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Sie war nämlich nachmittags eben im Begriffe, mit dem Nähkorbe in den Garten zu gehen, als am Mauerpförtchen geläutet wurde.
Im Hinblicke auf die gestrige Szene war ihre Verwunderung wohl sehr begründet, als sie beim Oeffnen der Thür Bella vor sich sah. Hinter der Kleinen standen Miß Mertens und der Herr, mit dem sie neulich abends die Begegnung gehabt hatte. Bella reichte ihr beim Eintritte sogleich die Hand, machte aber ein scheues verlegenes Gesicht und sagte kein Wort. Elisabeth erriet jetzt, sehr erstaunt, den Grund ihres Kommens und suchte ihr über das Peinliche der Situation hinwegzuhelfen, indem sie ihre Freude aussprach, die Kleine in ihrem Heim begrüßen zu können, und sie aufforderte, mit in den Garten zu kommen. Allein Miß Mertens trat vor.
»Machen Sie es Bella nicht so leicht, Fräulein Ferber,« sagte sie. »Es ist ihr ausdrücklich anbefohlen worden, Ihnen der gestrigen Unart wegen Abbitte zu thun . . . ich muß darauf bestehen, daß sie spricht.«
Diese mit großer Bestimmtheit gesprochenen Worte, mehr aber vielleicht noch das schützende Dunkel der Halle, in welche sie an Elisabeths Hand eingetreten war, lösten endlich Bellas Zunge. Sie bat leise um Verzeihung und versicherte, nie wieder unartig sein zu wollen.
»Na, das wäre ja glücklich überstanden!« rief der Herr, indem er sich an Miß Mertens Seite stellte und nun Elisabeth schelmisch lächelnd eine tiefe Verbeugung machte.
»Es mag Ihnen vielleicht sehr ungewöhnlich erscheinen,« begann er, »daß ich, als nicht dazu gehörig, mich dieser Deputation in Sühne und Ausgleichungssachen anschließe; allein ich bin der Ansicht, bei einem Akte der Versöhnung sei man meist geneigt, ein Auge zuzudrücken, und dies scheint mir ganz der geeignete Moment für einen Fremdling, sich einzuschmuggeln . . . Ich heiße Ernst Reinhard, bin Reisebegleiter und Sekretär des Herrn von Walde und kenne seit acht Tagen kein sehnlicheres Verlangen, als die interessante Familie im Schlosse Gnadeck kennen zu lernen.«
Elisabeth reichte ihm freundlich die Hand. »Die alten Mauern haben bereits die Unthaten des Raubrittertums mit angesehen,« entgegnete sie, »wir haben deshalb ganz und gar keine Ursache, die Schmuggelei zu verurteilen . . . Sie werden meinen Eltern gewiß willkommen sein.«
Sie schritt voran und stieß die hohe Eichenthür auf, die nach dem Garten führte.
Die Eltern und der Onkel, die mit dem kleinen Ernst unter den Linden saßen, erhoben sich beim Erblicken der Eintretenden und gingen ihnen entgegen. Elisabeth stellte gegenseitig vor und verschwand dann wieder im Hause, um auf den Wink der Mutter einige Erfrischungen für die Gäste zu besorgen. Als sie zurückkam, hatte Bella bereits Mantille und Sonnenschirm abgelegt. Sie saß mit strahlendem Gesichte auf einer Schaukel, die der Vater zwischen zwei Bäumen aufgehangen hatte. Ernst schaukelte sie und schien nicht wenig stolz aus seine neue Spielgefährtin zu sein.
»Wahrhaftig,« sagte Reinhard, indem er auf Bella zeigte, die eben jubelnd hoch durch die Lüfte flog, »wer die Kleine heute morgen gesehen hat, mit welch unkindlicher Haltung sie in Herrn von Waldes Zimmer trat, ihn um Verzeihung zu bitten wegen der gestrigen Ungezogenheit, und wie sie zornig und trotzig zu ihm aufsah, als er ihr erklärte, daß er sie nicht eher wiedersehen wolle, als bis sie Fräulein Ferber persönlich um Verzeihung gebeten habe« – hier wurde Elisabeth purpurrot und beschäftigte sich eilends und angelegentlichst mit zwei großen Honigbroten, die sie für Bella und Ernst strich – »der erkennt sie schwerlich wieder dort in dem kleinen Dinge, das die ganze harmlose Kinderfröhlichkeit im Gesichte trägt.«
Es war eine genußreiche Stunde, die nun folgte. Miß Mertens zeigte sich als sehr unterrichtet und gebildet, und Reinhard erzählte in höchst anziehender Weise von seinen Reisen und Forschungen.
»An die Heimkehr wäre wahrscheinlicherweise noch sehr lange nicht gedacht worden,« schloß er eine interessante Reihenfolge von Mitteilungen über Spanien, »allein verschiedene sehr ungünstige Nachrichten aus Thüringen, die nacheinander einliefen, bewogen Herrn von Walde, einen Riß durch einen kaum entworfenen neuen Reiseplan zu machen . . . Dem Herrschsüchtigen passiert es eben manchmal, daß ihn die Begier blind macht . . . der unvorsichtig ausgesprochene Wunsch aus zarter, weiblicher Feder: Herr von Walde möge doch den guten, aber nun altersschwachen Ortsgeistlichen in Lindhof pensionieren, weil er stumpf und nicht mehr fähig sei, die Gemüter zu erbauen, setzte jenen unliebsamen Nachrichten die Krone auf und war die Veranlassung, daß sofort die Rückreise angetreten wurde . . . Als wir spät abends, in der Nähe von Lindhof Wagen und Chaussee verlassend, das letzte Stückchen Weg durch den Wald zu Fuße zurücklegten, stießen wir noch auf ein allerliebstes Abenteuer . . . ›Merkwürdig, sehen Sie doch, Reinhard, für was halten Sie den Schimmer da droben auf dem alten Gnadeck?‹ fragte Herr von Walde. ›Für ein Licht,‹ war meine Antwort. ›Das müssen wir näher untersuchen,‹ meinte er und stieg aufwärts. Der Punkt wurde immer größer und ergab sich zuletzt zu unserm Erstaunen als zwei hohe, hellerleuchtete Fenster . . . Da trippelt es hinter uns leicht den Berg herauf, es flattert weiß durch die Büsche, und plötzlich schwebt ein Etwas auf die mondbeglänzte Lichtung, das ich für ein höheres Wesen halte . . . Ich bin der Beherztere, trete näher, immer fürchtend, die Lichtgestalt werde vor dem Hauche meines Mundes zerfließen – wehe, da öffnen sich die Lippen und erzählen von zwei gutgearteten Ziegen und einem allerliebsten Kanarienvogel.«
Ein allgemeines Gelächter folgte dieser Schilderung.
»Als wir den Berg wieder hinabstiegen,« fuhr Reinhard fort, »sprach mein Herr keine Silbe; allein gewisse Anzeichen lassen mich fürchten, daß ich damals nicht von Ihnen allein ausgelacht worden bin . . . Es wäre wahrlich nicht vom Uebel gewesen, wenn Sie uns als gute Fee begleitet hätten; aber aller Mondesglanz, alle Lieblichkeit blieben droben auf dem Bergrücken, während wir hinunter in den dunklen Thalschoß wandern mußten, wo eine dumpfe Schwüle brütete, und wo uns niemand, nicht einmal ein erwachendes Lüftchen, ein Willkommen in der Heimat entgegentrug . . . Im Schlosse Lindhof flogen zahllose Lichter eilig wie Irrwische an den Fenstern vorüber. Der Wagen mit dem Gepäck war vor uns eingetroffen und mußte mit seinem Rädergerolle ähnliche Wirkung hervorgebracht haben, wie man dem Donner beim jüngsten Gerichte dereinst zuschreibt, denn es herrschte eine solche Aufregung in dem Hause, als wir eintraten, daß ich am liebsten meine Schritte wieder hinweggelenkt und mein müdes Haupt unter den ersten, besten, stilldunklen Busch gebettet hätte . . . Der einzige, der inmitten des aufgescheuchten Ameisenschwarmes einen bewunderungswürdigen Gleichmut zur Schau trug, war Herr Kandidat Möhring. Er hatte sich schleunigst in eine weiße Halsbinde geworfen und empfing den Herrn des Hauses mit einer salbungsvollen, wohlgesetzten Rede am Fuße der Treppe.«
»Das Regiment dieses gestrengen Herrn ist wohl jetzt zu Ende?« fragte der Oberförster.
»Jawohl – Gott sei Dank!« entgegnen Miß Mertens. »Er wird in der Kürze Lindhof ganz und gar verlassen – die Frau Baronin Lessen hat ihm durch ihren Einfluß eine gute Predigerstelle verschafft . . . Er konnte es nicht ertragen, so plötzlich in das Nichts zurücksinken zu müssen, da, wo er geherrscht hatte. Ich glaube es ihm; denn wie hat er geherrscht – mit der ganzen Verfolgungswut des Tyrannen, der alles unter seine Füße zu bringen sucht . . . Nicht ein Gedanke sollte mehr in seinem Bereiche gedacht werden ohne seine Zustimmung, und während er seine Herrin kriechend anlächelte, hielt er ihr seine eiserne Faust auf den Nacken. Alle, ohne Ausnahme, im Hause mußten die Gedanken und Empfindungen niederschreiben, die sie tags über bei ihrer Berufserfüllung gehabt hatten . . . Ich sehe noch die armen Hausmädchen, denen schon ein kleiner Brief an die Ihrigen ungleich saurer wurde, als ein angestrengter Bügeltag, wie sie an den Winterabenden in der kaltgewordenen Stube saßen und, die Feder zwischen ungelenken, todmüden Fingern haltend, in ihrem armen Kopfe einige Phrasen mühsam zusammensuchten. ›Ja, wenn der Herr Kandidat so gearbeitet hätte, wie ich heute den ganzen Tag,‹ flüsterte dann wohl auch hier und da eine mit scheuer Stimme, aber im tiefsten Grolle, ›da würde ihm das Schreiben wohl vergehen.‹«
»Ja, das will ich auch meinen!« rief der Oberförster. »Nun sag' mir einer, ob das nicht die abscheulichste Menschenschinderei ist, die man da unter dem Deckmantel eines gottgefälligen Strebens getrieben hat!«
»Das Schlimmste dabei ist,« sagte Ferber, »daß der Mensch, wenn er nicht sittlich hoch steht, oder einen ganz besonderen Fond von Gutmütigkeit besitzt, nicht allein seinen Quälern, sondern zuletzt auch der Sache grollt, um derentwillen er leiden muß. So entfernt er sich innerlich immer weiter vom Glauben, während er nach außen das Gegenteil zeigen muß; denn sein Lebensunterhalt hängt von der Maske ab . . . das nenne ich Totschlag der Religiosität im Volke.«
»Na, es ist gut, daß wenigstens zu uns endlich einer kam, der Kraft und Manneswillen genug hatte, zu gebieten: Bis hierher und nicht weiter! . . . Tausend noch einmal, das kam dahergebraust wie eine Sündflut!« sagte der Oberförster.
