Eugenie Marlitt
Im Schillingshof
Eugenie Marlitt

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5.

Wie betäubt ging er durch die Küche und schob den Riegel der Türe zurück. Beim Öffnen scholl ihm Stimmengeräusch entgegen; es hatte sechs Uhr geschlagen; die Haustür stand voll Frauen und Kinder, und über den vorderen Hof her kamen sie immer noch geströmt, die Abendkunden des Klostergutes, mit den blechernen und irdenen Henkeltöpfen oder dem Steinkrug in der Hand. Die Stallmagd hatte eben zwei Eimer voll schäumender Milch auf den Fußboden niedergesetzt und sah sich erstaunt um, denn der Platz am Schenktisch war noch leer – zum erstenmal, seit sie auf dem Klostergute diente; selbst am Sterbe- und Begräbnistage der seligen Frau Rätin war der Posten pünktlich eingenommen worden, in dem Augenblick, wo die Milch von den Ställen her gebracht wurde.

Felix schritt rasch durch die versammelten Leute. Sonst hatte ihn der »Milchhandel« dergestalt angewidert, daß er stets um diese Zeit über ein verstaubtes Hintertreppchen gegangen war, um dem Menschenandrang in dem Hausflur auszuweichen. Heute sah er mit zerstreutem Blick über die Köpfe der Wartenden hinweg – er bemerkte nicht, wie er gegrüßt wurde, wie sich die Frauen und Mädchen heimlich anstießen und den bildschönen jungen Herrn bewundernd mit den Augen verfolgten, während er flüchtigen Fußes die kreischende Treppe hinaufsprang – zum letztenmal, denn der Onkel hatte ihn aus dem Hause gewiesen. Nie, nie wieder wollte er zurückkehren in das dunkle Haus, in diesen von Mönchen gebauten und von einer engherzigen, phantasiearmen Familie durch alle Generationen hindurch sorglich behüteten Sarg, dem die Menschenseelen angepaßt wurden, indem man jede schüchtern hervorwachsende Schwinge abschnitt, jeden traditionswidrigen Geistesfunken mit dem Fuße austrat.

Die kleine Reisetasche des Ausgewiesenen lag noch droben im Giebelzimmer auf dem Tische, die mußte er holen. Er wollte mit dem Nachtzug nach Berlin zurück, vorher aber seinen Freund Arnold im Schillingshofe sprechen. Das waren die einzigen Entschlüsse, die sich emporrangen aus den aufgetürmten Wogen namenloser Erbitterung, aus dem Wirbel, in dem sein furchtbar erregtes Gehirn kreiste. Bis hinunter zu dem Grundgedanken, wie es nun werden sollte, kam er nicht – immer wieder wälzte sich das Geschehene durch seinen Kopf ... Er war vorgestern von Berlin abgereist – Madame Fournier, die augenblicklich in Wien gastierte, hatte ihrer alten Mutter geschrieben, daß der Hoftheaterintendant auf ihren Wunsch, Lucile demnächst auf der Bühne des Kärntnertortheaters debütieren zu lassen, einzugehen scheine – diese Nachricht hatte ihn tief erschreckt, denn er verhehlte sich nicht, daß ihm die Geliebte halb und halb verloren sei, wenn sie einmal ihren Triumphzug begonnen habe. Und sie selbst hatte ihn in leidenschaftlicher Ungeduld gedrängt, seine Verhältnisse sofort zu ordnen und dann nach Wien zu gehen, um persönlich mit ihrer Mutter zu verkehren – und nun war alles in den ersten Stunden gescheitert! –

Er preßte die Hände gegen die heftig klopfenden Schläfen, als könne er mit dieser einen verzweifelten Bewegung seinen zerrütteten, aus der Bahn geschleuderten Gedankengang wieder einlenken, einen leitenden Faden in dem ungewissen Düster finden, in das er aus der Sonnenhelle seiner sanguinischen Hoffnungen mit geblendeten Augen gestürzt war ... Er hatte sich mit seiner Mutter entzweit für immer! Das sagte der Onkel nicht allein, er fühlte es selbst, daß sie ihm die unzerstörbare, enthusiastische Liebe zu seinem verschollenen Vater nie verzeihen, noch weniger aber die Rücksichtslosigkeit vergessen werde, mit der er endlich seinem stillschweigend getragenen kindlichen Schmerz Luft gemacht hatte.

