Eugenie Marlitt
Reichsgräfin Gisela
Eugenie Marlitt

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10

Seit dem Tode des Hüttenmeisters waren elf Jahre verflossen... Wäre – wie ein frommer Wahn annimmt – der abgeschiedene, unsterbliche Menschengeist wirklich verurteilt, in ewig beschaulicher Untätigkeit auf die alte irdische Heimat herabzusehen, dann hätte der Verstorbene, dessen Herz so warm und so treu für seine bedürftigen Landsleute geschlagen hatte, die tiefste Genugtuung empfinden müssen beim Anblick des Neuenfelder Tales.

Das weiße Schloß freilich lag noch so unberührt von Zeit und Wetter auf dem grünen Talgrunde, als sei es während der langen elf Jahre von einer konservierenden Glasglocke überwölbt gewesen... Da sprangen die Fontänen unveränderlich bis zu dem wie in den Lüften festgezauberten Gipfelpunkt, und ihr niederfallender Sprühregen ließ die Lichter des Himmels als Gold- und Silberfunken auf der beweglichen Wasserfläche des Bassins noch immer unermüdlich tanzen. Die Boskette, die Lindenalleen, das grüne Gefieder der Rasenplätze verharrte pflichtschuldigst in den Linien, die ihnen die künstlerische Hand des Gärtners vorgeschrieben. Auf den Balkonen leuchtete das unverblichene Federkleid der Papageien – sie schrien und plapperten die alten eingelernten Phrasen –, und im Schlosse flüsterten und huschten die Menschengestalten mit gebogenem Rücken und scheu devotem Fußtritt genau wie vor elf Jahren. Und sie waren wie hineingegossen in ihre Kniehosen und Strümpfe, und auf den blankgeputzten Rockknöpfen prangte das adlige Wappen, das den freigeborenen Menschen zum »Gut« stempelte.

Um alle diese wohlkonservierten Herrlichkeiten aber legte sich das ungeheure Viereck der Schloßgartenmauer, leuchtend weiß, sonder Tadel – es war ein streng behütetes Fleckchen Erde, konservativ, unverrückbar stillstehend in den einmal gegebenen Formen, wie die Adelsprinzipien selbst.

Mit diesem wohlverbrieften Stillstand kontrastierte grell das neue Leben jenseits der Mauer. In tiefen, mächtigen Atemzügen erbrauste es und schwenkte seine grauen Fahnen weithin, selbst bis über das weiße Schloß, wo ihre Enden lustig in der vornehmen Luft zerflatterten – die Industrie in gewaltigem Aufschwunge war zwischen den stillen Bergen eingezogen.

Vor sechs Jahren hatte der Staat das Hüttenwerk veräußert – es ging in Privathände über und nahm sofort eine Entwicklung, die sich bis dahin niemand hätte träumen lassen. Mit fabelhafter Geschwindigkeit breitete sich ein kolossales Unternehmen auf der Neuenfelder Talsohle aus. Da, wo ehemals die Esse des Hochofens einsam in die Lüfte ragte, dampften jetzt vierzehn Fabrikschlote; mit der Eisenindustrie war eine Bronzegießerei verbunden worden. In früheren Zeiten lieferte das Werk nur sehr primitive Eisenfabrikate, jetzt aber gingen die herrlichsten Kunstgußartikel in die Welt.

Der riesige Gebäudekomplex, in dem es rastlos hämmerte und pochte, und wo geformt und gegossen, geschmiedet und gefeilt, bronziert und geschwärzt wurde, füllte nahezu den Raum zwischen dem ehemaligen Hüttenwerk und Dorf Neuenfeld aus; das Dorf selbst aber war nicht wieder zu erkennen... Der gewaltige Betrieb beanspruchte viele Hände; das alte Arbeitspersonal war verschwindend klein; – da kamen die Bedürftigen und Unbeschäftigten der Nachbarorte, und wie durch einen Zauberschlag verschwand das Gepräge der Not und des Elends, das der reizenden Gebirgsgegend bis dahin einen unheimlichen Zug verliehen hatte... Man hätte fast annehmen mögen, der neue Besitzer habe bei seiner Schöpfung einzig und allein diesen Zweck im Auge gehabt, denn es wurden sehr hohe Löhne gezahlt und die Sorgfalt für das Wohl der Arbeiter zeigte sich unermüdlich tätig; allein der Unternehmer war ein wildfremder Mann, ein Südamerikaner, der, wie man erzählte, nie einen Fuß auf europäischen Boden gesetzt hatte. Er war und blieb unsichtbar, wie eine Gottheit hinter den Wolken, und wurde durch einen Generalbevollmächtigten, ebenfalls einen Amerikaner, vertreten... Somit zerfiel der Glaube an eine außergewöhnlich menschenfreundliche Bestrebung, und das Ganze galt »für eine überseeische Spekulation, der man noch viel Unkenntnis der deutschen Verhältnisse ansehe«. –