»Herr von Walde besitzt aber auch eine Energie, eine moralische Kraft, wie selten ein Mensch,« erwiderte Miß Mertens lebhaft. »Er hat einen verschlossenen Mund, doch einen offenen Blick, und vor diesem Blick erschrickt die Angeberei, und Bosheit und Heuchelei verlieren Mut und Larve.«
Mittlerweile hatte Reinhard das Gemäuer des alten verfallenen Schloßflügels aufmerksam betrachtet, der nach Süden hin den Garten begrenzte. Es war ein höchst unregelmäßiger Bau. Drei ungeheure Spitzbogenfenster von tadelloser Form erhoben sich ungefähr sechs Fuß über dem Boden und stiegen durch zwei Stockwerke in die Höhe. Dicht neben ihnen trat eine Art Erker weit in den Garten herein und bildete eine tiefe Ecke; eine mächtige Steineiche erhob sich zwischen den zwei Mauern und streckte einzelne Aeste durch die zwei nächsten, scheibenlosen Fenster in den kühlen, luftigen Raum hinein, der einst die Schloßkapelle vorgestellt hatte, und den man auf eine bedeutende Zuhörerschaft berechnet haben mußte, denn er nahm die ganze Tiefe des Flügels in Anspruch. Den genannten Fenstern lagen drei ganz gleiche gegenüber; sie waren Sturm und Wetter weniger preisgegeben und hatten oben in den feingemeißelten Steinrosetten einige bunte Glasstückchen bewahrt. Hinter ihnen erschien der düstere Hof mit seinen zusammensinkenden, gespenstigen Mauern wie ein in Grau gemaltes Bild. Die Gartenseite des Flügels sah buntscheckig genug aus. Die schrankenloseste Willkür hatte Fenster und Zierraten von allen Sorten zusammengewürfelt; diesem Aeußeren nach mußte das große Gebäude ein wahres Labyrinth von Gemächern, Gängen und Treppen in sich schließen. Der Erker war es zumeist, der den Bau gefahrdrohend erscheinen ließ. Er neigte sich bedenklich seitwärts und schien auf den Moment zu lauern, wo er das blühende Leben der Eiche unter seinen Steinmassen begraben würde. Er hatte sich übrigens kokett einen lebensfrischen Mantel über seine gebrechlichen Glieder gebreitet, ein undurchdringliches Epheugespinst umwob ihn vom Boden bis zu dem zerklüfteten Dachstuhle und ließ weder Fenster noch Risse und Sprünge in dem Mauerwerke sehen. Einzelne Ranken waren hinter der Eiche vorüber geschlüpft, sie kletterten an den gelockerten Mauersteinen der Hauptfronte in die Höhe und umarmten keck die allerorten angebrachten Steinwappen, die grämlich genug unter dem aufgedrungenen Schmucke hervorsahen.
»Ich habe,« sagte Ferber, »bald nach meiner Hierherkunft gerade diesen Flügel, soweit es möglich, zu durchforschen gesucht, denn er interessiert mich seiner eigentümlichen Bauart wegen; allein ich kam nicht weiter, als in die Kapelle, und auch hier erschien mir das Verweilen gefährlich. Sie sehen, das ganze obere Stockwerk ist eingestürzt; die Wucht der Trümmer hat den Plafond der kleinen Kirche tief niedergesenkt, so daß man meint, er müsse bei der leisesten Luftschwingung herniederstürzen. Der Erker ist erst in den letzten Wochen so hinfällig geworden, und zwar infolge mehrerer Gewitterstürme. Er muß entfernt werden, weil uns sonst ein Teil des Gartens unzugänglich bleibt. Hätte ich Arbeiter bekommen können, so wäre er schon abgetragen.«
Nach dieser Schilderung verspürte Reinhard, wie er sich ausdrückte, weiter keinen Appetit, in den Ruinen umherzuwandeln. Desto mehr interessierte ihn der Zwischenbau, und auf diese Aeußerung hin erhob sich Ferber, um seinen Gästen die Wohnung zu zeigen. Zuerst aber wurde der hinter ihnen liegende Damm bestiegen. Ferber war sehr geschickt und thätig, er benutzte jede freie Stunde zur Verschönerung seines neuen Besitztums. Die Stufen, die auf die Höhe des Dammes führten, hatte er eigenhändig ausgebessert, sie hoben sich jetzt weiß und glatt von der geschorenen Rasendecke ab, welche duftig grün die Schrägseite des Erdaufwurfes bedeckte. Droben das ziemlich breite Plateau war mit frischem Kiese bestreut, und in der Mitte desselben, dicht an dem Gezweige der Linden, die sich unten über dem Bassin wölbten, stand eine Gruppe selbstgezimmerter weißer Gartenmöbel.
Während die Gesellschaft an der Brüstung lehnte und den sehr beschränkten, aber lieblichen Blick über den hier ziemlich steil abfallenden Berg hinweg in das Thal genoß, erzählte Elisabeth die Geschichte von Sabines Urahne; denn ohne Zweifel war der Damm der Schauplatz des Ereignisses gewesen.
»Brr!« sagte Reinhard, sich schüttelnd. »Ich danke für einen solchen Luftsprung. Die Mauer ist hoch, und wenn ich mir da, wo jetzt die grüne Moosdecke liegt, das trübe, schlammige Wasser eines Schloßgrabens voller Frösche und Kröten denke, da ist mir der Entschluß, hinabzuspringen, geradezu unfaßlich.«
»Nun,« sagte Miß Mertens, »die Verzweiflung hat manchen auf noch gräßlichere Weise den Tod suchen lassen.«
In dem Augenblicke war es Elisabeth, als hafte auf ihrem Gesichte abermals der Blick voll Glut und Leidenschaft, mit welchem Hollfeld gestern auf sie zugeeilt war . . . sie gedachte des Abscheues, den sie bei seiner Berührung empfunden hatte, und meinte innerlich, es sei nicht so schwer, sich in den Zustand der Verfolgten zu denken.
»Na, Kind,« weckte sie der Onkel aus ihrem Nachsinnen, »willst du da drunten das Gras wachsen hören, weil du so lautlos stehen bleibst!«
Vor seinen klaren Augen und der kräftigen, biederen Stimme verflog im Nu das Grauen. »Nein, Onkel,« entgegnete sie lachend, »den Versuch will ich doch lieber bleiben lassen, wenn ich mir auch einbilde, für das Leben und Weben in der Natur ganz besondere Augen und Ohren zu haben.«
Er nahm sie bei der Hand und führte sie den anderen nach, die eben das Haus betraten. Oben an der Treppe kam Bella auf Miß Mertens zugelaufen; sie hatte in der einen Hand verschiedene Bilderbücher, und mit der anderen zog sie ihre Gouvernante in Elisabeths Zimmer.
»Denken Sie sich, Miß Mertens, hier oben sieht man doch unser Schloß!« rief sie. Der Begriff vom Eigentumsrechte in dieser Richtung hin saß fest in ihrem Köpfchen; kein Wunder, die Art und Weise, wie die Mama das Zepter bisher geführt hatte, ließen ja selbst die Erwachsenen nicht im Zweifel, daß sie sich als die unumschränkte Herrin in Lindhof ansehe. »Sehen Sie dort unten den Weg?« fuhr Bella lebhaft fort, »da ist eben Onkel Rudolf vorübergeritten. Er hat mich erkannt und mir mit der Hand zugewinkt; die Mama wird froh sein, daß er wieder gut mit mir ist.«
Miß Mertens ermahnte sie, nun aber auch hübsch artig zu bleiben, jetzt aber Hut und Mantel zu holen, denn es sei Zeit aufzubrechen.
Elisabeth und Ernst begleiteten sie bis an den Park.
»Wir haben uns zu lange aufgehalten,« bemerkte Miß Mertens mit besorgtem Gesichte, als sie am Mauerpförtchen von Ferbers Abschied genommen hatte und heraus auf die Waldblöße trat. »Ich mache mich für heute noch auf Sturm und böses Wetter gefaßt.«
»Sie meinen, die Baronin werde ungehalten sein über Ihr langes Ausbleiben?«
»Ohne Zweifel.«
»Nun, lassen Sie sich dies trotz alledem nicht reuen . . . Wir haben jedenfalls einen reizenden Nachmittag verlebt,« meinte Reinhard heiter.
Die Kinder waren Hand in Hand vorausgegangen und verschwanden hier und da seitwärts im Gebüsche, um Blumen zu suchen. Hektor, der seinem Herrn untreu geworden war und sich der Gesellschaft angeschlossen hatte, sprang lustig mit ihnen hin und her, wobei er jedoch nicht unterließ, dann und wann zu Elisabeth – der Dame seines Herzens, wie der Onkel immer sagte – zurückzukehren, um sich den Kopf streicheln zu lassen.
Plötzlich stutzte er und blieb mitten im Wege stehen. Man war bereits in der Nähe des Parkes; durch das Gebüsch schimmerte das leuchtende Grün der Rasenflächen herauf, und das Plätschern der nächsten Fontäne wurde hörbar. Hektor hatte etwas entdeckt, und das war eine weibliche Gestalt, die mit hastigen Schritten den Hinabwandelnden entgegenkam. Elisabeth erkannte sie sogleich als die stumme Bertha, obgleich ihr die ganze Erscheinung merkwürdig verändert erschien.
