E. Marlitt
Goldelse
E. Marlitt

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3.

Pfingsten! Ein Wort, das seinen Zauber auf das menschliche Gemüt üben wird, solange noch ein Baum blüht, eine Lerche schmetternd in die Lüste steigt, und ein klarer Frühlingshimmel über uns lacht. Ein Wort, dessen Klang selbst unter der härtesten Eiskruste des Egoismus, unter dem Schnee des Alters und in dem Herzen, das in Leid und Kummer erstarrt ist, noch ein Echo von Lenzeslust erwecken kann.

Pfingsten ist vor der Thür. Ein weiches Lüftchen flattert über die Thüringer Berge und streift von ihrem Scheitel die letzten Schneereste. Sie wirbeln dampfend empor und verlassen als leuchtende Frühlingswölkchen die alte Lagerstätte, die es sich angelegen sein läßt, ihre gefurchte Stirn mit einem Geflechte von jungen Brombeerranken und rötlich blühendem Heidelbeerkraut zu schmücken. Drunten braust jauchzend der kühle Forellenbach aus dem Waldesdunkel quer über die buntgesprenkelten Thalwiesen. Die einsame Schneidemühle klappert wieder lustig, und auf ihr niedriges, graues, geflicktes Schindeldach streuen die Obstbäume ihre Blütenflocken.

Vor den Hüttenfenstern der einsamen Holzhacker und der Dorfbewohner, im engen Käfig, singen die gelehrigen Gimpel, die während der Winterszeit in der heißen dunstigen Stube einen Lehrkursus der höheren Gesangskunst durchgemacht haben, ihre künstlerischen Weisen. Und die drüben im Walddickicht jubeln ungeschult, aber unendlich süßer und herzergreifender – sie baden ja die kleine Sängerbrust im goldenen Strome der Freiheit.

Wo noch vor wenig Wochen die gewaltigen Schneewasser im selbstgeschaffenen Bette herabschäumten, da weben jetzt die Moose ungestört ihren buntgefleckten Teppich und legen ihn weich und schonend um die narbenvolle Brust des Berges, und hier und da von dem feinen, silbernen Geäder durchbrochen, das eine hervorsprudelnde Quelle hinabschickt.

Auf der Chaussee, die durch einen reizenden Thalgrund des Thüringer Waldes führt, rollte in einer bepackten Postchaise die Familie Ferber ihrer neuen Heimat zu. Es war früh am Morgen, eben verkündete das dünne, scharfe Stimmchen einer kleinen Turmglocke in der Nähe die dritte Stunde. Deshalb hatten auch nur der alte verdrießliche Wegweiser an der Chaussee und ein Rudel stattlicher Hirsche, das am Saume des Waldes erschien, den köstlichen Anblick eines jungen, glücklich lächelnden Menschenangesichts.

Elisabeth hatte sich weit aus dem dumpfen Wagen gebogen und sog mit tiefen Atemzügen die kräftige Waldluft ein, die, wie sie behauptete, auf der Stelle Lungen und Augen von dem Staube der verlassenen Hauptstadt reingewaschen habe. Ferber saß ihr sinnend gegenüber. Auch er erquickte sich an der Lieblichkeit und Anmut der Gegend; noch mehr aber bewegten ihn die leuchtenden Augen seines Kindes, das den Zauber einer schönen Natur so tief empfand, und das so unaussprechlich dankbar war für die neue Gestaltung der Verhältnisse . . . Wie hatte sie fleißig die kleinen Hände geführt, als endlich das heißersehnte Ernennungsdekret des Fürsten von L. erschienen war! Da gab es tüchtig zu schaffen. Alle Umzugssorgen der Eltern hatte sie treulich mit auf ihre Schultern genommen. Der Fürst hatte zwar dem neuen Diener ein anständiges Reisegeld bewilligt, und auch vom Försteronkel war eine Geldbeisteuer eingelaufen, allein das wollte trotz der ängstlichen Berechnung bei weitem nicht reichen, und deshalb beutete Elisabeth auch noch die wenigen Tagesstunden, die für ihre Erholung bestimmt waren, insofern aus, als sie Arbeiten für ein Weißwarengeschäft übernahm; ja manche Nacht, während die Eltern arglos schon daneben im Alkoven schliefen, durchwachte sie bei der Nadel.

