Eugenie Marlitt
Reichsgräfin Gisela
Eugenie Marlitt

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32

Während die junge Reichsgräfin Sturm das weiße Schloß und den aristokratischen Boden für immer verließ, ging der Minister in seinem Arbeitszimmer auf und ab – es sah aus, als zermartere der Mann sein Gehirn nach einem einzigen klaren Gedanken. Das Haar, das sonst einen glatten Bogen über die Stirn beschrieb, fiel wirr durcheinander – die Hand fuhr dann und wann, ganz gegen die Gewohnheit des eine tadellose Außenseite streng festhaltenden Diplomaten, in grimmiger Hast durch die parfümierten, graugesprenkelten Strähnen.

Endlich warf er sich erschöpft an den Schreibtisch und begann zu schreiben. Die schöne, junge Braut mit den großen Taubenaugen und den Feldblumen in den Händen lächelte fort und fort von der Wand hernieder auf den Mann, dem allmählich leichte Schweißperlen auf die wachsbleiche Stirn traten, während die Zähne wie im Fieber hörbar zusammenschlugen und die Hand, die sonst einem eisernen Willen auch in eisern starren, festen Linien gehorchte, krause, unsichere Hieroglyphen auf das Papier warf.

Schon nach wenigen Zeilen schleuderte er die Feder weit von sich, nahm den Kopf zwischen die Hände und rannte abermals in unbeschreiblicher Aufregung hin und her... War es doch, als scheue er sich vor dem zierlichen Tisch dort vor dem Fenster, der einen kleinen Mahagonikasten auf seiner runden Platte trug. Das Tischchen stand immer auf derselben Stelle, seit Baron Fleury das weiße Schloß sein eigen nannte und nach seinem Geschmack eingerichtet hatte, und der Mahagonikasten war der unzertrennliche Reisebegleiter Seiner Exzellenz und befand sich auch im Bureau des Ministerhotels zu A. stets in seiner Nähe. Während aber jetzt sein Fuß dem unscheinbaren Möbel sichtbar auswich, glitten die scheuen Augen immer wieder hinüber, als zucke aus dem kleinen Kasten ein magnetisch bezaubernder Schlangenblick...

Und mit jeder vorüberrollenden Viertelstunde, welche die Uhr mit seinem silbernen Klange unerbittlich pünktlich anzeigte, verdoppelten sich die Schritte des Auf- und Abwandernden, bis er plötzlich, wie mittels eines gewaltsamen Ruckes, halb atemlos vor dem Tischchen stehen blieb und mit hastigen, unsicher tappenden Händen den Kasten aufschloß... Er sah nicht hinein in das kleine, elegant ausgestattete Viereck – seine Augen irrten über den türkischen Fenstervorhang, wie wenn sie die orangegelben Arabesken zählen müßten, während seine Rechte einen Gegenstand ergriff und in die Brusttasche gleiten ließ.

Diese einzige Bewegung gab plötzlich der haltlos zusammengebrochenen Erscheinung des Mannes einen Anschein von Entschlossenheit zurück... Er schritt nach der Tür. Auf der Schwelle wandte er sich noch einmal um – durch die klaffende Tür und das schräg gegenüberliegende geöffnete Fenster fuhr der Nachtwind und jagte die Flamme aus der auf dem Schreibtisch stehenden Kugellampe – sie züngelte nahe am Vorhang hin.

Der Minister stieß ein leises, hämisches Lachen aus; er verfolgte einen Augenblick die Flammenzunge, wie sie sich reckte und streckte und, um wenige Linien zu kurz, vergeblich an dem Stoff zu lecken versuchte – unwillkürlich streckte er die Hand aus, als müsse er ihr zu Hilfe kommen – bah, wozu? Das Schloß war zu einer enorm hohen Summe versichert, und die drunten tanzten, waren längst entflohen, bis die Flammen an den Deckenbalken fraßen und die Kronleuchter hinunterschleuderten!...