Das junge Mädchen mußte keine Ahnung von der Nähe anderer haben, denn sie gestikulierte im Weiterschreiten heftig mit den Armen; eine dunkle Röte bedeckte ihre Wangen, die Augenbrauen waren wie im tiefsten Seelenschmerze zusammengezogen, und die Lippen bewegten sich im leisen Selbstgespräche. Das weiße, blumengeschmückte Hütchen war von den Flechten herabgesunken und hing mittels der Bänder am Halse; infolge der heftigen Bewegungen jedoch lösten sich auch diese, und es fiel auf den Boden, ohne daß die Eigentümerin es bemerkte.
Sie lief vorwärts, und erst in dem Augenblicke, als sie dicht vor Elisabeth stand, schlug sie die Augen auf. Entsetzt, als habe sie auf eine Natter getreten, fuhr sie zurück. In dem Momente aber auch verwandelte sich ihr schmerzlicher Gesichtsausdruck in den der tiefsten Erbitterung. Ihre Augen sprühten Haß, ihre Hände ballten sich krampfhaft, während ein zischender Laut über die Lippen glitt; es sah aus, als wolle sie sich wütend auf das junge Mädchen stürzen . . . Reinhard stand sofort neben Elisabeth und zog sie einen Schritt zurück. Als Bertha ihn erblickte, stieß sie einen leisen Schrei aus und rannte blindlings in das Gebüsch, durch welches sie sich gewaltsam Bahn brach, obgleich ihre Kleider an den Dornen hängen blieben und niederhängende Aeste gegen ihre Stirn schlugen . . . in wenig Augenblicken war sie im Dickicht verschwunden.
»Das war ja die Bertha aus dem Forsthause!?« rief Miß Mertens erstaunt. »Was muß ihr geschehen sein?«
»Ja, was mag vorgefallen sein?« wiederholte Reinhard. »Die junge Person war in einer furchtbaren Aufregung, schien aber erst in die höchste Wut zu geraten bei Ihrem Anblicke,« wandte er sich an Elisabeth. »Sie ist Ihnen verwandt?«
»Eigentlich nicht,« entgegnen das junge Mädchen, »denn sie steht nicht einmal meinem Onkel in dieser Beziehung sehr nahe. Ebensowenig ist sie mir bekannt. Sie hat meine Nähe von Anfang an konsequent gemieden, obgleich ich einen freundschaftlichen Verkehr mit ihr eine Zeitlang sehr gewünscht habe . . . Es ist klar, daß sie mich haßt, aber ich weiß nicht, weshalb; das müßte mich eigentlich betrüben, allein ihr Charakter gefällt mir zu wenig, als daß ich einen besonderen Wert auf ihre Gesinnung gegen mich legen möchte.«
»Zum Henker auch, Kindchen, da ist nicht allein mehr von Gesinnung die Rede! . . . Die kleine Furie hätte Sie am liebsten mit den Zähnen zerrissen.«
»Ich fürchte mich nicht vor ihr,« erwiderte Elisabeth lächelnd.
»Nun, ich möchte Ihnen doch zur Vorsicht raten,« meinte Miß Mertens. »Die kleine Person hat etwas Dämonisches in ihrer Erscheinung . . . wo mochte sie nur herkommen?«
»Allem Anscheine nach aus dem Schlosse,« bemerkte Elisabeth, indem sie Berthas Hut aufhob und einige dürre Blätter und Moose von den Klatschrosen abstreifte.
»Das glaube ich nicht,« entgegnete Miß Mertens. »Seit sie stumm ist, hat sie merkwürdigerweise auch ihre Besuche in Lindhof eingestellt . . . Sie war früher täglich im Schlosse, wohnte den Bibelstunden bei und hatte bei der Baronin einen großen Stein im Brette . . . Das alles hat plötzlich ein Ende genommen, ohne daß irgend jemand sagen kann, weshalb. Nur dann und wann habe ich sie auf meinen einsamen Spaziergängen durch den Park schlüpfen sehen, flink wie eine Schlange und für mich ebenso unheimlich, wie alle Reptilien.«
Die Sprechenden hatten bereits den ersten mit Kies bestreuten Parkpfad betreten, es war Zeit zum Abschiede, der von Besuchern und Besuchten auf das herzlichste genommen wurde.
»Höre, Else,« sagte Ernst, als die anderen drei hinter dem nächsten Boskett verschwunden waren, »wir wollen doch einmal sehen, wer von uns beiden zuerst dort an der Ecke sein wird.« Diese Ecke war die Mündung eines schmalen Waldweges, der sich an dem Fuße des Berges hinzog.
»Gut, mein Junge!« lachte Elisabeth und begann zu laufen. Anfangs hielt sie Schritt mit den Beinchen, die tapfer nebenher trippelten und sich mühten, ihr den Vorsprung abzugewinnen; in der Nähe des Zieles jedoch flog sie, um den Kleinen zu necken, wie eine Feder vorwärts und stand mit einem Schritte mitten im Waldwege, zu ihrem Schrecken aber auch dicht vor einem Pferdekopfe, der sie heftig anschnaubte. Hektor, welcher nebenher gelaufen war, erhob ein lautes Gebell . . . Das Pferd machte einen furchtbaren Satz nach rückwärts und stand in einem Nu fast kerzengerade auf den Hinterbeinen.
»Zurück!« rief eine gewaltige Stimme. Elisabeth umfaßte den Knaben, der inzwischen herangekommen war, und sprang seitwärts mit ihm; fast in demselben Momente stürzte das Pferd aus dem Walde hervor und brauste, mit seinen Hufen kaum die Erde berührend, querfeldein . . . Herr von Walde ritt das scheu gewordene Tier, das die gewaltigsten Anstrengungen machte, seinen Reiter abzuwerfen; aber er saß fest wie eine Mauer, nur einmal bog er sich herab und hieb mit der Gerte nach Hektor, der in tollen Sprüngen auf und ab jagte und das Pferd durch sein Gebell immer wilder machte. Eine Weile zerstampfte der Renner den großen Rasenplatz, dann wendete er sich plötzlich seitwärts und verschwand jenseits im Walde.
Elisabeth fühlte, wie ihr die Zähne zusammenschlugen in namenloser Angst, denn nun zweifelte sie keinen Augenblick mehr, daß ein Unglück geschehen müsse. Sie nahm Ernst bei der Hand und wollte nach dem Schlosse laufen, um Hilfe zu holen, allein schon nach wenigen Schritten sah sie den Reiter zurückkehren. Das Tier war ruhiger, der Schaum floß vom Gebisse, und Elisabeth sah, wie die Beine des Pferdes zitterten. Herr von Walde klopfte es liebkosend auf den Hals, sprang herab und band es an einen Baum, dann schritt er auf Elisabeth zu.
»Verzeihen Sie!« sagte das junge Mädchen mit bebender Stimme, als er vor ihr stand.
»Was denn, mein Kind?« entgegnete er mild. »Sie haben ja nichts verbrochen . . . Kommen Sie, setzen Sie sich ein wenig hier auf die Bank . . . Sie haben sich erschreckt und sind totenblaß geworden.«
Er machte eine Bewegung, als wolle er ihre Hand ergreifen und sie führen, aber sein Arm sank sogleich wieder herab. Elisabeth folgte mechanisch seinem Geheiße, er setzte sich ohne weiteres neben sie. Der kleine Ernst lehnte sich an seine Schwester und sah Herrn von Walde mit seinen großen, schönen Augen unverwandt ins Gesicht. Der Kleine war nur einen Moment erschrocken gewesen, als das Pferd unvermutet aus dem Walde hervorkam; das Umherjagen auf der Wiese aber hatte ihn amüsiert, denn er hatte keine Ahnung von der Gefahr.
»Was hatten Sie vor, als Sie vorhin so stürmisch in den Wald einzudringen versuchten?« fragte Herr von Walde Elisabeth nach einem kurzen Schweigen.
Ein schelmisches Lächeln schwebte um die noch immer blassen Lippen des jungen Mädchens. »Ich wurde verfolgt,« antwortete sie.
»Von wem?«
»Von diesem hier,« – sie zeigte auf Ernst – »wir sind um die Wette gelaufen.«
»Ist der Kleine Ihr Bruder?«
»Ja.« Sie sah dem Knaben zärtlich ins Gesicht und strich mit der Hand über seinen dunklen Lockenkopf.
»Und sie ist meine einzige Schwester,« bemerkte der Kleine mit großem Nachdrucke.
»So – nun, wie es scheint, verträgst du dich sehr gut mit dieser einzigen Schwester?« sagte Herr von Walde.
»O ja, ich habe sie sehr lieb . . . sie spielt mit mir gerade wie ein Junge.«
»Wirklich?« fragte Herr von Walde.
»Wenn ich exerzieren will, dann setzt sie sich einen ebensolchen Papierhut auf, wie sie mir einen macht, und trommelt durch den Garten, solange ich will. Vorm Schlafengehen erzählt sie mir Geschichten und streicht mir auch die Butterbrote viel dicker als Mama.«
Ein heiteres Lächeln glitt über Herrn von Waldes Gesicht. Elisabeth sah es zum erstenmal und fand, daß es seine Lüge, deren tiefen Ernst sie für unverwischbar gehalten hatte, unbeschreiblich anziehend machte . . . es kam ihr vor, wie der klare Sonnenglanz, der unerwartet über einen wolkendüsteren Himmel hinfliegt.
»Du hast recht, mein Junge,« sagte er und zog den Kleinen zu sich hinüber, »das sind ohne Zweifel anerkennenswerte Eigenschaben; aber wird sie nie böse?« fragte er weiter, indem er auf Elisabeth zeigte, die wie ein Kind lachte, denn Ernsts Mitteilungen erschienen ihr urkomisch.
»Nein, böse niemals,« antwortete der Knabe, »nur ernsthaft manchmal, und dann spielt sie immer Klavier.«
»Aber Ernst . . .«
»O ja, Else,« fiel ihr der Kleine eifrig ins Wort, »weißt du noch, in B., wo wir so arm waren?«
»Nun, da magst du freilich recht haben,« erwiderte das junge Mädchen unbefangen, »aber das war doch nur in der Zeit, wo Papa und Mama allein sich abmühen und für das tägliche Brot arbeiten mußten, später wurde es ja besser.«
»Aber Sie spielen noch Klavier?«
»Ja,« entgegnete Elisabeth lachend, »jedoch nicht mehr in dem Sinne, wie Ernst es meint – die Meinen sind ja versorgt.«
»Und Sie?« forschte Herr von Walde weiter.
