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Weder der Minister noch eine seiner Begleiterinnen hatten sich der Unglücksstätte genähert – die Damen waren sogar, ängstlich die Oberkleider aufnehmend, um einige Schritte in den Wald zurückgewichen, da der triefende Hund mit seinen Freudensprüngen auch sie umkreiste; Unfall und Rettung waren ja auch das Werk nur weniger Augenblicke gewesen.
»Kennen Sie den Herrn?« wandte sich die Baronin lebhaft an die Gouvernante und ließ die Lorgnette sinken, nachdem sie jede Bewegung des Fremden aufmerksam und angelegentlich verfolgt hatte.
»Ja, wer ist er?« fragte auch der Minister.
»Haben ihn Exzellenz genau angesehen?« fragte Frau von Herbeck zurück. »Nun, das ist er – der brasilianische Nabob, der eigentliche Besitzer des Hüttenwerks, der Grobian, der das weiße Schloß ignoriert wie einen Maulwurfshügel... Ich begreife nicht, wie es die Gräfin über sich gewinnen konnte, in seine Nähe zu gehen, und will gleich meinen kleinen Finger verwetten, daß er ihr irgendeine Unart gesagt hat – seine Haltung war zu unverbindlich!«
Die Baronin schritt auf Gisela zu, die mit gesenkten Wimpern langsam zurückkehrte. »Hat dich der Mann beleidigt, mein Kind?« fragte sie sanft, aber mit einem seltsam forschenden Blick.
»Nein«, antwortete Gisela rasch, und wenn auch ein tiefes, echt mädchenhaftes Erröten über ihr Gesicht, bis an die Schläfen hinauflief, ihre Augen hatten doch jenen stolz abweisenden Ausdruck, der sich in gewissen Momenten wie ein Schild vor ihre Seele legte.
Unterdes war der Minister mit Frau von Herbeck in den Wald eingetreten. Seine Exzellenz hatte die Hände auf dem Rücken gekreuzt und bog den Kopf gegen die Brust – seine gewöhnliche Haltung, wenn er sich berichten ließ. Noch lag viel Eleganz und Elastizität in seiner Erscheinung, allein Haupt- und Barthaar waren bereits stark ergraut, und jetzt, wo er, sich selbst vergessend, zuhörte, sanken die Wangenmuskeln schlaff herab und verliehen dem unleugbar geistreichen Gesicht etwas Grämliches – Seine Exzellenz war alt geworden.
»Nicht so viel« – rief Frau von Herbeck und schnappte mit Daumen und Zeigefinger in die Luft – »fragt der Mensch nach uns!... Da kam er auf einmal, vor etwa sechs Wochen , wie hereingeschneit!... Ich mache meinen Morgenspaziergang und komme am Waldhause vorüber – da sind die Fensterläden zurückgeschlagen und der Schornstein raucht, und ein Neuenfelder Mann, der mir begegnet, sagt, der ›Herr‹ aus Amerika sei da!... Exzellenz, ich bin immer sehr unglücklich darüber gewesen, daß das Hüttenwerk in solche Hände kommen mußte – Sie glauben nicht, was für ein Geist in die Leute gefahren ist! Die neuen Häuser und das Bücherlesen haben ihnen dergestalt die Köpfe verdreht, daß sie buchstäblich nicht mehr wissen, was unten und oben ist... Das sicherste Merkmal ist mir ihre Art und Weise zu grüßen – das neigt auf einmal den Kopf ganz anders und starrt einem so dreist ins Gesicht, daß ich mich nicht mehr überwinden kann, zu danken... Dies alles, ich wiederhole es, hat mich stets verstimmt und verleidet mir den Arnsberger Aufenthalt gründlich – seit der Ankunft dieses Herrn Oliveira aber bin ich geradezu erbittert –«
»Er ist ein Portugiese?« unterbrach sie die Baronin, die mit Gisela hinter den beiden herschritt.