Man schrieb es jedenfalls auch auf Rechnung dieser »Unkenntnis«, daß die Neuenfelder Lehmhütten mit ihren papierverklebten Fenstern und geflickten Schindeldächern verschwunden waren – »sie hatten ja bis dahin vollkommen ausgereicht für die Bedürfnisse dieser Leute, es war kein einziger darin erfroren«... An ihrer Stelle erhoben sich jetzt schmucke zweistöckige Häuser mit rotem Ziegeldach und hellgetünchten Wänden, und an diesen Wänden rankten sich wohlgepflegte Kletterrosen und die wilde Rebe empor und flochten Girlanden um die Fenster. Der Gartenfleck aber, der ein Haus von dem anderen trennte und der sich auch noch schmal vor der Straßenseite hinstreckte, zeigte am deutlichsten, daß Geschmack und Sinn für das Zierliche keineswegs das Monopol der gebildeten Welt sind – unter dem Druck der Not und Armut schlafen sie nur... Das ehemals so öde Stück Gartenland durchliefen jetzt saubere, mit weißblühenden Federnelken oder Buchsbaum eingefaßte Kieswege, und Obstbäume und Gemüsebeete zeugten von sorgfältig pflegenden Händen. Einst hatte nur die plumpe Scheibe der Sonnenrose über den verwilderten Zaun genickt, nun aber waren die Beete bestreut mit veredelten Blumen, und die Stachelbeerumzäunung hatte einem zierlichen, hellangestrichenen Staket weichen müssen. Und die knorrigen Linden, die als traute Kameraden der alten Schindeldächer so viel Not und Kummer miterlebt hatten, klopften lustig an die neuen blinkenden Fensterscheiben und beschatteten ein behagliches Kiesplätzchen und eine Gruppe weißer Gartenmöbel zu ihren Füßen.

Der unsichtbare Mann in Südamerika mußte ein wahrer Krösus und, wie die harmlosen Neuenfelder Leute sich ausdrückten, »viel, viel reicher als ihr Landesherr« sein, denn er hatte nicht allein ihnen, sondern auch seinen Arbeitern in den Nachbarorten die neuen Wohnungen gebaut. Das vorgestreckte Kapital wurde ihnen in verhältnismäßig sehr geringen Summen vom Wochenlohn abgezogen, so daß sie in den Besitz gesunder und stattlicher Wohnhäuser kamen, fast ohne zu wissen wie. Der Unsichtbare hatte eine Volksbibliothek, eine Pensionskasse und noch andere segensreiche Anstalten gegründet, und so zogen die Intelligenz und der Fortschritt wie auf Sturmesflügeln in Regionen, die, tief zu Füßen des weißen Schlosses liegend, »doch von Rechts wegen und bis an das Ende aller Tage« in den wohlverbrieften Stillstand mitgehörten...

Außer dem Hüttenwerk hatte der Fremde auch das ganze ehemalige Zweiflingensche Waldgebiet käuflich an sich gebracht. Baron Fleury hatte eine so fabelhafte Summe für den Besitz erhalten, daß er ein Tor gewesen wäre, das Angebot von sich zu weisen. Diesmal blieben Wald und Waldhaus beisammen. Eines Tages wurden die Zweiflingenschen Ahnen und die Hirschköpfe, sorgfältig verpackt, aufgeladen und nach A. gefahren, wo ihnen im stolzen Ministerpalais ein besonderer Saal eingeräumt worden war... Dann kamen Handwerker und renovierten das alte, baufällige Waldhaus – zu welchem Zwecke, das wußte niemand. Die neuen Schlösser und Fensterläden wurden nach Vollendung der Arbeiten verschlossen und verriegelt, und nur dann und wann ließ der Generalbevollmächtigte lüften.