In all dies rege Streben und Schaffen war nur ein einziger bitterer Tropfen gefallen, der dem jungen Mädchen aber auch einige schwere Thränen entlockte: das war, als zwei Männer kamen und ihr liebes Klavier auf die Schultern luden, um es dem neuen Besitzer zu bringen. Es hatte für wenige Thaler verkauft werden müssen, weil es alt und gebrechlich war und voraussichtlich einen so weiten Transport nicht mehr aushalten konnte. Ach, das war ja immer ein so guter, alter Freund der Familie gewesen! Sein dünnes, zitterndes Stimmchen hatte Elisabeth so traut und lieb geklungen, wie die Stimme der Mutter! . . . Und nun fuhren vielleicht mutwillige Kinderhände gefühllos über die ehrwürdigen Tasten und quälten das alte Instrument, die schwache Stimme zu verstärken, bis es für immer schwieg . . . Doch der Schmerz war jetzt auch überwunden und lag hinter ihr, wie so manches, was sie schweigend entbehrt und geleistet hatte, und wie sie so dasaß, mit den fröhlich glänzenden Augen in die Morgendämmerung hineinblickend, als steige vor ihr aus dem grauen Schleier eine Prophezeiung voll künftigen Glückes, wer hätte da an der jugendlichen Gestalt voll Lebensfrische und Elastizität auch nur eine Spur der mühevollen letzten Wochen entdecken können?

Noch ungefähr eine halbe Stunde fuhren die Reisenden die glatte, ebene Chaussee entlang, dann bogen sie seitwärts ab in den dunkeln Wald, durch den ein gutgehaltener Fahrweg lief. Die Sonne zeigte sich bereits in voller Pracht am Himmel und blickte verwundert lächelnd auf die Erde, die ohne Vorwissen ihrer hohen, leuchtenden Protektorin sich über Nacht einen prächtigen Brillantschmuck angeschafft hatte. Nach Mitternacht war ein starkes Gewitter über die Gegend gezogen; es hatte viel geregnet, noch hingen schwere Tropfen an Bäumen und Gesträuchen und fielen rauschend auf das Wagenverdeck, wenn der Postillon mit der Peitsche einen niederhängenden Ast berührte . . . Welch ein prächtiger Wald! Aus dichtem Unterholze stiegen die mächtigen Baumkolosse himmelan und verschlangen droben brüderlich ihre breiten, vollen Aeste, als gelte es, Licht und Luft wie zwei tödliche Feinde von der stillen, verschwiegenen Heimat abzuwehren. Nur manchmal schmuggelte sich ein feiner, grüngefärbter Sonnenstrahl von Ast zu Ast hinab auf die gefiederten Gräser und die kleinen Erdbeerblüten, die massenhaft, wie hingestreute Schneeflocken, den Boden bedeckten und ihre weißen Köpfchen vorwitzig an die Landstraße legten.

Nach kurzer Fahrt lichteten sich die Bäume und bald daraus zeigte sich das mitten auf einer Waldwiese gelegene alte Jagdhaus. Der Postillon stieß in sein Horn; zugleich erhob sich wütendes Hundegekläff, und eine große Schar Tauben verließ erschrocken und unter lautem Geräusch den gezackten Giebel des Hauses.

In der offenen Thür stand ein Mann in Jagduniform, eine wahre Hünengestalt mit einem ungeheuren Barte, der fast bis auf die Brust reichte. Er hielt die Hand über die Augen und blickte angestrengt nach dem näher kommenden Wagen; dann aber sprang er mit einem lauten Aufrufe die Stufen herab, riß den Wagenschlag auf und zog den herausspringenden Ferber an seine Brust . . . Beide Brüder hielten sich einen Augenblick schweigend in den Armen, bis der Oberförster den Angekommenen leise von sich schob und, ihn an den Schultern haltend, die ganze schmale, blasse Gestalt prüfend musterte.

