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Am andern Morgen um fünf Uhr wurden die Bewohner von Gnadeck durch Böllerschüsse geweckt. »Aha,« sagte Ferber zu seiner Frau, »die Verherrlichung nimmt ihren Anfang.« Elisabeth aber fuhr jäh aus einem schrecklichen Traume auf. Das Unglück, welches sie gestern abgewendet, hatte der Traum wahr gemacht; sie sah in dem Augenblicke Herrn von Walde sterbend zusammenbrechen, als der Schuß im Thale sie aufschreckte. Es bedurfte langer Zeit, ehe sie sich zu sammeln vermochte. In einen einzigen Moment hatten sich unnennbare Schmerzen zusammengedrängt. Sie hatte gewähnt, Himmel und Erde müßten mit jener hohen Gestalt zusammenstürzen und auch sie unter ihren Trümmern zerschmettern, und noch jetzt, nachdem sie sich überzeugt hatte, daß das goldene Morgenlicht in ihr Stübchen und nicht auf die blutgetränkte Waldwiese falle, vibrierten die aufgetürmten Gefühle nach . . . nicht einmal gestern, als sie ihr Leben für das seine wagte, war sie sich so klar bewußt gewesen, daß sie in einem solchen Augenblicke mit ihm sterben müsse.
Wieder und wieder donnerte es drunten durch das Thal. Die Fensterscheiben klirrten leise, und Hänschen flatterte entsetzt auf und klammere sich an die Stäbe seines Käfigs. Elisabeth schauderte jedesmal zusammen, und als die Mutter, die sich noch immer nicht über den Vorfall des gestrigen Tages beruhigen konnte, obgleich sie ihr Kind wohlbehalten und unverletzt sich zurückgegeben sah, an der Tochter Bett trat, um zu fragen, wie sie geschlafen habe, da schlang diese heftig die Arme um ihren Hals und brach in einen unaufhaltsamen Thränenstrom aus.
»Um Gotteswillen, Kind!« rief Frau Ferber erschrocken, »du bist krank! . . . Ich wußte wohl, daß die gestrige Nervenaufregung nicht ohne Folgen bleiben würde . . . und nun schießen sie auch noch so unvernünftig da unten.«
Es kostete Elisabeth viele Mühe, die Mutter zu überreden, daß sie sich ganz gesund fühle und um keinen Preis im Bette bleiben, sondern mit den anderen zusammen Kaffee trinken wolle. Um jede Einwendung sofort abzuschneiden, schlüpfte sie in ihre Kleider, wusch das verweinte Gesicht mit frischem Wasser und stand bald draußen am Herde, um die letzte Hand an das von der Mutter vorbereitete Frühstück zu legen.
Die Schüsse waren plötzlich verstummt, und es währte nicht lange, da waren auch die Thränenspuren aus Elisabeths Augen verwischt. Sie blickte wieder heller in die Welt, denn wenn sie auch ein Leben voll Entsagen vor sich sah, so lebte er ja doch; dieser Gedanke hatte infolge des fürchterlichen Traumgesichts eine beschwichtigende Kraft für ihr unruhiges Herz . . . und wenn er auch ging – weit fort –, und sie mußte jahrelang leben, ohne ihn zu sehen, einmal kam doch eine Zeit, da er wiederkehrte . . . Und ihn lieben und an ihn denken durfte sie ja auch, denn er gehörte ja keiner anderen.
Später ging sie mit den Ihrigen und Miß Mertens nach dem Forsthause, wohin die Gesellschaft wie alle Sonntage für den Mittag eingeladen war. Auf der Stirn des Oberförsters, der ihnen entgegenkam, lagen schwere Wolken. Wie Elisabeth bald bemerkte, machte ihm Bertha schwer zu schaffen.
»Ich kann und werde diese Wirtschaft nicht länger mehr mit ansehen!« rief er heftig. »Soll ich in meinen alten Tagen noch Zuchtmeister werden und in meinem eigenen Hause Tag und Nacht auf der Lauer stehen, um ein junges, eigensinniges Ding, das mich eigentlich auf der Gotteswelt nichts angeht, von verrückten Streichen abzuhalten?«
»Onkel, bedenke, daß sie unglücklich ist!« rief Elisabeth erschrocken.
»Unglücklich? . . . Eine Komödiantin ist sie . . . ich bin auch kein Menschenfresser, und als ich sie für wirklich unglücklich hielt, das heißt wie sie beide Eltern auf einmal verlor, da bin ich ihr Stab und Stütze gewesen, soviel nur in meinen Kräften stand . . . Aber da steckt das Unglück auch gar nicht; denn dazumal, kaum zwei Monate nach dem Trauerfalle, trillerte sie den ganzen Tag wie eine Heidelerche, so daß mir das Herz weh gethan hat bei so viel Leichtsinn und Herzlosigkeit . . . Worüber ist sie unglücklich, he? . . . Ich will es übrigens auch gar nicht wissen, das Staatsgeheimnis, und wenn sie kein Vertrauen zu mir hat, so mag sie's bleiben lassen . . . Meinetwegen könnte sie auch das ganze Jahr ein Thränenweidengesicht machen, wenn sie sich nun einmal darin gefällt; aber sich stumm stellen, des Nachts wie eine Verrückte im Walde herumlaufen und mir eines schönen Tages das Haus über dem Kopfe anbrennen, das sind Dinge, in die ich denn endlich doch ein Wörtchen reden werde.«
»Hast du denn meine Warnung neulich nicht beachtet?« fragte Ferber.
»Ei freilich . . . Ich habe ihr sofort eine andere Stube angewiesen, sie schläft jetzt über mir, so daß ich jeden Tritt droben hören kann. Nachts werden beide Hausthüren nicht bloß verriegelt, wie früher immer geschehen ist, sondern auch zugeschlossen, und ich nehme die Schlüssel mit in meine Kammer . . . Aber Weiberlist – nun, das ist eine alte Geschichte . . . Wir haben durch die Vorsichtsmaßregeln wenigstens eine kurze Zeit Ruhe gehabt. Diese Nacht aber konnte ich nicht einschlafen – die Geschichte mit dem Linke ging mir noch durch den Kopf – da hörte ich droben Schritte, so leise, als ob eine Katze über die Dielen schliche. Aha, dachte ich, da geht das Nachtwandeln wieder los, und machte mich auf; aber als ich hinauf kam, da war das Nest schon leer; auf dem Tische am offenen Fenster brannte ein Licht, und als ich die Thür aufmachte, da flog der Vorhang über die Flamme – Herr Gott, wäre ich nicht sofort zugesprungen, es hätte ein Feuerwerk geben können, bei dem die alten Balken im Forsthause sicher gern mitgeholfen hätten . . . Und wie war sie hinausgekommen? . . . Durchs Küchenfenster . . . Ei, da will ich doch lieber einen Ameisenschwarm hüten, als solch eine geriebene Person . . .«
»Ich bin fest überzeugt, das Mädchen hat ein Liebesverhältnis,« meinte Frau Ferber.
»Ja, das haben Sie mir schon einmal gesagt, Frau Schwägerin,« entgegnete der Oberförster ärgerlich, »wenn Sie mir aber auch dabei bemerken wollten, mit wem, dann würde ich Ihnen sehr dankbar sein . . . Sehen Sie sich doch nur um, ob nur ein einziger da ist, der einem Mädchen so den Kopf verdrehen könnte . . . Meine Gehilfen? . . . Die sind ihr lange nicht gut genug, die hat sie gleich zu Anfang ablaufen lassen, daß es eine Art hatte . . . und der Schurke, der Linke, der wird's wohl auch nicht sein mit seinen krummen Beinen und der semmelfarbenen Perücke, und damit wäre denn das Register voll.«
»Einen haben Sie vergessen,« sagte Frau Ferber bedeutsam und sah sich um nach Elisabeth, die einige Schritt zurückgeblieben war, um für Ernst eine Gerte abzuschneiden.
»Nun?« fragte der Oberförster.
»Herrn von Hollfeld.«
Der Oberförster blieb betroffen stehen. »Hm,« brummte er endlich, »das wäre mir auch in meinem ganzen Leben nicht eingefallen . . . Nein, nein,« fuhr er lebhaft fort, »das glaube ich nicht; denn erstens wird das Mädel nicht so stockdumm sein, sich einzubilden, der werde sie zur gnädigen Frau auf Odenberg machen –«
»Vielleicht hat sie das doch gehofft und sieht sich nun enttäuscht,« warf Frau Ferber ein.
»Hochmütig und eitel genug wäre sie am Ende,« meinte der Onkel nachdenklich, »aber er – er soll sich ja ganz und gar nichts aus den Weibern machen.«
»Er ist ein kalter Egoist,« sagte Miß Mertens.
»Das letztere glaube ich – das erstere aber nicht,« erwiderte Frau Ferber, »und eben diese Anschauung erklärt mir Berthas ganzes Thun und Treiben.«
»I, das wäre ja eine greuliche Geschichte!« rief der Oberförster zornig. »Und ich hätte mir in meinem Arglosigkeit und Nachsicht eine Nase drehen lassen, wie nur irgend ein alter, bornierter Komödienvater! . . . Ich werde der Sache jetzt unerbittlich auf den Hals rücken, und wehe der ehrvergessenen Person, wenn sie es wirklich gewagt hat, unter meinem ehrlichen Dache eine Liebelei anzuzetteln, die ihr und mir nur Schande bringen kann!«
Das Mittagessen verlief sehr still. Der Oberförster war und blieb verstimmt und hätte am liebsten Bertha sogleich in die Beichte genommen, wenn nicht Frau Ferber gebeten hätte, er möge des Sonntags gedenken. Nach dem Kaffee verließen die Gäste das Forsthaus. Der Onkel warf die Büchse über die Schulter, ging mit hinauf bis vor das Mauerpförtchen und verlor sich dann in den Wald, der, wie er sagte, ihn stets beruhigte und wieder zu sich selbst brachte.
Elisabeth schmückte sich zum Konzert, d. h. sie zog ein einfaches, weißes Mullkleid an und steckte als außergewöhnlichen Schmuck ein frisches Waldblumenboukett an die Brust. Die Mutter brachte ein kleines Medaillon am schwarzen, schmalen Samtbändchen und legte ihr dasselbe um den Hals – das war die Konzerttoilette, die gewiß jedes andere junge Mädchen, im Hinblicke auf sein Erscheinen in einer glänzenden Gesellschaft, mit einem bedrückten Gefühle angelegt haben würde. Elisabeth dagegen fand mit großer Genugtuung, daß das schon so oft gewaschene Kleid noch nie so tadellos unter ihrem Plätteisen hervorgegangen sei, als diesmal, und hätte am liebsten den kleinen goldenen Schmuck der Mutter wieder abgelegt; denn sie war der Ansicht, da unten sei sie ja nur Musikant und nicht Gesellschaft, und die Hauptsache seien heute ihre Finger. Es beunruhigte sie übrigens einigermaßen, daß sich an diese Finger ein entblößter Arm schloß, und daß das Kleid auch die Schultern frei ließ. Bis dahin war sie stets bis an das Kinn verhüllt gegangen; sie begriff nicht, weshalb die vornehme Welt es passender finde, bei festlichen Gelegenheiten dekolletiert zu gehen . . . Daß ihre Schultern und Arme reizend geformt und von einem fast glänzenden Weiß waren, fiel ihr selbst nicht auf, so wenig, als sie bemerkte, wie ihr schöner Kopf voll schwerer, blonder Flechten im Vereine mit dem schlanken Halse und den Schultern eine unbeschreiblich graziöse Linie bildete. Die Mutter hatte heute das goldene Lockengekräusel selbst geordnet, das auf Elisabeths Stirn fiel und durch seinen lichten Glanz die feinen, aber festen Bogen der schwarzen Augenbrauen, als einen eigentümlichen Reiz, wunderbar hervortreten ließ . . . Sie konnte Miß Mertens nicht widersprechen, die, nachdem Elisabeth den Weg ins Schloß angetreten hatte, begeistert meinte, der Anblick des jungen Mädchens habe etwas Ueberirdisches, denn sie selbst hatte heute überrascht die Bemerkung gemacht, daß ihr Kind in auffallender Schönheit erblüht sei.
Als Elisabeth das Vestibül im Lindhofer Schlosse betrat, bemerkte sie den Doktor Fels, der, seine Frau am Arme führend, eben in einen Korridor einbiegen wollte. Sie eilte auf ihn zu und begrüßte ihn freudig, denn ihr Herz hatte auf dem ganzen Wege ängstlich geklopft bei dem Gedanken, daß sie allein in den weiten Saal werde eintreten müssen, wo voraussichtlich schon der größte Teil der Geladenen versammelt war. Der Doktor reichte ihr sogleich die Hand und stellte sie seiner Frau mit halblauter Stimme als das »Heldenmädchen von gestern« vor. Beide nahmen das junge Mädchen herzlich gern ins Schlepptau . . . Die hohe Flügeltür des Saales rauschte auf. Elisabeth dankte in diesem Augenblicke ihrem guten Sterne, der sie hinter der imposanten Gestalt der Doktorin völlig verschwinden ließ, denn der Eindruck des großen, festlich geschmückten Raumes, über dessen spiegelglattes Parkett prachtvolle Damenroben rauschten, und die feinen Lackstiefel der vornehmen befrackten Herren hinglitten, hatte etwas Ueberwältigendes für sie . . . Inmitten des Saales stand die Baronin Lessen, von einem prächtigen, dunkelblauen Moiré antique umbauscht, und machte die Honneurs. Sie erwiderte den Gruß des eintretenden Ehepaares sehr höflich, aber auch sehr kühl, und deutete auf des Doktors Frage nach Herrn von Walde auf einen Menschenknäuel, nahe am Fenster, von welchem ein Gesumm, unverständlich wie die babylonische Sprachverwirrung, herüberscholl.
