Eugenie Marlitt
Reichsgräfin Gisela
Eugenie Marlitt

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21

Mittlerweile stürmte der Araber durch den Wald heimwärts. War es doch, als fühle das edle, kluge Tier, daß es auf der Waldwiese die Widersacher seiner jungen Herrin zurücklasse und den Raum zwischen beiden nicht schnell genug erweitern könne. Die feinen Hufe berührten flüchtig den moosigen Boden, es flog fast lautlos dahin – und dann und wann erklang ein funkensprühender Stein oder das Schnauben der Nüstern durch die Waldesstille.

Gisela ließ das Tier laufen, wie es wollte. Noch saß sie mit der stolzen, festen Haltung und zurückgewandtem Gesicht auf seinem Rücken, als gelte es, die vernichtenden Blicke des Stiefvaters, seine abscheuliche Beschuldigung abzuwehren, und die strenggeschlossenen Lippen, die jedes Wort der Entrüstung beharrlich zurückgehalten hatten, lagen noch fest aufeinander; der Zug der Verachtung aber, der den schweigenden Mund in so herben Linien umschrieb, hatte sich vertieft. Während ihre eigene Erscheinung für die auf der Wiese Stehenden längst im Waldesdämmern untergegangen war, erschien ihrem scharfen Auge die ferne, sonnenüberstrahlte Lichtung am Ende des Laubganges wie ein Miniaturbild auf Goldgrund... ein Miniaturbild – ja, das war's! Zierliche Gestalten voll Eleganz und Geschmeidigkeit, aber um alles keine Helden, keine Rittergestalten mit dem unleugbaren Herrscherblick und dem unverwischbaren Adelsgepräge auf der Stirne, wie ihre kindliche Phantasie von den ersten Begriffen an bis noch vor wenigen Augenblicken die gefeite Tafelrunde der Fürsten sich ausgeschmückt hatte.

Das war also der Hofkreis, der Inbegriff der hochgeborenen Menschen im Lande und unter ihnen der Mächtige, der die höchste Weisheit hinter der Stirne, die größte Selbstbeherrschung in der Seele tragen mußte; er war ja von Gottes Finger bezeichnet, er regierte von Gottes Gnaden, und sein Ausspruch über Leben und Tod des einzelnen, über das Wohl und Wehe des Landes war der letzte, endgültige. Die Natur hatte mit jenem höchsten Gesetz nicht Schritt gehalten – sie hatte die Herrschermacht mit einer unscheinbaren Hülle umkleidet; die Bilder in Frau von Herbecks Zimmer logen, sie hauchten den Glanz hoher Geisteswürde und Majestät um das schmale Gesicht, das nur Freundlichkeit in seinen matten Augen hatte... Und um einen Schimmer dieser Augen zu erhaschen, würde Frau von Herbeck stundenweit gelaufen sein; jedes Wort, das einst »in der glücklichen Zeit ihres Erscheinens bei Hof« jener Mund zu ihr gesprochen hatte, wurde heilig aufbewahrt im Reliquienschrein ihres Herzens... Und die Großmama hatte sich die Stirne wund drücken lassen von ihren schweren Diamanten, um standesgemäß und jenes Kreises würdig zu erscheinen – sie selbst aber hatte ihre junge, einsame Seele genährt an glänzenden Bildern des Hoflebens, sie war in der Idee aufgewachsen, dermaleinst eine Erhabene unter den Erhabenen sein zu müssen... Welche Enttäuschung!... Jener Kreis dort war nur exklusiv durch die streng festgehaltenen Gesetze der Etikette, nicht aber durch irgendeinen Stempel äußerer Bevorzugung – eine Landpartie gewöhnlicher Sterblicher unterschied sich in nichts von jenem Miniaturbild auf der Wiese.