»Armer Adolph!« sagte er endlich, und die tiefe Stimme klang bewegt. »So hat dich das Schicksal zugerichtet? Na, warte nur, du sollst mir hier gesund werden, wie ein Fisch im Wasser . . . noch ist alles wieder gutzumachen . . . Sei mir tausendmal willkommen! Und nun wollen wir auch zusammenhalten, bis das große Halali geblasen wird, wo wir freilich nicht gefragt werden, ob wir bei einander bleiben wollen oder nicht.«

Er suchte seine Rührung zu beherrschen und half seiner Schwägerin und dem kleinen Ernst, den er herzte und küßte, aus dem Wagen.

»Nun,« sprach er, »ihr seid früh aufgebrochen, das muß ich sagen – passiert sonst nicht, wenn Weibsleute dabei sind.«

»Was denkst du denn von uns, Onkel?« rief Elisabeth. »Wir sind keine Schlafmützen und wissen recht gut, wie die Sonne aussieht, wenn sie der Erde ihren ersten Morgenbesuch macht.«

»Heisa!« rief überrascht und laut lachend der Oberförster, »was räsoniert denn da hinten in der Wagenecke? . . . Na, komm heraus, kleine Krabbe!«

»Ich klein? . . . Nun, Onkelchen, du wirst dich schön wundern, wenn ich erst aussteige, was für ein großes Mädchen ich bin!« Mit diesen Worten sprang Elisabeth auf den Boden und stellte sich, alle Glieder möglichst streckend, auf die Zehen neben ihn. Allein, obgleich ihre schlanke, leicht aufgebaute Gestalt die Mittelgröße überschritt, so sah es dennoch in diesem Augenblicke aus, als wolle sich die zierliche Bachstelze mit dem gewaltigen Adler messen.

»Siehst du,« sagte sie ein wenig kleinlaut, »ich reiche doch beinahe bis an deine Schulter, und das ist für ein respektables Mädchen mehr als genug.«

Der Onkel sah, sich kerzengerade haltend, mit schalkhaftem Blicke und vergnügt in sich hineinlachend, einen Augenblick seitwärts auf sie nieder; dann aber hob er sie plötzlich wie eine Feder vom Boden auf und trug sie unter dem Gelächter der anderen auf seinem Arme in das Haus, wo er mit wahrer Donnerstimme schrie:

»Sabine, Sabine, komm hierher, ich will dir zeigen, wie in B. die Zaunkönige aussehen!«

Im Hausflur setzte er die Erschrockene sacht und vorsichtig wie ein zerbrechliches Spielzeug nieder, nahm ihren Kopf sanft zwischen seine beiden großen Hände, küßte sie wiederholt auf die Stirn und rief. »Solch ein Liliput, solch eine Mondscheinprinzessin meint so groß zu sein wie ihr großer Onkel . . . Kleine Waldhexe, du kannst freilich wissen, wie die Sonne aussieht, hast ja den Kopf voll Sonnenstrahlen!«

Dem jungen Mädchen war infolge des Sturmschrittes, den der Onkel bei der Entführung angenommen, der Hut vom Kopfe gefallen, wobei eine außergewöhnliche Fülle blonden Haares sichtbar wurde, dessen klarer Goldglanz um so mehr auffallen mußte, als ihre sehr schön gezeichneten Augenbrauen und die langen Wimpern tiefschwarz waren.

Aus einer Seitenthür war indessen eine alte Frau getreten, und oben am Treppengeländer des ersten Stockwerkes zeigten sich einige Männergesichter, die jedoch schnell wieder verschwanden, als der Oberförster hinaufblickte. »Na, lauft nur nicht davon, gesehen hab ich euch nun schon einmal!« rief er lachend. »Es sind meine Burschen,« wendete er sich zu seinem Bruder, »die Kerls sind neugierig wie die Spatzen; nun, heute mag ich's ihnen nun gerade nicht verdenken!« meinte er schelmisch lächelnd mit einem heimlichen Seitenblicke auf Elisabeth, die abgewendet, ihre gelösten Flechten wieder um den Kopf schlang. Dann nahm er die alte Frau bei der Hand und führte sie in feierlich-komischer Weise folgendermaßen vor:

»Jungfer Sabina Holzin, Minister der inneren Angelegenheiten des Hauses, hohe Polizei für alles, was in Hof und Stall des Forsthauses sich des Lebens freut, und endlich unumschränkte Herrscherin im Küchendepartement . . . Bringt sie das Essen auf den Tisch, so folgt getrost ihrem Winke, denn ihr geht einen guten Weg, läßt sie sich aber bedrohlicher Weise an, ihre Sagen und Geistergeschichten auszukramen, so lauft, was ihr laufen könnt, denn da gibt's kein Ende . . . Und nun,« wandte er sich zu der lachenden Alten, die eigentlich grundhäßlich war, trotzdem aber durch einen Zug von Schelmerei und Humor um Mund und Augen, durch ihren treuherzigen Blick und mittels der fleckenlosen Sauberkeit ihres Anzuges sofort alle für sich einnahm, »bringe schnell, was Küche und Keller vermögen. Hast ja deshalb die Pfingstkuchen früher gebacken, damit die Reisenden gleich was Frisches einzubrocken hätten.«

Damit zeigte er nach der Küche und öffnete zugleich die Thür einer geräumigen, hellen Eckstube. Alle traten ein, nur Elisabeth konnte nicht unterlassen, noch einen Blick durch die große Thür zu werfen, die nach dem Hofe führte; denn durch das weiße Staket, das den weiten, von Geflügel aller Art bevölkerten Raum auf zwei Seiten umschloß, leuchteten farbige Blumenbeete, und einige spätblühende Aepfelbäume streckten ihre rosenfarbenen Zweige weit in den Hof herein. Der Garten war groß, stieg terrassenartig den Berg hinauf und nahm noch einige Vortruppen des Waldes, eine schöne Gruppe alter Buchen, mit in sein Bereich. Während Elisabeth wie angefesselt sinnend im Hausflur lehnte, wurde die Thür eines Seitenflügels geöffnet, und ein junges Mädchen trat heraus. Es war auffallend hübsch, wenn auch fast zu klein von Gestalt, was, wie es schien, die Natur wieder auszugleichen gesucht hatte durch die weitgeöffneten großen Augen, die wie prächtige Sonnen flammten. Das üppige, dunkle Haar war mit unverkennbarer Koketterie aufgenestelt und ließ einige zartgekräuselte Löckchen auf die plastisch geformte, bleiche Stirn fallen. Auch der Anzug, obschon sehr einfach im Stoffe, zeigte eine fast peinliche Sorgfalt im Arrangement, und der aufmerksame Beobachter konnte mit dem besten Willen nicht annehmen, daß man das Oberkleid lediglich aus Schonung der Saumes in so ziemlichen Falten aufgesteckt habe; denn zwei reizend geformte Füßchen hatten eine auffallend feine Toilette gemacht, die sicher nicht bestimmt war, unter dem langen Wollkleide zu verkümmern.

Das junge Mädchen hielt eine Mulde mit Getreidekörnern im Arme und warf davon eine Handvoll auf das Pflaster. Alsbald entstand ein großer Lärm, von den Dächern stürzten sich die Tauben, die Hühner verließen unter lautem Gegacker Stangen und Nester, und der Hofhund glaubte bei dem allgemeinen Aufstande sich auch mit einem lauten Gebelle beteiligen zu müssen.

Elisabeth war überrascht. Der Onkel war zwar verheiratet gewesen, hatte aber nie Kinder gehabt, das wußte sie genau; wer also war das junge Mädchen, das er nie in einem seiner Briefe erwähnt hatte? . . . Sie ging die Stufen hinab, die nach dem Hofraume führten, und trat der jungen Fremden einige Schritt näher. »Gehören Sie auch ins Forsthaus?« fragte sie freundlich.