»Man sagt es – und seinem unglaublichen Hochmut nach ist es mir auch sehr wahrscheinlich, daß er aus irgendeiner in Brasilien eingewanderten portugiesischen Familie von Adel stammt... Auch sein Äußeres spricht dafür – ich bin seine entschiedene Widersacherin, aber leugnen kann ich deshalb doch nicht, daß er ein sehr schöner Mann ist – Exzellenz haben sich ja selbst überzeugen können.«
Exzellenz antwortete nicht, und auch die beiden Damen schwiegen.
»Er hat die Haltung eines Granden«, fuhr die Gouvernante eifrig fort, »und sitzt zu Pferde wie ein Gott! – Oh«, unterbrach sie sich erschrocken, »wie kommt mir doch ein solch unschicklicher Vergleich auf die Zunge!« Ihre Mundwinkel sanken plötzlich, als würden sie durch Bleigewichte herabgezogen, und die Lider legten sich reuevoll über die schwimmenden Augen – es war der vollendete Ausdruck der Buße und Zerknirschung.
»Wollen Sie nicht die Freundlichkeit haben, mir endlich zu sagen, durch welche Missetat dieser Herr Oliveira Sie erbittert hat?« fragte der Minister ziemlich barsch und ungeduldig.
»Exzellenz – er sucht etwas drin, unsere Gräfin zu beleidigen.«
»Dazu haben Sie ihn herausgefordert!« rief das junge Mädchen und trat erglühend und zürnend vor, während der Minister unangenehm erstaunt stehen blieb.
»Oh, liebe Gräfin, wie ungerecht!... Fordere ich ihn denn etwa auch auf, Sie zu ignorieren, wenn Sie an ihm vorüberfahren?... Die Sache verhält sich folgendermaßen«, wandte sie sich an den Minister und seine Gemahlin: »Ich höre, daß er in Neuenfeld ein Asyl für arme, verwaiste Kinder aus den umliegenden Ortschaften gründen will – Exzellenz, in unserer Zeit gilt es, die Augen offen zu haben und handelnd einzugreifen, wo es irgend möglich ist – ich überwinde also meinen Groll und Ekel gegen das gesetz- und zuchtlose Treiben der ganzen jetzigen Neuenfelder Wirtschaft, schließe acht Louisdor im Namen der Gräfin und fünf Taler von seiten meiner Wenigkeit in ein Kuvert und schicke es als Beisteuer zu dem beabsichtigten Asyl an den Portugiesen... Natürlich setzte ich in einigen begleitenden Zeilen voraus, daß die Anstalt auf streng kirchlichem Boden stehen werde, und erbot mich, für eine Vorsteherin sorgen zu wollen... Was geschieht?... Das Geld kommt zurück mit dem Bemerken, daß der Fonds vollständig sei und keines Zuschusses bedürfe, und eine Vorsteherin sei bereits gefunden in der vortrefflich erzogenen ältesten Tochter des Neuenfelder Pfarrers – wie mich das geärgert hat!«
»Sie haben es aber auch sehr schlau angefangen, beste Frau von Herbeck!« sagte der Minister in wahrhaft vernichtendem Hohn. »Und wenn Sie in der Weise weiter operieren, werden Ihnen ja recht viele Nägel in das Garn fliegen... Sie hätten die Hand davon lassen sollen!« fügte er in ausbrechendem Ärger hinzu. »Merken Sie sich für künftig: Ich will nicht, daß die Feindseligkeit und der Widerspruch da drüben auf eine so plumpe Weise herausgefordert und genährt werden – ein Goldfisch will vorsichtig angefaßt sein, wenn Sie es noch nicht wissen, meine sehr verehrte Frau von Herbeck!«
»Und wie kommen Sie denn auf die Idee«, rief die Baronin, und ihr funkelnder Blick fuhr hochmütig messend über die verblüffte Gouvernante hin – »wie kommen Sie auf die Idee, Ihren Instruktionen schnurstracks entgegen, die Gräfin mit einemmal gewissermaßen in die Öffentlichkeit zu bringen und ihr eine Rolle aufzudrängen, die weder ihr noch uns erwünscht sein kann?... Unser armes, krankes Kindchen«, setzte sie weich hinzu, »das wir bisher vor jedem Zuglüftchen aus der schlimmen Welt da draußen sorgfältig bewahrt haben!... Siehst du, Gisela«, – unterbrach sie sich plötzlich und fixierte das Gesicht der Stieftochter mit einem tiefbesorgten, starren Blick –, »daß du noch lange nicht so weit hergestellt bist, wie du denkst?... Da ist er ja, der erschreckende jähe Farbenwechsel, der deinen Anfällen stets vorauszugehen pflegt!«