Wie schroff und hart, wie unbeugsam war sie ihm aber auch entgegengetreten! So war es immer gewesen. Da hatte es nie ein mütterlich sanftes Zureden und Vorstellen, nie, solange er denken konnte, jenes teilnehmende Mitversenken in des Kindes Freud und Leid gegeben, das die Luft heller erglühen macht und das Weh sänftigt, wie das Streicheln einer weichen, linden Hand – ihre ganze Erziehungsweise war ein barsches Kommando gewesen ... Und wie blitzschnell war sie vorhin mit dem Entschluß, ihr einziges Kind zu enterben, fertig geworden! – ja, zu schnell, selbst für eine augenblickliche Eingebung! – Das war wohl schon vorher gedacht worden! – Und jetzt kroch ein finsterer Argwohn schlangengleich an dies arglose, bis dahin im idealen Vertrauen förmlich aufgehende Herz des Jünglings heran und packte es wie ein Dämon. Wie, wenn der Familienfanatismus seiner Mutter so weit ging, daß ihr der Vorwand nicht unwillkommen gewesen war, ihr großes Erbteil den Wolframs wieder zuzuwenden?

Er lief, wie von Harpyien verfolgt, im Giebelzimmer auf und ab....Nimmermehr! Ein solch entsetzlicher Verdacht entwürdigte ihn selbst; es war eine Befleckung seiner eigenen Seele, eine Art von unedler Rache, die ihm die Schamröte auf die Wangen trieb ... Da lag noch das Schreibeheft auf dem Tische; das Verzeichnis der aufgeschlagenen Blattseite bewies unwiderleglich die treue Sorge, mit der die Mutter seiner Zukunft gedacht hatte – freilich war die verzeichnete Wäsche nur für den Ausstattungsschrein einer jungen Frau im Sinne der Majorin, einer vornehmen Beamtentochter oder der Erbin eines reichen Fabrikherrn, bestimmt gewesen – aber das tat doch der Sorge um ihn keinen Abbruch. Und dort im Fensterbogen hing das Bild ihres Sohnes – wenn sie arbeitend am Tische saß, mußte sie bei jedem Aufblick in sein Gesicht sehen. Nein, liebeleer war ihr Herz nicht, wenn auch ihre starren Vorurteile, ihre geradezu männliche Strenge gegen sich selbst und ihre Angehörigen ihr den Anschein innerer tödlicher Kälte gaben.

Zögernd griff er nach seiner Ledertasche und warf den Riemen über die Schulter – er war zum Fortgehen gerüstet. Dennoch blieb er stehen und horchte gespannt, ob nicht wohlbekannte Schritte über den Vorsaal kämen... Es verstand sich von selbst, daß er das Klostergut auf Nimmerwiederkehr verließ; aber schmerzbewegt gestand er sich, daß es ihm unmöglich sei, von seiner Mutter für immer zu gehen, ohne ihr gesagt zu haben, wie ihm seine leidenschaftliche Heftigkeit ihr gegenüber leid tue; er mußte sie noch einmal sehen, selbst – wenn sie sein Abschiedswort in verächtlichem Schweigen anhören und nicht erwidern sollte.

Es war sehr schwül geworden. Am südlichen Himmel stieg eine schiefergraue Gewitterwolke auf; sie rückte allmählich wie mit bleierner Schwere vor, Linie um Linie erstickte das glanzvolle Abendlicht hinter ihr, und in die Häuser sank ein immer tieferes Dämmern, als bräche eine frühe Nacht herein.

Drunten im Vorderhofe herrschte jetzt beruhigende Stille. Das große Tor war geschlossen; seine Wölbung sah aus wie bekränzt durch die Kleebüschel, die das bröckelnde, zerklüftete Mauerwerk vom hochbeladenen Fuder weg an sich gerissen. Auch das Rasseln des Mauerpförtchens schwieg, nachdem der letzte verspätete kleine Kunde mit seinem ängstlich behüteten Milchtopf das Klostergut verlassen hatte. Vor dem Hühnerstall lag der Riegel, die Pfauen und Truthühner hockten auf ihren Stangen unter niederem Dache, und nur auf dem Rand des Brunnentrogs flatterten noch badelüsterne Tauben.