Nur einer war der Erhabene gewesen – aber er hatte auch das kindisch schäferhafte Spiel mitgespielt, über seinem tiefernsten Bronzegesicht hatten Waldblumen genickt – Waldblumen, die sie so zärtlich liebte, denen sie aber jetzt fast zürnte, weil sie einem unbewußt gehegten Bild die Weihe hoher, ernster Männlichkeit nahmen. Er hatte in dem Augenblick, als sie auf der Wiese erschienen war, seinen Hut aus Damenhänden zurückempfangen – die Hände der schönen Stiefmutter waren es gewesen, die den Hut geschmückt...

Und dicht neben dem Portugiesen hatte ein wunderschöner brauner Lockenkopf gestanden – sie kannte dieses Mädchen –, es war noch derselbe Kinderkopf, den sie einst verabscheut hatte, weil stets in den braunen Locken schreiend bunte Bänder eingeflochten waren und weil dieser Kopf nichts anderes denken konnte, als elegante Kleider, Kinderbälle und Puppenhochzeiten. Dabei hatten die kleinen, sorgfältig gepflegten weißen Finger den armen Puß heimtückischerweise gezwickt und sehr geschickt hinter Frau von Herbecks Rücken Kuchen und Früchte weggenommen... Jetzt war sie Hofdame und die gefeiertste und geistreichste Schönheit am Hof, wie die Gouvernante oft versicherte... Wie war die kleine, unermüdliche Plaudertasche mit der platten Geschwätzigkeit plötzlich zu der Himmelsgabe gekommen, die Gisela »Geist« nannte?... Schön, blendend schön war sie geworden und, mit Ausnahme der reizenden Stiefmutter die einzige, die sich neben den hohen, majestätischen Mann stellen durfte... Ob es Zufall war, daß sie an seiner Seite stand?... Oder hatten die zwei gefunden, daß sie zueinander gehörten?...

Das junge Mädchen, »das nie heftig werden wollte«, zog plötzlich so heftig gewaltsam am Zügel, daß das Pferd hoch aufbäumte.

Und weiter ging es im rasenden Galopp... Das sonnenbeleuchtete Miniaturbild im Walde erlosch, und selbst das brennende Dorf, dem die Reiterin zueilte, trat mit all seinen Schrecknissen momentan zurück vor den zwei Gestalten, die das junge Gemüt unter den bittersten Schmerzen in sich heraufbeschwor.

Das Sonnenlicht, das plötzlich grell und sengend auf ihren Scheitel fiel, riß sie aus ihrem qualvollen Sinnen und Brüten empor. Sie hatte ziemlich das Ende des Waldes erreicht; die undurchdringlich ineinander verschränkten Äste hoch oben in den Lüften lösten sich und ließen den weiten Himmel durch das zerfließende Blättergewebe hereinscheinen, während unten von den letzten gewaltigen Stämmen hinweg halbversengtes, krüppelhaftes Gestrüpp in das Blachfeld hineinlief.

Gisela hielt ihr Pferd an und ließ es einen Augenblick verschnaufen, ehe sie sich hinauswagte in die Glut, die funkelnd und zitternd über der unbeschützten Fläche brütete.

Dort gegenüber lagen die großen Steinbrüche, die sie passieren mußte, wenn sie nicht den weiten Umweg nach der Fahrstraße machen wollte. Ein schmaler, für Reiter ziemlich gefahrvoller Fußweg lief an den Abgründen vorüber. Der Gedanke an Gefahr kam der Reiterin nicht, sie war unerschrocken und konnte sich auf Miß Saras sichere Füße und klugen Kopf verlassen.

Hinter den Steinbrüchen begann wieder der Wald – jene Linie, die sich so erquickend dunkel lang hindehnte; über ihr träufelten durchsichtige Wolkengebilde, die hoch in der Luft schleierartig zerflossen – bei weniger heller Beleuchtung würden sie wohl schwarzgrau ausgesehen haben –, es waren die Rauchwolken des brennenden Dorfes.