Während Fels mit seiner Frau dorthin schritt, folgte Elisabeth froh und dankbar einem Winke Helenes, die, in einem andern Fenster sitzend, ihr hastig und aufgeregt mitteilte, daß sie plötzlich vom sogenannten Lampenfieber überfallen worden sei; sie habe entsetzliche Angst, vor all diesen Leuten zu spielen, und möchte am liebsten in ein Mäuseloch kriechen. Schließlich bat sie das junge Mädchen, statt der vierhändigen Piece, mit der das Konzert eröffnet werden sollte, eine Sonate von Beethoven zu spielen, ein Wunsch, auf den Elisabeth sofort einging. Ihre Befangenheit war verflogen. Sie trat an den Tisch, auf welchem die Musikalien lagen, und schlug die Sonate auf, die sie vortragen wollte. Währenddem fuhren draußen Wagen auf Wagen donnernd in die Einfahrt. Die Thüren öffneten sich unermüdlich und beförderten nach und nach einen solchen Ueberfluß von Tüll und Spitzen und Samt und Seide in den Saal, daß Elisabeth bedauerlich lächelnd auf ihr schön gebügeltes Mullkleid hinabsah, denn einmal zwischen jenes Krinolinengedränge geraten, mußte es auf der Stelle seine tadellose Glätte einbüßen.
Aus der Begrüßung der Baronin konnte sie sehr leicht erkennen, aus welcher Rangstufe die Eingetretenen standen. Mittels einer einzigen Wendung des federgeschmückten Hauptes schwebte die Dame sofort über dem Fahrwasser freundschaftlichen Verkehrs, wenn bürgerliches Element in ihre Nähe kam, und dieses bürgerliche Element that auch alles, jenen hohen, unnahbaren Standpunkt streng zu respektieren und anzuerkennen. Zuerst strömten gewöhnlich alle Ankommenden auf den Wink der Baronin nach dem Fenster, wo Herr von Walde stehen sollte – von ihm selbst sah Elisabeth keine Spur, denn der Ring, den die Glückwünschenden bildeten, war stets undurchdringlich – dann verteilten sie sich in einzelne Gruppen, die entweder ruhig der Dinge harrten, die da kommen sollten, oder eine Unterhaltung auf eigene Faust anknüpften.
In diesem Augenblicke rauschte abermals die Thür auf, und eine alte korpulente Dame hinkte am Arme eines ebenso bejahrten, vielfach dekorierten Herrn, und von Fräulein von Quittelsdorf begleitet, in den Saal. Die Baronin eilte den Eintretenden entgegen, auch Fräulein von Walde erhob sich mühsam und trat, von Hollfeld geführt, auf das alte Paar zu, während die um sie versammelten Damen ihr folgten, wie ein Kometenschweif. Der Menschenknäuel am Fenster löste sich ebenfalls wie durch einen Zauberschlag, und Herrn von Waldes hohe Gestalt wurde sichtbar.
»Man muß zu Ihnen kommen, wenn man Sie sehen will, Sie Unartiger!« rief die alte Dame, indem sie, mit dem Finger drohend, auf ihn zuwackelte. »Hat denn das schöne Spanien jede Erinnerung an Ihre alten Freunde verwischt? . . . Sie sehen, trotz meiner kranken Füße, und obgleich ich mich von Ihnen schmerzlich vernachlässigt fühle, komme ich heute doch, um unter denen nicht zu fehlen, die Ihnen ihre Glückwünsche aussprechen.«
Er verbeugte sich und sagte ihr einige Worte, worauf sie ihm lachend einen leichten Schlag auf die Schulter versetzte; dann führte er sie zu einem Fauteuil, auf welchem sie sich mit großer Grandezza niederließ.
»Die Frau Baronin von Falkenberg, Oberhofmeisterin am Hofe zu L.,« antwortete die Doktorin auf Elisabeths Frage, wer die alte Dame sei. Fräulein von Quittelsdorf sah heute wunderschön aus in ihrem weißen Kreppkleide und einen brennend roten Malvenkranz auf ihr dunkles Haar gedrückt, als sie sich in ehrerbietigster Weise um ihre Vorgesetzte bemühte, wobei sie jedoch nicht unterließ, dann und wann einen schalkhaften Blick auf Fräulein von Walde zu werfen.
Das Erscheinen der Gäste vom Hofe war das Signal zum Beginn des Konzerts. Elisabeth hörte fast ihr Herz klopfen. Noch stand sie hinter der Doktorin; noch konnte sie ihr Gesicht verbergen vor all den Augen, die im nächsten Momente auf ihr haften, jeder ihrer Bewegungen folgen würden. Eine unsägliche Scheu überkam sie plötzlich, und sie bereute bitter, daß sie darauf eingegangen war, zuerst allein zu spielen . . . Sie bebte, als Fräulein von Walde ihr winkte, zu beginnen; aber nun half kein Sträuben mehr . . . Sie schöpfte tief Atem, nahm das Notenheft und schritt langsam, mit gesenkten Augen zum Klavier, wo sie sich schüchtern verbeugte.
Zuerst entstand atemlose Stille, dann lief ein Geflüster von Mund zu Mund, das aber sofort erlosch, als das junge Mädchen die Tasten berührte. Auch Elisabeths Angst und Beklemmung entwichen bei dem ersten Akkorde. Sie war ja nicht mehr allein, er war ja bei ihr, an dessen Hand sie unzähligemal über sonnige Halden, an dunklen Abgründen vorüber, durch Sturm und Wetter geschritten war, der süße Ahnungen in ihr geweckt und alle heiligen und erhabenen Empfindungen ihres Herzens in unendlichem Wohlklange zusammen faßte . . . er, der ihr so lieb und vertraut war, wie das Gesicht der Mutter, wenn sie auch scheu den Blick senken mußte vor der feurigen Glorie, die sein gewaltiges Haupt umzuckte . . . Die geschmückten Damenköpfe, die sich drüben an den Wänden hinreihten, die Lorgnetten und Brillengläser, welche in der Sonne funkelnd, beharrlich ihre Blitze auf die einsame Spielerin mitten im Saal schleuderten, alles verschwand, sie war allein mit dem großen Beherrscher der Töne und folgte entzückt jeder Wendung seines schöpferischen Geistes.
Ein wahrer Beifallssturm schreckte sie auf, als sie geendet hatte. Sie verbeugte sich und floh dann förmlich zu ihrer Beschützerin, der Frau Fels, die ihr, sprachlos vor innerer Bewegung, beide Hände entgegenstreckte.
Das Konzert dauerte nicht lange. Vier junge Herren aus L. sangen ein hübsches Quartett, dann folgte der Vortrag eines tüchtigen Geigenspielers. Fräulein von Quittelsdorf sang auch zwei Lieder mit schöner Stimme, aber ohne Gehör, so daß bei jedem hohen Tone die Gesellschaft entweder unwillkürlich und angstvoll auf den Stühlen hin und her rückte oder verlegen den Blick auf den Boden richtete. Auch eines der so lange einstudierten vierhändigen Musikstücke kam an die Reihe. Fräulein von Walde hatte ihre Fassung wiedergewonnen und spielte im Vereine mit Elisabeth vortrefflich.
Als das Konzert zu Ende war, trat Elisabeth in die Thür eines Nebenzimmers, um ihre Mantille zu holen. Fast auf dem Fuße folgte ihr ein ältlicher Herr, der ihr gegenüber gesessen und sie fortwährend mit großer Aufmerksamkeit betrachtet hatte. Die Doktorin, die mit Elisabeth gegangen war, stellte ihn auf sein Verlangen dem jungen Mädchen vor als den Herrn Kreisgerichtsdirektor Busch. Er sagte ihr viel Schönes über ihr Klavierspiel und fügte hinzu, es sei für ihn von großem Interesse, die kühne Lebensretterin des Schloßherrn kennen zu lernen; er habe um so eiliger die heutige Gelegenheit ergriffen, als ihm seit einigen Stunden die Hoffnung genommen sei, in der Untersuchung der Attentatsgeschichte mit ihr verkehren zu dürfen.
Elisabeth fuhr erschrocken zurück. Er lachte laut und herzlich.
»Nun, nun, entsetzen Sie sich nicht nachträglich, mein Fräulein!« rief er endlich. »Wir haben ja, wie ich Ihnen eben sagte, leider keine Veranlassung mehr, Sie vor unsere Schranken zu laden . . . Linke hat die ganze Angelegenheit mittels eines einzigen Sprunges niedergeschlagen – seine Leiche wurde heute nachmittag aus dem Teiche bei Lindhof gezogen,« fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu. »Man machte mir die Meldung im Gasthofe, wo ich abgestiegen war. Ich begab mich in Begleitung des Wahlheimer Arztes, der sich zufälligerweise im Gastzimmer befand, nach dem Schauplatze des Verbrechens und habe mich überzeugt, daß sich jene Hand nie wieder gegen das Leben eines andern erheben wird . . . Der Zustand der Leiche beweist, daß Linke sofort nach dem Mißlingen seiner verbrecherischen Absicht den Tod gesucht hat.«
Elisabeth schauderte. »Weiß Herr von Walde dies schreckliche Ende?« fragte sie mit bebender Stimme.
»Nein, ich fand noch keine Gelegenheit, ihn allein zu sprechen.«
»Von allen Anwesenden scheint niemand eine Ahnung zu haben von dem, was gestern geschehen ist,« sagte Frau Fels.
»Glücklicherweise nicht, und dank unserer Umsicht und Verschwiegenheit,« entgegnete der Kreisgerichtsdirektor ironisch. »Der arme Herr von Walde hat sich ohnehin kaum retten können vor der Gratulantenüberschwemmung; wehe, wenn die Veranlassung eine doppelte gewesen wäre, ihn seines Daseins wegen zu beglückwünschen!«
Der Hausverwalter Lorenz näherte sich in diesem Augenblicke Elisabeth und präsentierte ihr einen kleinen silbernen Teller, auf welchem mehrere Papierröllchen lagen. Als ihn das junge Mädchen erstaunt ansah, sagte er respektvoll. »Bitte, haben Sie die Güte, eines der Papiere an sich zu nehmen.«
Elisabeth zögerte.
»Es wird sich um irgend einen Scherz handeln,« meinte die Doktorin. »Nehmen Sie schnell, damit der Hausverwalter nicht länger aufgehalten wird.«
Fast mechanisch ergriff das junge Mädchen ein Röllchen, fuhr aber erschrocken zurück, als die Baronin Lessen plötzlich in der Thür erschien und einen forschenden Blick in das Zimmer warf.
»Nun,« sagte die Eingetretene rasch, indem sie auf den alten Diener zuschritt, »was thun Sie hier, Lorenz? . . . Sie können sich doch denken, daß Frau Fels sich nicht entschließen wird, mit einem andern als ihrem Herrn Gemahl zu gehen!«
»Ich habe dem Fräulein Ferber präsentiert, gnädige Frau,« entgegnete der alte Mann.
Die Baronin schleuderte ihm einen wütenden Blick zu, dann maß sie das junge Mädchen von Kopf bis zu Füßen. »Wie, Fräulein Ferber,« sagte sie schneidend, »Sie sind noch hier? . . . Ich glaubte Sie längst zu Hause auf Ihren Lorbeeren ruhend.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, trat sie wieder über die Schwelle, wandte sich aber nochmals, den Kopf schüttelnd, zurück nach dem verblüfft dastehenden Hausverwalter und zuckte mit den Achseln.
»Sie waren wieder einmal recht zerstreut, Lorenz, eine Schwäche, die sich leider in der letzten Zeit oft sehr unangenehm fühlbar macht.«
Mit diesen Worten rauschte sie hinaus, während ihr der Alte geräuschlos folgte. Er erwiderte auf ihre maliziöse Zurechtweisung nicht eine Silbe, aber in sein blasses Gesicht trat eine leichte Röte, und die weißen, buschigen Brauen zogen sich dergestalt zusammen, daß die gutmütigen Augen fast verschwanden.
Noch standen die drei Zurückbleibenden und sahen sich erstaunt an, als der Doktor hereintrat. Er machte eine tiefe, komische Verbeugung vor seiner Frau und sagte feierlich.
»Sintemalen Fräulein von Quittelsdorf soeben die Gnade gehabt hat, uns abermals zusammenzuthun, wie bereits vor fünfzehn Jahren durch Priesterhand geschehen, so bin ich gewillt, das sanfte Joch der Ehe geduldig weiterzuschleppen und heute ausschließlich an deiner Seite, vielgetreues Ehegespons, genährt und gepflegt von deiner zartwaltenden Hand, die Freuden des Tages zu genießen!«
»Was fällt denn dir ein, lieber Mann?« rief erstaunt und lachend die Doktorin.