Das junge Mädchen erwiderte kein Wort. Man sah, daß sie einen Moment mit einem heftigen Unwillen kämpfte; aber dann wandte sie sich achselzuckend ab und schritt weiter – mit dieser einen Bewegung sagte sie: »Ich bin viel zu stolz, um das, was ich einmal fest versichert habe, nochmals zu beteuern – glaube, was du willst!«
Eine Zeitlang wandelten alle schweigend weiter. Frau von Herbeck war sehr betreten; sie hielt sich andauernd einige Schritte hinter dem Minister und vermied es augenscheinlich, in sein Gesicht zu sehen, das allerdings nicht die rosigste Laune verriet. Am Tore des Schloßgartens blieb er stehen, während die Baronin und Gisela in die Allee eintraten; er sah über die Schulter noch einmal nach Neuenfeld zurück, dessen rote Dächer im Sonnenschein funkelten – nur ein First ragte dunkelbläulich schimmernd über sie hinweg – es war das vollständig renovierte, neu mit Schiefer gedeckte Pfarrhaus.
Der Minister zeigte mit dem Finger nach der dunkeln Linie – ein kaltes Lächeln teilte seine bleichen Lippen und ließ die scharfgespitzten Zähne sehen.
»Mit dem dort wären wir fertig«, sagte er.
»Exzellenz – der Pfarrer?« rief Frau von Herbeck freudig erschrocken.
»Ist pensioniert... Hm, wir geben dem Mann einfach Gelegenheit zu erproben, wo er sein Brot leichter findet, in Gottes Wort oder in Gottes Werken... Der Mensch ist in der Tat ungeschickt genug gewesen, seine astronomische Gelehrsamkeit gerade jetzt in einem Buch der Welt zu offenbaren.«
»Gott sei Dank!« rief Frau von Herbeck tief befriedigt. »Exzellenz mögen nun darüber denken wie Sie wollen, aber den hat der Herr selbst verblendet und seiner gerechten Strafe entgegengeführt!... Exzellenz sollten diesen Mann nur ein einziges Mal auf der Kanzel hören! Das wimmelt von Freigeistereien, von Blumen und Sternen, Frühlingshimmel und Sonnenschein – man glaubt jeden Augenblick, er will Verse machen... Er war mein entschiedenster Widersacher, er hat mir meine erhabene Mission furchtbar erschwert – ich triumphiere!«
Mittlerweile schritten die zwei Damen langsam durch die Allee.
Während Giselas Augen so tief nachdenklich am Boden hingen, als wollte sie die kleinen, weißgebleichten Kiesel zu ihren Füßen zählen, glitt der Blick ihrer Stiefmutter unermüdlich, mit einer Art von finsterer Forschung über sie hin... Sie mußte jetzt aufsehen zu der Gestalt, die sie, verkümmert und jeglichen Jugendreizes entbehrend, bis noch vor einer halben Stunde in der Erinnerung festgehalten, der sie noch vor wenigen Wochen von Paris aus eine höchst elegante Haustoilette geschickt hatte mit dem stillmitleidsvollen Gedanken, wie entsetzlich wohl die kleine gelbe Vogelscheuche darin aussehen würde!... Waren Frau von Herbeck und der Arzt blind, daß sie nie auch nur mit einer Silbe über diese merkwürdige Entpuppung berichtet hatten?... Die elegante graziöse Frau von dreißig Jahren, hinter deren Stirn diese Betrachtungen fast fieberhaft kreisten, war noch blendend schön – allein die Jutta von Zweiflingen mit dem Duft und Schmelz der ersten Jugend war sie doch nicht mehr. Bei Abendbeleuchtung mochte dieser Kopf immerhin noch für achtzehnjährig gehalten, jetzt aber, unter dem klaren Tageslicht, trat ein Verlust unerbittlich hervor – weiß war der Teint noch, allein nicht mehr frisch, er sah aus wie ein leicht zerknicktes Blumenblatt... Vielleicht dachte die schöne Frau, indem ihr Blick so starr und finster auf dem marmorglatten jungen Gesicht neben ihr haftete, an die rastlos nagende Sorge, die ihr dies beginnende leise Verwelken verursachte...
