E. Marlitt
Goldelse
E. Marlitt

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12.

Die Eltern erklärten sich sofort mit Elisabeths Bitte und Vorschlag einverstanden, und diese eilte unverweilt wieder hinunter ins Schloß, Miß Mertens im Namen der Eltern einzuladen. Als sie in das Zimmer der Erzieherin trat, lehnte diese mit gefalteten Händen an der Wand. Zu ihren Füßen stand ein halb gepackter Koffer, Schränke und Kommoden standen offen, und die Stühle lagen voll Bücher, Kleidungsstücke und Wäsche. Das junge Mädchen eilte auf die Gouvernante zu, schloß sie in ihre Arme und hob das von Thränen überströmte Gesicht in die Höhe, aber unter den hellen Tropfen strahlte das Glück.

»Ich bin durch die plötzliche Wendung meines Geschickes so überrascht,« sagte Miß Mertens, nachdem Elisabeth ihren Glückwunsch ausgesprochen hatte, »daß ich für Momente meine Augen schließen muß, um mich zu sammeln . . . Heute morgen war es dunkel über mir und ich wußte buchstäblich nicht, wohin ich meine Schritte lenken sollte . . . der Boden schwankte unter meinen Füßen . . . und nun mitten in dieser Bedrängnis thut sich plötzlich eine Heimat vor mir auf. Ein Herz, das ich hochachte, dessen Neigung für diese arme Gouvernante mir aber bis dahin völlig unbekannt geblieben war, will mir treu zur Seite stehen und der heißeste Wunsch meines Lebens erfüllt sich, denn ich darf nun das gute alte Mütterchen selbst hegen und pflegen . . . Was wird sie nur sagen, wenn sie die Nachricht erhält, sie, die mit der schmerzlichsten Mutterangst mich draußen wußte in Sturm und Wetter und mich doch nicht zurückrufen durfte an ihr Herz!«

Sie erzählte Elisabeth, daß Reinhard in einigen Wochen selbst nach England gehen und die Mutter holen werde. Sein Gebieter habe es also bestimmt und trage die Reisekosten. So oft Miß Mertens Herrn von Walde erwähnte, flossen ihre Augen über, und sie versicherte wiederholt, alles, was die Baronin an ihr verschuldet, sei tausendfach ausgeglichen durch ihn, der es nicht ertragen könne, daß in seinem Hause irgend eine Ungerechtigkeit ungesühnt bleibe. Mit ihrer Einladung machte Elisabeth das Maß der Freude voll. Miß Mertens hatte für den ersten Augenblick in das kleine Lindhofer Gasthaus gehen wollen, bis sich ein Unterkommen im Dorfe selbst für sie finden würde.

»Nun wollen wir aber auch so bald wie möglich auf den Berg,« rief sie freudestrahlend. »Die Baronin hat mir vorhin meinen Gehalt herübergeschickt und sich jegliche Annäherung meinerseits verbitten lassen . . . Bella ist durch mein Zimmer gegangen, ohne mich eines Blickes zu würdigen; das thut wehe, schmerzlich wehe, denn ich habe sie gepflegt und behütet, wie meinen Augapfel. Sie war früher sehr kränklich, und während die Mutter die Hoffeste besuchte, saß ich daheim viele Nächte hindurch und bewachte die Fieberträume des Kindes . . . Nun, das soll alles vergessen sein . . . Ich wollte eigentlich auch nur sagen, daß ich des Abschiedes von beiden überhoben bin.«

Während Miß Mertens, um sich zu verabschieden, zu Fräulein von Walde und einigen Leuten im Hause ging, die sie liebgewonnen hatte, packte Elisabeth ein. Die neue Bewohnerin von Gnadeck nahm nur das Nötigste mit, alles übrige wurde hinab in die Wohnung des zukünftigen Ehepaares geschafft.