»Bitte, das ist nicht mein Einfall . . .. Ach, ich merke, du hast Fräulein von Quittelsdorfs schwungvolle Rede nicht mit angehört . . . wie schade! . . . Ich sehe mich also genötigt, dir hier mit zu sagen, daß jegliches Ehepaar, gleichviel, ob auf dem Kriegsfuße stehend oder nicht, binnen jetzt und einer Viertelstunde sich hübsch einträchtig nach dem Nonnenturme im Walde zu verfügen hat, allwo ein ländliches Fest gefeiert werden soll. Dort hast du die Verpflichtung, mich zu bedienen, respektive mir so viel Essen und Trinken herbeizuschaffen, wie mein Herz begehrt, und überhaupt für mein Wohlbefinden zu sorgen, wie es nur je die vielgefeierte Penelope gethan . . . Damit aber die unbeweibten Männer, die in der Mehrzahl hier vertreten sind, nicht zu kurz kommen, d. h. wenn sie es für einen Vorzug halten wollen, daß ihnen der Mund gestopft wird, so hat man höchst sinnreich eine Art Lotterie veranstaltet. Jede unverehelichte Dame zieht ein mit dem Namen eines unverheirateten Herrn versehenes Papierröllchen, und es bleibt nun Fortuna und Amor überlassen, ob sie begünstigen oder hämischerweise zwei zärtliche Herzen trennen wollen.«
Elisabeth geriet bei diesem Berichte in eine unbeschreibliche Aufregung. Sie hatte nicht weiter darüber nachgedacht, ob sich an das Konzert eine andere Festlichkeit reihen werde. Jetzt wurde ihr klar, weshalb die Baronin gestern den Schluß des Konzerts und ihr Nachhausegehen so eigentümlich betont hatte . . . Ihre Wangen glühten vor Beschämung, denn sie hatte sich mit der Annahme des Papierstreifens, den der Hausverwalter aus Versehen ihr präsentiert hatte, und der in diesem Augenblicke wie Feuer in ihrer Hand brannte, den Anschein einer grenzenlosen Aufdringlichkeit gegeben. Rasch entschlossen trat sie in den Saal, wo eben das Oeffnen der verhängnisvollen Rollen unter Lachen und gegenseitigen Verbeugungen der Herren und Damen vor sich ging.
»Welche abgeschmackte Idee von der Quittelsdorf!« sagte eben, als Elisabeth vorüberging, ein junger adliger Aktuar verdrießlich zu seinem Nachbar. »Jetzt habe ich die dicke, fromme Lehr auf dem Halse – Fi donc!«
Das junge Mädchen brauchte die Baronin nicht lange zu suchen; sie stand ziemlich abgesondert in der Nähe des einen Fensters. Fräulein von Quittelsdorf, die Oberhofmeisterin und Helene standen bei ihr in lebhaftem, aber, wie es schien, nicht sehr angenehmem Wortwechsel. Die Oberhofmeisterin sprach heftig auf Fräulein von Quittelsdorf hinein, die ein um das andere Mal ratlos mit den Achseln zuckte. Auf dem Gesichte der Baronin Lessen spiegelte sich der tiefste Verdruß, es hätte diesmal der zwei roten Flecken nicht bedurft, um zu erkennen, daß sie sich schwer ärgerte. Nicht weit von der Gruppe, an einem Pfeiler, lehnte Herr von Walde mit verschränkten Armen; er schien nur mit halbem Ohre auf die Mitteilungen des alten neben ihm stehenden, dekorierten Begleiters der Oberhofmeisterin zu hören, während seine Augen unablässig auf den gestikulierenden Damen ruhten.
Elisabeth schritt eilig auf die Baronin zu. Sie konnte nicht umhin, zu bemerken, wie Fräulein von Quittelsdorf bei ihrem Erblicken die Oberhofmeisterin leicht anstieß, und wie diese sich daraufhin umdrehte und einen feindseligen Blick auf sie richtete. Sie erkannte, daß sie der Gegenstand der Debatte gewesen war, und beeilte ihre Schritte, um so schnell wie möglich den unwürdigen Verdacht zurückzuweisen.
»Gnädige Frau,« sagte sie, sich leicht verbeugend, zu der Baronin, »ich habe, ohne zu wissen, um was es sich handle, infolge eines Mißverständnisses dies Papier an mich genommen und erfahre in diesem Augenblicke, daß mit demselben eine Verpflichtung verknüpft ist, die ich nicht auf mich nehmen kann, denn meine Eltern erwarten mich.«
Sie reichte die kleine Rolle der Baronin, die, urplötzlich einen wahren Sonnenschein in ihren Zügen entwickelnd, hastig danach griff.
»Ich glaube, Sie sind im Irrtume, Fräulein Ferber!« rief plötzlich Herr von Walde mit seiner ruhigen, klangvollen Stimme herüber. »Vor allem haben Sie sich wohl bei dem Herrn zu entschuldigen, dessen Namen das Papier enthält; von ihm hängt es ab, ob er Sie freigeben will oder nicht.« Sein Auge flog während er eigentümlich lächelte, über die Anwesenden, die sich bereits paarweise gruppiert und zum Fortgehen gerüstet hatten; selbst der alte Kavalier schritt eben auf die Oberhofmeisterin zu und reichte ihr galant den gekrümmten Arm. Herr von Walde fuhr fort, indem er langsam näher trat. »Als Hausherr, der keine Beeinträchtigung eines Gastes dulden darf, muß ich Sie bitten, mein Fräulein, das Papier zu öffnen.«
Elisabeth gehorchte schweigend und reichte ihm tief erglühend den entfalteten Papierstreifen hin. Er warf einen Blick auf den Zettel.
»Ah!« rief er. »Ich habe, wie ich sehe, meine eigenen Rechte gewahrt! . . . Sie werden mir zugeben, Fräulein, daß es völlig in meiner Hand liegt, ob ich Ihre Entschuldigung beachten will oder nicht; ich ziehe das letztere vor und bitte Sie, streng der Verpflichtung nachzukommen, die Ihnen dies kleine Stückchen Papier auferlegt.«
Die Baronin näherte sich ihm und legte die Hand auf seinen Arm. Es sah fast aus, als ob sie mit dem Weinen kämpfe.
»Verzeihe, lieber Rudolf,« sagte sie, »es ist wirklich nicht meine Schuld!«
»Ich weiß nicht, welche Schuld du meinst, Amalie,« erwiderte er eiskalt, »aber du hast den richtigen Moment gewählt, wenn du Verzeihung suchst, ich könnte in diesem Augenblicke viel Böses vergessen, was mir widerfahren ist.«
Er griff nach dem Hute, den ihm ein Bedienter brachte, reichte Elisabeth den Arm und gab das Signal zum Aufbruche.
»Aber meine Eltern!« stammelte Elisabeth.
»Sind sie krank, oder wollen sie in diesem Augenblicke verreisen?« fragte er stehen bleibend.
»Beides nicht.«
»Nun, dann lassen Sie mich dafür sorgen, daß sie den Grund Ihres Ausbleibens erfahren.«
Er rief einen Bedienten und schickte ihn sofort hinauf nach Gnadeck.
Während der Saal sich allmählich leerte, blieb die Gruppe, zu der sich außer dem alten Kavalier auch noch Hollfeld mit einem sehr verdrießlichen Gesicht gesellt hatte, am Fenster stehen.
»Es geschieht Ihnen ganz recht, Cornelie,« zürnte die Oberhofmeisterin. »Sie haben sich heute blamiert für alle Zeiten . . . Welch ein hirnloser Gedanke, diese Lotterie! . . . Wie oft schon habe ich gegen Ihre Farcen geeifert, denen leider unsere gnädigste Fürstin auch manchmal ein williges Ohr leiht! . . . Nun soll der Hausverwalter schuld sein! Warum haben Sie ihn nicht gehörig instruiert? . . . Sie halten sich für eine Hofdame par excellence und wissen nicht einmal, daß diese Art Leute nie ihre eigenen Gedanken haben dürfen? . . . Ihnen gönne ich diese Lehre von Herzen, wenn nur nicht gerade der unglückliche Walde das Opfer Ihres Leichtsinns sein müßte! . . . Da hat er nun das blonde Gänschen am Arme, er, der sich in seinem stolzen aristokratischen Bewußtsein unzählige Male des Fehlers schuldig gemacht hat, es nicht zu bemerken, wenn sehr hochgestellte Damen von ihm geführt zu sein wünschten . . . Wie mag ihm zu Mute sein gegenüber dieser kleinen Klavierlehrerin, der Tochter eines – Forstschreibers!«
»Warum opfert er sich so bereitwillig?« entgegnete Fräulein von Quittelsdorf; »es war ganz unnötig, daß er sich in den Handel mischte. Die Kleine war ja im Begriffe zu gehen; nein, da tritt er vor, wie der Ritter ohne Furcht und Tadel, und nimmt die Last freiwillig auf sich.«
»Nun, diese Last ist wenigstens blendend schön!« hüstelte der alte Kavalier mit einem frivolen Lächeln.
»Was fällt Ihnen ein, Graf?« rief die Oberhofmeisterin. »Das ist wieder einmal eine Bemerkung, ganz Ihrer würdig, der Sie sich für jedes runde Bauerngesicht enthusiasmieren . . . Uebrigens leugne ich nicht, daß die Kleine hübsch ist – aber war nicht die arme Rosa von Bergen ein wahrer Engel an Schönheit? Hunderte haben ihr zu Füßen gelegen; der Walde aber, auf den sie sich kapriziert hatte, ist wie ein Gletscher an ihr vorübergegangen . . . Nein, für weibliche Schönheit und Liebenswürdigkeit hat er kein Verständnis! . . . Ich habe ihn auch längst vom Register der Heiratsfähigen für meine jungen Protegés gestrichen . . . Weshalb er sich heute großmütig opfert, das hat er ja eben deutlich genug ausgesprochen. Er ist innerlich befriedigt und beglückt durch die große Teilnahme und Aufmerksamkeit, die wir alle ihm heute an den Tag gelegt haben, und will alles, selbst das kleine Ding, das übrigens ganz nett gespielt hat, froh und heiter sehen . . . Ich rate Ihnen, liebste Lessen, künftig bei dergleichen Arrangements dem Takte und Talente unserer Quittelsdorf nicht allzu unbedingt zu vertrauen.«
Die Hofdame biß sich auf die Lippen und warf heftig ihren Spitzenshawl über die Schultern. Draußen rollte der Wagen vor, der die Hofmeisterin und Helene in Begleitung der Baronin und des Grafen nach dem Festplatze bringen sollte.
»Die alte Katze!« rief Fräulein von Quittelsdorf, nachdem sie der Oberhofmeisterin in den Wagen geholfen und darin für die Bequemlichkeit der Dame gesorgt hatte. »Sie ist wütend, daß man bei dem Arrangement nicht erst ihren hochweisen Rat eingeholt hat . . . Haben Sie nicht gesehen, Hollfeld, beinahe wäre Ihrer Exzellenz der falsche Scheitel auf die Nase gefallen, als sie so zornig mit dem Kopfe wackelte? Ich hätte mich vierzehn Tage lang nicht beruhigen können vor Lachen, wenn plötzlich unter dem Blumengarten der Haube der kahle Kopf zum Vorschein gekommen wäre!«
Sie wollte sich auch jetzt ausschütten vor Lachen bei dem Gedanken. Ihr Begleiter aber schritt wortlos, als habe er von ihrem ganzen, langen Geschwätze nicht eine Silbe gehört, immer rascher vorwärts. In seinem ganzen Wesen lag eine auffallende Hast und Unruhe. Es schien ihm offenbar daran zu liegen, die vorausgegangene Gesellschaft so schnell wie möglich zu erreichen. Sein Blick eilte stets weit voraus und drang nach allen Richtungen hin in das Gebüsch; nur wenn der Schimmer eines weißen Kleides in der Ferne auftauchte, dann blieb er einen Augenblick stehen, als wolle er beobachten.
»Nein, Sie sind doch zu langweilig, Hollfeld! Langweilig bis zum Sterben!« rief die Hofdame ärgerlich. »Sie haben zwar das Privilegium, stumm zu sein wie ein Fisch, um dabei doch für einen geistreichen Mann zu gelten . . . wo ich aber in diesem Momente Ihren Geist suchen soll, weiß ich wahrhaftig nicht . . . Weshalb, um Gotteswillen, rennen Sie denn so? . . . Und denken Sie, wenn ich bitten darf, doch an mein nagelneues Kreppkleid, das alle Augenblicke an den Büschen hängen bleibt, an denen Sie mich vorbeizerren wie ein armes Schlachtopfer!«
Der sogenannte Nonnenturm, das einzige standhafte Ueberbleibsel eines ehemaligen Frauenklosters, lag tief versteckt in einem Eichen- und Buchenforste, auf dem Waldgebiet, das zu dem Gute Lindhof gehörig, sich meilenweit nach Osten hin erstreckte.
Ein Fräulein von Gnadewitz, die Schwester jenes Ahnherrn mit dem Rade, hatte das Kloster erbaut, um mit noch zwölf anderen Jungfrauen für das Seelenheil des schmählich Dahingegangenen zu beten. Viele Jahre lang hatten die mächtigen Aeste der Eichen an die Zellenfenster geklopft und sich über die Mauer in den engen Garten geneigt. Sie hatten gesehen, wie manches junge, frische Menschenkind hastig den schmalen, stillen Waldweg dahergeschritten kam, in fieberhafter Ungeduld an dem schrillen Pfortenglöcklein reißend, als dürfe der verheißene Frieden da drinnen nicht um eine Minute verzögert werden . . . Sie hatten gesehen, wie dann hinter den nie wieder zu lösenden Riegeln der schweigende Mund der Nonne erblaßte, wie ihre wachsbleichen Hände krampfhaft das Kruzifix umschlossen, wie ihre wundgeriebenen Kniee immer wieder auf das Steinpflaster sanken, während der Blick angstvoll am Boden irrte – denn der heitere, blaue Himmel da droben, der sich auch draußen über den genießenden Weltkindern wölbte, rief glückliche Erinnerungen wach und hauchte Lebenslust und fröhliche Sehnsucht in die Brust, die unwiderruflich eingesargt war in das härene Ordensgewand.
