonst wäre sie wohl nicht so gleichmütigen Blickes an ihm vorüber in das anstoßende Zimmer gegangen. »Wir wollen doch lieber das Fenster schließen, Trine,« sagte sie mit ruhiger Freundlichkeit, »die Zugluft könnte dem Kinde schaden.«

»Ach bewahre, es zieht nicht! Da müßte ich doch auch 'was spüren!« entgegnete Trine impertinent. »Ich bin die Amme, Frau Majorin. Unsereins muß doch wohl am besten wissen, was es zu tun und zu lassen hat.« Sie mußte übrigens doch schon ihre Erfahrungen bezüglich der Entschiedenheit der Dame gemacht haben, denn während die Majorin, die grobe Antwort völlig überhörend, unbeirrt die Fenstergriffe fester zudrehte, kehrte sie brummend an die Wiege zurück, legte das Kind in die Kissen und nahm ihren Strickstrumpf wieder auf.

Indessen war auch Felix in das Zimmer des Onkels getreten, zu seiner eigenen Verwunderung mit derselben beklemmenden Scheu, die er als Kind empfunden ... Diese holzbekleideten Wände schlossen stets dieselbe widerlich dumpfe, mit dem Geruch alter, lederner Büchereinbände erfüllte Luft und einen abgesperrten, gleichmäßig häßlichen Dämmerschein des Tageslichtes in ihr langgestrecktes Viereck. Zur Zeit seiner Amtstätigkeit – der Rat hatte seit einigen Jahren sein Amt als Oberbürgermeister der Stadt niedergelegt – war das Zimmer die sogenannte Amtsstube und damit ein Gegenstand der Furcht für alle Hausgenossen gewesen. Da waren oft bitterböse Worte zwischen heftig streitenden Männern gefallen; die leidenschaftlich gesteigerten Stimmen hatten draußen von den Wänden des Hausflurs widergehallt, und mancher war mit zornrotem Kopf fortgestürzt und hatte die Türen schmetternd zugeschlagen; denn der Rat hatte nicht gut mit den Bürgern der Stadt gestanden, er war verhaßt gewesen seiner herrischen Willkür, seiner oft bis zur grausamen Härte gehenden Unbeugsamkeit, seines beißenden Hohnes wegen.

Felix hatte das Zimmer als Kind fast nur betreten dürfen, wenn die Mutter ihn schickte, einen Verweis des Onkels in Empfang zu nehmen, und doch blieb er meist wie mit magischer Gewalt festgebannt noch einige Augenblicke nach Beendigung der Strafpredigt an der Schwelle stehen, bis ihn der Rat barsch hinausscheuchte. An der ganzen Südseite – derselben Wand, welche einst drüben im anstoßenden Zimmer der Verbindungsweg zwischen Kloster und Säulenhaus durchbrochen hatte – lief nämlich eine Galerie hin; ein hölzernes Treppchen von wenigen Stufen führte hinauf und teilte ihr geschnitztes, vor Alter schwarz gewordenes Geländer in zwei Hälften. Die Wand war bedeckt mit Holzschnitzereien, plumpen, unkünstlerischen, in Felder eingeteilten Darstellungen aus der biblischen Legende. Aber nicht diese Heiligengestalten mit ihren verrenkten Gliedmaßen und der plumpen Scheibe des Glorienscheins hinter den Köpfen zogen den sehnsüchtigen Blick des Knaben auf sich – die Orgel war es, zu der die Stufen direkt führten.

Sie war uralt und von der primitivsten Art; sie hatte nur wenige zinnerne Pfeifen und sehr breite Tasten, ein vollstimmiger Choral hatte nicht darauf gespielt werden können. Auch sie sollte ein Mönch gebaut haben, und zwar der Abt selber, dessen »Klause« dieses weite saalartige Zimmer einst gewesen ... Die Wolframs hatten die ganze raumversperrende Einrichtung dennoch unberührt gelassen – sie hatte heiligem Gebrauch gedient, und die Besorgnis, mit ihrer Beseitigung den Segen von ihrem Besitztum zu verscheuchen, beseelte sie alle, wie sich ja nur zu oft die Gottesfurcht in der egoistischen Menschenseele mit Furcht, weltliche Güter zu verlieren, identifiziert – freilich niemals eingestandenermaßen.

Jetzt sah der junge Mann auf den ersten Blick, daß die Orgel verschwunden war. Stumm vor Überraschung zeigte er auf das neue, braungebeizte Feld, das sich an Stelle der Orgelpfeifen zwischen die Heiligen geschoben hatte und mit seiner ungeschmückten, glatten Holztafel seltsam genug inmitten der krausen Schnitzereien aussah.

»Ja, du wunderst dich!« sagte die Majorin, die sich eben vom Fenster wegwendete. »Das war ein heilloser Schrecken! ... Die Pfeifen hatten freilich schon lange verschoben gestanden, aber wir hatten das nicht weiter beachtet, und da brach sie am Tage nach Veits Geburt mit einem furchtbaren Poltern in sich zusammen ... Sie war freilich immer eine spukhafte Mäuseherberge, aber es ging uns doch nahe, denn in Ehren haben wir sie alle gehalten. Die Trümmer sind auch von keiner fremden Hand angerührt worden; der Onkel hat die Ordnung selbst wieder hergestellt – auch nicht das kleinste Brettchen ist in das Küchenfeuer gekommen.«

Der junge Mann stieg auf die Galerie und öffnete das neueingesetzte Feld, das sich als eine Türe auswies. In der ziemlich tiefen dunklen Maueröffnung, die einst die Orgel ausgefüllt, waren in der Tat die Überreste sorgsam aufgeschichtet. Da lagen die zinnernen Pfeifen, die dickbäuchigen Holzengel, die sie umringt, die auseinandergesprengten Teile der Tastatur – es schien allerdings jeder Splitter so ängstlich aufgelesen worden zu sein, als hänge Unsegen und Verderbnis für das ganze Klostergut an seiner Verschleppung.