Es amüsierte Elisabeth, unten in einem Glasschranke – denn Herr von Walde hatte auch die ganze Einrichtung den künftigen Bewohnern zur Benutzung überlassen – sämtliche Bücher der Gouvernante aufzustellen. Das waren aber lauter Werke, die ihr Interesse lebhaft weckten; es blieb nicht beim Aufschlagen des Titels, sondern ganze Kapitel wurden stehenden Fußes, bei offenen Thüren und Fenstern in aller Eile durchflogen. Miß Mertens und ihr Umzug versanken, als ob sie nie dagewesen, und die Gedanken des jungen Mädchens flatterten eben neben Goethes gewaltiger Erscheinung durch das Gewühl bei der Krönung Josephs des Zweiten, als über ihre Schulter herab eine frische Rose auf das Buch fiel. Elisabeth erschrak, aber gleich darauf lächelte sie und las ruhig weiter, mit einer leichten Wendung die Rose abschüttelnd. Miß Mertens, die ohne Zweifel hinter ihr stand, sollte den Triumph ihrer Neckereien nicht genießen . . . Plötzlich aber stieß sie einen leisen Schrei aus – eine schöngeformte, weiße Männerhand kam neben ihr zum Vorschein und legte sich sanft auf die ihre. Sie drehte sich um, nicht Miß Mertens, sondern Hollfeld stand hinter ihr und breitete lächelnd seine Arme aus, als wolle er die Erschrockene auffangen.

Sofort verwandelte sich ihr Schrecken in Zorn und Entrüstung, aber ehe sie noch ein Wort hervorbringen konnte, rief eine befehlende, rauh klingende Stimme in ihrer Nähe. »Emil, du wirst im ganzen Hause gesucht. Dein Verwalter aus Odenberg hat dir Dringendes mitzuteilen. Gehe hinüber!«

Neben Elisabeth befand sich das Fenster – es war offen. Draußen stand Herr von Walde und sah, beide Arme auf die Brüstung gestemmt, in das Zimmer herein. Er hatte die Worte gerufen, die den tödlich erschrockenen Hollfeld wie eine Handvoll Spreu hinauswehten. Welcher Ausdruck voll Grimm lag in diesem Augenblicke auf der unbedeckten Stirn, in den zusammengepreßten Lippen und dem funkelnden Auge, das noch eine Weile nach der Thür starrte, durch welche Hollfeld verschwunden war!

Endlich fiel sein Blick wieder auf Elisabeth, die bis dahin regungslos gestanden hatte, jetzt aber, von ihrem zwiefachen Schrecken sich erholend, eine Bewegung machte, als wolle sie in den Hintergrund des Zimmers zurücktreten.

»Was thun Sie hier?« fragte er barsch; seine Stimme hatte genau den rauhen Klang wie zuvor. Das junge Mädchen fühlte sich tief verletzt durch die Art und Weise der Anrede und war im Begriffe, trotzig zu antworten, als sie bedachte, daß sie ja auf seinem Grund und Boden stehe; deshalb erwiderte sie ruhig.

»Ich ordne Miß Mertens' Bücher.«

»Sie hatten eine andere Antwort auf den Lippen – ich sah es und will sie wissen.«

»Nun denn – ich wollte sagen, daß ich auf eine so ungewöhnliche Art zu fragen keine Antwort habe.«

»Und warum unterdrückten Sie diese – Zurechtweisung?«

»Weil mir einfiel, daß Sie hier das Recht haben zu befehlen!«

»Das ist lobenswert, daß Sie dies einsehen, denn ich bin gesonnen, dieses mein gutes Recht gerade in diesem Augenblicke voll zur Geltung zu bringen – zertreten Sie die Rose, die da so schmachtend zu Ihren Füßen liegt.«

»Das werde ich nicht thun – denn sie hat nichts verschuldet.« Sie hob die Rose, eine schöne, halbgeöffnete Centifolie, vom Boden auf und legte sie auf den Fenstersims. Herr von Walde ergriff die Blume und warf sie ohne weiteres auf den Rasenplatz.

»Dort stirbt sie einen poetischen Tod,« sagte er ironisch, »die Grashalme decken sie zu, und abends kommt ein mitleidiger Tau und weint seine Thränen auf die arme Geopferte.«

Die Spannung in seinen Zügen hatte nachgelassen, aber sein Auge hatte noch denselben Inquisitorenblick wie zuvor, und auch sein Ton klang nicht viel milder, als er fragte.