Die schwarzen Augen hefteten sich fast stechend auf die Fragerin und drückten einen Augenblick unverkennbar große Ueberraschung aus; dann erschien ein Zug von Hochmut um die feinen Lippen, die sich noch fester aneinander zu schließen schienen als vorher; die Augenlider fielen bald über die glänzenden Augen, welche sich abwendeten, und ruhig und schweigsam, als wisse sie gar nicht, daß jemand neben ihr stehe, fuhr sie fort, die Körner in den Hof zu werfen.

In dem Augenblick ging Sabine, das Kaffeebrett auf dem Arme, an der Hofthür vorüber. Sie winkte der tiefbetroffenen Elisabeth, und als diese näher kam, faßte sie ihre Hand und zog sie in das Haus, indem sie sagte. »Kommen Sie, Kindchen, das ist nichts für Sie.«

In dem Wohnzimmer fand Elisabeth alle schon so gemütlich und vertraut zusammen, als hätte man tagtäglich bei einander gesessen. Die Mutter hatte in einem bequemen Lehnstuhle Platz genommen, den ihr der Oberförster an das Fenster gerückt hatte, und von wo aus sie einen lieblichen Fernblick durch den Wald genoß. Eine große getigerte Katze war vertraulich auf ihren Schoß gesprungen und ließ sich mit sichtbarem Behagen das Streicheln der sanften Hand gefallen. Für den kleinen Ernst aber waren die vier Wände des Zimmers eine wahre Fundgrube aller möglichen interessanten Dinge. Er kletterte von Stuhl zu Stuhl und stand eben in wortloser Bewunderung vor einem großen Glaskasten, der eine prächtige Schmetterlingssammlung enthielt. Die zwei Männer saßen aus dem Sofa, eifrig über den künftigen Wohnsitz der Familie beratschlagend, und Elisabeth hörte, wie eben der Onkel sagte. »Nun, wenn sich auf dem Berge kein Quartier für euch einrichten läßt, so bleibt ihr einstweilen droben in meiner Stube. Ich richte meinen Schreibtisch und meine sonstigen Habseligkeiten unten ein, und dann bombardiere ich die in der Stadt so lange, bis sie mir drüben auf den Seitenflügel ein neues Stockwerk setzen lassen.«

Elisabeth legte den Reisemantel ab und war der alten Sabine behilflich, den Kaffeetisch herzurichten. Auf die Glückseligkeit, die ihr ganzes Herz erfüllte, war soeben der erste Schatten gefallen. Mit Unfreundlichkeit war man ihr noch nie begegnet. Daß sie dies dem Liebreiz ihrer Gestalt, der Reinheit und Kindlichkeit ihres Wesens verdanke, deren Einflusse sich oft die rohesten Gemüter nicht zu entziehen vermögen, davon hatte sie keine Ahnung. Sie hatte das so hingenommen als eine Sache, die sich ganz von selbst verstehe, da sie es ja mit allen Menschen wohlmeine und nie sich eine Unhöflichkeit gestatte. Ihre Ueberraschung und Freude, ein junges Mädchen von gleichem Alter hier zu finden, waren zu groß gewesen, als daß ihr nun die Zurückweisung nicht doppelt weh thun sollte. Auch hatte das schöne Gesicht der Fremden ihr lebhaftes Interesse geweckt. Das Gemachte in der Erscheinung war ihr als solches durchaus nicht aufgefallen, da sie selbst das Verlangen gar nicht kannte, ihr Aeußeres durch besondere Hilfsmittel der Toilette zu heben. Die Eltern hatten ihr stets gesagt, sie möge ihren Geist bereichern, so viel sie könne, und sich bestreben immer besser zu werden, dann würde auch ihre äußere Erscheinung nie abstoßend sein, gleichviel welche Form die Natur verliehen habe.

Das Nachdenkliche in Elisabeths Zügen fiel der Mutter sogleich auf. Sie rief sie zu sich, und Elisabeth wollte ihr die Begegnung erzählen, aber schon nach den ersten Worten drehte sich der Oberförster nach ihr um. Eine tiefe Falte erschien zwischen den buschigen Augenbrauen und machte das Gesicht finster und grimmig.