In der Platanenallee des Schillingshofes rührte und regte sich auch kein Leben mehr; alle farbenbunte und blinkende Ausstattung der eisernen Möbel war fortgeräumt, und die Baumhalle erhob sich mit ihren unbewegten Wipfeln und den regelmäßig aufsteigenden Stämmen wie aus dunklem Stein geschnitten unter den hochgetürmten Gewitterwolken. Von den blühenden Bosketten her aber wogte der Duft über die efeubewachsene Mauer in den Klosterhof, der in alten Zeiten, da noch die Mönche auf den Steinbänken unter den Linden saßen, auch ein undurchdringliches Dickicht von Heckenrosen, Weißdorn und Flieder, voll singender und brütender Vögel, in seinen tiefen, geschützten Ecken beherbergt hatte.

Eine Viertelstunde um die andere verging, und noch wanderte Felix wartend im Giebelzimmer auf und ab... War es wohl je so grabesstill im alten Klosterhause gewesen, wie jetzt, wo er mit schwerbeklommenem Herzen und hämmernden Schläfen auf ein Lebenszeichen horchte? ... Wieder trat er an das offene Fenster und sah in die Abenddämmerung hinaus – da, endlich kam es die Treppe herauf, über den Vorsaal her! Die Tür wurde geöffnet, und der Luftzug hob leise das Lockenhaar an der Schläfe des jungen Mannes; aber er wandte sich nicht um, er zögerte, in das zürnende Gesicht seiner Mutter zu sehen...

Ein schwaches Rauschen, als streife ein Vogel mit flatterndem Flügel an den Wänden hin, huschte hinter ihm über die Dielen, der Luftzug brachte plötzlich einen köstlichen Rosenhauch mit – dann legten sich samtweich und kühl, wie Blumenblätter, zarte Finger auf die heißen Augen des Aufhorchenden, und – sein Herz stand still, ein lähmender Schrecken machte ihn vom Wirbel bis zur Sohle erstarren – »Lucile!« stieß er schwach, wie mit verlechzender Kehle hervor.

Im Nu waren seine Augen befreit, und das reizendste Elfenkind, das je die Welt gesehen, hing wie ein Kobold lachend an seinem Halse; hinter der Tür aber, die sich eben schloß, sah er noch das schmunzelnde, breite Gesicht der Stallnymphe verschwinden – sie hatte »den Besuch« heraufgeführt.

»Um Gotteswillen, Lucile, was hast du getan!« rief er außer sich.

Die weichen Mädchenarme glitten augenblicklich von seinem Nacken, und das liebliche Gesichtsoval der jungen Dame verlängerte sich in namenloser Betretenheit – sie sah ihn mit halb erschrockenen, halb bösen Augen an. »Was ich getan habe?« wiederholte sie trotzig und schmollend. »Durchgebrannt bin ich! Ist das so schlimm?«

Er schwieg und horchte angstvoll nach dem Vorsaal hin – jetzt durfte seine strenge Mutter nicht kommen! Ihm war, als sei sein Kleinod, sein Abgott in eine Löwengrube gestürzt.

»Ich bitte dich, Felix, stehe nicht da, als sei dir die Butter vom Brote gefallen!« sagte Lucile ungeduldig und zog mit einem grimmigen Ruck das gelockerte Strohhütchen fester in die Stirn. »Bah, der Spaß ist verunglückt, wie ich sehe – ich hatte mir das lustiger gedacht! Meinetwegen –« sie zuckte nachlässig die Achseln – »ich kann auch wieder gehen, wenn ich dem gestrengen Herrn nicht gelegen komme.«

»Nein, o nein!« rief der junge Mann, und jetzt zog er das Mädchen stürmisch an sein Herz und bedeckte ihr zartes Gesichtchen mit leidenschaftlichen Küssen.