»Was lasen Sie eben, als ich das Unglück hatte zu stören?«

»Goethes ›Wahrheit und Dichtung‹.«

»Kennen Sie das Buch?«

»Nur einzelne Auszüge.«

»Nun, wie gefällt Ihnen die rührende Geschichte vom Gretchen?«

»Ich kenne sie nicht.«

»Sie halten sie ja gerade aufschlagen in den Händen.«

»Nein, ich las die Krönung Josephs des Zweiten in Frankfurt.«

»Zeigen Sie her.«

Sie gab ihm das aufgeschlagene Buch.

»Wahrhaftig! . . . Aber sehen Sie doch, wie abscheulich das ist! gerade hier, wo Goethe den Kaiser die Römerstiege hinaufschreiten läßt, ist ein häßlicher saftgrüner Fleck . . . Sie haben ohne Zweifel die Rosenblätter zu innig darauf gedrückt, das werden der Kaiser, Goethe und Miß Mertens Ihnen sicher nicht verzeihen.«

»Der Fleck ist alt, ich habe die Rose gar nicht berührt.«

»Aber Sie haben gelächelt bei ihrem Anblicke.«

»Weil ich glaubte, sie sei von Miß Mertens.«

»Ach, diese Freundschaft hat etwas Rührendes! . . . Es war jedenfalls eine Enttäuschung für Sie, als Sie statt der Freundin das schöne Gesicht meines Vetters hinter sich sahen?«

»Ja.«

»›Ja‹ – wie das nun klingt! . . . Ich liebe die lakonische Kürze; aber sie darf mich nicht im Zweifel lassen . . . Was soll ich nun mit diesem ›Ja‹ anfangen? Es klingt weder süß noch bitter, und dazu Ihr Gesicht! . . . Warum haben Sie plötzlich eine trotzige Falte zwischen den Augen?«

»Weil ich denke, jedes Recht habe seine Grenzen.«

»Ich wüßte nicht, daß ich in diesem Augenblicke von meinem Rechte Gebrauch gemacht hätte.«

»Das wird Ihnen gewiß klar werden, wenn Sie sich die Frage stellen, ob Sie mir in meines Vaters Hause in so rauher Weise begegnen würden.«

Eine tiefe Blässe flog über Herrn von Waldes Gesicht. Er preßte die Lippen aufeinander und trat einen Schritt zurück. Elisabeth nahm das Buch, das er auf den Fenstersims gelegt hatte, und ging nach dem Bücherschranke, um ihn zu schließen.

»Ich würde unter den gleichen Verhältnissen in Ihres Vaters Hause ganz ebenso gesprochen haben,« sagte er nach einer Weile etwas ruhiger und wieder näher an das Fenster herantretend. »Sie haben mich ungeduldig gemacht, warum antworten Sie so unbestimmt . . . Wie soll ich nach der einzigen Silbe wissen, ob jene Enttäuschung eine unangenehme war, oder eine willkommene? . . . Nun?«

Er bog sich weit in das Fenster hinein und sah starr in ihr Gesicht, als wolle er eine Antwort von ihren Lippen ablesen; aber sie wendete sich entrüstet ab . . . Abscheulich! wie war es nur möglich, zu denken, daß Hollfeld ihr je willkommen sein könne! Mußte nicht ihr Gesicht, ihr ganzes Wesen dem verhaßten Menschen gegenüber stets und immer ihre tiefste Abneigung beweisen?

In diesem Augenblicke trat Miß Mertens in das Zimmer, um das junge Mädchen abzuholen; sie war mit allem fertig und vollständig gerüstet, das Haus zu verlassen. Elisabeth eilte aufatmend ihr entgegen, während Herr von Walde das Fenster verließ und draußen einigemal auf und ab schritt. Als er wieder näher trat, verbeugte sich Miß Mertens tief und ging freudig auf ihn zu. Sie sagte ihm, daß sie heute schon mehrere Male bei ihm vergeblich Zutritt gesucht habe und sich nun freue, ihm doch noch ihren Dank aussprechen zu dürfen für alle seine Güte und Fürsorge.