Er schloß die Tür leise und glitt auf den Zehen durch mehrere anstoßende Zimmer. Vor dem Gemach seiner Gemahlin blieb er stehen und drückte das Ohr an die Türspalte – leise Klagelaute drangen heraus... Jetzt kam die namenlose Verzweiflung, die er bisher noch niedergedrückt und verbissen hatte, zum Ausbruch und packte und schüttelte den lauschenden Mann. – Die Frau, die da drin so schmerzlich weinte, war sein Abgott, das einzige Wesen, das er je geliebt, und das ihn, den alternden Mann, noch jetzt mit ungeminderter, glühender Leidenschaft erfüllte.

Bis zur Unkenntlichkeit entstellt in seiner Erscheinung, drückte er geräuschlos die Tür auf und blieb auf der Schwelle stehen.

Da lag die schöne Titania auf ein Ruhebett hingestreckt. Sie hatte das Gesicht tief in die Kissen eingewühlt, über Busen und Rücken wogte das entfesselte, nachtschwarze Haar, und die weißen, bis an die Schultern entblößtem Arme hingen wie leblos über die atlasgepolsterte Lehne des Ruhebettes hinab – nur die kleinen Füße hatten offenbar nichts von ihrer Energie eingebüßt; sie standen auf dem zu Boden geschleuderten brillantenen Fuchsienkranz und schienen ihn in Atome zertreten zu wollen.

»Jutta!« rief der Minister.

Bei diesen markerschütternden Lauten fuhr sie empor, wie von der Tarantel gestochen. Mit einer wilden Gebärde schüttelte sie das niederflutende Haar aus dem Gesicht und stand plötzlich auf ihren Füßen – das Bild einer entfesselten Furie.

»Was willst du bei mir?« schrie sie auf. »Ich kenne dich nicht! Ich habe nichts mit dir zu schaffen!« Sie deutete nach der Richtung des Salons, wo sie den Fürsten wußte, und stieß ein grauenhaftes Gelächter aus. »Ja, ja, die Wände haben Ohren gehabt, mein Herr Diplomat, und ich genieße das Vorrecht, das große Staatsgeheimnis um einige Stunden früher zu wissen, als das staunende Publikum!... Die Hölle kann ihre Qualen nicht raffinierter ersinnen, als ich sie dort drüben, hinter der Tür durchlitten habe!« Ihre Mundwinkel bogen sich in vernichtendem Hohne niederwärts. »Exzellenz, es war mir sehr überraschend zu hören, daß Sie das Fürstenhaus so reizend getäuscht haben!... Und da liegt die Herrlichkeit« – sie stieß mit dem Fuße verächtlich nach dem Fuchsienkranz –, »mit der Sie ›Ihren Abgott‹ zu schmücken beliebten!... Wie sie wohl alle jubeln und triumphieren werden, die boshaften Neider, bei der unschätzbaren Entdeckung, daß sich die Diamantenfee in lächerlicher Unwissenheit mit Rheinkieseln und böhmischem Glas bestreut hat!«

Die kleinen Hände der halb wahnwitzigen Frau wühlten in den Haarmassen, die von den Schläfen niedersanken.

Der Minister ging schwankenden Schrittes auf sie zu – sie floh und stieß mit den Händen nach ihm.

»Du wirst dich nicht unterstehen, mich zu berühren!« drohte sie. »Du hast keine Rechte mehr an mich!... Oh, wer mir die verlorenen elf Jahre zurückgäbe!... Ich habe meine Jugend, meine Schönheit an einen Dieb, an einen Fälscher, an einen Bettler verschleudert!« –

»Jutta!«

In diesem Augenblick fand der Mann seine Haltung wieder. Es war noch einmal die überlegene Ruhe des allmächtigen Ministers, mit der er Schweigen gebietend der Frau die Rechte entgegenstreckte.