»Puh!« schüttelte sie sich und entschlüpfte ihm lachend und geschmeidig. Sie warf Hut und Taschentuch auf den Tisch und schleuderte eine lange, über den Busen gefallene Locke in den Nacken zurück. »So, nun bist du wieder vernünftig, Schatz,« sagte sie. »Gestern hättest du bei uns sein sollen – na, das Durcheinander! Du machst dir keinen Begriff! ... Mama telegraphierte, sie habe sich den Fuß vertreten, müsse deshalb ihr Gastspiel abbrechen, und die Intendanz gestatte, daß ich an ihrer Stelle nächsten Montag die Gisela in den ›Willis‹ tanze, ich solle sofort abreisen ... Ich saß gerade auf dem Balkon und knabberte mit dem Kakadu allerhand Gutes aus der Bonbonniere, die du mir mitgebracht hast – ich sage dir, wie eine zerplatzende Bombe fiel das Telegramm ins Haus – die Jungfern, die Bedienten, das Küchenpersonal, alles wimmelte wie ein Ameisenhaufen durcheinander!«

Ihre Schilderung gipfelte in einem kurzen melodischen Auflachen, während sie die goldene Uhr wieder befestigte, die sie bei einer ihrer lebhaften Gesten unabsichtlich aus dem Gürtel gerissen hatte.

»Ich wünsche nur, du hättest die Großmama gesehen,« fuhr sie fort. »Sie hat wieder ihre Neuralgien im linken Bein und sitzt wie festgenagelt im Lehnstuhl ... Du weißt, sie hat so einen großen, altadeligen Blick, der furchtbar imponierend ist, und wenn sie von ihrer Familie, den längst vermoderten Marquis Rougeroles, anfängt, da wird mir immer himmelangst. Sie zählte richtig wieder alle die Henris und Gastons, die sich immer in der Erde umdrehen müssen, der Reihe nach an den Fingern her, stampfte erbost mit dem gesunden Fuße auf und sagte, die Mama sei nicht recht klug, daß sie mich – nämlich den letzten Sproß der alten Ahnenreihe – mit dem dummen Ding, der Kammerjungfer Minna, allein in die Welt hineinreisen lasse – na, so sehr unrecht hatte sie nicht!« Sie kicherte schelmisch in sich hinein. Bei jeder ihrer unbeschreiblich graziösen Bewegungen klirrten die kostbaren Armbänder an ihren Handgelenken, das silbergraue Taftkleid rauschte in jeder Falte, und der starke Rosenduft, der ihrer Erscheinung entströmte, hatte längst den Veilchenhauch des Wäscheschrankes unterdrückt.

Jetzt sah sie flüchtig und prüfend mit den großen Augensternen, in denen helles Braun mit einem feurig schillernden Grün fortwährend um die Herrschaft stritt, zu dem jungen Mann empor. Er stand, die Hand auf den Tisch gestemmt, wie in stummer Verzückung da. Der augenblicklichen, unheildrohenden Lage und dem altfränkisch ausgestatteten Raum, welcher das Zimmer seiner tödlich beleidigten Mutter war, vollkommen entrückt, sah und hörte er nur das taufrische, quecksilberne Geschöpfchen, auf dessen vollockigen Scheitel die Grazien ihren ganzen Feenzauber ausgeschüttet ... Sie las die trunkene Zärtlichkeit in seinen Blicken und warf sich an seine Brust.

»Närrischer Felix, du!« sagte sie und zupfte ihn neckend am Ohr. »Was hattest du nur vorhin, als ich ankam? ... Und ich kam so stolz, weil ich den großartigen Gedanken gehabt hatte, durchzubrennen. Und gar so leicht war das durchaus nicht, mußt du wissen! ... Ich habe nun einmal von Mama her in Blut und Nerven und Muskeln, von meinem tollen Kopf an bis in den kleinen Finger und die allerkleinste Zehe hinab, das prickelnde Verlangen, zu schweben, zu gaukeln, und zwar am allerliebsten vor tausend Augen und tausend bärtigen Lippen, die »Bravo« schreien bis zur Atemlosigkeit – und das sprach auch mit, Schatz – mehr, als du denkst.«