Die Reformation, welche die Klöster umstieß wie Kartenhäuser, war auch durch den stillen Wald geschritten und hatte mit gewaltigem Finger über die Mauern des dunkeln Hauses gestreift, das, um Verbrechen und Elend zu sühnen, dem Fluche seiner Entstehung zufolge, stets neues Elend umschloß . . . Und siehe da, selbst das Scheinleben entfloh nach allen vier Winden – ein Stein nach dem andern rollte herab neben die alten Eichenstämme, deren Wipfel ihn einst als zierlich gemeißelten Fenstersims oder als stattliches Glied der Mauer berührt hatten, und die nun jahraus, jahrein ihr Laub auf ihn streuten, bis er versank, weicher gebettet, als die Nonnenleichen da drunten, die der Sage nach samt und sonders in einem unterirdischen Grabgewölbe schliefen.
Der Turm stieg viereckig, plump und schmucklos in die Höhe. Droben auf dem platten Dach, das eine steinerne Galerie umgab, endete die Treppe in einem engen viereckigen Raume, den eine schwere Eichenthür verschloß. Von dem Plateau aus genoß man eine reizende Fernsicht nach L. Diesem Vorzuge hatte wohl hauptsächlich der Turm sein durch aufbessernde Menschenhände gefristetes Dasein zu verdanken. Mächtige Eisenklammern umschnürten die Ecken, und zahllose Adern frischen Mörtels ringelten sich durch das geschwärzte Gemäuer, so daß der alte Bau von weitem aussah, wie ein riesiger Achat.
Heute aber hatte sich der alte Bursche ausstaffiert wie ein junges Blut, das auf die Wanderschaft gehen will. Frische Reiser, d. h. vier kräftige Tannenbäume steckten auf seinem alten Hute, und darüber her wehten ungeheure Fahnen und schwammen wie helle Schwäne über den grünen Wogen der Baumwipfel. Er, der zwar bisher Tag und Nacht ein trautnachbarliches Gespräch mit seinen Kameraden, den Eichen, geführt hatte, nie aber auch nur fingerbreit von seinem würdevollen Standpunkte aus ihnen entgegengerückt war, er griff heute mit grünen Armen keck an ihr ehrwürdiges Haupt, es waren lange Guirlanden an den Mauern befestigt, deren anderes Ende unter den Zweigen der Bäume verschwand. Sogar ein langes weißes Taschentuch hing dem junggewordenen Springinsfeld aus der Tasche. Die beiden freien Zipfel des Tuches waren stramm an zwei mit Laubwerk bekleideten Tannenstämmen befestigt; es beschützte einige Fäßchen, eine ganze Batterie bestaubter, rotgesiegelter Bouteillen, zahllose Flaschen mit silbernen Köpfen in Eiskübeln und ein neben all diesen Herrlichkeiten stehendes hübsches Mädchen in Marketenderkostüm vor den Sonnenstrahlen . . .
Elisabeth hatte willenlos und schweigend an Herrn von Waldes Arme den Saal verlassen. Sie hatte trotz der Ueberzeugung, daß sie gehen müsse, nicht den Mut gefunden, ihm zu widersprechen, zu sagen, daß sie bei ihrem Entschlusse beharre. Er hatte in einem so gebietenden Tone gesprochen, und – was ihr zumeist den Mund verschloß – er war für sie in die Schranken getreten und hatte ihr offenbar aus der Verlegenheit helfen wollen; jeder Widerspruch hätte in jenem Momente wie Trotz aussehen müssen, auch wäre durch eine Entgegnung ihrerseits das peinliche Aufsehen erhöht worden, dessen Gegenstand sie ohnehin schon geworden war.
Hinter ihr streiften knisternd die seidenen Gewänder der Damen an die Wand des Korridors. Lachend und plaudernd folgte der Menschenschwarm in langem Zuge Herrn von Walde bis vor das Hauptthor, dann aber floh alles auseinander und begab sich auf die verschiedenen Waldwege, die nach dem Nonnenturme führten. Viele, die besondere Toiletterücksichten zu nehmen hatten, blieben auf dem breiten, gut gehaltenen Fahrwege. Herr von Walde hatte sicher keine Ahnung, daß seine Begleiterin ihr selbstgewaschenes und gebügeltes Mullkleid mit ebenso ängstlichem Auge behütete, wie die anderen Damen ihre teueren Toiletten, sonst würde er sie sicher nicht auf den schmalen, wenig betretenen Weg geführt haben, in der er plötzlich einbog.
»Hier ist es gewöhnlich sehr feucht,« brach Elisabeth mit schüchterner Stimme das Stillschweigen, denn es war bisher kein Wort zwischen ihnen gefallen. Ihr Fuß zuckte, als habe er die größte Lust, zurück statt vorwärts zu gehen. Vielleicht dachte sie aber auch in diesem Augenblicke gar nicht an ihr Kleid und ihre dünnen Schuhe, und sah nur den engen, grünen Laubgang vor sich, durch den sie mutterseelenallein mit ihm gehen sollte, hörte bebend schon im Geiste seine Stimme, die plötzlich rauh, ungeduldig und herrisch wurde, denn das war ja stets der Fall, wenn er sich mit ihr allein sah.
»Es hat lange nicht geregnet; sehen Sie die Risse und Sprünge in dem trockenen Boden?« entgegnete er ruhig weiterschreitend und einen Zweig abknickend, der Elisabeths Wange bedrohte. »Wir kommen auf diesem Wege schneller vorwärts und haben den Vorteil, auf eine Viertelstunde dem Geschnatter zu entgehen, das meine Verwandten zur Verherrlichung meiner siebenunddreißig Jahre heraufbeschworen haben . . . Oder fürchten Sie in dieser engen Gasse Linkes Begegnung?«
Ein Schauder flog durch die Glieder des jungen Mädchens. Sie dachte an das verzweiflungsvolle Ende des Verbrechers, aber sie konnte es nicht über sich gewinnen, Herrn von Walde diese Mitteilung zu machen.
»Ich fürchte ihn nicht mehr!« sagte sie ernst.
»Er hat auf alle Fälle die Gegend verlassen, und wenn nicht, nun, so wird er doch nicht so unhöflich sein, den Leuten die Freude zu verderben, die sich nun auch für die gehabte Anstrengung des Glückwünschens amüsieren wollen . . . Apropos, es wird Ihnen nicht entgangen sein, daß ein jedes aus der Gesellschaft mir heute einen Augenblick besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat; selbst das jüngste Gänschen im florenen Flügelkleide hat nicht versäumt, mir seinen huldigenden Knix zu machen und einen einstudierten Glückwunsch herzusagen . . . Sie halten mich wohl noch nicht für alt genug, um mir ein noch längeres Leben zu wünschen?«
»Ich meine, diesen Wunsch kann man der Jugend und dem kräftigen Lebensalter so gut aussprechen, wie den greisen Menschen; denn jene haben ebensowenig ein Monopol für die Lebensdauer, wie diese.«
»Nun, warum kamen Sie dann nicht auch zu mir? . . . Gestern retten Sie mir das Leben, und heute ist es Ihnen so gleichgültig, daß Sie nicht einmal die Lippen öffnen und sagen mögen: ›Gott beschütze es auch ferner.‹«
»Sie sagten vorhin selbst: ›Jedes aus der Gesellschaft,‹ ich gehörte aber nicht zu der Gesellschaft und durfte mich deshalb auch nicht in die Reihen der Glückwünschenden drängen.« Sie sprach hastig, denn schon grollte es in seiner Stimme, und er machte eine ungeduldige Bewegung mit dem Arme, auf welchem ihre Hand lag.
»Sie waren doch eingeladen –«
»Um die Eingeladenen zu amüsieren.«
»War diese bescheidene Ansicht einzig und allein der Grund, weshalb Sie vorhin nicht mit mir gehen wollten?«
»Ja, meine Weigerung galt durchaus nicht dem Herrn, dessen Name mir ja völlig unbekannt war.«
»Das machen Sie mir nichts weis, Sie mußten ja auf den ersten Blick sehen, daß bereits sämtliche Herren – mich ausgenommen – versagt waren; Sie wußten sogar, daß meine Schwester, ohne ein Papier zu ziehen, sich schon vorher Hollfelds Begleitung ausgebeten hatte, weil sie an seinem Arme am sichersten geht. – Gestehen Sie!«
»Ich sah und wußte gar nichts . . . Ich war viel zu aufgeregt, als ich in den Saal trat, um das Papier zurückzugeben; denn man hatte mir gestern ganz bestimmt die Stunde genannt, zu welcher mir gestattet sein würde, nach Hause zu gehen. Daß nach dem Konzerte irgend welche Festlichkeit folgen könne, darüber hatte ich gar nicht nachgedacht; mit der Annahme der kleinen Papierrolle habe ich mir eine Gedankenlosigkeit zu schulden kommen lassen, die ich mir nie verzeihen werde.«
Er blieb plötzlich stehen.
»Sehen Sie mich einmal an!« sagte er gebieterisch.
Sie hob das Auge, und obgleich sie fühlte, daß eine hohe Röte in ihr Gesicht stieg, hielt sie seinen Blick doch aus, der zuerst flammend auf ihren Zügen ruhte, dann aber in einem unbeschreiblichen Ausdrucke schmolz.
»Nein, nein,« flüsterte er wie für sich mit weicher Stimme, »es wäre Sünde, hier an das abscheuliche Laster, die Lüge, zu denken . . . Ja, doppelte,« fuhr er in gänzlich verändertem, sarkastischem Tone fort – es klang fast, als wollte er seine momentane Weichheit persiflieren – »habe ich nicht selbst als unfreiwilliger Zeuge den Ausspruch von Ihnen gehört: ›Man brauche mehr Mut dazu, eine offenbare Lüge dreist zu sagen als einen Fehler zu bekennen‹?«
»Das ist meine Ueberzeugung, ich wiederhole sie.«
»Ah, es ist etwas Hohes um die Charakterfestigkeit! . . . aber ich meine, wenn man zu wahrhaftig ist, um seine Lippen mit einer Unwahrheit zu beflecken, so darf man auch seinem Auge nicht gestatten, zu lügen . . . ich kenne jedoch einen Moment in Ihrem Leben, wo Sie sich anders zeigten, als Sie dachten.«
Das junge Mädchen zog verletzt die Hand aus seinem Arme.
»O nein, so wohlfeil entkommen Sie mir nicht!« rief er, sie festhaltend. »Jetzt heißt es bestätigen oder widerlegen . . . Sie schienen neulich gleichgültig, als ich das zärtliche Andenken meines Retters, die Rose, wegwarf.«
»Hätte ich ihr nachspringen sollen?«
»Allerdings, wenn Sie wahrhaftig waren.«
Elisabeth wußte jetzt, weshalb er den einsamen Waldweg mit ihr betreten hatte, sie sollte beichten, wie sie über Hollfeld denke; es war richtig, wie sie damals vermutet hatte, Herr von Walde war offenbar in großer Besorgnis, daß sie jene Huldigung seines Vetters zu hoch anschlagen und sich wohl gar einbilden könne, er habe ihren bürgerlichen Standpunkt vergessen. Jetzt war der Moment gekommen, wo sie ihre Ansicht aussprechen durfte. Mit einer raschen Bewegung befreite sie ihre Hand von der seinigen und trat einen Schritt seitwärts.
»Ich muß Ihnen zugeben,« sagte sie, »daß mein Aeußeres, wenn es in jenem Augenblicke gleichgültig war, durchaus nicht im Einklange mit meinem Innern gewesen ist.«
»Sehen Sie!« rief er, aber es lag nichts weniger als ein Triumph in diesem Ausrufe.
»Ich war vielmehr entrüstet.«
»Ueber mich?«
»Zunächst über den unpassenden Scherz des Herrn von Hollfeld.«
»Er hat Sie erschreckt – freilich –«
»Nein, beleidigt. Wie konnte er es wagen, sich mir in der Weise aufzudrängen! . . . Ich verabscheue ihn!«
Sie hatte recht gehabt in ihrer Voraussetzung, aber daß er einen solchen außerordentlichen Wert auf ihren Ausspruch legen würde, hatte sie nicht geahnt. Es schien ihm eine Zentnerlast vom Herzen zu fallen . . . Brach es nicht wie heller Jubel aus den Augen, die eben noch in einem Gemische von Mißtrauen, Hohn und Bitterkeit auf sie gerichtet gewesen waren? Er schöpfte tief Atem und breitete plötzlich die Arme aus . . . Elisabeth sah sich um nach dem unbekannten Etwas, das seine leuchtenden Blicke in der Luft suchten, um es ohne Zweifel an sein Herz zu ziehen. Sie entdeckte nichts, wohl aber fühlte sie ein heftiges Zittern seiner Hand, als er die ihrige nahm und sie wieder auf seinen Arm legte. Sie gingen einige Schritt weiter, er sprach kein Wort.
Plötzlich blieb er wieder stehen.
»Wir sind in diesem Augenblicke ganz allein,« sagte er mit unbeschreiblich milder Stimme. »Sehen Sie, nur ein Stückchen blaues Himmelsauge sieht auf uns herab, keines jener Gesellschaftgesichter drängt sich zwischen uns . . . ich kann und will Ihren Glückwunsch nicht entbehren . . . Sagen Sie ihn jetzt, wo ihn niemand hört, als ich, ich ganz allein!«
Sie schwieg verlegen.
»Nun, wissen Sie nicht, wie man das macht?« drängte er.