»Du bist wieder einmal sinnlos vor Leidenschaft«, sagte er streng. »Ich habe dich in solchen Momenten stets wie ein verzogenes, unartiges Kind behandelt, dem man Muße läßt, sich auszuschreien. Dazu bleibt mir jetzt keine Zeit.« – Er verschränkte mit scheinbarer Gelassenheit die Arme über der Brust. »Wohl, du hast recht« – fuhr er fort –, »ich habe gefälscht und betrogen – ich bin ein Bettler! Es bleibt uns nicht einmal das Kopfkissen, um das Haupt darauf zu legen, wenn sie alle kommen werden, die verbriefte Rechte an mich haben... Nie hast du einen Vorwurf, ein Bedenken von mir gehört; aber wenn du diese Stunde lediglich dazu benutzest, mich zu schmähen, dann muß ich dir auch sagen, für wen ich mich ruiniert habe... Jutta, denke zurück und überzeuge dich, daß du mit jedem Jahr unserer Ehe mehr deine Ansprüche bis ins Maßlose gesteigert hast – selbst die Fürstin konnte zuletzt mit deinem glanzvollen Auftreten nicht mehr Schritt halten... Ich habe ohne Widerrede stets herbeigeschafft, was du begehrtest – ich habe deine Hände buchstäblich im Gold wühlen lassen. Meine unselige, blinde Liebe zu dir hat mich zum gefügigen Werkzeug deiner schrankenlosen Verschwendungssucht gemacht... Es klingt geradezu kindisch und lächerlich, wenn du die elf Jahre unserer Ehe als verloren beklagst; sie haben dir Gelegenheit gegeben, das Leben mit seinen Genüssen bis auf die Neige auszukosten; und daß du das gründlich verstanden hast, kann ich dir mit meinem Soll und Haben erschöpfend beweisen.«

Die Baronin hatte bis dahin mit abgewendetem Gesicht in einer fernen Fensternische gestanden. Jetzt fuhr sie herum; die dämonisch schönen Augen funkelten in tiefster Gereiztheit und Rachsucht.

»Ach, du kannst es ja ganz vortrefflich, das alte Lied, das auch die zuvorkommende Welt stets anstimmt, wenn ein Haus zusammenbricht: ›Die Frau ist schuld!‹ lachte sie auf. »Schade, mein Freund, daß ich so oft zugegen war, wenn du in Baden-Baden oder in Homburg, oder wie sie alle heißen mögen, die verführerischen grünen Tische, Unglück zum Verzweifeln hattest!... Ich habe mich bei dergleichen Gelegenheiten stets mit Befriedigung überzeugt, daß auch deine Hände vortrefflich im Golde zu wühlen verstanden; aber willst du etwa leugnen, daß du zu allen Zeiten ein notorischer Spieler gewesen bist?«

»Es fällt mir nicht ein zu leugnen oder auch nur noch eine Silbe zu meiner Verteidigung zu verlieren... Wer, wie ich, im Begriff ist, einen dunklen Weg anzutreten –«

»Jawohl, dunkel, dunkel!« unterbrach sie ihn und trat um einen Schritt näher an ihn heran. »Mit der Exzellenz ist's freilich aus und vorbei,« zischte sie. »Baron Fleury steigt herab von seiner Höhe und betritt den einzigen Weg, der ihm übrig bleibt, die Laufbahn des – Croupiers!«

»Jutta!« stieß er hervor. Er ergriff die weißen Arme, die die Wonne seiner Augen gewesen waren, und schüttelte sie ingrimmig.

Sie riß sich los und flüchtete nach einer Tür, aber ihre zurückgewendeten Augen hingen mit unverhohlenem Abscheu an den Händen, die sie zum erstenmal schonungslos gepackt hatten.

»Du sollst mir nicht mehr nahe kommen – mir graut vor dir!« rief sie hinüber. »Du fängst es schlau an! Indem du mir die Schuld aufbürdest, willst du mich zwingen, in Gemeinschaft mit dir ihre Folgen zu tragen!... Aber täusche dich nicht! Ich werde dir niemals in die Schande, die Dunkelheit und den Mangel folgen!... Ich habe dir gegenüber keine Pflichten mehr – sie sind erloschen in dem Augenblick, da du als ehrlos entlarvt wurdest... Wenn etwas in diesen furchtbaren Stunden mich mit Genugtuung erfüllt, so ist es das Bewußtsein, daß ich dir geistig niemals verwandt gewesen bin – ich habe dich nie geliebt!«

Das war der letzte Schlag für den von der Sonnenhöhe einer beneideten Lebensstellung, eines angemaßten Glückes in den tiefsten Abgrund hinabstürzenden Mann – es konnte keiner mehr kommen; aber auch keiner konnte sich in der Wirkung mit den letzten wenigen Worten messen, die der rote Frauenmund so unbarmherzig hinwarf.