»Nun, ich? Ich habe den Mut, es mit dem Leben aufzunehmen und ihm das abzuringen, was zu meiner Selbständigkeit nötig ist.«
»Wie wollen Sie das anfangen?«
»Ich werde im nächsten Jahre eine Stelle als Erzieherin annehmen.«
»Schreckt Sie Miß Mertens' Beispiel nicht zurück?«
»Ganz und gar nicht . . . Ich bin nicht so schwach, ein müheloses Brot zu wünschen, wo ich Tausende in meinen Verhältnissen mutig die Last der Dienstbarkeit auf sich nehmen sehe.«
»Hier handelt es sich aber nicht allein um die Arbeit, sondern auch um das Ertragen und Dulden . . . Sie sind stolz; nicht allein Ihr Gesicht in diesem Augenblicke, sondern auch Ihre gestern ausgesprochenen Ansichten beweisen es.«
»Nun ja, es mag Stolz sein, daß ich die Menschenwürde höher stelle, als jede Aeußerlichkeiten, die der Egoismus erfunden hat und aufrecht erhält – aber ebendeshalb glaube ich auch, daß ein Mensch den andern nur insofern demütigen kann, als er moralisch und geistig hochstehend, ihm unerreichbar erscheint – niemals aber durch erniedrigende Behandlung.«
»Und Sie glauben sich durch diese Ansicht gestählt gegen alle jene großen und kleinen Leiden, die eine launenhafte, herzlose Herrin über Sie verhängen kann?«
»O nein, aber ich werde mit ihr den Kopf oben behalten.«
Es entstand eine kleine Pause, während welcher Ernst sich dem Pferde näherte und dasselbe mit großer Aufmerksamkeit betrachtete.
»Aus Ihren gestrigen Reden schloß ich, daß Sie Ihre jetzige Heimat lieben,« begann Herr von Walde wieder.
»Ja, unbeschreiblich.«
»Nun, ich begreife das; denn wir haben hier das schönste Stück Thüringens . . . Wie ist es Ihnen dann aber möglich, den Gedanken so leicht zu nehmen, daß Sie wieder gehen müssen?«
»Leicht wird es mir auch durchaus nicht, im Gegenteil, aber mein Vater hat mich gelehrt, daß man stets das Notwendige über die Annehmlichkeit stellen müsse, und das begreife ich vollkommen . . . weniger klar dagegen ist es mir, wie man die Annehmlichkeit verlassen kann, ohne daß es die Notwendigkeit gebietet.«
»Ah, das gilt mir! . . . Sie fassen es nicht, daß ein Mensch freiwillig in den dumpfen Pyramiden steckt, während er im kühlen sonnigen Thüringen atmen könnte.«
Elisabeth fühlte, wie ihr eine brennende Röte in das Gesicht stieg. Herr von Walde berührte hier mit leichtem Humor jenes scherzhafte Gespräch zwischen ihr und dem Onkel, dessen unfreiwilliger Zuhörer er gewesen war.
»Wenn ich Ihnen das auch begreiflich machen wollte, Sie würden mich doch nicht verstehen; denn, wie mir scheint, vermissen Sie ja noch nichts im Kreise der Ihrigen?« fragte er nach kurzem Schweigen. Er hatte sich vorwärts geneigt und strich mechanisch mit der Spitze der Reitgerte über den Kies zu seinen Füßen . . . Er sprach in jenen tiefen Tönen, die stets etwas Ergreifendes für Elisabeth hatten. »Aber es kommt die Zeit,« fuhr er fort, »da flieht man hinaus in die Welt, um draußen zu vergessen, daß daheim das Glück fehlt . . . Eine schmerzlich empfundene Lücke in seinem Dasein kann der Mann, wenn auch nicht ausfüllen, so doch am besten in den Hintergrund drängen, wenn er sich in die Wissenschaft versenkt.«
Also hier stand sie vor der wunden Stelle in seinem Herzen . . . Er füllte tief, daß ihn daheim die Liebe nicht empfing, die er lebhaft wünschte, und die er auch mit vollstem Rechte beanspruchen konnte, da er seiner Schwester die reinste, aufopferndste Zärtlichkeit unausgesetzt bewies. Diesen Schmerz hatte ja Elisabeth schon begriffen, noch bevor sie Herrn von Walde kannte. In dem Augenblicke aber, als er ihn so unumwunden aussprach, wallte ihr das Herz auf in dem lebhaften Verlangen, ihn zu trösten. Die Worte des Mitgefühls drängten sich ihr fast aus die Lippen; aber zugleich empfand sie eine unerklärliche Scheu, das auszusprechen, was sie bewegte, und als ihr Blick seitwärts streifte über die festen Linien seines Profils, über die Stirn, die gebieterisch und stolz blieb, während die Stimme weich und trauervoll klang, da kam ihr plötzlich die beängstigende Vermutung, er habe einen Moment vergessen, wer neben ihm sitze, sein aristokratisches Gefühl werde ihn später den Mißgriff bitter bereuen lassen, infolgedessen ein unbedeutendes Mädchen in sein streng verschlossenes Innere einen Blick werfen durfte . . . Dieser Gedanke trieb ihr das Blut in die Wangen, sie erhob sich schnell und rief Ernst zu sich. Herr von Walde wandte überrascht den Kopf nach ihr und sein Auge ruhte einen Augenblick forschend auf ihrem Gesichte; dann verließ er gleichfalls die Bank und stand, als wolle er ihre Annahme bestätigen, plötzlich in seiner ganzen, stolzen Ruhe und Gelassenheit vor dem jungen Mädchen; aber jener düstere, schwermütige Zug zwischen den Augenbrauen, den der Vater schon beobachtet hatte, fiel ihr zum erstenmal auf und machte ihr denselben Eindruck, wie vorher seine Stimme.
»Sie sind gewöhnlich sehr flink im Denken,« sagte er, sichtbar bemüht, einen leichteren Ton anzuschlagen, und langsam neben Elisabeth herschreitend – sie ging, um Ernst zu holen – der ihren Ruf nicht gehört hatte – »noch ehe man einen Satz völlig geendet hat, sieht man an Ihrem Auge, daß Sie die Antwort bereits auf den Lippen haben. Ihr Schweigen in diesem Augenblicke sagt mir also, daß ich vorhin recht hatte, als ich annahm, Sie würden mich nicht verstehen, weil Sie noch nichts vermissen.«
»Der Begriff von Glück ist so sehr verschieden, daß ich in der That nicht wissen kann –«
»Den Begriff haben wir alle gemein,« unterbrach er sie. »In Ihnen schlummert er nur noch.«
»O nein!« rief sie, ihre Zurückhaltung vergessend, lebhaft und erstaunt, »ich liebe die Meinen von ganzem Herzen und habe das beseligende Bewußtsein, daß ich wieder geliebt werde!«
»Ah, also haben Sie mich doch nicht ganz falsch verstanden! . . . Nun, und die Ihrigen . . . das ist wohl ein sehr großer Personenkreis, den Sie da in Ihr Herz schließen müssen?«
»Nein,« rief sie lachend, »die sind schnell zusammengezählt! Meine Eltern, der Onkel und dieses kleine Menschenkind hier,« sie nahm den herbeigelaufenen Ernst bei der Hand, »das sich sehr breit macht und mit jedem Jahre mehr Terrain erobert . . . Jetzt müssen wir aber fort, mein Junge,« sagte sie zu dem Kleinen, »sonst ängstigt sich die Mama.«
Sie verbeugte sich leicht vor Herrn von Walde, es kam ihr vor, als sei der Schatten auf seiner Stirn plötzlich wieder verschwunden. Er zog höflich den Hut vor ihr und reichte Ernst die Hand; dann schritt er langsam hinüber zu dem Pferde, das ungeduldig stampfte, faßte den Zügel und führte es fort.
»Weißt du, Else,« sagte Ernst, als sie den Berg hinaufstiegen, »wie Herr von Walde aussieht?«
»Nun?«
»Wie der Ritter Georg, der den Lindwurm totgemacht hat.«
»Ei,« lachte das junge Mädchen, »du hast ja noch kein Bild dieses tapferen Ritters gesehen!«
»Nu nein – ich denke auch nur so.«
Und sie hatte ähnlich gedacht, als sie ihn, das ungebärdige Pferd beherrschend, dahinfliegen sah . . . In diesem Augenblicke erinnerte sie sich aber auch der Qualen, die sie ausgestanden bei dem Gedanken, er könne verunglücken und der unsäglichen Freude, als sie ihn aus dem Walde unversehrt zurückkehren sah . . . Sie blieb stehen und legte, verwundert lächelnd, die Hand auf ihr klopfendes Herz.
»Siehst du,« meinte Ernst, »du bist wieder einmal zu schnell bergauf gelaufen – ich konnte gar nicht nachkommen. Wenn das der Onkel wüßte, der würde schön zanken.«
Langsam und träumerisch schritt sie weiter – sie hatte den Vorwurf des Kleinen kaum gehört . . . Was war es nur, jenes wundersame Empfinden, das sich gestern zwischen ihre Melodien gedrängt hatte und sie zugleich jauchzen und weinen ließ? . . . In diesem Augenblicke wogte es wieder durch ihre Seele, weit mächtiger und berauschender als gestern, aber ebenso unverstanden und rätselhaft.
»Aber Else,« rief Ernst ungeduldig, »was hast du nur? . . . Jetzt gehst du wieder so langsam, daß es gewiß dunkel ist, ehe wir hinaufkommen.«
Er faßte ihr Kleid und suchte sie fortzuziehen. Diese Mahnung an die Außenwelt war doch zu energisch, als daß Elisabeth ihr länger hätte widerstehen können; sie raffte sich auf und schritt nun zu des Kleinen Genugtuung im richtigen Tempo vorwärts.