Der Minister kam selten nach Arnsberg, aber wenn es einmal geschah, dann – so erzählte man sich – zog er verstohlen die Vorhänge der Fenster zu, die nach Neuenfeld sahen... Er hatte bei Verkauf des Eisenwerks, das, zuletzt sehr lau betrieben, dem Staat nahezu eine Last geworden war, nicht geahnt, daß es in »solch ungeschickte« Hände fallen werde... Diese sogenannte Musterkolonie da drüben war ein vollständiger Hohn auf sein Regierungssystem – unter seinen Augen entwickelte sich der verderbliche Geist der Neuerung, den er am liebsten mit Feuer und Schwert vertilgt hätte...

Seine Exzellenz hielt die Zügel noch genau so stramm wie vor elf Jahren; in neuerer Zeit jedoch hatte er sein Regierungsprogramm um eins erweitert: Er unterstützte nachdrücklich religiöse Bestrebungen, und es begab sich nun allsonntäglich, daß von den Kanzeln der Segen des Himmels auf seine weisen Maßregeln und sein »Gott wohlgefälliges Regiment« herabgefleht wurde... Und die Staatsmaschine war so gut eingeölt und ging so vortrefflich, daß der Fürst des Abends sein Haupt auf das Kopfkissen legte, ohne je von dem Gespenst der Regierungssorgen belästigt zu werden, während sein Minister alljährlich einige Monate zu seiner Erholung auswärts leben konnte. Baron Fleury brachte diese Zeit meist in Paris zu. Als letzter Sproß einer im Jahre 1794 ausgewanderten französischen Adelsfamilie hatte er selbstverständlich noch viele Anhänglichkeit an die alte Heimat – aber es lagen auch noch andere Gründe vor, wie er sich stets sehr aufrichtig ausließ... Liegende Güter besaß er freilich nicht mehr in Frankreich – sie waren nach der Flucht seiner Familie eingezogen worden und trotz der heftigsten Reklamationen seines Vaters, welcher, infolge der vom ersten Konsul Bonaparte erteilten Amnestie, auf kurze Zeit nach Frankreich zurückkehrte, unwiederbringlich verloren. Dagegen fand der Geflüchtete nach so langer Zeit wunderbarerweise sein gesamtes Barvermögen wieder. Die Fleury hatten ganz plötzlich mitten in der Nacht, vor heranziehenden Sansculotten und den eigenen aufrührerischen Gutsangehörigen flüchtend, ihr altes Stammschloß verlassen müssen. Das allmählich und vorsichtig eingezogene Barvermögen befand sich wohlverpackt in einem Schlupfwinkel des Kellers, mußte jedoch zurückbleiben. Die wilden Haufen zerstörten das Schloß, entblößten jedoch den Schatz nicht, den später ein alter treuer Diener, der ehemalige Gärtner, unbemerkt in seine Wohnung zu retten wußte. Und als dann der zurückgekehrte Fleury zähneknirschend am Gittertor seines ehemaligen Parkes stand und nach dem neuerbauten Schloß hinübersah, das ihm nicht mehr gehörte, da kam ein alter, halb kindisch gewordener Mann, küßte schluchzend seine Hand und führte ihn in den Keller seines ärmlichen Häuschens vor eine Reihe kleiner Geldfässer, an deren Inhalt auch nicht ein Sou fehlte... Diese Gelder hatte sein Vater in Frankreich wohlangelegt, wie der Minister oft beiläufig erwähnte, und sie waren es, die seine häufigen Reisen nach Paris nötig machten.

Was für ein kolossales Vermögen mußte das sein! Der Minister machte einen wahrhaft fürstlichen Aufwand, besonders seit seiner zweiten Vermählung. Seine Einkünfte in Deutschland, so bedeutend sie auch sein mochten, waren dem Verbrauch gegenüber doch nur »ein Tropfen auf einen heißen Stein«, wie der Volksmund sagte. Natürlich gab dieser ferne goldene Hintergrund Seiner Exzellenz einen ganz besonderen Nimbus, und es schien fast, als bekleide er seinen hohen Posten fort und fort lediglich aus Hingebung für seinen durchlauchtigsten Freund, den Fürsten.