Am Ende der Allee kam ein ziemlich bejahrter Lakai – er schien sehr erhitzt –, aus seiner geballten Hand, die er mit ängstlicher Vorsicht beobachtete, guckte ein munteres Vogelköpfchen. Er bog den alten Rücken fast bis zur Erde vor den Damen.
»Gnädige Gräfin haben heute morgen einen guten Buchfinken gewünscht«, sagte er zu Gisela; »der Greinsfelder Leineweber hat die besten Schläger auf dem ganzen Walde – und da bin ich gleich heute nachmittag 'nübergelaufen... Billig werden gnädige Gräfin das Tierchen freilich nicht haben – 's ist dem Leineweber sein schönster Sänger... Um ein Haar wär' mir das kleine Ding unterwegs entwischt – ein Stäbchen am Bauer war zerbrochen.«
Er sagte das mit einem erleichterten Aufatmen – man sah, der Mann hatte Angst und Mühe gehabt bei dem Transport des kostbaren Vogels.
Die junge Gräfin strich zärtlich und behutsam mit der feinen Fingerspitze über das Köpfchen, das sich ängstlich duckte.
»Es ist gut, Braun«, sagte sie. »Tun Sie das Tierchen in die Voliere – Frau von Herbeck wird sorgen, daß der Mann seine Bezahlung erhält.«
In diesem Augenblick hätte der strengste Zeremonienmeister auch nicht den leisesten Tadel an ihrer Haltung finden können – das war die gebietende Herrin, die Hochgeborene, die nur Winke und Worte von der lakonischsten Kürze für ihre Untergebenen haben durfte –, es war die Gräfin Völdern vom Kopf bis zur Zehe... Die junge Dame hatte kein Wort des Dankes für den greisen Mann. – Er war in der glühenden Nachmittagssonne stundenweit gelaufen, um ihren lebhaft ausgesprochenen Wunsch zu erfüllen, der Schweiß perlte von der Stirne, und die alten Füße waren sicher todmüde – aber das war ja der Lakai Braun, dem die Gliedmaßen dazu gegeben waren, sie zu bedienen. – Solange sie denken konnte, setzten sich diese Arme und Füße für sie in Bewegung, diese Augen durften nicht lachen, nicht weinen in ihrer Gegenwart, der Mund nicht eher sprechen, als bis sie befahl – sie kannte keine Hebung, keine Senkung seiner Stimme, alles ging unter in dem vorgeschriebenen devoten, halben Flüsterton... Hatte dieser Mann innere Freuden und Leiden? Dachte und fühlte er? Das hatte die kleine Gräfin, die über die Möglichkeit eines Seelenlebens stundenlang gegrübelt, nie in das Bereich ihrer Betrachtungen gezogen – diese in ein und dieselbe Form gekneteten Menschen regten sie dazu nicht an.
Der Lakai verbeugte sich so tief, als sei ihm mittels der Versicherung, daß der Vogel bezahlt werden solle, eine unverdiente Gnade widerfahren, und entfernte sich auf leisen Sohlen.
Im Vestibül trafen die beiden Damen mit dem Minister und der Gouvernante wieder zusammen. Seine Exzellenz zog sich für einen Augenblick zurück, um seinen Anzug mit einem bequemeren zu vertauschen, und die junge Gräfin ging, ihrer Kammerfrau einen Auftrag zu geben, während die Baronin und Frau von Herbeck die Treppe hinaufstiegen.