Oben in der Halle angekommen, legte Elisabeth Berthas Hut, der noch an ihrem Arme hing, auf das Büffett. Sie wollte den Eltern vorläufig noch nichts von der Begegnung sagen, weil sie mit Recht annahm, daß sie sich beunruhigen und es dem Onkel erzählen würden. Der war aber in den letzten Wochen wieder sehr heftig und bitter geworden, wenn er auf diesen Punkt zu reden kam, so daß Elisabeth die Ueberzeugung hatte, er werde nach einer solchen Mitteilung zum Aeußersten schreiten und die Störerin seines Hausfriedens verstoßen. Ernst hatte weder den Hut an Elisabeths Arme, noch ihr Bemühen, denselben zu verstecken, bemerkt, er konnte also nichts verraten.
Nach dem Abendbrote ging Elisabeth hinunter ins Forsthaus. Sie traf Sabine im Garten und hörte befriedigt, daß der Onkel nach Lindhof gewandert sei. Indem sie der alten Haushälterin den Hut übergab, teilte sie ihr das auffallende Gebaren Berthas mit und fragte schließlich, ob dieselbe nach Hause gekommen sei. Sabine war außer sich.
»Na, das können Sie mir glauben, Kindchen,« sagte sie, »waren Sie allein, die hätte Ihnen die Augen ausgekratzt . . . Ich weiß nicht, was noch daraus werden soll, vorzüglich in den letzten Tagen ist es sehr schlimm geworden . . . Sie schläft keine Nacht mehr, rennt auf und ab und spricht auch wieder, aber nur mit sich selbst . . . Wenn ich's nur über mich gewinnen könnte, einmal geradezu die Thür aufzumachen, wenn der Spektakel so groß ist; aber ich kann's nicht, und wenn Sie mir Berge von Gold hinlegen wollten . . . Sie lachen mich aus, ich weiß es; aber – mit der ist's nicht richtig! Sehen Sie ihr nur einmal in die Augen; das funkelt und blitzt, als wenn sie das ganze Feuer vom Blocksberge drin hätte . . . Na, ich bin still, ich sage nichts, der Herr Oberförster hat einen gesunden Schlaf, und die anderen auch; aber ich bin da, wenn sich ein Mäuschen rührt, und so weiß ich recht gut, daß Bertha gar des Nachts draußen herumflankiert, und allemal ist der Hofhund aus seiner Hütte verschwunden. Das ist noch der einzige im Hause, der sie lieb hat, und so bös er ist – ihr thut er nichts.«
»Weiß das mein Onkel?« fragte Elisabeth erstaunt.
»Ei, beileibe nicht! . . . Ich werde mich hüten, etwas zu sagen, das könnte mir schlecht bekommen.«
»Aber Sabine, bedenken Sie denn nicht, daß Sie mit Ihrem Schweigen dem Onkel großen Schaden zufügen können? Das Haus liegt so allein; wenn kein Hund im Hofe ist –«
»So stehe ich droben am Fenster und wache, bis sie endlich wieder über den Berg kommt und das Tier an die Kette legt.«
»Das sind ja übermenschliche Opfer, die Sie Ihrem Aberglauben bringen! . . . Man sollte doch lieber der Bertha –«
»Still, nicht so laut, dort sitzt sie!« Sabine deutete durch das Staket auf den Birnbaum im Hofe. Elisabeth ging leise näher. Unter dem Baume, aus der Steinbank, saß Bertha, scheinbar ruhig, und schnitt Bohnen. Die glühende Rote der Erregung auf Stirn und Wangen war einer fahlen Blässe gewichen. Elisabeth sah jetzt, daß das junge Mädchen in der letzten Zeit bedeutend magerer geworden war. Die schmale Nase trat schärfer aus dem Gesichte, und die Wangen hatten die liebliche Rundung verloren. Dunkle Ringe lagerten um die Augen, und zwischen den Brauen gruben sich zwei Falten tief in die feine Haut, die dem Gesichte etwas finster Brütendes, aber auch im Vereine mit gewissen Zügen um die Lippen einen unsäglich schmerzlichen Ausdruck gaben . . . Dieser Anblick schnitt tief in Elisabeths Seele. Auf den Schultern jener Einsamen lastete das Elend und mußte sie um so tiefer beugen, weil sie es schweigend trug . . . Elisabeth vergaß alle Feindseligkeit, die ihr Bertha bisher gezeigt hatte, und ging rasch einige Schritte näher, um jenes schmerzensmüde Haupt an ihre Brust zu lehnen und zu sagen. Hier ruhe dich aus; schütte all deinen Jammer, mit dem du so allein kämpfst und ringst, in mein Herz, ich will ihn redlich mit dir tragen, – allein Sabine klammerte sich fest an ihrem Arm.
»Sie werden doch nicht hingehen!« flüsterte sie heftig. »Das leide ich nicht, sie ist im stande und stößt mit dem Messer nach Ihnen.«
»Aber sie ist grenzenlos unglücklich. Es gelingt mir vielleicht doch, sie zu überzeugen, daß mich nur das innigste Mitgefühl zu ihr führt.«
»Nein, nein. . . . Nun, Sie sollen gleich sehen, wie weit man mit ihr kommt.«
Sabine schritt die Stufen hinab in den Hof. Bertha ließ sie herankommen, ohne die Augen aufzuschlagen.
»Fräulein Elisabeth hat ihn gefunden,« sagte Sabine, Bertha den Hut hinhaltend; dann legte sie ihre Hand auf die Schulter des jungen Mädchens und fuhr freundlich fort: »sie möchte Ihnen gern einige Worte sagen.«
Bertha fuhr auf, als sei ihr eine tödliche Beleidigung widerfahren. Sie schüttelte wild die Hand von sich, und ihr Auge richtete sich zornig auf die Stelle, wo sich Elisabeth befand, ein Beweis, daß sie die Anwesenheit des jungen Mädchens längst bemerkt hatte. Sie warf das Messer auf den Tisch, stieß mit einer ihrer heftigen Bewegungen den Korb zu ihren Füßen um, so daß die Bohnen nach allen Seiten hin auf das Pflaster flogen, und ging in das Haus. Man hörte durch das offene Fenster, wie sie droben in der Stube die Thür zuschlug und den Riegel vorschob.
Elisabeth war stumm vor Ueberraschung, aber auch vor Schmerz. Sie wäre der Unglücklichen so gerne näher getreten, doch jetzt sah sie, daß sie den Gedanken daran aufgeben mußte.
Seit einer Woche ging sie täglich hinunter ins Schloß. Fräulein von Walde hatte sich merkwürdig schnell erholt seit jenem Nachmittage, wo sie, wie die Baronin zärtlich betonte, Heilung in dem von ihr eigenhändig bereiteten Kaffee gefunden hatte, und wo Herr von Hollfeld angekommen war. Sie übte aus allen Kräften einige vierhändige Musikstücke und vertraute Elisabeth endlich an, daß in die letzten Tage des August das Geburtsfest ihres Bruders falle; sie wolle dasselbe diesmal ganz besonders verherrlichen, weil sie mit ihm die glückliche Rückkehr des Vielgereisten zu feiern gedenke. An diesem Tage sollte er sie zum erstenmal nach langer Zeit wieder spielen hören; sie wußte, daß sie ihn damit freudig überraschen würde.
Elisabeth sah diesen Uebungsstunden stets mit einem Gemisch von Freude, Angst und Widerwillen entgegen . . . Sie wußte selbst nicht warum, aber Schloß und Park waren ihr plötzlich lieb und vertraut geworden; ja, sie fühlte sogar für jene Bank, auf der sie mit Herrn von Walde gesessen hatte, eine Art zärtlicher Zuneigung, wie für einen alten Freund, so daß sie stets, um an derselben vorüberzukommen, einen kleinen Umweg machte . . . Angst und Widerwillen dagegen flößte ihr Herrn von Hollfelds Benehmen ein. Nachdem sie einigemal seine Versuche, ihr in den Weg zu treten, durch schleuniges Ausweichen vereitelt hatte, kam er eines Tages ohne weiteres auf Fräulein von Waldes Zimmer und bat um die Erlaubnis, der Stunde beiwohnen zu dürfen. Zu Elisabeths Schrecken versicherte ihm Helene mit freudestrahlenden Augen, sie heiße ihn doppelt willkommen . . . Er erschien nun beharrlich jedesmal, legte stillschweigend bei seinem Kommen einige frischgepflückte Blumen vor Helene auf das Klavier nieder, infolgedessen sie konsequent verschiedene falsche Akkorde griff, und setzte sich in eine Fensterecke, von wo aus er den Spielenden gerade in das Gesicht sehen konnte. Er hielt, solange musiziert wurde, die Hand über die Augen, als wolle er sich gänzlich den Eindrücken der Außenwelt entziehen, um im Reiche der Töne zu versinken. Elisabeth bemerkte jedoch sehr bald zu ihrem Verdrusse, daß er sein Gesicht nur so weit bedecke, als er von Helene gesehen werden konnte; hinter der vorgehaltenen Hand starrte er unausgesetzt zu ihr selbst hinüber und verfolgte jede ihrer Bewegungen. Sie erbebte unter diesen Augen, die, sonst so nichtssagend und leer, ihr gegenüber stets in einem eigentümlichen Feuer aufglühten, so daß sie oft die größte Selbstbeherrschung nötig hatte, um unbeirrt weiter zu spielen.
Helene hatte augenscheinlich keine Ahnung von der Hinterlist, mit welcher Hollfeld seinen Zweck zu erreichen suchte. Sie machte öftere Pausen und unterhielt sich lebhaft mit ihm, das heißt sie sprach dann fast immer allein und meist sehr hübsch. Jede seiner einsilbigen Antworten, so banal und gewöhnlich wie sie waren, nahm sie auf wie eine Gunst, wie einen Orakelspruch, dessen Sinn man stets tiefer zu suchen habe.