Das weiße Schloß sah also, wie gesagt, seinen Besitzer selten; deshalb stand es aber doch nicht ganz verwaist. Die junge Gräfin Sturm bewohnte ihr nahegelegenes Gut Greinsfeld und kam oft, in ihrer Vorliebe für Arnsberg beharrend, auf Monate herüber. Freilich schien dann jedesmal das Schloß zweifach umgürtet in vornehmer Unnahbarkeit; denn die junge Dame war streng in Standesvorurteilen erzogen und zudem von Kindheit an so leidend, daß sie in förmlich klösterlicher Zurückgezogenheit ihr junges Leben verbringen mußte. In ihrem sechsten Jahre war sie infolge eines heftigen Schreckens von einem Nervenübel befallen worden. Diese Krankheit nahm insofern einen bedenklicheren Charakter an, als sie bei jeder Gemütsbewegung wiederkehrte, und da die Ärzte schon vorher einstimmig erklärt hatten, daß die Konstitution des Kindes unhaltbar sei, so gehörte die kleine Reichsgräfin Sturm in den Augen der Welt bereits zu den Toten, und der Minister wurde stillschweigend beglückwünscht, denn er war Universalerbe des Kindes.

Ärztlicher Verordnung zufolge wurde die Kleine in die Greinsfelder Gebirgsluft gebracht. Man umgab sie mit allem Glanz und Komfort, den ihre hohe Lebensstellung erheischte, aber auch mit der tiefsten Einsamkeit, die nur Frau von Herbeck, ein Arzt und eine Zeitlang ein Religionslehrer teilten. Für die Bewohner von A. erlosch das junge, dem sicheren Tode verfallene Dasein bereits mit der Übersiedlung, und die Dorfleute in Arnsberg und Greinsfeld sahen das bleiche Gesichtchen auch nur flüchtig hinter den Glasscheiben des vorüberrollenden Wagens, oder wenn es ihnen gelang, einmal scheu durch den streng abgeschiedenen Schloßgarten zu huschen. Nicht einmal in der Kirche hatten sie den Genuß, ihre kranke Herrin mit Muße betrachten zu können, denn sie wurde, als von katholischen Eltern, auch im katholischen Glauben erzogen und betrat das protestantische Gotteshaus niemals.

So verging ein Jahr um das andere, deren jedes nach menschlichem Dafürhalten eine Gnadenfrist war für die hinwelkende Menschenknospe... Die Herren Mediziner hatten wichtig den Finger an die Nase gelegt und eine Prognose gestellt, an der kein Gott rütteln konnte – und aus dem prophezeiten Tode und Moder stieg fast urplötzlich eine Lilie empor und sah lächelnd dem Leben ins sonnige Antlitz. –

Da, wo das ehemalige Zweiflingensche und das Arnsberger Waldgebiet zusammenstießen, lag ein hübscher kleiner See. Er gehörte noch in das Weichbild des weißen Schlosses, aber die Buchen, die seinen westlichen Saum bestanden, waren bereits Vorposten des Nachbarreviers.

Die heiße Julisonne brannte senkrecht über dem Gewässer; glatt wie eine goldene Tafel lag sein Mittelpunkt da – nur bisweilen zitterten leise Schwingungen vom Ufer her und gruben krause, wunderliche Gebilde, vielleicht ein Gedicht des Waldes – in die Fläche. Der Wasserring aber, über dem das Ufergebüsch und die verschränkten Eichen- und Buchenäste hingen, war dunkel und geheimnisvoll wie der Wald selbst... Und auf dieser gründämmernden Bahn zog leise ein Kahn hin. Das Ruder reichte hinaus in die sonnendurchleuchtete Flut und hinterließ, leicht einsinkend, eine schmale, blitzende Furche; manchmal verschwand es – dann drehte sich der Kahn und fuhr auf das Land auf.

Ein Mädchen saß am Ruder, und auf der schmalen Bank ihr gegenüber hockten drei Kinder, zwei Knaben und ein allerliebstes kleines, blondköpfiges Mädchen. Die Kinder sangen aus voller Brust mit glockenhellen Stimmen:

»Ich hab' mich ergeben
Mit Herz und mit Hand
Dir, Land voll Lieb' und Leben,
Mein deutsches Vaterland!«

Der Kahn saß fest und schwankte nicht mehr, und da ließ es sich noch einmal so schön singen über den See hinüber und zwischen die ernsthaften Waldbäume hinein.