»O ja,« entgegnete sie, und ein schelmisches Lächeln flog um ihren Mund, »ich habe Uebung darin; die Eltern, der Onkel, Ernst –«
»Jedes hat seinen Geburtstag,« fiel er lächelnd ein, »aber Sie können es mir nicht verdenken, wenn ich meinen Glückwunsch für mich ganz allein haben will, daß ich verlange, er soll ganz anders klingen, als alle, die Sie bisher ausgesprochen haben, denn ich bin weder Ihr Vater, noch der barsche Försteronkel, am allerwenigsten beanspruche ich die Rechte des Bruders, mit dem Sie spielen . . . Nun sprechen Sie!«
Sie schwieg abermals. Was sollte sie sagen? . . . Sie hatte schon längst die Augen gesenkt, denn sie konnte den Blick nicht ertragen, der so peinlich forschend, mit einem eigentümlichen Ausdrucke von ängstlicher Unruhe und Erwartung tief in ihre Seele drang.
»Kommen Sie!« rief er rauh, nachdem er einen Augenblick auf einen Laut von ihren Lippen gewartet hatte, und zog sie fort. »Es war ein thörichtes Verlangen von mir . . . Ich weiß ja, Ihr Mund, der allezeit bereit ist, andren Freundliches und Liebes zu sagen, schweigt entweder für mich, oder ergeht sich in strenger Zurechtweisung.«
Sie erblaßte bei diesen Worten und blieb unwillkürlich stehen.
»Sie wollen?« frug er milder. »Geht es durchaus nicht?« fuhr er kopfschüttelnd fort, als sie noch immer nicht sprach, ihn aber bittend ansah. »Nun, dann will ich Ihnen einen Vorschlag machen . . . Ich werde Ihnen den Glückwunsch sagen, wie ich ihn ungefähr von Ihren Lippen zu hören gewünscht hätte, aber ich mache die Bedingung, daß Sie ihn Wort für Wort nachsprechen.«
Jetzt erschien wieder ein Lächeln auf Elisabeths Gesicht, und sie nickte zustimmend.
»Zuerst reicht man dem – dem Freunde die Hand,« begann er und nahm ihre Hand in die seine – sie bebte, zog aber die Hand nicht zurück – »und spricht: ›Sie sind bisher ein armer, unbeglückter Wanderer gewesen; es war hohe Zeit, daß die Wolken sich teilten, und daß endlich der holde Lichtstrahl erschien, der Ihr ganzes Dasein umgewandelt hat. Es ist mein eigener, unumstößlicher Wunsch und Wille, daß er Sie nie wieder verlasse, hier ist meine Hand als Bürge eines unaussprechlichen Glückes –‹«
Bis dahin hatte sie den höchst seltsam lautenden Glückwunsch pünktlich nachgesprochen, bei dem letzten Satze trat sie erstaunt zurück und zögere. Er aber faßte heftig auch ihre andere Hand und drängte. »Weiter, weiter!«
»Hier ist meine . . .« begann sie endlich.
»Das ist hübsch, Herr von Walde,« rief plötzlich Cornelies Stimme durch das Gebüsch, »daß wir uns hier treffen! So habe ich doch den Triumph, an Ihrer Seite mit Musik empfangen zu werden!«
Nie in ihrem ganzen Leben hatte Elisabeth eine so entsetzliche Veränderung in einem menschlichen Antlitz bemerkt, wie die, welche in Herrn von Waldes Zügen vor sich ging. Auf der bleichen Stirn zeigte sich sofort eine starke blaue Ader, seine Augen sprühten, und die Nasenflügel dehnten sich aus. Er stampfte heftig mit dem Fuße, und es sah aus, als habe er die größte Lust, die unwillkommene Störerin, die jetzt, ihr Kreppkleid hoch aufnehmend, sich durch die Büsche arbeitete, wieder dahin zurückzuschleudern, wo sie hergekommen war. Diesmal gelang es ihm nicht so rasch, Herr seiner inneren Bewegung zu werden, vielleicht wollte er auch gar nicht, denn seine Augenbrauen falteten sich noch grimmiger, als Hollfeld hinter der Hofdame auftauchte. Bei dessen Erblicken schob Herr von Walde Elisabeths Arm heftig in den seinigen und preßte ihn fest an sich, als solle sie ihm entrissen werden.
»Wie sehen Sie denn aus, Herr von Walde?« rief Fräulein von Quittelsdorf, mitten in den Weg springend. »Sie machen uns wahrhaftig ein Gesicht, als wären wir Banditen, die es auf Ihr kostbares Hab und Gut abgesehen hätten!«
Ohne ein Wort auf diese Ansprache zu erwidern, wandte er sich an seinen Vetter und fragte kurz: »Wo ist Helene?«
»Sie bekam plötzlich Angst vor dem weiten, unebenen Wege,« entgegnete dieser, »und hat es vorgezogen, zu fahren.«
»Nun, ich denke, du wirst es dem alten Grafen Wildenau nicht überlassen, Helene aus dem Wagen zu helfen; ich begreife überhaupt nicht, wie du, als vielgetreuer Ritter, den Hauptweg verlassen konntest . . . Einige rasche Schritte werden die Versäumnis ausgleichen, ich will dir nicht hinderlich sein,« sagte Herr von Walde mit auffallend scharfer Stimme, während ein sarkastisches Lächeln um seine Lippen zuckte. Er trat mit Elisabeth seitwärts, um das Paar vorüberzulassen.
»Und warum sind Sie nicht auf dem Hauptwege geblieben, wenn man fragen darf?« frug Fräulein von Quittelsdorf pikiert und schnippisch; sie war in diesem Augenblicke bei weitem mehr Kammerkätzchen als Hofdame.
»Das können Sie erfahren; einfach, weil ich hoffte, auf diesem einfachen Wege der redseligen Zunge gewisser Damen zu entgehen,« erwiderte Herr von Walde trocken.
»Hu, wie grob! . . . Gott behüte einen in Gnaden vor solch einem sauertöpfischen Geburtstagskinde!« rief die Hofdame sich schüttelnd und im komischen Entsetzen einen Schritt zurückprallend. »Es war sicher ein Mißgriff, daß wir heute nicht mit Leichenbittermienen, Zitronen in den Händen und bis über die Nase in schwarzen Krepp gewickelt, erschienen sind.«
Sie hing sich schmollend wieder an Hollfelds Arm und schob ihn vorwärts; allein es hatte den Anschein, als wolle dieser unerhörterweise und vielleicht zum erstenmale in seinem Leben seinem Vetter trotzen. Langsam, wie ein Lebensmüder, schritt er weiter. Er sah angelegentlich rechts und links in die Büsche, als beschäftige ihn jeder Stein, jede vorbeihuschende Eidechse; dabei knüpfte er ein Gespräch mit seiner Begleiterin an; ihre Antworten waren scheinbar von großem Interesse für ihn, denn er blieb sogar einmal stehen, um keines ihrer Worte zu verlieren.
Herr von Walde murmelte etwas zwischen den Zähnen, Elisabeth konnte es nicht verstehen, aber der feindselige Blick, den er auf seinen Vetter schleuderte, ließ sie erraten, daß er aufs äußerste ergrimmt sei über dessen Gebaren. Mit ihr sprach er nicht mehr. Er wandte einmal langsam den Kopf nach ihr, und sie fühlte, daß seine Blicke unverwandt auf ihr ruhten, allein es war ihr unmöglich, die Augen zu ihm aufzuschlagen. Hätte er nicht auf der Stelle sehen müssen, daß ihr ganzes Innere in Aufruhr war über jenen rätselhaften Glückwunsch, den er ihr mit tiefbewegter Stimme souffliert hatte? . . . Er würde mittels eines einzigen Blickes erraten haben, was in ihr wogte und stürmte, und – sie mochte diesen Gedanken gar nicht ausdenken – infolge dieser Wahrnehmung seinen vielleicht sehr harmlos gemeinten Einfall bereuen. Es war eine natürliche Folge dieser Befürchtung, daß die Lider des jungen Mädchens sich noch tiefer senkten, als zuvor, und deshalb konnte sie auch nicht bemerken, wie ein leiser, unhörbarer Seufzer über die Lippen ihres Begleiters glitt, während der Groll aus seinen Zügen verschwand, um dem gewissen melancholischen Schatten über und zwischen den Augen Platz zu machen.
Ein schwacher, schnell hinsterbender Trompetenton, den ohne Zweifel die Ungeduld der auf der Galerie des Turmes wartenden Musikanten hinausgeschickt hatte, verriet die Nähe des Festplatzes. Bald summte und lärmte es, als ob ein großes Zigeunerlager in der Nähe sei; der Weg wurde breiter, hinter dem nächsten Buschwerke wogte ein buntes Gedränge, und plötzlich schmetterte eine wahre Salve von Posaunen- und Trompetentönen auf die Ankommenden herab. Elisabeth benutzte diesen Moment, ihren Arm leise aus dem Waldes zu ziehen und sich unter die Gesellschaft zu mischen, die einen dichten Kreis um den Schloßherrn bildete, während eine junge Dame als Dryade kostümiert und von vier anderen dekorierten Waldnymphen umgeben, ihn in holperigen Hexametern im Waldreviere begrüßte.
»Nun, der Walde hat wenigstens im geeigneten Momente seine aufgedrungene Dulcinea abzuschütteln gewußt, ich sehe die Kleine nicht mehr,« flüsterte lächelnd die Oberhofmeisterin dem Grafen Wildenau zu, der neben ihr auf einem erhöhten Sitze unter den Eichen saß. »Der vergibt es der Lessen und unserer vorwitzigen Hofdame nie und nimmer, daß er durch ihr einfältiges Arrangement gezwungen worden ist, dem kleinen Dinge gegenüber einen Augenblick die Rolle des Ritters spielen zu müssen . . . Kindchen,« wandte sie sich an Helene, die, zu ihrer Rechten sitzend, ihr getrübtes Auge suchend über den Menschenschwarm gleiten ließ, »wir müssen ihn nachher, wenn die dort drüben ihn freilassen, in unsere Mitte nehmen und alles aufbieten, damit er den unerquicklichen Anfang des Festes vergißt.«
Helene nickte mechanisch mit dem Kopfe. Sie hatte offenbar nur die Hälfte von dem verstanden, was die alte Dame ihr zugeflüstert. Ihre kleine, verkrüppelte Gestalt, die ein schwerer, zartblauer Seidenstoff umhüllte, drückte sich hilflos und matt an die hohe Stuhllehne, und ihre Wangen waren weißer, als der Seerosenkranz, der über ihrer Stirn lag.
Elisabeth hatte sich unterdes im Gedränge wieder mit Doktor Fels und dessen Frau zusammengefunden. Letztere nahm das junge Mädchen sogleich bei der Hand, damit sie nicht wieder getrennt würden.
»Bleiben Sie noch so lange, bis man anfängt zu tanzen,« meinte sie auf Elisabeths Aeußerung hin, daß vielleicht jetzt der passende Augenblick gekommen sei, wo sie sich unbemerkt entfernen und nach Hause gehen könne. »Ich verdenke es Ihnen gar nicht, wenn Sie die Gesellschaft so bald wie möglich zu verlassen wünschen,« fügte sie lächelnd hinzu; »auch wir werden nicht lange bleiben, mir läßt die Sorge um meine Kleinen daheim keine Ruhe, und daß ich überhaupt hier bin, ist ein schweres Opfer, welches ich der Stellung meines Mannes bringe . . . Herr von Walde, dem Sie nun einmal heute durch das Los angehören, tanzt nicht, er wird Sie gewiß freigeben, wenn der Tanz beginnt, denke ich.«
Der Menschenknäuel entwirrte sich plötzlich. Von der Zinne des Turmes rauschte ein imposanter Marsch hernieder, und während die Herren schattige Plätze suchten, eilten die Damen nach den Büffetts, um, den Statuten des Festes gemäß, das beste für die Herren der Schöpfung herbeizutragen.
Herr von Walde schritt langsam über den Platz, er hatte die Hände auf den Rücken gelegt und sprach mit dem Kreisgerichtsdirektor Busch, der an seiner Seite ging.
»Mein bester Herr von Walde, nun kommen Sie zu uns!« rief die Oberhofmeisterin zu ihm hinüber und streckte ihm in beinahe zärtlicher Weise die Hände entgegen. »Ich habe Ihnen ein reizendes Plätzchen reserviert . . . Ruhen Sie hier aus auf den wohlverdienten Lorbeeren, die man Ihnen heute streut . . . Zwar sind sämtliche junge Damen durch das Los gefesselt, aber hier unsere schönen, liebenswürdigen Waldnymphen sind bereit, Ihnen den Wein zu kredenzen und von den Buffetts herbeizutragen, was Ihr Herz begehrt.«
»Ihre Güte und Fürsorge rührt mich, Exzellenz,« entgegnete der Angeredete, »aber ich will nicht hoffen, daß Fräulein Ferber mich dem allgemeinen Mitleide überlassen wird.«
Er sprach mit lauter Stimme und wandte sich um nach Elisabeth, die nicht sehr entfernt von ihm stand. Sie hatte jedes Wort gehört. Sofort schritt sie hinüber und stellte sich so ruhig und fest an seine Seite, als sei sie durchaus nicht gewillt, auch nur ein Haar breit von ihrer Verpflichtung an andere abzutreten. Es flog in diesem Augenblicke etwas, wie ein freudiges Erschrecken über sein Gesicht. Sein Auge begegnete aufleuchtend dem ihren, das, unbeirrt durch die Umgebung, lächelnd zu ihm aufsah. Er schien unerhörterweise ganz und gar zu vergessen, daß die Frau Oberhofmeisterin ein »reizendes Plätzchen« für ihn reserviert hatte, denn nach einer leichten Verbeugung gegen die Exzellenz und die sie umringenden, willfährigen jungen Damen reichte er Elisabeth den Arm und führte sie über den Platz nach einer dickstämmigen Eiche, unter deren Schatten Doktor Fels soeben für sich und seine Frau einen Sitz zurechtmachte.