Wenige Minuten vor dem Schlusse der Stunden entfernte er sich stets. Gleich das erste Mal jedoch hatte ihn Elisabeth beim Nachhausegehen bemerkt, und zwar durch eines der Korridorfenster im ersten Stocke, von wo aus man einen bedeutenden Teil des Parkes überblicken konnte, wie er wartend vor dem Waldwege auf und ab ging, den sie passieren mußte. Sie durchkreuzte seinen Plan, nicht ohne heimliches Lachen, indem sie Miß Mertens besuchte, und sich über eine Stunde bei ihr aufhielt. Dort wurde sie stets mit offenen Armen aufgenommen und gewann die Gouvernante allmählich so lieb, daß sie zuletzt gar nicht mehr an deren Thür vorbeigehen mochte, ohne auf ein Plauderstündchen einzukehren.
Miß Mertens war meist traurig und niedergeschlagen. Sie fühlte, daß ihr Bleiben in Lindhof immer unmöglicher wurde. Die Baronin, ihrer Herrschermacht und der damit verknüpften Thätigkeit plötzlich enthoben, langweilte sich jetzt öfter bis zum Sterben. Ihren Verwandten gegenüber mußte sie die Maske der Harmlosigkeit und Zufriedenheit vornehmen, was ihr wohl herzlich sauer werden mochte, sie war also gezwungen, ihre üble Laune hinter den verschlossenen Thüren ihrer Appartements zu lassen, dort aber wurde sie nachgerade unerträglich; nicht für Bella, denn dem Kinde gegenüber, in welchem sie bereits mehr die geborene Baronesse, als ihre Tochter sah, ließ sich die Dame nie zu Ausschreitungen hinreißen; vor ihrer alten Kammerfrau aber hatte sie, man wußte nicht warum, »einen heillosen Respekt«, wie der Hausverwalter Lorenz sich ausdrückte, und der niederen Dienerschaft durfte sie nicht zu nahe treten, ohne den Herrn des Hauses heranzufordern; mithin wurde all der verbissene Groll gegen die unglückliche, wehrlose Gouvernante geschleudert.
Um ihr Opfer recht gründlich zu quälen, befahl die Dame, daß die Unterrichtsstunden von nun an unter ihrer höchsteigenen Aufsicht stattfinden sollten. In Gegenwart der Schülerin wurde die Methode der Lehrerin vom ersten Momente an unausgesetzt getadelt. Man wunderte sich jetzt durchaus nicht mehr, daß das Kind bei dem Unterricht nicht vorwärts komme, auch mußten ja die Nerven der Kleinen in steter Aufregung sein, denn Miß Mertens hatte beim Dozieren die widerlichste Stimme von der Welt; und wie sollte Bella jemals graziös werden, wenn sie immer die eckigen Bewegungen vor Augen haben mußte, mit denen ihre Gouvernante das Buch hielt, die Blätter umwendete u. s. w.? In der Geschichte zeigte Miß Mertens hier zu sentimentale, dort fast lächerlich spießbürgerliche Anschauungen und war bisweilen sogar so maßlos unverschämt, eine freie Ansicht zu haben. In solchen Fällen wurde die Stunde förmlich unterbrochen; die Frau Baronin setzte sich auf den Lehrstuhl, und die Gouvernante mußte eine mit Hohn, aristokratischem Hochmut und Bosheit gesättigte Vorlesung in Devotion anhören. Fühlte sich die Dame nicht sattelfest genug, so wurde Herr Kandidat Möhring zu diesem Gerichte herbeigerufen. Die Nadelstiche ihrer eigenen Vorträge aber verschwanden neben dieser Grausamkeit, die alle bisher unterdrückten Predigten, alle heimlich verschluckte Galle des vermeintlichen Märtyrers in einem unabsehbaren Redestrome auf die bedauernswürdige Gouvernante herabbeschwor. Die Baronin wußte, daß der Kandidat ein abscheuliches Französisch sprach; gleichwohl wurde er gebeten, solange er noch im Schlosse Lindhof sei, den Sprachstunden beizuwohnen, um die Aussprache der Lehrerin zu korrigieren . . . Wie Bella dabei fuhr, das kam bei solchen Anwandlungen von Bosheit nicht in Betracht.
Gar oft sagte Miß Mertens unter Thränen, nur die Liebe zu ihrer alten alleinstehenden Mutter bewege sie immer wieder, diesen Martern sich zu unterwerfen. Die alte Frau lebe fast nur von dem, was ihr die Tochter schicke, deshalb sei sie gezwungen, ein öfteres Wechseln der Stellung, der pekuniären Verluste wegen, zu vermeiden . . . So betrübt sie nun aber auch meist war, ihre sanften Züge hellten sich ganz gewiß auf, wenn Elisabeth den Kopf durch die Thür steckte und mit ihrer fröhlich frischen Stimme hereinrief, ob sie kommen dürfe. Mit dem Eintritte des jungen Mädchens flohen die Bekümmernisse und Sorgen, und wenn sie auf dem kleinen Sofa am Fenster dicht nebeneinander saßen, so fand ein Gedankenaustausch zwischen den beiden statt, bei dem die Gouvernante sich in die eigene Jugend zurückversetzt fühlte, und Elisabeth manchen Schatz hob aus den reichen Kenntnissen und Lebenserfahrungen der älteren Freundin.
Diese kleinen Nachmittagsbesuche hatten aber auch noch einen geheimen Reiz für das junge Mädchen, den sie sich aber um alles in der Welt nicht eingestand, obgleich sie infolge desselben schon vor der Thür ein starkes Herzklopfen zu bekämpfen hatte und ein unerklärliches Gemisch von Freude und Bangen empfand.
Die Fenster von Miß Mertens' Wohnung sahen in einen großen Hofraum, den Elisabeth den Klostergarten zu nennen pflegte, denn er lag so still und abgeschieden zwischen den vier hohen Mauern. Einige breitästige Linden warfen eine grüne Dämmerung auf die saftigen Rasenplätze, die nur hier und da ein gepflasterter Weg durchschnitt. Inmitten des Hofes befand sich ein Brunnen, der das Haus mit einem köstlichen Wasser versorgte; auf dem Rande des mächtigen Bassins ruhten die weißen Glieder einiger Sandsteinfiguren, umhaucht von dem grünen Lichte der Wipfel droben. Wenn draußen aus den Bosketts und Kieswegen die Nachmittagssonne glühend und träge lastete, wie flüssiges Blei, dann wehte hier unter den Bäumen eine erfrischende Kühle. Eine Thür im Erdgeschosse, die unmittelbar aus dem Arbeitskabinett des Herrn von Walde in den Hof führte, stand deshalb auch meist offen. Er selbst trat dann und wann heraus und schritt mit gekreuzten Armen auf und ab . . . Welcher Gedankenstrom mochte dann wohl hinter der schönen, bleichen Stirn fluten, wenn er, eine Zeitlang gesenkten Hauptes dahinwandelnd, plötzlich sich aufrichtete, wie aus einem lieblichen Traume aufgeschreckt? Miß Mertens sagte öfter, sie finde, daß er sehr verändert zurückgekehrt sei.
Vor seiner Reise, erzählte Miß Mertens, sei ihr Herrn von Waldes Gesicht vorgekommen, wie das einer Statue, so ernst und unbewegt, und obgleich sie schon damals erkannt habe, daß er ein durchaus edler Mensch sein müsse, sei sie doch stets in seinem Nähe von einer Eiskälte überschlichen worden. Jetzt käme es ihr vor, als habe eine lebenerweckende Hand über seine Erscheinung hingestreift; selbst sein Gang sei elastischer und rascher geworden, und sie wolle darauf schwören, daß bei seinen einsamen Wanderungen durch den Hof öfter ein Lächeln über seine Züge gleite, als tauche irgend ein Wesen vor ihm auf, dessen Anschauen ihn glücklich mache. Bei dieser Bemerkung lächelte Miß Mertens selbst und meinte geheimnisvoll, er habe auf alle Fälle sehr angenehme Erinnerungen mit heimgebracht, und sie könne die stille Ahnung nicht unterdrücken, als müsse binnen kurzem alles anders werden in Lindhof. Sie sah aber nie, daß ihre junge Freundin bei dieser Schlußfolgerung stets mit der Hand nach dem Herzen griff, und diese selbst bemerkte es noch viel weniger, denn der schmerzliche Stich, der schneidend ihr Inneres durchdrang, ließ sie ganz und gar vergessen, ihre äußeren Bewegungen zu beherrschen.
Die stillen Spaziergänge unter den Linden wurden aber auch öfter unterbrochen, und zwar durch die Leute, die irgend ein Anliegen vorzubringen hatten. Dann kamen die Arbeiter und Geschäftsleute, aber auch die Unglücklichen und Bedürftigen. Zagend schritten die letzteren, vom Bedienten angewiesen, die Stufen herab und standen dann meist mit gesenktem Kopfe vor der gebietenden Gestalt des Herrn, der sie mit milder Stimme aufforderte, zu sprechen, und sich gütig zu ihnen herabbog, um keines ihrer geflüsterten Worte zu verlieren. Sie verließen ihn stets gehoben und getröstet; denn diejenigen, die seiner Hilfe nicht würdig waren, wagten schon gar nicht, ihm unter die Augen zu treten.
Heute hatte Elisabeth ihre Wanderung ins Thal eine halbe Stunde früher angetreten. Der Vater war nämlich mittags, als er aus dem Forsthause zurückkehrte, Miß Mertens im Walde begegnet. Sie hatte sehr verweint ausgesehen und war augenscheinlich im Momente außer stande gewesen, zu sprechen, denn sie hatte ihm nur einen Gruß zugenickt und war rasch weiter gegangen. Diese Nachricht ließ Elisabeth keine Ruhe; um keinen Preis hätte sie mit ihrem Besuche bei der Gouvernante bis nach Beendigung der Stunde warten können; das arme einsame Wesen brauchte sicher Trost und ein Herz, an dem es sich ausweinen konnte.
Jenseits der großen Wiese, die an den Saum des Waldes stieß, lag ein allerliebster Pavillon. Ein dunkles Gebüsch umschloß den zierlichen Bau von drei Seiten und ließ die helle Fronte um so leuchtender hervortreten. Das kleine Haus hatte bisher verschlossen gestanden; die Läden waren jedoch meist zurückgeschlagen und durch den Spalt, den ein verschobenes Rouleau bildete, hatte Elisabeth gesehen, daß der innere Raum sehr elegant eingerichtet war. Als sie heute aus dem Walde trat, sah sie sogleich, daß die Thüren des Pavillons offen standen. Ein Bedienter mit einem leeren Präsentierteller trat heraus und winkte ihr, hinüber zu kommen. Beim Näherschreiten erkannte sie bald Fräulein vom Walde, die Baronin und Hollfeld, die den Kaffee tranken in dem einzigen Zimmer, aus welchem der Pavillon bestand.