Das Mädchen am Ruder hörte schweigend zu. Hinter ihr durchschnitt ein sanft emporsteigender, moosbewachsener Weg das Dickicht, und der Wald tat sich tief auf in seiner grünen Finsternis. Auf die Kindergruppe fiel noch ein Hauch des goldenen Tages draußen – das blonde Haar des kleinen Mädchens flimmerte, und die Knaben, die nach dem See hinaussangen, hielten die Hand schützend über die Augen. Die junge Schifferin aber saß tief im grünen Dämmerlicht, nur über ihre Knie hin legte sich ein blasser, durch das Blätterdach zuckender Goldstreifen wie ein reichgewirkter Tunikasaum, und die perlmutterweiße Stirn umkreiste traumhaft ein blauschimmerndes Stäbchen – eine verirrte Libelle.

Die Kinder schwiegen und horchten mit angehaltenem Atem auf ein Echo, das aber so unfreundlich oder vielleicht auch so politisch war, auf das »deutsche Vaterland« keine Antwort zu haben.

Dafür erschien drüben am jenseitigen Ufer ein Herr in Begleitung zweier Damen. Er zuckte mißmutig und ratlos die Schultern, während sein Blick suchend über die glatte unbewegte Wasserfläche schweifte. Da trat ein mitgekommener Lakai respektvoll vor und deutete auf den Kahn im Gebüsch.

»Gisela!« rief der Herr hinüber.

Das Mädchen am Ruder schrak zusammen, und das Rot einer tödlichen Verlegenheit färbte ihr Gesicht. Einen Moment irrten ihre braunen Augen unsicher über die Kinderköpfchen hin, aber auch nur einen Moment – dann lächelte sie.

»Hinauswerfen kann ich euch nun einmal nicht, das steht fest!« sagte sie. »Also in Gottes Namen vorwärts!«

Mit wenigen energischen Bewegungen machte sie den Kahn flott; er flog hinaus, und jetzt flutete das Sonnenlicht voll über das unbedeckte Haupt der Schifferin. Die weiten offenen Ärmel ihres weißen Kleides hoben sich leicht bei Bewegung des Ruderns – wie ein Schwan kam die graziös vorgeneigte Gestalt dahergeschwommen. Das an Stirne und Schläfen mit einem hellen Seidenband zurückgenommene Haar fiel in offenen Wellen über den Nacken und umwob flimmernd das weiße Gesicht mit einer Glorie.

Ihre großen, braunen Augen hefteten sich dann und wann prüfend auf die Gruppe am Ufer; aber die Röte der Verlegenheit auf ihren Wangen war verflogen; die Ruderschläge blieben gleichmäßig, keine Spur von Hast verriet, daß die Schifferin das Ufer rasch zu erreichen wünsche... Ob das vielleicht drüben übel vermerkt wurde?... Der Herr runzelte finster die Brauen, und die an seinem Arme hängende schöne Dame ließ plötzlich mit einem unbeschreiblichen Gemisch von Überraschung, Ungeduld und Mißfallen die Lorgnette von den Augen sinken.

»Nun, mein Kind, das ist ja eine ganz merkwürdige Situation, in der wir uns wiedersehen!« rief der Herr scharf hinüber, als der Kahn näher kam. »Tausend noch einmal, was für edle Passagiere fährst du!... Ich fürchte nur, sie werden ebenso leicht, wie du selbst, vergessen, wer am Ruder sitzt!«

»Lieber Papa, am Ruder sitzt Gisela, Reichsgräfin Sturm zu Schreckenstein, Freiin von Gronegg, Herrin zu Greinsfeld usw. usw.«, antwortete das junge Mädchen... Das klang nicht etwa schelmisch übertrieben – es war die vollkommen ernst gemeinte Zurückweisung des Vorwurfs. In diesem Augenblick war die Sprechende Zoll für Zoll die Trägerin der hochtönenden, aristokratischen Namen.

Sie wandte den Kahn geschickt, er stieß ans Land, und mit einem leichten Sprung schwang sie sich auf das Ufer.