Der Minister taumelte nach der Tür zu, als wolle er das Zimmer verlassen, allein die Füße schienen ihm treulos zu werden – er lehnte sich mit bedecktem Gesicht an die Wand.

»Du hast mich, trotz aller deiner Schwüre und Beteuerungen, nie geliebt, Jutta?« fragte er nach einem minutenlangen tödlichen Schweigen in das Zimmer zurück.

Die Frau schüttelte mit einer Art von wildem Triumph energisch den Kopf.

Er stieß ein bitteres Hohnlachen aus.

»O Weiberlogik!... Diese Frau setzt sich hoch auf den Richterstuhl strenger Tugend; sie stößt den Betrüger erbarmungslos von sich und gesteht dabei mit liebenswürdiger Naivität ein, daß sie ihren Mann auf die empörendste Weise elf Jahre lang betrogen und – am Narrenseil herumgeführt hat!... Geh, geh, auch du wirst Karriere machen! Noch liegen einige gerettete Jahre der Jugend und Schönheit vor dir; aber das Ende dieser Karriere – nun, ich will diskreter sein als du und diesen Wänden nicht erzählen, wie die Karriere der Frau Baronin Fleury, Exzellenz, schließlich verlaufen wird!«

Er ging zur Tür hinaus; aber beim Schließen derselben warf er noch einen Blick in das eben verlassene Zimmer. Die Frau hatte sich wieder auf das Ruhebett geworfen – sie sah geknickt, innerlich zerbrochen aus; nie war sie hinreißender gewesen, als in diesem Augenblick. Das glühende Gefühl für das schöne Weib überwog alle anderen Leidenschaften, die im Innern dieses gefährlichen Mannes wühlten; er vergaß, daß in den wunderbaren Körperformen dort eine erbärmliche Seele wohnte, er vergaß, daß dieses begehrliche, unersättliche Herz nie für ihn geschlagen hatte – er kehrte stürmisch in das Zimmer zurück.

»Jutta, gib mir deine Hand und sieh mich noch einmal an,« sagte er mit brechender Stimme.

Sie verschränkte die Arme fest unter dem Busen und drückte sie und das Gesicht tief in die Polster.

»Jutta, sieh auf – wir gehen für immer auseinander!«

Die Gestalt regte sich nicht – kaum daß man das Heben und Sinken der atmenden Brust sah.

Er biß in wildem Schmerz die Zähne zusammen und verließ das Zimmer. Wie vorher auch, glitt er geräuschlos durch den Korridor, dann stieg er die Treppe hinab. Stimmen, die zu ihm heraufdrangen, hemmten seine Schritte; er bog sich über das Treppengeländer und sah drunten auf einem Treppenabsatz drei Herren, die glücklichen Besitzer des Kammerherrnschlüssels, stehen. Sie hatten verstörte Gesichter und sprachen in gedämpftem Tone – trotzdem konnte der Minister jedes Wort verstehen.

»Also, meine Herren,« sagte einer dieser würdigen Kavaliere, indem er den weißen, knappen Handschuh über die fette Hand zog und sorgsam zuknöpfte – »ich werde jetzt dem Befehle unseres Allerhöchsten zufolge in den Saal zurückkehren und mit möglichst unverfänglicher Miene die Honneurs machen – ein blutsaures Geschäft, wenn man einen ganzen Sack voll schlimmer Neuigkeiten bei sich hat!... An und für sich ist es eine Lächerlichkeit, daß der Fürst für heute noch um jeden Preis den Skandal vertuschen will – morgen läuft er doch von Mund zu Mund. – Herrgott, den Aufruhr in unserer guten Residenz will ich sehen – das gibt einen Eklat!... Meine Herren, was habe ich Ihnen immer gesagt? Habe ich recht gehabt, oder nicht? Er war ein Halunke durch und durch, und so schmerzlich ich auch den Fürsten bedaure, es kann ihm doch ganz und gar nicht schaden, zu erkennen, welch sauberem Patron der alte, angestammte Adel sich so lange hat unterordnen müssen.«

Die Herren nickten bekräftigend und verschwanden nach verschiedenen Richtungen.