Mit einer schlangengewandten Biegung ihres schlanken Leibes entschlüpfte sie ihm wieder, dessen starke, blonde Brauen sich plötzlich finster zusammengezogen. Sie lachte und strich mit der Hand glättend darüber hin. »Großmama schimpfte und schalt wohl über das Telegramm,« fuhr sie rasch, den fatalen Eindruck verwischend, fort, »aber sie befahl doch sofort, daß im Eßsalon vor ihren Augen gepackt werde – o du Gerechter – war das eine Wirtschaft! Minna und Großmamas alte, sauertöpfische Kammerjungfer schleppten die halbe Garderobekammer herbei, und es dauerte nicht lange, da verschwand die Großmama samt ihrem Lehnstuhl hinter einem ganzen Berg von Gazeröcken, und ich sah nur noch manchmal die zitronengelbe Schleife auf ihrer Haube wackeln, wenn sie schalt und kommandierte ... Ach, Felix, es prickelte mir unsäglich verführerisch in den Fußspitzen, bei all den flimmernden Theaterherrlichkeiten, die Mama allmählich für mich angeschafft hat; und als das Kostüm der Gisela gebracht wurde – ein hinreißendes Kostüm, sage ich dir – da – da traten mir die Tränen in die Augen ... Na, sei nur ruhig, – was will ich denn machen? Ich stecke ja bis über beide Ohren in der fabelhaft dummen Liebe zu dir, und da verschluckte ich denn auch tapfer meine Tränen und lachte heimlich über »Madame Lazare née de Rougerole«, die gerade in dem Augenblick zu meiner Jungfer sagte: »Minna, daß Sie sich nicht etwa unterstehen, auf den Bahnhöfen familiär neben Fräulein Fournier herzugehen! Sie haben sich hinter ihr zu halten, und in Wien wird nicht ausgeplaudert, daß Sie die einzige Reisebegleitung gewesen sind – das bitte ich mir aus!« ... Ha, ha, ha – in Wien! Bei mir stand es bereits bombenfest, daß ich – zu meinem Schatz gehen würde ... Und da hast du mich nun, Felix! – Minna sitzt mit Koffern und Schachteln im Hotel, zwischen Weinen und Lachen, und hat schreckliche Angst vor Mama und Großmama – willst du sie nicht holen lassen?«

Er schrak in sich hinein, als bräche die Zimmerdecke über ihm zusammen – da war die schreckensvolle Wirklichkeit wieder! »Nein, hierher darf sie nicht kommen,« versetzte er gepreßt, »und auch du kannst nicht dableiben, Lucile.«

Jetzt erst sah sie sich um und schlug kichernd die Hände zusammen. »Ach, das ist kostbar – du bist wohl in die Leinenkammer deiner Mutter geraten?« rief sie und zeigte nach dem offenen Wäscheschrank. »Aufrichtig gestanden, für immer möchte ich auch um keinen Preis hierbleiben,« setzte sie nach einer weiteren Musterung hinzu; sie schüttelte sich, während ihr scheuer Blick an dem tiefen Türbogen hinglitt, in dem bereits dichte Finsternis lagerte. »Ich fürchtete mich zu Tode, sage ich dir! ... Wenn du mir vom Klostergute gesprochen hast, dann mußte ich immer an Marmorsäulen, mächtige Bogengänge und Springbrunnen im Klosterhofe denken. Und nun führt mich der Lohndiener vor dieses scheußliche Nest und besteht darauf, daß es das Klostergut sei – ich habe mich beinahe mit ihm gezankt ... Ach Gott, und der Eingang! ... Ich fiel um ein Haar über ein paar Eimer, die im Wege standen, ein kleines Kind schrie und krähte wie ein Hähnchen – wohl das hoffnungsvolle, kleine Wolfrämchen? – der ganze Hausflur roch nach gebratenem Speck – puh, Speck! ... Und nun gar das Prachtstück, das mich herausgeführt hat und, wie mir scheint, Portier, Lakai und Hausjungfer in einer Person ist! Sie grinste mich verständnisinnig an und patschte mir gönnerhaft den Rücken – oh!«