Das Kind mit dem unschönen, eckigen Gesicht, mit dem farblosen Haar und dem gelben, kranken Teint, das gebrechliche Geschöpf, das in die Einsamkeit geschickt worden war, lediglich um dort zu sterben – da stand es als hochgewachsene Mädchengestalt, und wer das Bild der Gräfin Völdern, »der schönsten Frau ihrer Zeit«, gesehen hatte – diese schlanken, geschmeidigen Glieder mit dem schneeweißen Gesicht unter dem voll herabflutenden Haar –, der konnte meinen, sie sei eben nur aus ihrem goldenen Rahmen herausgetreten, um hier im lebendigen Odem der Waldesluft zu wandeln... Freilich hatten diese keuschen, nachdenklichen Augen nicht das dämonisch Überwältigende jener schwarzen, funkelnden, und das Haar, das dort gelb wie der Bernstein leuchtete, floß hier in einem dunkeln Blond zum Nacken und lief nur an den Schläfen in einen zarten Silberschein aus, aber im allgemeinen lebte jenes unselige Weib wieder auf in den jungen Formen, die sich aus einem langen Siechtum plötzlich entwickelten, wie die frische, weiß hervorquellende Blüte aus der düsteren Knospenhaft.

Die Seele aber hatte diese Wandlung nicht mitgemacht. Das war noch derselbe klarkalte, unerbittliche Blick, an dem alles Bemühen um Zuneigung scheiterte; und die eigentümliche Scheu vor jeglicher Berührung trat in diesem Augenblick grell hervor – sie verbeugte sich leicht und ungezwungen, aber ihre Arme hingen an den Seiten nieder, und die schlanken Finger verschwanden in den Falten ihres weißen Musselinkleides – sie hatte keinen Händedruck für die Angekommenen, und doch kam Seine Exzellenz direkt von Paris, wo er sich drei Monate aufgehalten hatte, und seine schöne Gemahlin hatte den Winter und Frühling mit der leidenden Fürstin in Meran zugebracht und die Stieftochter seit dreiviertel Jahren nicht gesehen.

Hatte die Dame schon gewissermaßen erschrocken die heranschwimmende Gestalt fixiert, so sah sie jetzt für einen Moment völlig fassungslos mit einer Art ungläubigen Entsetzens nach dem jungen Mädchen, das sich plötzlich so hoch und schlank aufrichtete – dieser Ausdruck verschwand indes blitzschnell wieder. Sie ließ den Arm ihres Gemahls los und streckte der jungen Gräfin die Hände entgegen.

»Guten Tag, herzlichstes Kind!« rief sie in weichen, warmen Tönen. »Ja, nicht wahr, da kommt nun die Mama an und muß gleich schelten?... Aber es macht mir tödliche Angst, dich so springen zu sehen... Denkst du denn gar nicht an deine kranke Brust?«

»Ich bin nicht brustleidend, Mama«, sagte das junge Mädchen so eiskalt, als es dieser kindlich-lieblichen Stimme eben möglich war.

»Aber Herzchen, willst du denn das besser wissen als unser vortrefflicher Medizinalrat?« fragte die Dame achselzuckend mit einem halben Lächeln. »Ich möchte dir ja um alles deine Illusionen nicht rauben; allein wir dürfen ein solches Mißachten des ärztlichen Ausspruchs nicht dulden – du übernimmst dich sonst... Ich kann dir sagen, ich bin furchtbar erschrocken, dich auf dem Wasser zu sehen... Kind, du leidest am Veitstanz, kannst den Arm nicht zwei Minuten still halten und willst trotzdem mit diesen armen, kranken Händen einen Kahn regieren?«

Die junge Gräfin antwortete nicht. Langsam hob sie ihre Arme, breitete sie weit aus und blieb bewegungslos stehen, und so zartbleich auch ihr Gesicht war, so geschmeidig und biegsam auch die Gestalt dort stand, sie war in diesem Moment doch das strahlende Bild jugendlicher Kraft und Frische.