»Oh, mein Herr von Bothe, Sie wären samt Ihrem alten, angestammten Adel verhungert, wenn ich nicht war!« murmelte der Minister grimmig zwischen den Zähnen, während er weiter hinabstieg. »Bah, wir sind quitt – Sie waren das unverdrossenste, bereitwilligste Werkzeug, das mir je zu Gebote gestanden hat!«

Er durchschritt einen langen, einsamen Gang und trat hinaus in den Hofraum. Da lief die Stallbedienung eilig durcheinander; man zog die Pferde aus den Ställen und rollte den Wagen des Fürsten aus der Remise.

»Du, ich glaub's nicht mit dem reitenden Boten«, sagte einer der Männer zu einem anderen in dem Augenblick, als der Minister ungesehen an ihnen vorüberschlüpfte. »Ich bin doch nicht blind und nicht taub, und so ein reitender Bote kann doch auch nicht durch die Luft fliegen.«

»Blind und taub bist du freilich nicht; aber geschlafen hast du wie eine Katze. Ich sage dir, der Bote aus A. ist dagewesen – der gnädige Herr von Bothe hat mir's selbst vorhin gesagt – der Fürst soll gleich zur Fürstin kommen – es wär' was passiert.«

Der Minister schritt mit rückwärts gekreuzten Händen durch die Alleen des Schloßgartens... Das gellte und jubelte und schmetterte aus dem Saal hernieder, und die Kerzen flammten, die man noch angezündet hatte auf den Wink des Mannes, der jetzt als Bettler heimatlos drunten umherirrte.

Und nun rollte der fürstliche Wagen vor. Mit möglichster Vermeidung allen Geräusches und Aufsehens erschien die schmächtige Gestalt des Fürsten, umgeben von den flüsternden Herren seines Gefolges, in der Halle.

Bei diesem Anblick ballte der tiefgefallene Mann in der dunklen Allee die Fäuste und schlug sie wild und wiederholt gegen die Brust.

Der Wagen rollte davon, und die Musik droben machte auch eine Pause – es wurde für einen Augenblick totenstill im ganzen weiten Garten. Noch einmal scholl das donnernde Gepolter der fürstlichen Equipage herüber – sie fuhr über die Brücke –, das war das Ende der »glänzenden Genugtuung«, die der Fürst seinem Günstling »den Schreiern« gegenüber geben wollte...

Seltsam – hatte der gewandte, elegante Kavalier seine schwierige Mission doch nicht mir der gewohnten Meisterschaft durchgeführt, oder war die tanzende Menge da oben bereits zu aufgeklärt, um sich eine »Hoflüge« aufbinden zu lassen?... Wagen auf Wagen fuhr vor, und die geschmückten Gestalten schlüpften scheu und eilig hinein, als gelte es Flucht, schnelle Flucht...

Die Klänge des Orchesters erbrausten abermals – sie hallten fast schauerlich von den Wänden des geleerten, mächtigen Saales wider, und die wenigen tanzenden Paare flogen an den Fenstern hin, wie die letzten verlorenen Seelen eines bacchantischen Festes, die sich an der überschäumenden Lust nicht satt trinken können.

Der Minister schritt weiter und weiter. Sein Fuß verirrte sich immer tiefer in die abgelegenen Boskette des Schloßgartens, die in künstlich erhaltener Wildnis die tiefste Ruhe atmeten, kaum daß ein aufgescheuchter, schlaftrunkener Vogel durch die Zweige flatterte oder der Nachtwind hoch oben durch die Ulmenkronen strich... Jetzt wurde es lebendig in dieser Todeseinsamkeit – ächzende Seufzer entflohen den Lippen eines furchtbar aufgeregten Menschen; in wilder Hast wühlte er sich durch pfadloses Gebüsch, die gewaltsam niedergebogenen Zweige knackten und schlugen rauschend zurück in das Gesicht des nächtlichen Störers...