»Sie kommen heute ein wenig zu früh, liebes Kind!« sagte Helene, als das junge Mädchen über die Schwelle trat.
Elisabeth sagte ihr, daß sie Miß Mertens zuvor einen Besuch machen wolle.
»Ach, lassen Sie das heute!« rief Helene lebhaft, aber sehr verlegen, während die Baronin mit einem unbeschreiblich maliziösen Lächeln von ihrer Häkelarbeit aufsah. »Wissen Sie, daß diesen Morgen ein großes Paket neuer Musikalien aus Leipzig angekommen ist?« fuhr Fräulein von Walde fort. »Ich habe sie schon ein wenig durchgestöbert, meist prächtige Sachen. Vielleicht finden wir noch eine brillante Piece für unser Konzert . . . Setzen Sie sich; wir gehen dann zusammen ins Schloß.« Sie bot Elisabeth ein Körbchen mit Kuchen und legte ihr eine schöne Birne auf den Teller.
Herrn von Waldes Hund sprang in diesem Augenblicke über die Schwelle. Sofort richteten sich beide Damen aus ihrer bisherigen Stelle auf. Helene blickte gespannt nach der Thür und gab sich offenbar die größte Mühe, so freundlich und harmlos wie möglich auszusehen. Die Baronin aber warf ihre Arbeit in den Korb; sie untersuchte die silberne Kaffeekanne, ob sie noch heiß sei, stellte eine Tasse nebst Zuckerschale zurecht und zog einen Stuhl aus der Ecke an den Tisch. Das impertinente Lächeln war verschwunden, dafür lagerte sich ein gewisser Ernst auf ihre Stirn, und die ganze Erscheinung präparierte sich, einen würdevollen und imposanten Eindruck zu machen. Hollfeld eilte beim Erblicken des Hundes sogleich hinaus in den Garten und trat nach wenigen Minuten mit Herrn vom Walde wieder ein, der, wie es schien, von einem Ausfluge zurückkam, denn er trug einen staubgrauen Ueberzieher und einen runden Filzhut.
»Wir haben schon gefürchtet, lieber Rudolf,« rief Helene ihm entgegen, während sie sich erhob und ihm die Hand hinreichte, »dich für heute ganz entbehren zu müssen.«
»Ich fand in L. mehr Geschäfte vor, als ich erwartet hatte,« erwiderte er und setzte sich nicht auf den ihm gebotenen Stuhl, sondern neben seine Schwester auf das Sofa, wodurch Elisabeth gezwungen wurde, sobald sie die Augen erhob, ihm in das Gesicht zu sehen, denn er saß ihr gerade gegenüber. »Uebrigens,« fuhr er fort, »bin ich schon seit einer halben Stunde wieder zurück; allein Reinhard hatte mir eine Privatangelegenheit mitzuteilen und verlangte eine sofortige Entscheidung von mir. . . deshalb wäre ich beinahe um das Vergnügen gekommen, den Kaffee bei der zu trinken, liebe Helene.«
»Der böse Reinhard,« schmollte Fräulein von Walde, »er hätte auch ein wenig warten können, die Welt würde ja wohl nicht gleich aus den Fugen gegangen sein.«
»Ach, liebes Kind,« seufzte die Baronin, »das sind Dinge, die wir nie ändern werden . . . Wir sein eben für unser ganzes Leben verurteilt, die Sklaven unserer Untergebenen zu sein.«
Herr von Walde wendete ruhig den Kopf nach ihr und ließ seinen Blick langsam über ihre Gestalt gleiten.
»Nun, weshalb fixierst du mich so angelegentlich, lieber Rudolf?« fragte die Baronin nicht ohne einen Anflug von Verlegenheit.
»Ich wollte mich nur überzeugen, ob du in der That geeignet seiest, eine jener traurigen Rollen in Onkel Toms Hütte durchzuführen.«
»Stets Spott, wo ich Teilnahme suche,« entgegnete die Dame, indem sie sich bemühte, ihrer spröden Stimme einen weichen trauervollen Klang zu geben. »Ich könnte es nun nachgerade wissen; allein . . .« sei seufzte abermals. »Nicht jeder hat übrigens deinen beneidenswerten Gleichmut, der die kleinen Bitterkeiten und notwendigen Uebel des Lebens an sich vorübergleiten läßt . . . Wir armen Frauen haben leider unsere unseligen Nerven, die uns jede Gemütserschütterung doppelt fühlbar machen . . . Hättest du mich heute morgen gesehen, in welch trostlosem Zustande ich war –«
»So?«
»Ich habe einen furchtbaren Aerger gehabt . . . Nun, diese Miß Mertens wird es dereinst verantworten müssen!«
»Hat sie dich beleidigt?«
»Welcher Ausdruck, lieber Rudolf! Wie könnte mich diese Person in ihrer Stellung beleidigen! . . . Erzürnt, auf das äußerste erbittert hat sie mich!«
»Nun, ich sehe mit großer Befriedigung, daß du dich nicht so leicht unter das Sklavenjoch beugen wirst.«
»Ich habe in der letzten Zeit unsäglich viel mit dieser albernen Person zu ertragen gehabt,« fuhr die Baronin fort, ohne den Einwurf ihres Kousins zu beachten. »Meine Mutterpflichten sind mir heilig und aus dem Grunde halte ich es für unumgänglich nötig, den Unterricht meines Kindes zu überwachen; denn es kann mir durchaus nicht gleichgültig sein, welche Richtung der jungen Seele gegeben wird . . . Leider mußte ich immer mehr finden, daß Miß Mertens' Wissen sehr mangelhaft, und ihre Anschauungsweise durchaus nicht derart ist, daß ich eine gleiche für ein junges Mädchen in Bellas Verhältnissen wünschen möchte . . . Heute morgen hörte ich, wie diese einfältige Mertens dem Kinde sagt, der innere Adel stehe weit über dem Adel der Geburt – als ob das zu trennen sei – sie stelle den Bettler, der ein reines Herz habe, höher, als ein gekröntes Haupt, das sündige, und dergleichen mehr . . . Wenn ich dir nun sage, daß Bella dereinst – so es im Ratschlusse des Herrn liegt – am Hofe leben wird – ich habe eine Hofdamenstelle in B. so gut wie in der Tasche für sie – dann wirst du begreifen, daß ich die Lehren der allzu freien Gouvernante unterbrach . . . Das mußt du mir doch zugeben, lieber Rudolf, daß Bella mit solchen Ansichten bei Hofe eine klägliche Rolle spielen und sich sehr bald unmöglich machen müßte.«
»Dagegen läßt sich nichts einwenden.«
»Nun, Gott sei Dank!« rief die Baronin aufatmend. »Ich war wirklich ein wenig in Sorge, wie du die Entlassung der Miß Mertens, die du wirklich weit über ihr Verdienst geschätzt hast, aufnehmen würdest . . . Die Person wurde dermaßen impertinent, als ich ihren Vortrag unterbrach, daß mir nichts anderes übrig blieb, als sie fortzuschicken.«
»Ich habe ganz und gar kein Recht, dir Vorschriften in bezug auf deine Leute zu machen,« entgegnete Herr von Walde kalt.
»Aber ich suche mich darin so viel wie möglich deinen Wünschen unterzuordnen, bester Rudolf . . . Ich kann dir übrigens nicht sagen, wie froh ich bin, daß ich dies unausstehliche englische Gesicht nicht mehr zu sehen brauche.«
»Es thut mir leid, aber ganz umgehen wirst du das doch nicht können, da sie mit dir hier in Lindhof stets unter einem Dache sein wird; denn Reinhard, mein Sekretär, hat sich vor einer halben Stunde mit ihr verlobt.«
Die Arbeit entsank den Händen der Baronin. Diesmal erschienen nicht nur die bekannten Flecken in vergrößerter Gestalt, sondern auch die Stirn war in eine dunkle Röte getaucht.
»Hat denn der Mensch seinen Verstand verloren?« rief sie endlich, aus ihrer Erstarrung erwachend.
»Ich glaube nicht; denn er hat ihn ja eben bewiesen,« entgegnete Herr von Walde gelassen.
»Nun, das muß ich sagen, er zeigt sich auch hier als Altertümler! . . . Welch eine jugendliche, blühend schöne Braut!« rief die Dame höhnisch und wollte sich totlachen. Hollfeld stimmte ein in das Gelächter und gab somit das erste Zeichen, daß er teilnehme an dem Gespräche. Helene warf ihm einen trüben Blick zu, Elisabeth aber schnitt dieses Lachen tief in die Seele, und sie fühlte etwas wie Zorn in sich aufwachen.
»Nun, ich hoffe,« nahm die Baronin wieder das Wort, »du wirst mir nicht zumuten, lieber Kousin –«
»Was denn?«
»Daß ich mit dieser Person noch länger zusammen sein soll.«
»Zwingen kann ich dich freilich nicht, Amalie, so wenig es in meiner Macht steht, meinem Sekretär das Heiraten zu verbieten.«
»Aber entlassen kannst du ihn, wenn er eine Wahl trifft, die deinen nächsten Anverwandten den Aufenthalt in deinem Hause verleidet.«
»Auch das kann ich nicht, denn er ist lebenslänglich bei mir angestellt, und ich habe soeben seiner zukünftigen Frau im Falle seines Todes eine Pension zugesichert . . . Uebrigens bist du doch ein klein wenig im Irrtum, beste Kousine, wenn du glaubst, es könne mich irgend etwas in der Welt bewegen, einen Menschen, den ich einmal als treu und zuverlässig erkannt habe, von mir zu lassen . . . Ich bin mit Reinhards Wahl vollkommen einverstanden und habe ihm die hübsche, große Erdgeschoßwohnung im nördlichen Flügel für alle Zeiten angewiesen . . . er wird auch seine Schwiegermutter zu sich nehmen.«
»Nun, ich gratuliere ihm zu dieser vortrefflichen Acquisition,« entgegnete die Baronin, und ihre scharfe Stimme wankte im verhaltenen Zorne. »Nur eines erlaube ich mir zu bemerken, ich kann es nicht über mich gewinnen, die Person auch nur einen Tag länger um mich zu dulden, mag sie sehen wo sie bis zu ihrer Hochzeit unterkommt . . . Hoffentlich wirst du einsehen, lieber Rudolf, daß die interessanten Brautleute unter den obwaltenden Umständen nicht unter einem Dache bleiben dürfen.«
»Wenn Sie mir erlauben wollen,« wendete sich hier Elisabeth an Helene, »so möchte ich meine Eltern bitten, die Braut aufzunehmen; wir haben Raum genug!«
»Ach ja, thun Sie das; besser könnte die Frage nicht gelöst werden,« antwortete Fräulein von Walde und reichte Elisabeth die Hand. Die Baronin schoß einen wütenden Blick auf Elisabeth.