»Nun überzeuge dich, Mama, ob mein Arm zittert!« sagte sie, den Kopf mit einer Art von glücklichem Stolz zurückwerfend. »Ich bin gesund!«

Gegen diese Behauptung ließ sich augenblicklich nichts einwenden. Die Baronin sah seitwärts, als verursache ihr das Experiment Angst und Herzklopfen, aus den Lidern des Ministers aber glitt ein eigentümlicher, scheuprüfender Blick über die Arme, die sich, rosig bis in die Fingerspitzen und von marmorglatter Form, aus den zurückfallenden Musselinärmeln hervorstreckten.

»Strenge dich nicht so übermäßig an, mein Kind!« sagte er, indem er die Rechte des Mädchens ergriff und niederbog. »Das ist nicht nötig! Du wirst mir erlauben, mich vorläufig noch an die Berichte deines Arztes zu halten, und diese – weichen denn doch noch ein wenig ab von deiner Anschauungsweise... Übrigens habe ich nicht, wie Mama, Angst bei deiner Wasserfahrt empfunden. Ich will dir aufrichtig gestehen, daß mich die burschikose Art und Weise, das Haus zu verlassen und im Walde umherzustreifen, an einer Gräfin Sturm sehr befremdet... Mit dir mag ich indes nicht so streng ins Gericht gehen – ich schreibe dies absonderliche Gelüst auf Rechnung deines Krankseins... Sie dagegen, Frau von Herbeck« – er wandte sich an die Dame, die mitgekommen war –, »begreife ich in der Tat nicht. Die Gräfin kommt mir unsäglich vernachlässigt vor – wo haben Sie die Augen und Ohren gehabt?«

Wer hätte in der unförmlich dicken Erscheinung, die purpurrot vor Erregung dem Minister gegenüberstand, die ehemals so graziöse Gouvernante wiedererkannt!

»Exzellenz haben mich bereits auf dem ganzen Weg bis hierher gescholten«, verteidigte sie sich tiefgekränkt; »jetzt mag die Gräfin der Wahrheit die Ehre geben und mir bestätigen, daß ich über ihr geistiges und körperliches Wohl wie ein Argus wache – aber leider – da genügen tausend Augen nicht!... Wir sitzen vor einer Stunde im Pavillon, die Gräfin hat ein Glas voll Blumen vor sich, um sie zu zeichnen – da steht sie plötzlich auf und geht ohne Hut und Handschuhe hinaus in den Garten; ich bin in dem guten Glauben, sie will noch einige Blumen holen –«

»Nun ja, das wollte ich ja auch, Frau von Herbeck«, warf das junge Mädchen mit einem ruhigen Lächeln ein; »nur hatte ich Sehnsucht nach Waldblumen –«

»Um Gott, Kind, ich glaube gar, du hast Anlage zur Sentimentalität – nur das nicht!« rief der Minister abwehrend – seine Stimme hatte in den weiteren zwölf Jahren seiner diplomatischen Laufbahn bedeutend an schneidender Schärfe gewonnen. »Ich habe dir lediglich aus dem Grunde die hirnverdrehenden Märchenbücher stets weggenommen, und nun muß ich doch erleben, daß dir die sogenannte Waldpoesie im Kopfe spukt... Weißt du nicht, daß sich ein junges Mädchen deines Standes in den Augen vernünftiger Leute grenzenlos lächerlich macht, wenn es wie ein Gänsemädchen einsam draußen umherschweift, das Ruder in die Hand nimmt –«

»Um ein paar Taglöhnerkinder über den See zu fahren«, wagte die tieferbitterte Gouvernante einzuwerfen. »Liebe Gräfin, ich fasse es nicht, wie Sie sich so vergessen konnten!«

Bis dahin hatten Giselas Augen widerspruchslos, aber mit dem nachdenklich forschenden Ausdruck, der ihnen so eigen war, an dem Gesicht des Stiefvaters gehangen. Die auffallende Gereiztheit dessen, der, ein einziges Mal ausgenommen, stets die grenzenloseste Nachsicht gegen sie geübt hatte, befremdete sie offenbar mehr, als sie sich die Rüge zu Herzen zu nehmen schien. Bei Frau von Herbecks spitzer Bemerkung jedoch flog ein herber Zug um ihren Mund.