Er winkte abwehrend mit der Hand und wünschte ihr dann Glück zu ihrer Verlobung. Er sprach sehr ruhig. Wie durch einen Zauberschlag hatte sich plötzlich seine ganze Erscheinung wieder mit dem Nimbus der Hoheit und Unnahbarkeit umgeben, so daß Elisabeth nicht mehr begriff, wo sie den Mut hergenommen hatte, diesen Mann auf die Gesetze der allgemeinen Höflichkeit zurückzuführen . . . Die vorhin so leidenschaftlich flammenden Augen ruhten jetzt ernst auf Miß Mertens' Gesicht. Der weiche tiefe Klang seines Organs ließ nicht mehr ahnen, daß er sich noch vor wenig Augenblicken in beißender Ironie verschärft hatte, daß jedes seiner Worte ein Ausdruck der tiefsten Gereiztheit gewesen war und geklungen hatte, als solle es rächen und verwunden.

Herr von Walde war mit Bitterkeit gegen seinen Vetter erfüllt, das hatte Elisabeth ja heute schon einmal bemerkt. Warum aber mußte sie es büßen, wenn ihm der Verhaßte vor die Augen kam? . . . War sie nicht schon beleidigt genug gewesen durch Hollfelds abermalige Zudringlichkeit? . . . Und nun wurde sie auch noch das Opfer einer Entrüstung, an der doch nur Helene die Hauptschuld trug . . . Ein stechender Schmerz durchzuckte sie, als sie sich erinnerte, wie zärtlich und verzeihend Herr von Walde die Schwester in seine Arme genommen hatte, wie auch nicht ein Blick des Vorwurfs auf sie selbst gefallen war bei Erwähnung der Hollfeldschen Besuche . . . sie, die arme Klavierspielerin, die notgedrungen Hollfelds Anwesenheit mit dulden mußte, wurde nun zum Blitzableiter des brüderlichen Zornes . . . Oder hatte er mit angesehen, wie Hollfeld ihr die Rose auf das Buch warf, und war in seinem aristokratischen Stolze tief beleidigt, daß sein Vetter einem bürgerlichen Mädchen in der Weise huldige? . . . Dieser Gedanke kam Elisabeth wie ein erleuchtender Blitz . . . Ja, ganz gewiß, so nur konnte sie sich sein Benehmen erklären . . . Sie sollte die arme Blume zertreten und mit ihr den Beweis vernichten, daß Herr von Hollfeld einen Augenblick seine hohe Abkunft vergessen hatte. Darum wurde so plötzlich in rauhem, befehlendem Tone zu ihr gesprochen, in einem Tone, welchen sicher nur diejenigen an ihm kannten, die ein Vergehen zu büßen hatten; und darum auch sollte sie durchaus sagen, welchen Eindruck ihr Hollfelds plötzliches Erscheinen gemacht habe . . . In diesem Augenblicke hätte sie nun hintreten und ihm unumwunden erklären mögen, wie verhaßt ihr sein hochgeborener Vetter sei, daß sie sich durchaus nicht geehrt fühle durch dessen Aufmerksamkeiten, sondern dieselben stets als eine ihr widerfahrende Schmach ansehe. Allein es war zu spät. Herr von Walde sprach mit Miß Mertens über Reinhards Reise nach England so ruhig und eingehend, daß es geradezu lächerlich gewesen sein würde, mitten hinein den Faden des vorigen stürmischen Gesprächs wieder aufzunehmen. Auch fiel nicht ein Blick seines Auges mehr auf sie, obgleich sie ziemlich nahe bei Miß Mertens stand.

»Ich bin eigentlich halb und halb entschlossen, die Reise selbst mitzumachen,« sagte er schließlich zu der Gouvernante. »Reinhard soll mit Ihrer Frau Mutter zurückkehren, denn ich will Lindhof von nun an ganz unter seine Aufsicht stellen; ich aber bleibe den Winter über in London, gehe im Frühjahre nach Schottland . . .«

»Und kehren dann jahrelang nicht wieder heim,« unterbrach ihn Miß Mertens erschrocken und betrübt zugleich. »Hat denn Thüringen ganz und gar keine Anziehungskraft für Sie?«

»O ja, aber ich leide hier, und Sie werden wissen, daß oft ein herzhafter Schnitt eine Wunde rasch und glücklich heilt, während sie unter einer allzu nachsichtigen feigen Behandlung gefährlich werden kann . . . Ich hoffe viel von der schottischen Luft für mich.«

Die letzten Worte hatte er in einem Ton gesprochen, der scherzhaft sein sollte, allein der gewisse Zug zwischen den Augenbrauen trat schärfer hervor, denn je, und ließ Elisabeth seine heitere Stimmung sehr bezweifeln.