»Haben Sie den Kaffee bestellt, Frau von Herbeck?« fragte die Baronin.
»Er steht bereit, Exzellenz«, antwortete die Gouvernante und deutete einladend in einen Gang, der sich seitwärts vom Hauptkorridor abzweigte.
Die Baronin stutzte und zögerte, die niedrige Stufe zu betreten, die hinaufführte. In demselben Augenblick wurde die am gegenüberliegenden Ende des Ganges sichtbare Tür geöffnet – ein Bedienter trat heraus, und als er die Damen erblickte, schlug er beide Türflügel zurück.
In einem weiten Saal, nahe an ein hohes Bogenfenster gerückt, stand der Kaffeetisch. Rubinrote und feurigblaue Lichter zuckten über das blinkende Silbergerät und streckten sich riesig und gestaltlos auf das dunkle Getäfel des Fußbodens hin – den Fensterbogen umschloß eine uralte, prachtvolle Glasmosaik, und hinter den funkelnden Gewändern der durchsichtigen Heiligen erblühte das ehrliche Stückchen Thüringer Gegend draußen zu einem feenhaft bunten Wunderreich des Orients.
Ohne ein Wort zu sagen, aber mit dem Ausdruck eines mißfälligen Befremdens durchschritt die Baronin rasch den Korridor und betrat den Saal... Es war derselbe an die Schloßkirche stoßende Raum, der für das Kind Gisela einst ein Gegenstand sehnsüchtiger Wünsche gewesen war – und von den Wänden herab schauten die überlebensgroßen, tiefsinnig verkörperten Gestalten aus der biblischen Geschichte, um derentwillen ehemals die Weltdame, Frau von Herbeck, den Saal stets mit Abscheu gemieden hatte, »weil sie stets schreckhaft davon träumte«.
Der Bediente war mit eingetreten; er rückte die altväterischen gestickten, hochbeinigen Lehnstühle um den Tisch, zog vor eines der Eckfenster den Laden, weil die Sonne zudringlich und sengend in den kühlen, mit einer Art von Kirchenluft erfüllten Raum fiel, und wischte von einer Tischplatte den feinen Staubanhauch, der sich ohne Zweifel in einigen Minuten wieder erneuerte – diese uralten Wände, dieses fast schwarz gewordene Holzgetäfel des Fußbodens predigten wie die Wandgemälde dringend und rastlos das Ende alles Zeitlichen: »Staub, Staub!«
Die Baronin stand neben einem Lehnstuhl, auf dessen hohen Rücken sie ihren Arm stützte – sie hatte weder Hut noch Umhang abgenommen und wartete scheinbar ruhig, bis der Lakai fertig war, dann winkte sie ihm, sich zu entfernen.
»Meine beste Frau von Herbeck«, unterbrach sie das peinliche Schweigen eiskalt und ohne ihre Stellung im mindesten zu verändern, »wollen Sie mir nicht erklären, wie Sie auf den Einfall kommen, mich hierher gleichsam zu dirigieren?«
»O mein Gott, wie mögen Exzellenz eine harmlose Anordnung in der Weise deuten!« rief die Gouvernante. »Die Gräfin ist sehr gern in diesem Saal – wir speisen hier, und ernst und beschaulich, wie mein ganzes jetziges Leben und auch das unserer Gräfin ist, weiß ich für uns beide nichts Lieberes als diesen Aufenthalt... verzeihen Exzellenz, wenn meine Vorliebe mich zu weit führte!«
Mit wenigen Schritten stand sie vor einer Flügeltür der nördlichen Saalwand und schlug sie zurück – die Schloßkirche tat sich in ihrer ganzen Tiefe auf. Trotz des Sonnenglanzes und der Juliglut draußen webte ein graues, kaltes Halbdunkel unter der mächtigen Kuppel; die schwer vergoldete, fast überreiche Ornamentierung schimmerte bleich herüber, und unten, neben dem Altar, hob sich das blendend weiße Marmormonument des Prinzen Heinrich gespenstisch aus dem Dunkel... Eine wahre Grabesluft wehte herein in den Saal – die Baronin zog den Umhang fester um die Schultern und hielt das Taschentuch an die Lippen.