»Frau von Herbeck«, sagte sie, »ich erinnere Sie an das, was Sie immer ›die Richtschnur Ihres ganzen Lebens‹ nennen – an die Bibel... Waren es nur adlige Kinder, die Christus zu sich kommen ließ?«

Der Kopf des Ministers fuhr herum – er starrte seiner Stieftochter einen Augenblick sprachlos ins Gesicht... Dieses junge Wesen, das man »in Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand« in Unwissenheit und geistiger Untätigkeit hatte aufwachsen lassen, das gleichsam mit der Lebensluft nur aristokratische Anschauungen und Vorurteile eingeatmet hatte, der streng behütete gräfliche Sproß entwickelte nun auf einmal von innen heraus eine Logik, die in sehr fataler Weise an die berüchtigte Denkfreiheit erinnerte.

»Was sprichst du da für ungereimtes Zeug, Gisela!« fuhr er heraus. »Für dich ist und bleibt es ein Unglück, daß die Großmama so früh sterben mußte... Es ist ein Zug in dir, der abwärts neigt, und den würde sie, dies Bild aristokratischer Hoheit und Frauenwürde –« die Baronin räusperte sich und stieß mit der lackierten Spitze ihres Stiefelchens einen Stein hinab in das Wasser –, »ja, sie würde diese Neigung bis auf das kleinste Wurzelfäserchen vertilgt haben«, fuhr der Minister unbeirrt fort. »In ihrem Namen verbiete ich dir hiermit ernstlich alle derartigen Unschicklichkeiten, wie sie bereits vorgekommen sind.«

Noch umschloß die unschuldige Mädchenseele mit Inbrunst das Bild der Großmutter – an dies Andenken hatte ihr grübelnder und zersetzender Verstand nie gerührt. Sie war sehr stolz auf ihre hohe Abkunft, weil es die Großmama auch gewesen war; sie beharrte in mancher feudalen Härte ihren Untergebenen gegenüber, fest überzeugt, daß es so und nicht anders sein müsse, denn »die Frau Reichsgräfin Völdern« hatte es genau so gehalten und es ebenso von ihrer Enkelin verlangt.

»Nun meinetwegen«, sagte sie auch jetzt, zwischen Nachgiebigkeit und unmutigem Widerstand schwankend; »wenn es sich denn durchaus nicht für mich schickt, so geschieht es eben nicht wieder... Übrigens waren es durchaus keine Taglöhnerkinder – das kleine Mädchen gehört in die Pfarre –«

Ein Schrei unterbrach sie. Einer der Knaben hatte inzwischen den Kahn weitergerudert und an einer ungünstigen Stelle angelegt. Beim Herausspringen war das kleine Mädchen in den See gestürzt – eben verschwand das blonde Köpfchen unter dem Wasser, als ein riesiger Neufundländer dicht hinter den am Ufer Stehenden aus dem Dickicht brach und sich in den See warf. Er packte das Kind und legte es, an das Ufer springend, zu den Füßen eines Herrn nieder, der aus dem Gebüsch getreten war.

Das kleine Blondköpfchen war jedenfalls ein munteres, beherztes Ding, das keinen Augenblick die Geistesgegenwart verloren hatte – es richtete sich sofort auf und strich mit flinken Händchen das Wasser aus den Augen.

»Ach, du lieber Gott, meine neue blaue Orleansschürze!« rief sie erschrocken und rang die triefende Schürze aus. »Na, die Mama wird schön zanken!«

Gisela, die herbeigeflogen war, zog mit bebenden Händen ein Tuch aus der Tasche, um es dem Kind über die nassen Schultern zu werfen.

»Das wird wenig nützen«, sagte der Herr. »Aber ich möchte Sie bitten, künftig zu bedenken, daß solch ein kleines Menschenleben auch beschützt sein will, wenn wir es eigenmächtig in die Hand nehmen... Mag es für die Gräfin Sturm auch nur die Geltung eines Spielzeugs haben – es hat doch Eltern, die es beweinen würden.«

Er nahm das durchnäßte Kind auf den Arm, lüftete den Hut und ging, während der Hund freudeheulend an ihm in die Höhe sprang.

Den gefalteten, schlaff niedergesunkenen Händen der jungen Gräfin war das Tuch entfallen – mit tieferschrockenen Augen und blassen Lippen hatte sie die harte, strafende Rede hingenommen, und nun starrte sie wortlos dem Fremden nach, bis er im Dickicht verschwunden war.


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