Eine leichte Berührung mit der Reitgerte scheuchte Miß Sara hinaus auf das Feld. Mit Gisela zugleich erschien aber auch ein zweiter Reiter am Saum des Waldes – der Mann, der nach Frau von Herbecks Ausspruch »wie ein Gott« zu Pferde saß.

Der Portugiese kam vom Waldhause her, und wenn auch jetzt wieder sein plötzliches Erscheinen an die scherzhafte Bemerkung des Fürsten, daß Herr von Oliveira fliegen könne, erinnerte, so war diese zauberhafte Geschwindigkeit erklärt durch das prächtige, schnellfüßige Tier, das er ritt; es war ein Gegenstand der Bewunderung und des Staunens für die ganze Umgegend.

Miß Sara scheute zurück vor der gewaltigen Erscheinung, die linker Hand so unerwartet aus dem Dickicht hervorbrach – die Reiterin aber erstarrte in jener Art von lähmendem Schrecken, der das Herz erfaßt beim Ertapptwerden auf unrechtem Wege... War doch eben noch ihre ganze Seele erfüllt gewesen von ihm, der dort hervorstürmte... Noch in diesem Augenblick hatte sie mit leidenschaftlicher Angst jeden Zug seines Gesichtes, jede seiner Bewegungen sich vergegenwärtigt und jenen schönen Mädchenkopf dicht daneben gehalten, um unter qualvollen Leiden nach der Beziehung zwischen beiden zu forschen... Das Gefühl der Abneigung gegen die reizende Hofdame war bei dieser Untersuchung zur heftigsten Erbitterung geworden, während sie es mutlos aufgeben mußte, auch ihm zu zürnen oder gar sein Bild aus ihrer Seele zu verscheuchen... Stand das nicht alles auf ihrer Stirne zu lesen?...

Die Empfindung vernichtender Scham kam mit aller Wucht über sie. Die Blutwellen ergossen sich verräterisch und unaufhaltsam über ihre Wangen – sie war verloren den dunklen, durchdringenden Augen gegenüber, wenn sie nicht floh...

Nie hatte wohl Miß Sara die Reitgerte so energisch empfinden müssen, wie in diesem Augenblick – sie stieg in die Höhe, dann flogen Roß und Reiterin wie toll über das Blachfeld.

Oliveira verharrte, wie, es schien, unbeweglich auf der Stelle, wo er aus dem Walde hervorgekommen war – außer den Hufschlägen ihres Pferdes hörte Gisela keinen Laut; das hielt sie jedoch nicht ab, ihre Flucht in unverminderter Sturmeseile fortzusetzen... Schon tauchte ihr schwindelnder Blick in die Steinbrüche hinab, die, urplötzlich nahe gerückt, ihre Klüfte und Abgründe vor ihr auftaten – da stampfte und schnaubte es hinter ihr – der Reiter war ihr auf den Fersen.

Mit jenem Renner, der wie ein Blitz über den Boden hinfuhr, konnten sich freilich die Füße der kleinen, zierlichen Miß Sara nicht messen – einen Augenblick noch, und der Portugiese erschien an der Seite der jungen Dame, während er mit rascher Hand in die Zügel ihres Pferdes griff.

»Ihre Furcht macht Sie blind, Gräfin!« zürnte er.

Sie war keines Lautes fähig. Ihre Hände, die sich widerstandslos den Zügel hatten entwinden lassen, sanken langsam in den Schoß. Das Mädchen im weißen Kleide mit dem erschreckten Gesicht, aus dem alles Blut entwichen war, saß dort wie eine Taube, die, vom Entsetzen gelähmt, dem über ihr kreisenden Todfeind nicht mehr zu entfliehen vermag.

Vielleicht drängte sich auch dem Mann, der mittels einer einzigen Bewegung die Herrschaft über Roß und Reiterin erlangt hatte, dieser Vergleich auf – ein schmerzhafter Zug bebte um seine Lippen.