Halbverloren taumelten noch einzelne Klänge der Ballmusik herüber, dann verstummten auch sie, und jetzt, mit dem letzten zwölften Schlag, den das Neuenfelder Turmglöckchen zitternd verhallen ließ, rollte und donnerte es noch einmal von ferne – das war der letzte Wagen, der von dannen fuhr.

Das Auge des Ministers richtete sich starr auf den feurigen Würfel des Schlosses, der noch einen kurzen Moment feenhaft durch das flüsternde Laub flimmerte... Da sanken die Kronleuchter des Saales, und geschäftige Hände löschten Kerze um Kerze, die einem schauerlich gestörten Fest geleuchtet hatten. Die langen, strahlenden Linien der Korridore verschwanden spurlos in der Nacht – ein Licht um das andere versank – dort huschte noch eins hin und wider, es lief mit dem Feuerwächter, der seine Runde machte... da erlosch es – und mit ihm fiel ein Schuß in den abgelegenen Bosketten des Arnsberger Schloßgartens...

»Da wildert einer«, sagten die aufgeschreckten Schläfer in Neuenfeld, drehten sich um in ihren Betten und schliefen weiter den Schlaf des Gerechten...

 

Es war im Monat September. Der erste herbe Hauch des Herbstes mischte sich in die Sommerlüfte und betupfte die Waldwipfel hier und da mit schwachrötlichen Tinten und einem leichten Goldduft. Tief im geschützten Herzen des Waldes aber hielt sich noch die volle, wonnige Sommerwärme versteckt; sie lag auf dem kräftig wuchernden Rasen, der den Kiesplatz vor dem Waldhause einfaßte, und bestreute ihn unermüdlich mit Blumenglocken. Und die Blätter der Aristolochia lagen so breit und glänzend und zuversichtlich auf dem grauen Mauerwerk, als könne nie eine Zeit kommen, wo sie sich schmerzlich zusammenkrümmen und als unscheinbare Mumien auf den Atem der Winterstürme die traute Wohnstätte verlassen würden.

Sie waren übrigens heute nicht der einzige Schmuck des Waldhauses. Über der Terrasse, einen Turm mit dem anderen verbindend, schwebten Blumengewinde, und auch die gewaltige eichene Haupttür, die in die Halle führte, umsäumte eine dicke Eichenlaubgirlande. Selbst auf den lockigen Köpfen der steinernen Edelknaben lagen Efeukränze, und lange blätterreiche Brombeerranken wanden sich um die Jagdhörner, in denen das Halali versteinert schlief. Diese seltsame Ausschmückung hatte »Pfarrers Röschen« durchgesetzt – »die armen Männer« sollten doch auch ihre Freude haben.

Noch festlicher geschmückt aber erschien das traute Haus innen. Wohin der Blick fiel, in Girlanden und Vasen, selbst auf den Steinfliesen der Halle lachten und strahlten die bunten Häupter der Georginen, Astern und Spätrosen, und aus der geöffneten Tür des südlichen Turmzimmers wehten die Düfte der vornehmen Heliotropen.

Wir haben das Turmgemach zu verschiedenen Zeiten gesehen: jetzt hat es sich abermals eine Umwandlung gefallen lassen müssen – es ist das Wohnzimmer einer jungen Frau geworden. Weiße Mullvorhänge schweben vor den hohen Fenstern und nehmen dem Zimmer sofort den düsteren Charakter. Helle bequeme Möbel, wohlgefüllte Blumentische stehen an den Wänden, und auf dem Fußboden liegt ein dicker, warmer Smyrnateppich. In einer der tiefen Fensternischen, vor dem gestickten Lehnstuhl, steht ein Nähtisch, und darüber hängt ein blanker Messingkäfig mit kleinen, buntgefiederten brasilianischen Vögeln... An den Hauptwänden hängen sich zwei große Ölbilder gegenüber – ein schönes, junges Mädchen, das Feldblumen im Schoße und in den schlanken, weißen Händen hält, sieht mit den großen, glückseligen Taubenaugen hinüber in das Gesicht des jungen Mannes, dem der prächtige Vollbart blond vom Kinn niederwallt und der in den über der Nasenwurzel zusammengewachsenen Brauen den Stempel des Unglücks, eines traurigen Schicksals trägt. Um beide Bilder legen sich Blumengewinde frisch und glänzend und hauchen einen schwachen Lebensodem über die jugendlichen Gestalten, die längst unter der Erde schlafen.