»Nein, diese Rache geht denn doch ein wenig zu weit!« wandte sich die Oberhofmeisterin entrüstet an den Grafen Wildenau und die sehr verblüfft dastehenden fünf Waldgrazien. »Er sucht das ganze Fest zu persiflieren, indem er die Anwesenheit der kleinen Person in so auffallender Weise markiert . . . Jetzt fange ich an, mich über ihn zu ärgern . . . Niemand sieht es ja besser ein, als ich, daß er vollkommen recht hat, wenn er zürnt; aber ich meine auch, er dürfte sich nicht so weit hinreißen lassen, die Rücksicht für die übrigen Anwesenden zu vergessen, die ja völlig schuldlos sind an dem geistlosen Machwerke der Lessen und der Quittelsdorf . . . Ich wette, schließlich bildet sich das Gänschen dort auch noch ein, das geschehe alles nur um ihrer schönen Augen willen.«
Alle zehn Augen der schönen, liebenswürdigen Dryaden schleuderten a tempo einen vernichtenden Blick auf Elisabeth, die in diesem Augenblicke unbefangen nach dem Marketenderzelte ging und bald darauf mit einer Flasche Champagner und vier Gläsern nach der Eiche zurückkehrte, wo sich Herr von Walde und das doktorliche Ehepaar bereits einträchtig hinter einem Tische niedergelassen hatten.
»Unsere sämtlichen Damen haben heute wahre Blumengärten auf dem Scheitel,« sagte Frau Fels, als das junge Mädchen an den Tisch trat, »nur Fräulein Ferber geht schmucklos wie Aschenbrödel; das leide ich nicht.«
Sie zog aus dem großen Boukett, das sie in der Hand hielt, zwei Rosen und stand auf, um Elisabeth mit denselben zu schmücken.
»Halt!« rief Herr von Walde und hielt ihre Hand zurück. »In diesem Haare mag ich nur die Orangenblüte sehen.«
»Die ziemt eigentlich nur den Bräuten,« meinte die Doktorin unbefangen
»Ja, eben deshalb,« entgegnete er, und so ruhig, als habe er etwas gesagt, das sich ganz von selbst verstehe, füllte er die Gläser und wandte sich an Fels.
»Stoßen Sie mit mir an, Doktor,« sagte er. »Ich trinke auf das Wohl meiner Retterin, der Goldelse auf Gnadeck!«
Der Doktor schmunzelte und stieß kräftig an. Auf dies Signal näherte sich eine Schar Herren, mit den Gläsern in der Hand.
»Schön, meine Herren, daß Sie kommen!« rief ihnen der Schloßherr entgegen, »trinken Sie mit mir auf die Erfüllung meines höchsten Wunsches!«
Ein Hoch schallte durch die Lüfte, und die Gläser klangen lustig aneinander.
»Skandalös!« rief die alte Exzellenz und ließ die Gabel mit einem saftigen Stücke marinierten Aales auf den Teller fallen. »Dort drüben geht es ja wahrhaftig zu, wie in einer Studentenkneipe . . . Ich bin ganz konsterniert! Welch unanständiger Lärm! Da schreit ja wirklich der Pöbel auf den Straßen manierlicher, wenn er unseren Durchlauchten ein Hoch zu bringen sich erlaubt . . . Apropos, meine Liebe,« wandte sie sich an Helene, »ich bemerke mit großem Erstaunen, daß Ihr Herr Bruder ziemlich familiär mit dem Doktor Fels verkehrt.«
»Er schätzt ihn hoch als einen durchaus rechtlichen Mann mit bedeutendem Wissen,« erwiderte Helene.
»Das ist alles recht schön und gut, aber er weiß sicher nicht, daß dieser Mensch gegenwärtig sehr übel angeschrieben ist an unserem Hofe. Denken Sie sich, er hat die unbegreifliche Kühnheit gehabt, unserer allgeliebten Prinzessin Katharina –«
»Ja, ich kenne diese Geschichte,« unterbrach Fräulein von Walde die Entrüstete, »mein Bruder hat sie mir vor einigen Tagen selbst mitgeteilt.«
»Wie, er weiß das und berücksichtigt so wenig die Stimmung des Hofes, der ihn stets ausgezeichnet hat? . . . Unglaublich! . . . Ich versichere Ihnen, liebes Kind, mir schlägt schon jetzt das Gewissen, und ich werde bei Ankunft unserer Herrschaften sicher die Augen nicht aufschlagen können, in dem schuldigen Bewußtsein, daß ich mit diesem unmanierlichen Menschen hier zusammengekommen bin.«
Helene zuckte mit den Achseln und überließ die Oberhofmeisterin ihren Gewissensbissen und einem frisch gefüllten Glase Champagner, mit welchem sie sich ohne Zweifel jetzt schon für jenen großen, gefürchteten Auskunftsmoment Mut und Fassung einzuflößen suchte.
Fräulein von Walde litt neben der Dame alle jene Qualen, die uns so manchmal die Konvenienz auferlegt; sie mußte mit zuvorkommender Aufmerksamkeit auf tausend Nichtigkeiten hören und antworten, während ein heißer Schmerz ihr Inneres zerriß. Aber auch nur eine Frau, wie die Oberhofmeisterin, die das höchste Erdenglück in einem Gnadenblicke aus fürstlichen Augen suchte und fand, eine Person, deren ganze Seelenthätigkeit sich darauf beschränkte, Schildwache vor dem Reiche der Etikette zu stehen und den Nimbus ihrer sauer genug errungenen Exzellenz ängstlich zu behüten, nur sie konnte wiederholt in das Gesicht der jungen Dame sehen, ohne die tiefe innere Erregung in den Zügen zu bemerken.
Hollfeld war nicht allein so unaufmerksam gewesen, Helene bei ihrer Ankunft auf dem Festplatze der Fürsorge des Grafen Wildenau zu überlassen, er hatte auch, als er endlich erschienen war, kein Wort der Entschuldigung für seine Säumnis gehabt, und mürrisch und zerstreut hatte er sich endlich an ihre Seite gesetzt. Sie fand ihn seltsam verändert, und ihr unruhiges Herz, ihr Kopf zermarterten sich in Vermutungen. Zuerst folgte ihr argwöhnisches Auge Cornelie, die ihrer Quecksilbernatur gemäß wie ein Irrwisch von Gruppe zu Gruppe flatterte und unaufhörlich plauderte und lachte. Ueber diesen Punkt war sie jedoch bald beruhigt; denn es gelang ihr nicht ein einziges Mal, einen Blick Hollfelds auf dem Wege nach der koketten, aber anmutigen Hofdame aufzufangen. Ihre besorgten Fragen wurden einsilbig beantwortet. Sie ließ durch einen Diener Speisen herbeitragen und legte Hollfeld selbst vor, aber er rührte keinen Bissen an und trank nur rasch hintereinander einige Gläser starken Weines, den er sich am Marketenderzelte einschenken ließ. Dies nachlässige Benehmen, das sie zum erstenmal an ihm bemerkte, that ihr unbeschreiblich wehe. Sie schwieg endlich und ließ ermüdet die Lider über die Augen sinken – niemand bemerkte die zwei hellen Tropfen, die an ihren Wimpern hingen.
Mitten in den Toastjubel hinein, der augenscheinlich bedeutend erhöht wurde dadurch, daß der sonst so ernste, schweigsame Schloßherr ihn veranlaßt hatte, fiel plötzlich ein Schatten; wenigstens schien es Elisabeth, als verkünde das Gesicht des Hausverwalters Lorenz, das auf einmal zwischen den Baumstämmen in der Nähe auftauchte, nichts Gutes. Der alte Mann gab sich die größtmöglichste Mühe, um die Aufmerksamkeit seines Herrn auf sich zu lenken, ohne daß es die anderen bemerken sollten. Endlich gelang es ihm. Herr von Walde warf einen raschen Blick hinüber, stand auf und ging mit dem alten Dienen tiefer in das Gestrüpp, während die anderen Herren ihre früheren Plätze wieder aufsuchten. Er kehrte sehr bald mit bleichem Gesichte zurück.
»Ich habe eine erschütternde Nachricht erhalten, infolge deren ich sofort abreisen muß,« sagte er mit gedämpfter Stimme zu dem Doktor »Herr von Hartwig in Thalleben, ein alter Freund von mir, ist auf einer Spazierfahrt verunglückt, die Verletzung ist tödlich; wie man mir schreibt, kann er höchstens noch einen Tag leben . . . er beruft mich zu sich, um die Sorge für seine unmündigen Kinder in meine Hände zu legen . . . Teilen Sie der Baronin Lessen meine Abreise und deren Veranlassung mit; sie soll dafür Sorge tragen, daß das Fest nicht gestört werde. Meine Schwester und die Gesellschaft sollen in dem Wahne bleiben, daß ich in einer Geschäftsangelegenheit abberufen worden bin und möglicherweise bald wieder nach dem Festplatze zurückkehre. Man wird mich nicht mehr vermissen, sobald der Tanz begonnen hat.«
Der Doktor entfernte sich sogleich, um die Baronin aufzusuchen. Seine Frau war schon vor einer Weile nach dem Büffett gegangen, und so stand Elisabeth in diesem Augenblicke Herrn von Walde allein gegenüber. Er näherte sich ihr rasch.
»Ich hatte geglaubt, wir würden heute nicht auseinandergehen, ohne daß der Schluß des Glückwunsches ausgesprochen worden wäre,« sagte er, während sein Auge ihren ausweichenden Blick aufzufangen suchte. »Ich gehöre nun schon einmal zu jenen Glückspilzen, denen noch in der letzten Stunde ein Unstern das gelobte Land verschließt.« Er bemühte sich, diesen Worten einen humoristischen Anstrich zu geben, aber sie klangen deshalb nur um so bitterer. »Diesmal soll er mich jedoch zähe finden,« sprach er in entschlossenem Tone weiter, »fort muß ich, das läßt sich nicht ändern, aber die Erfüllung dieser schweren Pflicht kann nur sehr erleichtert und versüßt werden durch ein Versprechen Ihrerseits . . . Wissen Sie noch die Worte, die Sie mir vorhin nachgesprochen haben?«
»Ich vergesse nicht so schnell.«
»Ah, das klingt schon bedeutend ermutigend für mich! . . . Es existiert ein Märchen, in welchem ein einziges Wort ein Reich voll unermeßlicher Schätze und lieblicher Wunder erschließt; der Schluß jenes Glückwunsches ist auch ein solches Wort . . . Wollen Sie mir behilflich sein, daß es ausgesprochen werde?«
»Wie könnte ich Ihnen zu Schätzen und Reichtümern verhelfen?«
»Das ist meine Sache . . . Ich bitte Sie ernstlich, in diesem Augenblicke keinen weiteren Ausweichungsversuch zu machen; denn die Zeit drängt . . . Ich frage Sie also, wollen Sie in den Tagen, die ich ausbleiben werde, sich bestreben, den Anfang des Glückwunsches in Erinnerung zu behalten?«
»Ja.«
»Und Sie werden bereit sein, wenn ich zurückkehre, das Ende zu hören?«
»Ja.«
»Gut, ich werde mitten in Trübsal und Leiden ein Stück blauen Himmels über mir behalten, und Ihnen – möge unterdes mein guter Engel den Namen jenes Wunderreiches zuflüstern . . . Leben Sie wohl!«
Er reichte ihr die Hand und schritt hinter dem Turme weg auf den nächsten Weg, der nach dem Schlosse führte.
Elisabeth blieb eine Weile in einer Art süßer Betäubung stehen, aus welcher sie erst durch die Doktorin geweckt wurde, die mit Tellern und Schüsseln beladen zurückkehrte und nun sehr erstaunt war, keinen der Herren vorzufinden. Das junge Mädchen teilte ihr das Geschehene mit. Bald darauf kam auch der Doktor und erzählte, die Frau Baronin sei sehr pikiert gewesen, daß ihr Kousin es nicht der Mühe wert gehalten habe, sie persönlich von dem Vorfalle in Kenntnis zu setzen. Der unglückliche Doktor hatte einige Bitterkeiten der gereizten Dame in den Kauf nehmen müssen, aber er war so unhöflich, sich dadurch ganz und gar nicht in seiner Gemütsruhe stören zu lassen. Er setzte sich behaglich hinter die vollen Schüsseln und aß mit vortrefflichem Appetit.
Währenddem ging Elisabeth hinüber zu Fräulein von Walde, um sich zu beurlauben. Es hielt sie ja hier nichts mehr zurück. Sie hatte das lebhafte Verlangen, mit ihren Gedanken allein zu sein, jedes Wort, das er zu ihr gesprochen, sich noch einmal ungestört zurückrufen und über den Sinn desselben nachdenken zu können.