»War ich zu ungestüm?« fragte er sanfter, zog aber den Zügel noch mehr gegen sich, so daß die Pferde Seite an Seite hielten. Seltsam – Miß Sara, die leicht ungebärdig unter fremder Hand wurde, mußte ihren Herrn und Meister erkennen; sie stand mit zitternden Beinen, sonst aber wie eine Mauer, und senkte fügsam den Kopf.

Gisela antwortete nicht; sie sah auch nicht auf. Oliveiras braunes Gesicht war ihr so nahe, daß sie meinte, seinen Atem über ihre Stirne hinwehen zu fühlen.

»Sie haben mir bereits gesagt, daß Sie mich fürchten«, hob er wieder an. »Ich will diese Empfindung, die Sie vor mir, als Ihrem Widersacher, instinktmäßig warnt, durchaus nicht bekämpfen – ich darf nicht einmal, ja, so oft ich in Ihr schuldloses Gesicht sehe, möchte ich Ihnen sagen: ›Fliehen Sie mich, so weit Sie können!‹... Wir sind eben zwei jener Gottesgeschöpfe, denen vom Uranfang an auf die Stirne geschrieben ward: ›Ihr sollt euch bekämpfen mit allen Waffen‹ –«

Er hielt inne. Gisela hatte die Augen groß und erschreckt zu ihm aufgeschlagen. Sein Mund, den die Linien schneidender Ironie, aber auch die eines verhaltenen Schmerzes umzuckten, sprach das Wort ewiger Feindseligkeit ungescheut aus, und doch, wie leuchteten seine gefürchteten Augen auf, als sie die ihren in einem Blick berührten.

Sie konnte diesen Blick nicht ertragen. Er zog alles, was sie gewaltsam in sich niederkämpfen wollte, unwiderstehlich ans Tageslicht. Ihr war es sicher nicht auf die Stirne geschrieben worden, gegen ihn zu kämpfen; sie liebte ihn bis in alle Ewigkeit – das wußte sie. Alles, was ihr Herz in der liebeleeren Einsamkeit an reiner Glut, an zärtlicher Innigkeit in sich aufgespeichert hatte, gab sie ihm hin, und er stieß sie zurück – das aber sollte er nun und nimmer wissen...

Mit namenloser Angst entriß sie ihm den Zügel. Ihr Oberkörper bog sich mit einer fast krampfhaften Bewegung nach der entgegengesetzten Seite, während ihre Augen scheu den Abgrund suchten.

Bei dieser Gebärde erblaßte Oliveira.

»Gräfin, Sie mißverstehen mich –« sagte er mit bebender Stimme, aber er brach sogleich ab, und jetzt glitt ein schönes, sarkastisches Lächeln über sein Antlitz hin.

»Sehe ich aus wie ein Wegelagerer?« fragte er... »Wie einer, der ein wehrloses Geschöpf – sei es wer immer – dort hinabstoßen könnte?«

Er deutete nach dem Steinbruch.

Daran hatte ihre Seele nicht gedacht. Wie war ein solches Mißverständnis möglich, und wie sollte sie es anfangen, ihre heftige Bewegung anders zu motivieren?

Er ließ ihr keine Zeit.

»Wir müssen weiter«, sagte er, während sein Auge am Horizont hing. Die Rauchwolken verdichteten sich augenblicklich, zwei dunkle Säulen fuhren gen Himmel; das Feuer gewann sichtbar an Ausdehnung.

Oliveira sah wieder auf die junge Dame nieder – seine Züge hatten jenen entschiedenen Ernst angenommen, der ihr so mächtig imponierte.

»Ich bin eine feige Natur, Gräfin«, sagte er weiter. »Ich kann es nicht sehen, wenn ein Pferd auf schmalem Weg an einem Abgrund hinschreitet... Hinüber müssen wir! Aber ich bitte Sie, zuvor das Pferd zu verlassen.«

»Oh, Sara geht sicher! Sie scheut nicht!« versicherte Gisela mit einem leisen Anflug ihres kindlichen Lächelns. »Ich habe ja vorhin erst die Stelle passiert – sie ist ganz und gar ungefährlich.«

»Ich bitte Sie!« wiederholte er statt aller Antwort.