Er reichte darauf Miß Mertens die Hand und schritt langsam den Kiesweg hinab, wo er bald hinter einem Boskett verschwand.

»Da haben wir's nun,« sagte die Gouvernante traurig. »Statt daß er uns, wie ich im stillen hoffte, eine schöne junge Frau nach Lindhof bringt, zieht er wieder hinaus in die weite Welt und läßt in Jahr und Tag nichts wieder von sich hören noch sehen . . . Es ist etwas Ruheloses in ihm; kein Wunder, wenn man die unerquicklichen hiesigen Verhältnisse bedenkt . . . Die Baronin Lessen ist ihm ein Greuel, und doch ist er gezwungen, an seinem eigenen Herde stündlich mit ihr zu verkehren, denn die Schwester, die er zärtlich liebt, hat ihm ja erklärt, daß sie im Umgange mit dieser Frau das Herbe und Freudenlose ihres Daseins vergißt. Auch sein Vetter ist ihm ein ungebetener Gast . . . Herr von Walde ist eine viel zu gerade Natur, als daß es ihm glücken sollte, seine Abneigung zu verbergen, und doch sind diese Menschen wie von Stahl und Eisen; die wenig rücksichtsvolle Behandlung des Hausherrn gleitet vollständig an ihnen ab, sie haben weder Augen noch Ohren, wenn er auf eine Trennung hindeutet. Und Herr von Hollfeld, nun, der ist in meinen Augen ein ganz erbärmlicher Mensch; ich begreife heut' noch nicht, wie er Fräulein von Waldes Herz gewinnen konnte.«

»Also wissen Sie das auch?« fragte Elisabeth.

»Ach, Kindchen, das ist ja längst ein öffentliches Geheimnis . . . Sie liebt ihn so tief und hingebend, wie ein Weib nur lieben kann. Diese unselige Neigung aber, in der sie jetzt lebt und atmet wie im Sonnenlichte, sie wird dereinst den düstersten Schatten werfen auf das Leben der ohnehin so schwer Heimgesuchten . . . Dies ganze traurige Verhältnis und seine Zukunft durchschaut und ahnt Herr von Walde, aber da er seiner Schwester nicht die Augen öffnen kann, ohne sie tödlich zu verwunden, so bringt er seiner brüderlichen Zärtlichkeit die schwersten Opfer und geht lieber, da ihm der Aufenthalt in seinem eigenen Hause zu unerträglich wird.«

Während dieses Gesprächs hatten Miß Mertens und Elisabeth längst das Schloß verlassen und stiegen bergauf. Bald stieß Reinhard zu ihnen, der einen Gang nach dem Dorfe gemacht hatte. Miß Mertens erzählte ihm das Zusammentreffen mit Herrn von Walde und seine letzten Aeußerungen bezüglich seiner Reise.

»Gesagt hat er mir noch nichts,« meinte Reinhard, »aber er sah vorhin gerade so aus, als möchte er am liebsten auf der Stelle Lindhof verlassen . . . Schöne Wirtschaft das! . . . Der Herr des Hauses ist das fünfte Rad am Wagen in seinem Verwandtenkreise; er muß die Sippschaft ernähren, und als Dank dafür machen sie ihm das Herz seiner Schwester abspenstig . . . Herr Gott, steckte ich doch nur zwei Tage in seinen Schuhen, ich wollte den unsaubern Geist austreiben, daß auch nicht eine Spur übrigbliebe! . . . Uebrigens hoffe ich, daß Herr von Hollfeld wenigstens wieder auf einige Tage nach Odenberg geht. Sein Verwalter hat soeben die Nachricht gebracht, daß die Wirtschafterin ihm plötzlich auf und davon gegangen ist; es bleibt keine, der saubere gnädige Herr ist zu geizig . . . Es sollen auch noch andere Unannehmlichkeiten drüben vorgefallen sein.«