Was alles wußte heute die geschwätzige Fontäne vor dem Waldhause zu erzählen!... Der Mann mit der majestätischen Rittergestalt, der dort hauste, hatte heute in der Abendstunde neben »dem schönen, blonden Mädchen im blauen, wallenden Gewande« gestanden – nicht in der fein ehrbaren Weise, wie sie der Brauch und das Herkommen vorschreiben – nein, sein starker Arm hatte fest und innig die zusammenschauernde, schlanke Gestalt umschlungen in dem Augenblicke, als die Abendsonne golden durch das Fenster der Neuenfelder Dorfkirche auf sein und des Mädchens Haupt gesunken war und der Pfarrer mit ergreifenden Worten den Bund ihrer Herzen eingesegnet hatte... Dann waren sie still und glücklich, nur zu zweien durch den Wald gewandelt, und der Mann hatte sein junges Weib buchstäblich über den blumenbestreuten Kiesplatz in sein Haus getragen.

Bertold Ehrhardt hatte in einer fast fieberhaften Angst seine möglichst rasche Vereinigung mit Gisela betrieben. Der Pfarrerin gegenüber war ihm das Geständnis entschlüpft, daß ihm das schreckliche Schicksal seines Bruders, der Verrat, den ein Weib an ihm geübt, einen unauslöschlich schlimmen Eindruck gemacht habe – er würde nicht eher ruhig sein können, bis er sein unschuldiges Mädchen in das Waldhaus gerettet habe... Nie durfte die Witwe des Barons Fleury in seiner Gegenwart genannt werden. Sie selbst machte aber auch im Lande nicht mehr von sich reden – sie hatte sich mit der kleinen Pension, die ihr der Fürst gewährte, nach Paris zurückgezogen... Auch Frau von Herbeck war aus der Gegend verschwunden. Sie bezog ein Jahrgeld von Gisela und lebte vergessen in einer kleinen Stadt »ihren Erinnerungen«.

Am Hofe zu A. erregte die Wahl der jungen Sturm gewaltiges Aufsehen. Der Fürst konnte einige Nächte nicht schlafen über den Gedanken, daß der Portugiese abermals die Axt an die Wurzeln des hochfürstlichen Prinzips lege, indem er vor aller Augen beweise, daß eine geborene Reichsgräfin Sturm eine schlichte Frau Ehrhardt werden könne, ohne daß die Welt darüber aus den Fugen ging.

Das Resultat dieser schlaflosen Nächte war eine geheime Mission, die er in die Hände der Frau mit der feinen Zunge und den klugen, scharfen Augen vertrauensvoll niederlegte. Die Gräfin Schliersen machte eines Tages der Braut einen Besuch im Pfarrhause und ließ den anwesenden Bräutigam mit ausgesuchter diplomatischer Feinheit merken, daß der Fürst »den ersten Industriellen« seines Landes durch das Adelsdiplom auszuzeichnen gedenke... Mit derselben ausgesuchten Feinheit vergoldete »der starrköpfige Portugiese« seine Antwort – der bittere Kern aber, der trotz alledem geschluckt werden mußte, ließ sich nicht anders übersetzen, als: Der also Beehrte gehöre nicht zu denen, die den Adel so lange bekämpften, als sie ihn nicht selbst besäßen. Die Neuzeit habe derartige Renegaten genug aufzuweisen, die unter dem Motto: »Nur im Interesse meiner Kinder« sich selbst wieder zu Stützen und Bausteinen einer altersmorschen Institution machten, die sie vorher bespöttelt und verlacht hatten. Er finde an seinem Namen nichts auszusetzen und wünsche ihn nicht zu verändern.

Die Diplomatin kehrte unverrichteter Dinge nach A. zurück. Übrigens erhielt die Braut sehr bald einen Beweis, daß sich die fürstliche Ungnade nicht auch auf sie erstreckte. Unter der Petition der Neuenfelder Gemeinde, die um Belassung ihres Pfarrers im Amte bat, hatte auch der Name »Gisela, Gräfin Sturm« gestanden. Man behauptete allgemein, diese Unterschrift sei schwer ins Gewicht gefallen – die Neuenfelder behielten ihren Pfarrer...