Sie glitt, gehorsam wie ein Kind, von Miß Saras Rücken. In demselben Augenblick sprang auch er auf den Boden, und während sie, ohne sich umzusehen, nach dem Fußweg hinschritt, band er die Tiere fest.

Gisela schrak zusammen – er stand an ihrer Seite, als sie den schmalen Weg betrat. Ihr zur Rechten stieg die Felswand in jäher Steilheit empor, und links schritt er dicht an der Tiefe hin.

Schüchtern glitt ihr Blick seitwärts an der mächtigen Gestalt empor – es lagen in Wirklichkeit nur wenige Linien Raum zwischen ihnen, und doch sollte sie für ewig eine geheimnisvolle Kluft trennen, die nur er kannte... Ihr einst so kalt erwägender Verstand, der die Schranken der sogenannten weltlichen Ordnung streng respektiert und sich in allen seinen Schlüssen an sie angelehnt hatte, was war er jetzt dem überwältigenden Ausbruch ihres Herzens gegenüber?... Und wenn der Mann neben ihr seine Rechte gehoben und gesagt hätte: ›Gehe weiter mit mir, so wie du da neben mir herschreitest, lasse alles zurück, was sie dein nennen und was du doch nie geliebt hast, gehe mit mir in unbekannte Ferne und in die dunkle Zukunft‹ – sie wäre gegangen; dem Arm, der das hilflose Weib getragen hatte, vertraute sie blindlings... Aber jener Hochgeborene drüben auf der Waldwiese, der Diplomat mit dem eiskalten Gesicht und den schlaffen Lidern, der sie »meine Tochter« nannte, er hatte den letzten Rest ihres Vertrauens verwirkt... Er wußte auch, daß sie den Steinbruch passieren mußte, und doch hatte er sie förmlich dahin zurückgejagt – er war keine »feige« Natur, wenn es sich um Leben oder Tod handelte, ihn verließ nur die Fassung und Selbstbeherrschung dem Verbrechen der Etiketteverletzung gegenüber.

Nicht ein Wort fiel zwischen den Dahinwandernden. Oliveiras Gesicht sah aus wie von Erz – kein Blick fiel auf das Mädchen; er hob auch die Rechte nicht, die bewegungslos niederhängend das weiße Kleid streifte, aber er schritt beharrlich als Schutz und Wehr neben ihr, und sie sah, wie ihm das Blut in die braunen Wangen schoß, wenn ihr Fuß an einem Stein abglitt und ihre Gestalt erschüttern machte.

So kamen sie an die Stelle, wo sich der Weg auf wenige Fußbreit verengte. Gisela fühlte ihre Pulse stocken; um sie nicht zu berühren, hielt Oliveira beharrlich die Linie fest, auf der er bisher geschritten war... Die junge Dame sah, wie sich die wenigen Nesseln, die den Wegrand besäumten, unter seinem Fuß in die Tiefe hinunterbogen; sie hörte, wie die Steine und Erdbrocken sich ablösten und polternd hinabstürzten – das scheue Mädchen, das ängstlich vor jeder Berührung zurückwich, ergriff plötzlich mit beiden Händen den Arm des Mannes.

»Ich habe Angst um Sie!« stammelte sie mit flehendem Blick – es waren Laute der tiefsten Zärtlichkeit, in denen diese liebliche, aber keusch kalte Stimme urplötzlich brach.