»So,« sagte er, »hast du die schon gesehen? . . . Nun, dann will ich euch auch erzählen, wer und was sie ist. Ich habe sie vor mehreren Jahren in mein Haus genommen, um eine Stütze für Sabine im Hauswesen zu haben. Sie ist eine Verwandte meiner verstorbenen Frau und hat weder Eltern noch Geschwister. Ich wollte ein gutes Werk thun und habe mir damit eine Rute aufgebunden, die mich züchtigt, ohne daß ich gesündigt hätte . . . Schon in den ersten Wochen merkte ich, daß in dem Kopfe auch nicht ein gesunder Gedanke stecke . . . nichts als ein Wust von überspannten Ideen und ein unglaublicher Hochmut. Ich hatte nicht übel Lust, sie wieder dahin zu schicken, wo sie hergekommen, aber da lamentierte die Sabine und bat vor, obgleich sie am allerwenigsten Ursache dazu hatte; denn das junge Ding machte ihr schwer zu schaffen, war naseweis und kehrte bei jeder Gelegenheit die Verwandte des Herrn gegen die alte Dienerin heraus . . . Ich drückte ihr den Daumen aufs Auge, soviel ich konnte, und ließ sie tüchtig schaffen und arbeiten, um ihr den Hochmutsteufel auszutreiben, und da ging's auch eine Zeitlang erträglich . . . Da lebt aber da drüben auf Lindhof – das ist die ehemals Gnadewitzsche Besitzung, die der Universalerbe an einen Herrn von Walde verkauft hat, – seit ungefähr einem Jahre eine Baronin Lessen. Der Besitzer selbst, der weder Frau noch Kinder hat, ist so eine Art Altertumsforscher, reist viel und läßt deshalb seine einzige unverheiratete Schwester durch die genannte Dame beschützen – Gott sei's geklagt! denn seitdem ist alles dort auf den Kopf gestellt . . . Wenn mir früher gesagt wurde, das ist ein Frommer, da hatte ich Respekt und nahm meine Kappe ab; jetzt mache ich eine Faust und möchte am liebsten die Kappe über Augen und Ohren ziehen, denn die Welt hat sich verkehrt . . . Die Baronin Lessen gehört auch zu den Frommen, die vor lauter gottseligem Wandeln hart, grausam und engherzig werden, die denjenigen, der nicht immer die Augen heuchlerisch am Boden hat, sondern sie aufschlägt nach oben, wo er seinen Gott sucht, hartnäckiger verfolgen, als meine Meute das Wild . . . In dies Gehege ist denn nun meine vortreffliche Nichte auch geraten; ein besseres Feld für all das Unkraut in ihrem Kopfe konnte es nicht geben, und da haben wir denn nun auch die allerliebste Bescherung. Sie hatte mit einer Kammerjungfer da drüben Bekanntschaft gemacht und brachte ihre ganze freie Zeit dort zu. Anfangs hatte ich kein Arges, bis sie auf einmal mit Bekehrungsversuchen anfing . . . Da sollte die Sabine nicht fromm sein, weil sie nicht des Tages wenigstens zehnmal die dringende Arbeit stehen ließ, um zu beten . . . die arme Alte, die durch Wind und Wetter, oft schwer von Rheumatismus geplagt, jeden Sonntag nach Lindhof in die Kirche geht und ein arbeitsvolles, pflichtgetreues Leben hinter sich hat, ein Pfund, das eine lebenslängliche Knierutscherei bei Nichtsthun jedenfalls zehnmal aufwiegt . . . Auch an mich wagte sich die Moralpredigerin; aber da kam sie an den Rechten – sie hat es bei einem Versuche bewenden lassen. Ich verbot ihr nun den Umgang mit den Leuten auf Lindhof. Das hat mir freilich wenig geholfen; denn jeden unbewachten Moment hat sie benützt, um heimlicherweise hinüber zu schlüpfen . . . Von einer Dankbarkeit gegen mich, der ich für sie sorge, ist nicht die Rede, es fehlt jedes innere Band zwischen ihr und mir, und da ist es für mich doppelt schwer, sie zu hüten. Gott mag nun wissen, welche fixe Idee sie in ihrem Kopfe ausgebrütet hat, genug, seit ungefähr zwei Monaten ist sie vollständig stumm, aber nicht allein hier im Hause, sondern gegen alle Menschen. Seit der Zeit ist auch nicht ein Laut über ihre Lippen gekommen. Weder Strenge noch ruhiges Zureden richten etwas aus. Sie verrichtet ihre Geschäfte nach wie vor, ißt und trinkt wie jeder andere gesunde Mensch, und ist nicht um ein Jota weniger eitel als sonst. Weil sie aber ihre roten Backen verlor und blaß aussah, so befragte ich einen Arzt, der sie schon früher behandelt hatte. Der sagte mir, sie sei körperlich ganz gesund, scheine ihm aber eine höchst exaltierte Person zu sein, und da schon in ihrer Familie Fälle von Geistesstörungen vorgekommen seien, so möchten wir sie ruhig gewähren lassen. Sie würde mit der Zeit des Schweigens selbst überdrüssig werden und eines schönen Tages sprechen wie eine Elster . . . Nun meinetwegen, ich will's drauf ankommen lassen; daß ich aber damit ein schweres Opfer bringe, das ist gewiß. Ich habe mein Lebtag keine sauertöpfische Miene um mich leiden mögen und will lieber Salz und Brot essen inmitten fröhlicher Gesichter, als die köstlichsten Leckerbissen bei Duckmäusern . . . Na, kleines Goldköpfchen,« wandte er sich an Elisabeth, indem er mit der Hand über die Stirn strich, als wolle er alle ärgerlichen Gedanken wegwischen, »schiebe dein Mütterlein fein säuberlich im Lehnstuhle hierher an den Tisch, binde dem kleinen Kerl da, der sich blind guckt an meinem Gewehrschranke, eine Serviette um den Hals, und nun wollen wir zusammen frühstücken. Dann mögt ihr Rast halten und die Glieder ein wenig ruhen lassen von der langen Reise. Nach Tische aber geht's hinauf nach Schloß Gnadeck. Es wird gut thun, wenn ihr die Augen durch etwas Schlaf vorher stärkt, denn sie möchten Schaden leiden unter all dem Glanze, den wir da droben vorfinden werden.«