»Sagen Exzellenz selbst, ob das nicht ganz wundervoll ist!« fuhr Frau von Herbeck fort. »Ich meide geflissentlich die Neuenfelder Kirche, solange der Antichrist da drüben von der Kanzel herab gegen unsere Bestrebungen intrigiert... Es bleibt mir mithin nur die eine Erquickung, mir wöchentlich einigemal den Greinsfelder Schullehrer herüberkommen zu lassen – er ist streng bibelgläubig und spielt mir Choräle auf der Orgel.«
Ein flüchtiges, aber sehr boshaftes Lächeln zuckte um die schönen Lippen der Baronin – vielleicht gedachte sie jenes Momentes, wo diese Frau da im Eckstübchen der Neuenfelder Pfarre majestätisch auf und ab gerauscht war, maßlos empört, daß man ihr zugemutet hatte, einen Choral anhören zu müssen.
Der Gouvernante entging dieses fatale Lächeln nicht – ein stechender Blick sprühte aus ihren Augen.
»Ich bin übrigens nicht so egoistisch«, fügte sie nicht ohne eine Beimischung von Schärfe hinzu, »bei Benutzung dieser Räume lediglich an das Bedürfnis und das Heil meiner Seele zu denken – das gesamte Schloßpersonal und die Gutsangehörigen sind gezwungen, hier mit mir zu verkehren... Exzellenz, ich arbeite nicht allein im Weinberge des Herrn, sondern auch –«
»O bitte« – unterbrach sie die Baronin, indem sie ihr abwehrend die Hand entgegenstreckte –, »glauben Sie, ich wisse nicht, was uns gegenwärtig nottut?... Ich begreife genau so gut wie Sie, meine verehrte Frau von Herbeck, wo der Zügel straff anzuziehen ist, und soweit meine Machtvollkommenheit irgend reicht, sehe ich unerbittlich streng darauf, daß man nicht anders denkt und – glaubt, als ich es wünsche... Deshalb aber werden Sie mir doch nicht im Ernst zumuten wollen, das, was ich mit Recht von meinen Untergebenen verlange, in eigener Person zu vertreten?... Wenn es Ihnen Vergnügen macht, sich zu kasteien, ei, so tun Sie es doch – aber für sich ganz allein, wenn ich bitten darf!... Daß Sie mich hierhergeführt haben, sieht ein ganz klein wenig aus wie – die bekannte Herrschsucht der Gläubigen, und deshalb, meine liebe Frau von Herbeck, werde ich den Kaffee nicht hier trinken in diesen Räumen, wo uns der Staub in die Sahne fällt und alle die gequälten und heiligen Augen an den Wänden den Appetit verderben.«
Wie das beißend klang von den feinen Lippen, wie diese wundervollen schwarzen Augen funkelten in dem Gemisch von beleidigtem Stolz und eisigem Hohn!... Selbst in der graziösen Bewegung, mit der sie abstaubend über den Arm fuhr, der die Stuhllehne berührt hatte, lag eine ironische Demonstration. Sie nahm ihr Kleid auf und verließ den Saal.
»Der Kaffee wird im weißen Zimmer, unten bei Seiner Exzellenz getrunken!« befahl sie im Vorübergehen dem Bedienten, der im Korridor wartete.
Frau von Herbeck folgte ihr schweigend und widerspruchslos, aber ihre Wangen glühten, und die Blicke, die sie auf die vor ihr hinschwebende schöne Frauengestalt warf, sprühten nun auch in unverhehlter Bosheit. Möglicherweise gedachte auch sie der Vergangenheit und vielleicht gerade des blauen Samtmantels, den sie einst barmherzig um jene schwellenden Glieder geworfen hatte, damit die jetzige Herrin des weißen Schlosses wenigstens »einigermaßen anständig« ihren Einzug halten konnte.