Wenn der Rat ganz allein die Ordnung wiederhergestellt hatte, dann rührten auch die Reparaturen an den beschädigten Innenwänden von seiner Hand her. Felix bog sich tief in den dämmernden Raum und betrachtete ein neues Stück Bretterverschalung. »Der Onkel hat ja gleich einem Zimmermann gearbeitet!« rief er lächelnd seiner Mutter zu, die eben hinausgehen wollte.

In diesem Augenblick wurde die nach dem Hausflur führende Türe geöffnet, und ein fester Fuß trat auf die Schwelle. »Nun, was hast denn du da oben zu suchen?« scholl es scharf, in hörbar unliebsamer Überraschung herein.

Fein fuhr empor – dieser Ton in des Onkels Stimme berührte stets sein ganzes Nervensystem, wie das plötzliche Schrillen von Metall. Er sprang nichtsdestoweniger rasch die Stufen herab und reichte mit einer leichten, eleganten Verbeugung dem Eingetretenen die Hand hin.

»Willst du nicht die Freundlichkeit haben, zuvor den Schrank wieder zu schließen, den du so wißbegierig durchstöberst?« fragte der Rat abermals mit finsterem Blick, ohne die dargebotene Hand zu ergreifen. »Und seit wann ist es denn Sitte bei uns, daß du mich in meinem eigenen Zimmer bewillkommnest?«

Der junge Mann war mit einem Satz wieder zurückgesprungen und bemühte sich, die verquollene Schranktüre zuzudrücken. »Seit deine Dienstboten den Weg frei gemacht haben, Onkel,« entgegnete er nicht ohne Schärfe, über die Schulter und zeigte durch die offene Türe nach der Amme, die sich grüßend vom Stuhl erhoben hatte.

»Veitchen schläft immer nur drüben ein – der Herr Rat wissen's ja,« sagte die Person, ihres angemaßten Rechtes sicher.

Der Rat warf schweigend seinen Hut auf den nächsten Tisch. Hochgebaut, nicht breit von Schultern, aber ein Bild zäher Kraft in der ganzen Haltung, war er ein Mann, der, auf dem Hintergrund der altertümlichen Wandbekleidung, in Koller, Spitzenkragen und Federhut eine prächtige Wallensteinfigur abgegeben hätte. Das starke, kurz verschnittene, leicht übergraute Haar bog sich als scharfgezeichnete Schneppe tief in die Stirne des geistreichen, schmalen Gesichts, das Luft und Sonne mit der gesunden, braunen Haselnußfarbe angehaucht hatten.

Er ging, den Schall seiner Schritte möglichst dämpfend, sofort hinüber an das Wiegenbettchen, hob mit vorsichtigem Finger den Schleier auf und bog sich horchend über das Kind. »Was ist das, Trine? Der Kleine atmet aufgeregt – das Köpfchen scheint auch heiß zu sein,« fuhr er wie atemlos vor Bestürzung empor – dieses Männergesicht voll Selbstbewußtsein war kaum wiederzuerkennen mit dem Ausdruck zitternder Angst.

»Veitchen hat sich erschreckt, Herr Rat,« sagte die Amme, die Hände über den Leib faltend, in anklagendem Tone. »Er kann eben gar keinen Lärm vertragen, und die Frau Majorin hat vorhin einen Teller auf den Erdboden fallen lassen – ich war halbtot vor Schreck und dachte mir's gleich, daß Veitchen krank würde – er schrie zu fürchterlich, Herr Rat!«

Der Rat schwieg und streifte mit einem finsteren Seitenblick seine Schwester, die ganz bleich vor Grimm und Ärger, langsam am Eßtisch hinging und zwecklos verschiedene Gegenstände aufnahm, um sie wieder hinzulegen. Jetzt trat sie rasch an die Wiege und befühlte die Stirn des schlafenden Knaben. »Du siehst Gespenster, – dem Kinde fehlt nichts!« sagte sie in ihrer kurzen, entschiedenen Weise, aber wie man sah, selbst erleichtert durch das Resultat ihrer Untersuchung.

»Gott sei Dank!« rief der Rat tiefaufatmend. »Ich weiß, du verstehst dich darauf, Therese! – Aber es wäre jedenfalls praktischer gewesen, Felix hätte oben in deinem Zimmer gegessen. Trine hat recht, Veit kann kein starkes Geräusch, nicht einmal lautes Sprechen vertragen – wir werden uns deshalb, solange dein Sohn hier ist, im vorderen Eckzimmer aufhalten ... Für jetzt muß das Kind in seine Schlafstube – die Luft hier ist zu dick, voller Speisedunst.«

Er ergriff die Wiege am Kopfende und winkte der Amme, die entgegengesetzte Seite aufzunehmen; aber die Majorin legte selbst Hand mit an, und so trugen die beiden alternden Geschwister den neuen Träger des Wolframschen Namens – ihrem Familienbewußtsein und Dünkel nach ein Menschenkind, kostbar wie ein Königsohn – durch Küche und Hausflur, und die Amme folgte, hochmütig das fette Doppelkinn vorstreckend, breitspurig mit ihrem Strickstrumpfe.


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