Nach dem Frühstücke, während Vater und Mutter schliefen, und der kleine Ernst in einem großen Bette von den Wunderdingen in der Forsthausstube träumte, packte Elisabeth das Nötigste in der Oberstube aus. Sie hätte um alles in der Welt nicht schlafen können. Immer wieder trat sie an das Fenster und blickte hinüber nach dem waldigen Berge, der hinter dem Forsthause emporstieg. Dort oben auf den Baumwipfeln erhob sich ein feiner schwarzer Strich und zeichnete sich scharf von dem tiefblauen Himmel ab. Das war, wie ihr die alte Sabine gesagt hatte, eine uralte Eisenstange auf dem Dache der Schlosses Gnadeck, von welcher in längst versunkenen Zeiten das stolze Banner der Gnadewitze geflattert hatte . . . Fand sich wohl hinter jenen Bäumen das seit Jahren heißersehnte Asyl, wo die Eltern ihre müden Füße ausruhen konnten vom mühsamen Wandern auf nicht heimischer Erde?

Auch in den Hof fielen ihre suchenden Blicke; aber das stumme Mädchen ließ sich nicht mehr sehen. Sie war auch nicht beim Frühstück erschienen und schien sich vorgenommen zu haben, jede Berührung mit den Gästen zu vermeiden. Das that Elisabeth leid. Die Schilderung des Onkels hatte zwar einer sehr unerquicklichen Eindruck auf sie gemacht, allein ein junges Gemüt gibt seine Illusionen nicht so leicht auf und läßt sich lieber durch das Zerspringen seiner bunten Seifenblasen enttäuschen, als durch die weisen Erfahrungen des Alters . . . Das schöne Mädchen, das sein Geheimnis so beharrlich hinter den Lippen verschloß, wurde ihr nun doppelt interessant, und sie erschöpfte sich in Vermutungen über den Grund dieses Schweigens.


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