»Nun, da wäre ja jetzt die Sache zur allseitigen Zufriedenheit geordnet,« sagte sie, mühsam ihre Fassung behauptend. »Ich bescheide mich und will in Demut abwarten, ob mir die zukünftige Frau Sekretärin ein Plätzchen übriglassen wird, wo ich vor ihrem widerwärtigen Anblicke sicher bin . . . Apropos, Fräulein Ferber,« fuhr sie nach einer Weile in leichtem Tone fort, »da fällt mir eben ein, daß Ihr Honorar für die Stunden bereits seit einigen Tagen in den Händen meiner Kammerfrau ist . . . klopfen Sie im Vorübergehen bei ihr an, sie wird Ihnen das Geld geben, samt Berechnung, die ich aber zu quittieren bitte.«
»Aber Amalie!« rief Helene, sich erschrocken aufrichtend.
»Ich werde Ihrem Befehle nachkommen, gnädige Frau,« entgegnete Elisabeth ruhig. Sie hatte bemerkt, wie bei den Worten der Baronin in Herrn von Waldes Auge ein zorniger Blick jäh aufgeflammt war; es hatte ausgesehen, als ob eine dunkle Wetterwolke über seine Stirn hinziehe; aber schon im nächsten Augenblicke waren diese Zeugen innerer Bewegung einem unbeschreiblich sarkastischen Ausdrucke gewichen.
»Wenn ich Ihnen raten soll, Fräulein,« wandte er sich an das junge Mädchen, »so wagen Sie sich nicht ohne weiteres in die Appartements der Frau Baronin – es geht dort um – ja, lächeln Sie nur, ich weiß es ganz genau. Böse Geister zeigen sich am hellen Tage, und ihr Thun und Treiben hat schon manches Unheil gestiftet . . . Kümmern Sie sich nicht weiter um die berührte Sache, mein Hausverwalter soll sie in Ordnung bringen; er ist zuverlässig und behandelt dergleichen Angelegenheiten mit so viel Takt, daß er darin selbst Damen beschämen könnte.«
Die Baronin rollte ihre Arbeit hastig zusammen und stand auf.
»Es wird gut sein, wenn ich für den Rest des Tages mein einsames Zimmer aufsuche,« wendete sie sich mit zuckenden Lippen an Helene. »Es gibt Augenblicke, wo man mit den harmlosesten Absichten und Worten verstößt und sich zu seinem Schmerze mißverstanden sieht . . . Ich bitte also, mein Nichterscheinen beim Thee zu entschuldigen.«
Sie machte eine zeremonielle Verbeugung vor den Geschwistern, ergriff den Arm ihres Sohnes, der sehr verlegen aussah, und rauschte zur Thür hinaus.
Helene erhob sich mit Thränen in den Augen und wollte ihr nachgehen, aber ihr Bruder faßte mit sanftem Ernste ihre Hand und zog sie wieder neben sich auf das Sofa.
»Willst du mir nicht wenigstens so lange Gesellschaft leisten, bis ich meinen Kaffee getrunken habe?« fragte er freundlich und so unbefangen, als sei nicht das mindeste vorgefallen.
»O ja, wenn du es wünschest,« antwortete sie zögernd und die Augen von ihm abwendend, »aber so leid es mir auch thut, muß ich dich doch bitten, ein klein wenig zu eilen, denn Fräulein Ferber ist zur Stunde gekommen und hat schon ungebührlich lange warten müssen.«
»Nun, dann wollen wir gleich gehen, aber ich mache eine Bedingung, Helene.«
»Und die ist?«
»Daß ich zuhören darf.«
»Nein, nein, das geht wirklich nicht . . : Ich bin noch zu weit zurück, deine Ohren würden die mangelhafte Stümperei nicht ertragen!«
»Armer Emil! . . . Er ahnet sicher nicht, daß er die Gunst, zuhören zu dürfen, seinen ungebildeten Ohren verdankt!«
Helene wurde dunkelrot. Sie hatte ihrem Bruder bisher nichts von Hollfelds Besuchen gesagt, aus leicht erklärlichen Gründen. Uebrigens war sie auch der Meinung gewesen, daß er darüber gleichgültig denken würde, und nun legte er, wie es schien, Gewicht darauf. Sie kam sich vor, wie eine ertappte Lügnerin, und war im ersten Augenblick sprachlos. Elisabeth ahnte, was in ihr vorging; sie wurde mit ihr verlegen und fühlte, wie ihr plötzlich eine Purpurglut in das Gesicht stieg. In diesem Momente wandte Herr von Walde den Kopf nach ihr; ein forschender, scharfer Blick flog über ihr Gesicht, und zugleich erschien eine finstere Falte zwischen den Augenbrauen.
»Spielt Fräulein Ferber auch ihre Phantasien in diesen sogenannten Uebungsstunden?« fragte er rascher als gewöhnlich seine Schwester.
»O nein,« entgegnen diese, froh, ihre Fassung wiedergewonnen zu haben, »dann würde ich doch wahrhaftig nicht von Stümperei sprechen . . . Ich habe Emil auch nur den Zutritt gestattet, weil ich denke, man müsse die erwachende Liebe zur Musik pflegen, wo man sie finde.«
Ein leises Lächeln glitt über Herrn von Waldes Gesicht, aber es war nicht jenes Lächeln, das neulich einen so eigentümlichen Reiz für Elisabeth gehabt hatte. Die finstere Falte verschwand nicht, und auch sein Auge hatte etwas Düsteres, als er das junge Mädchen abermals durchdringend ansah.
»Du hast recht, Helene,« sagte er endlich kalt und nicht ohne einen Anflug von Spott. »Aber welcher Magnet muß in diesen musikalischen Uebungen liegen, daß solche Wunder geschehen . . . Noch vor ganz kurzer Zeit hörte Emil das Gebell seiner Diana lieber, als die Beethovenschen Sonaten.«
Helene schwieg und senkte die Augen.
»Da fällt mir eben die arme Miß Mertens ein,« nahm ihr Bruder plötzlich in gänzlich verändertem Tone wieder das Wort. »Wäre es nicht zweckmäßig, wenn Fräulein Ferber vor allem diese Angelegenheit in Ordnung brächte?«
»Ei freilich,« entgegnete Helene, den Gedanken mit Hast ergreifend, denn er gab ja dem peinlichen Gespräche eine andere Wendung. »Wir wollen lieber die Stunde für heute streichen, damit Sie, liebes Kind,« wendete sie sich an Elisabeth, »die nötigen Schritte thun können . . . Gehen Sie also jetzt zu Ihren Eltern und bitten Sie auch in meinem Namen um Aufnahme der armen Miß.«
Elisabeth erhob sich. Zu gleicher Zeit stand auch Helene auf. Als ihr Bruder bemerkte, daß sie den Pavillon verlassen wolle, schlang er rasch seine Arme um die kleine Gestalt, hob sie wie eine Feder vom Boden auf und trug sie hinaus auf den Rollstuhl, der vor der Thür stand. Nachdem er die Kissen stützend hinter ihrem Rücken geordnet und ihre kleinen Füße sorgsam mit einem Shawl bedeckt hatte, lüftete er den Hut leicht vor Elisabeth, wobei sie bemerken mußte, daß sich die Wolke zwischen den Brauen noch nicht verzogen hatte, und schob den Rollstuhl auf den nächsten Weg, der nach dem Schlosse führte. –
»Sie muß doch seine ganze Seele ausfüllen,« dachte Elisabeth, als sie den Berg hinaufstieg, »und Miß Mertens irrt sich bedeutend, wenn sie glaubt, er werde ein anderes weibliches Wesen je neben oder wohl gar über seine Schwester stellen . . . Er ist eifersüchtig auf seinen Vetter, und leider mit vollem Rechte . . . Wie ist es nur möglich,« hier stand sie still, denn zwei Männer gestalten erhoben sich vor ihrem inneren Auge, »daß ein Mensch wie Hollfeld neben Herrn von Walde Bedeutung gewinnen konnte für Helene?« . . . Jener, der sich hinter einer bedeutungsvoll scheinenden Schweigsamkeit verschanzt, weil er in der That nichts zu sagen weiß, und dieser, durch dessen edle äußere Ruhe ein Feuergeist blitzt, ein unerschöpflicher Quell von Gedanken, der jedoch gebändigt und geleitet wird durch einen mächtigen Willen . . . Daher diese maßvolle äußere Haltung, die gewöhnlichen Naturen stets unverständlich bleiben wird.«
Es fiel ihr wieder ein, daß Herr von Walde sie ganz besonders fixiert hatte, als sein Verdacht wach geworden war . . . Hielt er sie für eine Mitschuldige, für eine Vertraute seiner Schwester? und warf er nun auch seinen Groll auf sie, die doch am lebhaftesten wünschte, Herr von Hollfeld möge seiner plötzlich erwachten Passion für die Musik so schnell wie möglich wieder untreu werden? . . . Das konnte sie freilich niemand, am allerwenigsten aber Herrn von Walde sagen, und mußte somit schmerzlich büßen für das abscheuliche Erröten, das gerade in einem verhängnisvollen Augenblicke, so ganz zur Unzeit und ohne jeglichen vernünftigen Grund, ihr Gesicht überflammt hatte.