»Sie wollen gehen?« fragte Helene, als das junge Mädchen hinter ihren Stuhl trat und sich empfahl. »Was meint mein Bruder dazu?«
»Rudolf ist in einer dringenden Geschäftssache nach dem Schlosse gerufen worden,« antwortete die Baronin, die eben erschien, schnell an Elisabeths Stelle, »Fräulein Ferber ist mithin der Verpflichtung des Hierbleibens enthoben.«
Helene warf der Sprecherin einen mißbilligenden Blick zu. »Das sehe ich doch nicht ein,« sagte sie, »die Geschäfte werden doch wahrhaftig nicht derart sein, daß er gar nicht wieder hierher zurückkehrt.«
»Ich denke nicht,« erwiderte die Baronin zögernd, »aber seine Rückkehr kann möglicherweise sehr spät erfolgen . . . Fräulein Ferber wird sich voraussichtlich unterdes sehr langweilen in einem ihr völlig unbekannten Kreise und –«
»Hat mein Bruder Sie frei gegeben?« wandte sich Fräulein von Walde an Elisabeth, ohne die Baronin ausreden zu lassen.
»Ja,« antwortete das junge Mädchen, »und ich bitte auch Sie, mir zu erlauben, daß ich mich entfernen darf.«
Während dieses kurzen Wortwechsels bog sich die Oberhofmeisterin zurück und musterte Elisabeth von Kopf bis zu den Füßen mit ihren kalten, stechenden Augen; Hollfeld aber stand auf und entfernte sich, ohne ein Wort zu sagen. Fräulein von Walde sah ihm mit einer Art von schmerzlichem Unwillen nach und antwortete im ersten Augenblicke gar nicht auf Elisabeths Bitte; endlich reichte sie ihr sichtlich zerstreut die Hand und sagte. »Nun, da gehen Sie, liebes Kind, und haben Sie vielen Dank für Ihre heutige freundliche Mitwirkung.«
Elisabeth verabschiedete sich noch rasch von Doktor Fels und Frau und schritt dann mit erleichtertem Herzen in den Wald hinein.
Sie atmete auf, als das Gewühl hinter ihr lag, als ein rauschender Akkord den Walzer schloß, dessen jubelnde Töne sie noch eine Weile begleitet hatten . . . Jetzt durfte sie sich ungestört dem Zauber hingeben, der ihrem ganzen Denken und Sinnen einen süßen Bann auferlegte, der sie zwang, immer wieder auf jene längst verhallte Stimme zu hören, die mit ergreifendem Klange ihr Herz bestrickte, und vor welcher alle Vorsätze ihres Mädchenstolzes, alle Vorsichtsmaßregeln des Verstandes haltlos verwehten . . . Sie dachte daran, wie sie zuerst ihm widerstandslos gefolgt war, obgleich ihr tief gekränktes Ehrgefühl ihr gebot, den Kreis, in welchem sie so unwillkommen erschien, zu verlassen; sie empfand noch einmal jene Glückseligkeit, mit der sie an seine Seite geeilt war, als er es vor allen Anwesenden betont hatte, daß er ihr für heute angehöre und keine Stellvertreterin für sie wolle. Er hätte sie bis an das Ende der Welt führen können, sie wäre ihm blindlings gefolgt mit unerschütterlichem Vertrauen und der vollsten Hingabe ihres ganzen Wesens . . . Und ihre Eltern? . . . Jetzt begriff sie, wie eine Jungfrau das Vaterhaus verlassen könne, um einem Manne anzugehören, dessen Lebensbahn bis dahin, fernab von der ihrigen, über vielleicht ganz entgegengesetztes Gebiet gelaufen war, der nichts wußte von all jenen Neigungen, Beziehungen, großen und kleinen Ereignissen, durch die jede Faser ihres bisherigen Lebens mit dem ihrer gesamten Familie innig verwebt wurde. Noch vor zwei Monaten war ihr das ein unlösbares Rätsel gewesen.
Sie hatte einen Weg betreten, den sie oft in Miß Mertens' Gesellschaft zurückgelegt hatte. Er mündete, in zahllosen Windungen schmal durch das Dickicht laufend, an der Chaussee, die den Wald durchschnitt und eine Strecke lang die Grenze zwischen dem Fürstlich L.schen Forstgebiete und dem des Herrn von Walde bildete; jenseits der Chaussee, dem Fußwege gegenüber, öffnete sich die breite Fahrstraße, die nach dem Forsthause lief.
In ihre Träumerei versenkt, hatte Elisabeth nicht gehört, daß schon längst rasche Schritte ihr folgten; deshalb erschrak sie jetzt doppelt, als dicht in ihrer Nähe ihr Name in einer männlichen Stimme genannt wurde – Hollfeld stand hinter ihr. Sie ahnte, was ihn hierher führte, sie fühlte ihr Herz klopfen, aber sie faßte sich schnell und trat ruhig seitwärts, um ihn auf dem schmalen Wege vorüber zu lassen.
»Nein, so ist es nicht gemeint, Fräulein Ferber,« sagte er lächelnd und in einem eigentümlich vertrauten Tone, der sie tief verletzte. »Ich wollte mir erlauben, Sie zu begleiten.«
»Ich danke,« entgegnete das junge Mädchen ruhig, aber zurückweisend, »es wäre eine nutzlose Aufopferung Ihrerseits, denn ich gehe am liebsten allein durch den Wald.«
»Und kennen Sie keine Furcht?« fragte er, so nahe an sie herantretend, daß sein heißen Atem ihre Wange berührte.
»Nur die vor ungebetener Gesellschaft,« entgegnete sie, mühsam ihre Entrüstung bekämpfend.
»Ah, das ist wieder einmal jene hoheitvolle Haltung, hinter der Sie sich mir gegenüber stets verschanzen; weshalb? nun, das weiß ich mir schon zurechtzulegen . . . Heute jedoch werde ich sie nicht so respektieren, wie ich sonst folgsamerweise thue – ich muß Sie sprechen.«
»Und ist das so wichtig, daß Sie um deswillen Ihre Freunde und das Fest verlassen?«
»Ja, es ist ein Wunsch, der mit meinem Leben zusammenhängt, der mich Tag und Nacht verfolgt. Ich bin krank und elend, seit ich fürchte, er könne sich vielleicht nie verwirklichen – ich –«
Elisabeth war unterdes immer rascher vorwärts geschritten. Es wurde ihr unsäglich unheimlich diesem Menschen gegenüber, aus dessen Augen jetzt jene Leidenschaft unverhohlen loderte, die ihr schon einen heftigen Abscheu eingeflößt hatte, als sie noch beherrscht wurde. Sie fühlte aber auch, daß Ruhe in diesem Augenblicke ihre einzige Waffe sei, und deshalb unterbrach sie ihn, während der schwache Versuch eines Lächelns um ihre Lippen zuckte.
»Ach,« sagte sie, »unsere Klavierübungen sind also vom besten Erfolge gewesen, Sie wünschen meinen Beistand aus dem Gebiete der Musik, wenn ich recht verstehe?«
»Sie verstehen mich absichtlich falsch,« rief er zornig.
»Nehmen Sie das als eine Art von Schonung meinerseits, ich müßte Ihnen sonst Dinge sagen, die Sie vielleicht noch weniger zu hören wünschen,« erwiderte Elisabeth ernst.
»Sprechen Sie immerhin, ich kenne die Frauen genug, um zu wissen, daß sie es lieben, eine Zeitlang die Maske der Kälte und Zurückweisung vorzuhalten . . . die Beglückung ist dann um so süßer. Ich gönne Ihnen die Freude dieser unschuldigen Koketterie, aber dann –«
Elisabeth stand einen Augenblick starr und sprachlos vor dieser Unverschämtheit; solch häßliche Worte hatten noch nie ihr Ohr berührt. Scham und Entrüstung trieben ihr das Blut in das Gesicht, und sie suchte vergebens nach Worten, um diese beispiellose Frechheit zu strafen. Er faßte ihr Schweigen anders auf.
»Sehen Sie,« rief er triumphierend, »daß ich Sie durchschaut habe! . . . Das Erröten des Ertapptseins steht Ihnen unvergleichlich! . . . Sie sind schön wie ein Engel; noch nie ist mir eine solche Nymphengestalt vor die Augen gekommen, wie die Ihre . . . Sie wissen recht gut, daß Sie mich bei unserer ersten Begegnung bereits zum Sklaven gemacht haben, der zu Ihren Füßen schmachtet . . . Welcher Nacken! . . . Welche Arme! und das alles haben Sie bisher neidisch verhüllt.«
Ein Aufruf der höchsten Aufregung entrang sich Elisabeths Lippen.
»Wie können Sie es wagen,« rief sie laut und heftig, »mich so zu beleidigen! . . . Haben Sie mich vorhin nicht verstanden, so sage ich Ihnen jetzt klar und deutlich, daß mir Ihre aufgedrungene Gesellschaft verhaßt ist, und daß ich allein sein will.«
»Bravo, der befehlende Ton gelingt Ihnen vortrefflich!« sagte er spöttisch. »Man sieht doch gleich, daß von der Mutter her ein Tröpflein adlig Blut in Ihren Adern rollt . . . Was habe ich Ihnen denn gethan, daß Sie so plötzlich die Entrüstete spielen? Ich habe Ihnen das Kompliment gemacht, daß Sie schön sind, das aber lassen Sie sich des Tages unzählige Male von Ihrem Spiegel sagen, und ich bezweifle sehr, daß Sie ihn dafür zertrümmern.«
Elisabeth wendete ihm verachtungsvoll den Rücken zu und schritt hastig weiter. Er hielt sich an ihrer Seite und schien durchaus nicht gesonnen zu sein, auf einen endlichen Sieg zu verzichten.
Sie hatten eben die Chaussee erreicht, als eine Equipage vorüberbrauste. Ein Männerkopf bog sich aus dem Wagenfenster, fuhr aber jäh, wie erschrocken, zurück – es war Herr von Walde. Noch einmal sah er heraus nach dem Waldwege, als ob er sich überzeugen wolle, daß er recht gesehen habe, dann verschwand der Wagen bei einer scharfen Biegung der Chaussee.
Elisabeth hatte unwillkürlich die Arme nach dem davonrollenden Wagen ausgestreckt, als möchte sie ihn zurückhalten; er, der da drinnen saß, wußte ja um ihre Abneigung gegen Hollfeld; nach ihrer vor wenig Stunden abgegebenen Erklärung durfte er keinen Augenblick im Zweifel sein, daß sie sich nicht freiwillig in dessen Gesellschaft befand. Konnte er nicht für einen Moment seine Reise unterbrechen, um sie von dem Zudringlichen zu befreien?
Hollfeld hatte ihre Bewegung gesehen.
»Ei,« rief er unter boshaftem Lachen, »das sah ja beinahe zärtlich aus! . . . Müßte ich nicht an die siebenunddreißig Sommer meines Vetters denken, wahrhaftig, ich könnte eifersüchtig werden! . . . Ah, Sie dachten wohl, er solle sofort aussteigen und Ihnen galant den Arm bieten, um Sie nach Hause zu führen? Sie sehen, er ist tugendhaft, er verzichtet auf dies Glück und erfüllt lieber eine sogenannte heilige Pflicht. Er ist ein Eisblock, für den die Reize des schönen Geschlechts vergebens in der Welt sind . . . Daß er heute ausnahmsweise ritterlich gegen Sie war, das galt durchaus nicht Ihren bezaubernden Augen, schöne Goldelse, es geschah lediglich, um meine Mama ein wenig zu ärgern.«
»Und scheuen Sie sich nicht, den Mann, dessen Gastfreundschaft Sie unausgesetzt genießen, einer so gemeinen Denkungsweise zu beschuldigen?« rief Elisabeth empört. Sie hatte sich zwar vorgenommen, ihm mit keiner Silbe mehr zu antworten, in der Hoffnung, daß sie ihn mit diesem Schweigen langweilen und endlich verscheuchen würde, allein die Art und Weise, wie er sich über Herrn von Walde äußerte, brachte ihr ganzes Innere in den heftigsten Aufruhr.
»Gemein?« wiederholte er. »Sie reden in sehr starken Ausdrücken. Ich nenne es eine kleine Revanche, zu der er vollkommen berechtigt war . . . Und was die Gastfreundschaft betrifft, so genieße ich jetzt schon einfach von dem, was später doch einmal mein Eigentum sein wird; ich sehe nicht ein, wie ich um deswillen das Urteil über meinen Vetter ändern soll . . . Uebrigens bin ich derjenige, welcher sich aufopfert und Dank verdient; rechnen Sie meine Hingebung und Aufmerksamkeit für Fräulein von Walde gar nicht?«
»Es mag in der That eine schwere Aufgabe sein, hie und da einige Blumen zu pflücken, um sie einer armen Kranken zu bringen,« sagte Elisabeth ironisch.
»O, Sie sind über diese kleinen Huldigungen mißvergnügt, wie ich zu meiner großen Befriedigung bemerke,« rief er triumphierend. »Haben Sie im Ernste geglaubt, ich könne da zärtlich fühlen, wo mein Schönheitssinn so stark beleidigt wird? . . . Ich schätze mein Mühmchen, aber deswegen vergesse ich doch keinen Augenblick, daß sie ein Jahr älter ist als ich, einen Höcker und eine schiefe Hüfte hat und –«
»Abscheulich!« unterbrach ihn Elisabeth, außer sich vor Entrüstung, und sprang hinüber auf die Chaussee. Er folgte ihr.
»›Abscheulich‹ sage auch ich,« fuhr er fort, indem er gleichen Schritt mit ihr zu halten suchte, »besonders wenn ich Ihre Hebegestalt neben ihr sehe . . . Und nun laufen Sie nicht so, schließen Sie lieber Frieden mit mir und verzögern Sie nicht mutwillig das Glück, von dem ich Tag und Nacht träume.«
Er legte plötzlich den Arm um ihre Taille und zwang sie stehen zu bleiben, sein glühendes Gesicht mit den funkelnden Augen näherte sich dem ihrigen. Im ersten Augenblicke starrte sie ihn an, wie gelähmt oder bewußtlos, dann flog ein Schauder durch ihre Glieder, und mit einer Gebärde des tiefsten Abscheues stieß sie ihn von sich.