Eine leichte Dämmerung webt bereits um das Waldhaus. »Der Portugiese« hält sein junges Weib umschlungen und tritt mit ihr heraus auf die Terrasse. Noch fließt der Brautschleier von ihrem Haupt, und auf der weißen Stirn liegen die zartgebogenen Myrtenblätter. Mit zurückgeworfenem Kopf sieht sie unverwandt in das schöne Antlitz dessen, der sie hier im tiefen, dämmernden Wald gleichsam einmauern will... Wie leuchtet dieses Antlitz!... Der Mann, hinter dem eine düstere Vergangenheit voller Kämpfe und Schmerzen liegt, steht am himmlischen Ziel. Sein höchstes Kleinod hält er in den Armen. Er steht auf einer Art Oase im Weltgetriebe. Draußen lauert das protestantische Papsttum und schlägt mit Ruten auf die Geister, die sich aufwärts bäumen, und hier, in seiner selbstgeschaffenen Kolonie, darf die freie Anschauung von Gott und seinem Wort ungestört die Flügel entfalten... Draußen herrscht und regiert fort und fort der unbegrenzte Egoismus, und eine Kaste sucht der anderen auf den Nacken zu steigen; hier aber waltet die Liebe, und man erhält den unwiderleglichen Beweis, daß sich das Musterbild der Menschheit, wie es die oft verlachte Humanität anstrebt, in der Tat verwirklichen läßt. Der Mann im Waldhause sieht glückliche, zufriedene Gesichter, wohin sein Blick sich wendet. Das lächerliche Jagen nach Ämtern und Orden dringt nicht herein – dafür kommt das höchste Streben, das die Menschenseele erfüllen soll, das Streben nach innerer Entwicklung und Befreiung um so besser zur Geltung.

»Gisela!« ruft es schnarrend und mißtönend neben der jungen Dame. Sie wendet sich überrascht um – der Papagei schwingt sich lustig auf seinem Ring, und in der Haustür steht lachend der alte Sievert... Das bräutliche Weib streckt ihm beide Hände entgegen; er hat dem Vogel mit unsäglicher Mühe den Namen der künftigen Hausfrau eingelernt und die letzten schauerlichen Worte des sterbenden Herrn von Eschebach aus dem Gedächtnis des Tieres verwischt... Er nimmt sacht und behutsam die gebotenen feinen Finger zwischen seine großen, braunen Hände, und, was Gisela nie geglaubt, die alten, finster dräuenden Augen können auch feucht schimmern.

Und jetzt tritt auch die Pfarrerin aus der Halle – sie hat einen Schal um die Schultern geschlagen und will heim.

»Junges Frauchen, ich habe den Teetisch drin hergerichtet, denn von der Liebe allein lebt man nicht«, meinte sie schelmisch und deutet nach dem einen Fenster des südlichen Turmzimmers, das nach der Terrasse mündet... In der heimlichen Dämmerung da drin, fast auf derselben Stelle, wo einst die Teemaschine der alten, blinden Frau gestanden, lodert die kleine, blaue Flamme, die den Abend in der Wohnstube so behaglich und gemütlich macht.

»Und nun, Gott sei mit euch, ihr lieben, lieben Leute!« sagt die Frau, und ihre klangvolle Stimme schmilzt in Weichheit.

Der »Portugiese« küßt ihr ehrfurchtsvoll die hartgearbeitete Hand, und Gisela legt die Arme um ihren Hals. Dann steigt sie die Treppe hinab und schreitet festen, kräftigen Fußes in den Wald hinein.

Allmählich fließt ein silberglänzendes Licht über Waldwipfel, Haus und Wiese – der Mond steigt groß und voll herauf. Wieder sieht er auf der Terrasse eine hohe, majestätische Männergestalt stehen, an die sich ein junges Wesen hingebend schmiegt; aber diesmal werden die Schwüre, welche die flüsternden Lippen austauschen, nicht gebrochen werden!


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