Er stand wie festgewurzelt, ja, wie versteinert unter der Berührung der kleinen Hände, unter der Wirkung dieser Töne... Vielleicht lief jener grellrote Streifen wieder über die geheimnisvoll gezeichnete Stirne, von dem man meinen konnte, er vereinige den ganzen flutenden Lebensstrom in sich und mache momentan Herz- und Pulsschlag ersterben... Bis da hinauf wagte sich Giselas Blick nicht – so hoch aufgebaut auch ihre geschmeidige Gestalt erschien, der blonde Scheitel reichte doch nicht viel über die Brust des gewaltigen Mannes, und jetzt sah sie in nächster Nähe, wie diese breite Brust mühsam nach Atem rang. Welcher Art der Kampf war, der sie hob und senkte – Gisela wußte es nicht, es blieb ihr auch keine Zeit darüber zu denken... Oliveira ergriff mit der Linken sanft ihre Hände, löste sie von seinem Arm und ließ sie langsam niedergleiten; die kräftige Hand zitterte heftig, aber sie übte nicht den leisesten Druck.

»Ihre Besorgnis ist grundlos, Gräfin Sturm«, sagte er mit fester, aber vollständig klangloser Stimme. »Gehen wir weiter... Es ist meine Aufgabe, Sie so hinüber zu begleiten, daß Sie an diesen Weg niemals mit Schrecken zurückdenken sollen.«

Davor konnte er sie nicht mehr schützen, sie mußte, solange sie lebte, mit Schrecken an diesen Weg zurückdenken. Sie hatte sich verraten gegen den, der am wenigsten in ihrer Seele lesen durfte... Und wenn auch aus jenen verschleierten Tönen unverkennbar Trauer und Entsagung geklungen hatten, wenn er auch vor ihr stand, als wolle er in der Tat seine Hände behütend über jeden ihrer Schritte halten – das versöhnte sie nicht wieder mit sich selbst.

Sie schritt ohne Zögern weiter mit tiefgesenkter Stirne und dem dumpfen Gefühl in Kopf und Herzen, als sei plötzlich alles zertreten, was sie Gutes und Edles in sich gehabt hatte – die Liebe, eine himmlisch schöne Hoffnung und die eigene Würde.

Die kleine Strecke Weges, die noch vor ihnen lag, war halb zurückgelegt, und nun eilte der Portugiese wieder hinüber, um die Pferde zu holen. Während er die Tiere losband, entfiel ihm der Hut, er nahm ihn auf – gleich darauf taumelte die azurblaue Campanula, begleitet von all ihren farbenbunten Schwestern, in den Abgrund; Oliveira schleuderte sie mit unzweideutiger Gebärde des Abscheues weit von sich.

Er schwang sich auf sein Pferd und nahm Miß Sara am Zügel, die ihm wie ein Lamm folgte... Das war freilich ein halsbrecherischer Ritt!... Gisela legte die Hände über die Augen – sie begriff, daß ein Mann eine Dame, und wenn sie ihm noch so gleichgültig war, nicht ohne Angst diesen Weg nehmen sehen konnte.

Sie atmete tief auf, als nach wenigen Minuten Miß Sara freudig wiehernd neben ihr stand. Sie sprang auf einen Feldblock und von da auf den Rücken des Tieres, und fort flogen die zwei Reiter, dem Walde zu.

Die Felswand, auf der eben eine junge, stolze Menschenseele eine tiefe Wunde empfangen hatte, badete nach wie vor ihre narbenvolle Brust in dem Blutstrom der Julisonne. Die Nesseln, auf die der Fuß des Mannes getreten hatte, richteten sich wieder gerade und elastisch in die Höhe, und um die Steinritzen flatterten kreischend und lärmend die brütenden Vögel, welche die Menschentritte für einen Augenblick von ihren Nestern verscheucht hatten – lauter fröhlich aufsprudelndes, sonnendurchglühtes Leben... Nur unten auf dem erhitzten Gestein lag verscheidend die arme kleine, blaue Glockenblume und büßte für die verräterische Hand, die so wundervoll »Chopin« spielte und einst mit so viel Grazie und Willenskraft den drückenden Verlobungsring abzustreifen verstanden hatte...


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