Burg Gnadeck war erreicht, und der Gast wurde von Ferbers sehr herzlich begrüßt. Wie heimlich und traut umfing Miß Mertens' Stübchen die neue Bewohnerin! Es blinkte in Sauberkeit; auf Bett und Tisch lagen frische, weiße Decken, eine hübsche Schwarzwälderuhr tickte leise neben dem zierlich geordneten Schreibtische, und einige Reseden und Rosenstöcke auf dem Fenstersimse hauchten ihren Duft durch den kleinen Raum. Durch die offene Thür sah man in das Wohnzimmer der Familie. Dort auf dem gedeckten Tisch entzündete Elisabeth die Spiritusflamme in der Theemaschine, während Miß Mertens rasch ihre wenigen Habseligkeiten in Kommode und Schrank einräumte.

Unterdes hatte sich auch der Onkel in Begleitung Hektors und der langen Pfeife eingefunden. Auch Reinhard blieb da, und so saß bald eine fröhliche Gesellschaft zusammen. Der Oberförster war sehr rosiger Laune. Elisabeth saß neben ihm. Sie bemühte sich aus allen Kräften, auf seine Neckereien einzugehen, aber noch nie war es ihr so schwer geworden, und er, der ein sehr feines Ohr für die leiseste Modulation ihrer Stimme hatte, bemerkte das sehr bald.

»Holla, Goldelse, was ist mit dir?« rief er plötzlich, »da ist etwas nicht in Ordnung.« Er faßte sie am Kinn und sah ihr in die Augen. »Richtig, hast einen Schleier über den Augen und auf der Seele! . . . Potztausend, du siehst ja auf einmal ganz anders aus! . . . Was soll's mit dem trübseligen Nonnengesichte da?«

Elisabeth wurde feuerrot unter seinem forschenden Blicke. Sie bot alles auf, um durch munteren Scherz einer Beichte zu entgehen, allein es gelang ihr sehr schlecht, und zuletzt blieb ihr nichts übrig, als sich an das Klavier zu setzen, dort neckte und störte er sie ja nie.

Wie wohl that es ihrem gepreßten Herzen, als es ausgehen durfte in vollen rauschenden Akkorden, als die Töne schmerzlich hinausklangen in die beginnende Abenddämmerung, ein Echo jenes tiefen Wehes, das sie erfüllte, seit sie wußte, daß Herr von Walde Thüringen wieder verlassen wollte . . . Vorbei war es mit jenem Grübeln und Sinnen, jenem Haschen nach dem unklaren, fremdartigen Etwas, das plötzlich wie ein liebliches Rätsel zwischen ihren Tongedanken aufgetaucht war! Es sprach jetzt mit eigener, fester Stimme, in gewaltigen Klängen, vor denen das einstige, harmlose Saitenspiel ihres Innern zu einem unhörbaren Säuseln erstarb . . . Ein Wunderland voll goldener Verheißungen that sich vor ihr auf – ihr Auge irrte trunken darüber hin; aber nie, nie sollte sie jenen Boden betreten; denn über die finstere Kluft zu ihren Füßen führte keine Brücke . . . Der Schleier, unter dem ihre Seele in glücklicher Unwissenheit bis dahin gelegen, war zerrissen, sie erkannte mit Lust und unsäglichem Schmerze, daß – sie liebte.

Wie lange sie gespielt hatte, sie wußte es nicht. Aber sie erwachte jäh aus dem gänzlichen Vergessen der Außenwelt, wie ein Lichtstrom aus dem Wohnzimmer herüberquoll und grell über Beethovens bleiche Büste floß. Die Mutter hatte die große Lampe angezündet, und Elisabeth sah jetzt, daß der Onkel neben ihr im Fenster saß; er mußte sehr geräuschlos eingetreten sein. Als ihre Hände von den Tasten herabglitten, strich er leise mit der Hand über ihr Haar.

»Siehst du, Kind,« sagte er endlich mit bewegter Stimme, nachdem das letzte Vibrieren der Saiten verhallt war, »wenn ich nicht schon gemerkt hätte, daß etwas ganz Absonderliches in dir vorgeht, so wüßte ich's jetzt durch dein Spiel; das waren ja Thränen, nichts als Thränen.«


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