In ihre glänzend weihe Stirne gruben sich ein paar leichte Falten der Besorgnis, während sie halb ängstlich, halb drollig hinzufügte: »So viel weiß ich nun, Felix – Mama und Großmama dürfen nie hierher kommen! Das gab' einen gräßlichen Skandal, und die unglücklichen Rougeroles müßten sich en tour in ihren Särgen umdrehen.«

»Beruhige dich, Lucile, Mama und Großmama werden nie in diese Verlegenheit kommen,« entgegnete der junge Mann schweratmend. »Komm jetzt – auch wir wollen gehn –«

»Wie, noch diesen Abend?« unterbrach sie ihn mit großen Augen. »Ohne deiner Mama –«

»Meine Mutter ist nicht darauf eingerichtet, einen Gast wie dich zu empfangen.«

»Aber, mein Gott – ich bin ja doch nicht so anspruchsvoll! Du sagst selbst immer, ich ätze und nippe wie ein Vögelchen – freilich, für Speckeier danke ich! Wer Frau Wagner, unsere alte Köchin, behauptet stets, ein wenig Mayonnaise oder Aspik oder dergleichen, was ich so sehr gern nasche, müsse immer in einem anständigen Speiseschrank zu finden sein.«

Er preßte die Lippen fest aufeinander, und ohne ein Wort zu erwidern, nahm er das Strohhütchen vom Tische und drückte es sanft und vorsichtig auf das braune Gelock des jungen Mädchens.

»Nun, wie du willst,« sagte sie achselzuckend und steckte den Hut mit einer goldenen Nadel fest. »Gehen wir in das Hotel?«

»Nein. Ich bringe dich in den Schillingshof zu unserem Freund, dem Baron Arnold.«

»Oh, das ist mir sehr lieb, das freut mich, Felix! – Der nette Baron Schilling! Ich bin ihm gut! ... Werde ich euch seine junge Frau sehen? – Ich sterbe vor Neugier, ob sie schön ist – das ist mir nämlich stets die Hauptsache, mußt du wissen.« – Bei den letzten Worten hob sie ihre Gestalt, so hoch sie konnte, auf den Zehen, um in dem zwischen den Fenstern hängenden, winzig kleinen Spiegel zu prüfen, ob der Hut »anständig« sitze; aber lachend, mit einer schüttelnden Handbewegung, gab sie den Versuch auf. »Großmama hat den Papa der jungen Baronin, den alten Herrn von Steinbrück in Koblenz, gut gekannt,« plauderte sie weiter. »Sie behauptet, er habe seine einzige Tochter im Kloster erziehen lassen.«

»Die Großmama hat recht,« sagte er und zog ihr den Schleier über das Gesicht. Die Arabesken und Ranken der schwarzen Spitze ließen kaum an einigen klaren Stellen die weiße Samthaut durchscheinen – nur die Augen, diese groß aufgeschlagenen, schillernden Sterne, blitzten wie Steingefunkel durch einen schmalen Streifen dünnen Spitzengrundes.

»So, nun wären wir fertig,« sagte sie und griff nach ihrem Taschentuch.

Felix reichte ihr den Arm. »Liebes Herz,« bat er, unter der Türwölbung den Schritt anhaltend, mit gedämpfter Stimme; »sprich nicht, solange wir im Hause sind, und gehe möglichst geräuschlos die Treppe hinab.«

»Aber, mein Gott, weshalb denn? Wir sind doch keine Spitzbuben?« fragte sie verwundert. »Ach, das kleine Kind ist wohl krank?«

»Nicht krank – aber sehr schwachnervig.«

»Ah – ich verstehe!«

Sie traten hinaus auf den Vorsaal. In dem jungen Manne wogte ein nicht zu beschreibender Aufruhr. Seine Hände ballten sich wie im Krampfe, und der fieberhaft angstvolle Wunsch: »Nur keine Begegnung zwischen ihr und meiner Mutter!« wurde mit jedem Schritt weiter in die dräuende Tiefe hinab zur inbrünstigen, gen Himmel gerichteten Bitte.


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