»Wagen Sie es nicht noch einmal, mich zu berühren!« rief sie mit weithin klingender Stimme. In diesem Augenblicke erscholl lautes Hundegebell in der Nähe. Elisabeth wandte freudig erschrocken den Kopf nach der Richtung.
»Hektor, hierher!« rief sie den Wald hinein. Gleich daraus stürzte der Jagdhund des Oberförsters aus dem Dickicht und sprang mit einem Freudengeheul an ihr in die Höhe.
»Mein Onkel ist in der Nähe,« wandte sie sich jetzt ruhig und kalt an den verdutzt Dastehenden, »er kann jeden Augenblick hier sein . . . Sie werden sicher nicht wünschen, daß ich ihn bitte, mich von Ihrer Begleitung zu befreien; ich rate Ihnen deshalb, freiwillig den Rückweg anzutreten.«
Wirklich blieb er feige stehen, während sie sich mit dem Hunde entfernte, aber er stampfte wütend mit dem Fuße auf und verwünschte seine rasende Leidenschaft, die ihn unvorsichtig gemacht hatte. Daß er dem jungen Mädchen in Wirklichkeit einen Widerwillen einflößen könne, das fiel ihm nicht im entferntesten ein, ihm, dem Vielbegehrten, von dem ein karges Wort, eine Aufforderung zum Tanze in der gesamten L.schen Damenwelt Sensation machte und oft zur Fackel der Zwietracht wurde. Ihm konnte ein solcher Gedanke gar nicht kommen. Es lag viel näher, daß die Forstschreiberstochter eine Kokette war, die ihm die Eroberung so schwer wie möglich zu machen suchte. An die jungfräuliche Reinheit der Seele, die Elisabeths ganze Erscheinung so unwiderstehlich machte, und deren Zauber gerade auf ihn, wenn auch von ihm unverstanden, hinreißend wirkte – an jenes keusche, unentweihte innere Leben glaubte er nicht, und deshalb konnte er auch nie zu dem Schlusse gelangen, daß das junge Mädchen instinktmäßig vor seiner inneren Zerrüttung und Verdorbenheit zurückbebe. Er machte sich heftige Vorwürfe, zu plump und stürmisch gewesen zu sein, wodurch er das heißbegehrte Ziel selbst wieder in unbestimmte Ferne gerückt hatte. Ueber eine Stunde lief er im Walde umher, um Herr seiner Aufregung zu werden, denn die dort drüben auf dem Festplatze, von welchem die heiteren Klänge der Tanzmusik zu ihm herüberschallten, durften ja nie erfahren, daß hinter der interessant kalten, verschlossenen Außenseite ein solcher Vulkan tobte.
Elisabeth war scheinbar festen Fußes schnell weiter geschritten. Sie hütete sich jedoch, rechts oder links zu sehen, in der Furcht, sein verhaßtes Gesicht könne plötzlich wieder neben ihr auftauchen. Endlich wagte sie es, stehen zu bleiben und sich umzusehen – er war verschwunden. Aufatmend lehnte sie sich an einen Baumstamm, um vorerst ihre Gedanken zu sammeln, während Hektor ruhig und mit klugem Blicke vor ihr stehen blieb, als wisse er genau, daß er heute die Rolle ihres Beschützers spiele. Er hatte ohne Zweifel einen Spaziergang auf eigene Faust durch den Wald gemacht, denn von seinem Herrn war keine Spur zu sehen. Elisabeth fühlte jetzt erst, wie ihre Kniee zitterten. Ihr Schrecken, als Hollfeld gewagt hatte, sie zu umschlingen, war ein unbeschreiblicher gewesen. In ihrer unschuldigen Seele war nicht einmal der Gedanke an eine solche Roheit aufgetaucht; deshalb hatte der plötzliche Angriff sie momentan starr gemacht vor Entsetzen. Sie vergoß schmerzliche Thränen der Scham, als Herrn von Waldes Bild vor ihr aufstieg, nicht mit dem milden Ausdrucke der letzten Stunden, sondern in seiner ganzen Strenge und Unnahbarkeit; sie glaubte, nicht zu ihm aufblicken zu dürfen, weil jener Mensch sie berührt hatte. Ihre ganze Glückseligkeit lag zertrümmert zu ihren Füßen. Die unselige Begegnung mit Hollfeld hatte sie schonungslos in die Gegenwart zurückgeführt; seine Aeußerungen über Herrn von Walde, wenn auch niederträchtig und verleumderisch, hatten doch vieles wieder wachgerüttelt, was sie sich einst als Steuer gegen ihre wachsende Neigung eingeprägt . . . Sie dachte an seinen unerschütterlichen Ahnenstolz, an die sich selbst vergessende Liebe zu seiner Schwester und an die Meinung aller, daß er ein völlig kaltes Herz habe gegenüber dem anderen Geschlechte . . . All die bunten, schimmernden Träume, die sie umflattert hatten auf dem Wege durch den stillen Wald, sie legten jetzt die Flügel zusammen und starben einer nach dem andern unter dem prüfenden Blicke des erwachten Auges . . . Sie war sich ja jetzt nicht einmal klar, worin jene Glückseligkeit bestanden. Daß er heute eine wunderbar weiche Stimmung ihr gegenüber gezeigt und sie gegen den Hochmut seiner Verwandten hochherzig in Schutz genommen hatte, konnte dies nicht alles aus dem Gefühle einer strengen Gerechtigkeitsliebe stammen? Hatte er nicht auch Miß Mertens geschützt und großmütig das Unrecht auszugleichen gesucht, das ihr unter seinem Dache widerfahren war? Und der Glückwunsch . . . an den Glückwunsch und an sein noch ungelöstes Ende durfte sie freilich nicht denken, wenn nicht alle Traumleichen ein fröhliches Auferstehen feiern sollten.
Als sie in die Thür des Forsthauses trat, kam ihr Sabine mit angstbleichem Gesichte entgegen. Sie deutete stumm auf die Wohnstube. Der Onkel sprach drinnen laut und heftig, und man hörte deutlich, wie er dabei mit starken Schritten auf und ab ging.
»Ach, ach,« flüsterte Sabine, »da drinnen geht's schlimm her! . . . Die Bertha ist dem Herrn Oberförster in den letzten Wochen immer geschickt aus dem Wege gegangen; vorhin aber hat sie hier in der Hausflur gestanden und hat nicht gemerkt, daß er durch die Hofthür hereingekommen ist; das war ihm gerade recht. Er hat nicht lange Federlesens gemacht, hat sie von hinterrücks bei der Hand genommen und in die Stube gezogen. Sie sah aus wie eine geweißte Wand vor Schrecken, aber all ihr Sperren und Zerren hat nichts genutzt, sie hat mit gemußt . . . Herr meines Lebend, bei dem Herrn Oberförster möchte ich auch nicht zur Beichte gehen . . .«
Ein lautes Aufschluchzen, das fast wie ein erstickter Schrei klang, unterbrach Sabines Geflüster.
»So recht!« hörten sie jetzt den Oberförster mit bedeutend milderer Stimme sagen, »das ist doch ein Zeichen, daß du nicht gänzlich verhärtet und verdorben bist . . . Und nun sprich auch. Denke, daß ich hier an Stelle deiner braven Eltern stehe . . . Hast du einen Kummer, so schütte ihn aus; ist er ohne dein Verschulden über dich gekommen, so kannst du sicher sein, daß ich ihn redlich mit dir tragen werde.«
Es erfolgte abermals ein leises Weinen.
»Du kannst nicht sprechen?« frug der Oberförster nach einer kleinen Pause; »das heißt, ich weiß ganz genau, daß dich kein körperliches Leiden verhindert, deine Zunge zu gebrauchen, denn du sprichst ja, wenn du dich unbeachtet glaubst, mit dir selbst; es ist also ein moralischer Zwang, dem du dich unterwirfst, wohl gar ein Gelübde?«
Jedenfalls mußte ein stummes Kopfnicken seine Vermutung bestätigt haben, denn er fuhr heftiger fort. »Hirnverbrannte Idee! . . . Glaubst du, dem lieben Gott eine Freude zu machen, wenn du ihm seine herrliche Gabe, die Sprache, vor die Füße wirfst? . . . Und willst du deine ganze Lebenszeit hindurch schweigen? . . . Also nicht? Du wirst einmal wieder sprechen, auch wenn sich das nicht erfüllt, was du durch dein Gelöbnis zu erreichen suchst? . . . Nun gut; ich kann dich nicht zwingen, zu reden, trage demnach allein, was dich bedrückt, und was dich unglücklich macht; denn daß du das bist, das steht leserlich genug auf deinem Gesichte geschrieben . . . Aber das sage ich dir, an mir hast du einen unerbittlichen Richter, wenn es einmal klar werden sollte, daß du etwas gethan hast, was das Licht scheuen und hüten muß, vor den Ohren rechtlicher Menschen laut zu werden; denn du hast in deinem grenzenlosen Hochmute von vornherein jeden ehrlich gemeinten Rat, jede gute Lehre von dir gewiesen und es mir unmöglich gemacht, dir so zur Seite zu stehen, wie ich es als Vertreter deiner Eltern gewünscht und gesollt hätte . . . Ich will es noch einige Zeit mit dir versuchen, aber sobald ich nur ein einziges Mal merke, daß du dich bei Nacht und Nebel aus dem Hause entfernst, dann kannst du dein Bündel schnüren . . . Noch eins, morgen werde ich den Doktor hierher kommen lassen, er soll mir sagen, was dir fehlt, denn du bist in der letzten Wochen geradezu unkenntlich geworden . . . Jetzt geh!«
Die Thür öffnete sich und Bertha taumelte heraus. Sie bemerkte Elisabeth und Sabine nicht, und als sie die Thür hinter sich ins Schloß fallen hörte, da streckte sie plötzlich in sprachloser Verzweiflung die gerungenen Hände gen Himmel, und stürzte, wie von Furien gejagt, die Treppe hinaus.
»Die hat etwas auf dem Gewissen, es mag nun sein, was es will,« sagte Sabine kopfschüttelnd. Elisabeth aber ging hinein zum Onkel. Er lehnte am Fenster und trommelte mit den Fingern gegen die Scheiben, was er gewöhnlich that, wenn er aufgeregt war. Er sah sehr finster aus, allein es flog ein heller Schein über sein Gesicht, als Elisabeth eintrat.
»Gut, daß du kommst, Goldelse!« rief er ihr entgegen. »Ich muß ein klares, reines Menschengesicht sehen, das thut mir not . . . Die schwarzen Augen von der, die da eben hinausgegangen ist, sind mir fürchterlich . . . Na, nun habe ich doch mein Hauskreuz wieder aufgenommen, um es ein Stück weiter zu schleppen . . . Kann nun einmal so ein Wesen nicht weinen sehen, und wenn ich zehnmal weiß, daß ich mit dieser Zerknirschung über den Löffel barbiert wenden soll.«
Elisabeth war herzlich froh, daß das gefürchtete Zusammentreffen zwischen dem Onkel und Bertha so glimpflich abgelaufen war. Sie beeilte sich, seine Gedanken völlig abzuziehen von der Unglücklichen, indem sie ihm von der heutigen Festlichkeit und, wenn auch in etwas hastiger und flüchtiger Weise, von der schnellen Abreise des Herrn von Walde erzählte. Auch Linkes schauerliches Ende teilte sie ihm mit, eine Nachricht, die ihn nicht sehr überraschte, denn er hatte diesen Ausgang vermutet.
Er begleitete das junge Mädchen bis an die obere Gartenthür.
»Sei hübsch vorsichtig und läute nicht zu stark am Mauerpförtchen,« mahnte er beim Abschiede, »deine Mutter hat heute nachmittag einen Anfall ihrer Migräne bekommen, sie liegt zu Bette . . . ich war vorhin noch einmal droben.«
Erschrocken lief Elisabeth den Berg hinauf. Sie brauchte nicht zu läuten; Miß Mertens kam ihr, in Begleitung des kleinen Ernst, auf der Waldblöße entgegen und beruhigte sie sofort. Der Anfall war vorüber, die Mutter lag in einem erquickenden Schlummer, als das junge Mädchen leise an das Bett trat.
Es dämmerte bereits stark, und die tiefste Stille herrschte in der traulichen Wohnung; die Schlaguhren waren in ihrem Gange gehemmt worden; an den verschlossenen Fenstern verhallte das leise Geflüster der Blätter draußen, nicht einmal das Summen einer naseweisen Fliege wurde hörbar, denn der Vater hatte alles, was die Ruhe der Kranken stören konnte, unerbittlich entfernt.
Hätte die Mutter jetzt auf ihrem Lehnstuhle in der einen Fensternische der Wohnstube gesessen, zwischen dem schützenden Vorhange und der grünen Buschwand vor dem Fenster, auf die der dunkelnde Abendhimmel schweigend niedersah, dann wäre heute die traute Ecke zum Beichtstuhle geworden; Elisabeth hätte, knieend auf dem Fußkissen, den Kopf auf die Kniee der Mutter gelegt, ihr übervolles Herz dem mütterlichen Auge erschlossen . . . Nun zog sich das süße Geheimnis wieder in den innersten Schrein ihrer Seele zurück; wer weiß, ob sie je wieder den Mut fand, das auszusprechen, was unter den obwaltenden Verhältnissen die Mutter voraussichtlich erschrecken und mit großer Sorge um die Tochter erfüllen mußte.