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Am unteren Ende des Ganges erschien in diesem Augenblick Gisela. Die Besorgnis, daß der Fürst doch vielleicht einen anderen Rückweg einschlagen könne, hatte sie endlich die Treppe hinaufgetrieben, sie wollte ihn im Korridor erwarten; denn sie sagte sich mit Recht, daß sie nicht mehr in seine Nähe gelangen würde, wenn er wieder im Tanzsaale inmitten seiner Gäste sei.
Der Minister brach beim Erblicken seiner Stieftochter in ein höhnisches Kichern aus – es war, als gäbe sie ihm die Besinnung zurück.
»Du kommst ja wie gerufen, Goldkind!... Gehe nur hinein, da hinein!« rief er und zeigte mit dem Daumen über die Schulter nach dem eben verlassenen Salon zurück. – »Liebchen, du hast mich gehaßt vom Grunde deines Herzens, mit der ganzen Kraft deiner störrischen Seele – ich weiß es, und jetzt, wo unsere Wege sich trennen für immer und ewig, kann ich mir die Genugtuung nicht versagen, dich wissen zu lassen, daß die Antipathie gegenseitig gewesen ist... Das erbärmliche, eigensinnige Geschöpf, das mir die Gräfin Völdern hinterlassen, war für mich ein Gegenstand des Abscheues; ich habe stets nur mit innerem Widerstreben den kleinen, kranken Körper berührt, den man ›meine Tochter‹ nannte... So – nun sind wir quitt! Und nun gehe da hinein und sprich: ›Mein lieber Papa hat mich ins Kloster stecken wollen, weil ihm nach meinem Erbe gelüstete!‹ Ich sage dir, das wird einen Knalleffekt geben, einen Knalleffekt« – er schnappte wie wahnwitzig mit den Fingern in die Luft. – »Im übrigen waren deine geistreichen Argumente gegen das Klosterleben völlig überflüssig – wir hätten uns den Streit um des Kaisers Bart ersparen können, Gräfin Sturm – ein anderer hat die fatale Angelegenheit ungleich gelungener zum Austrag gebracht!... Ha, ha, ha! Ich hatte mir das letzte gräflich Völdernsche Gesicht so allerliebst im Nonnenschleier gedacht!... Armensuppen brauchst du nun auch nicht zu kochen, du kannst getrost und ungeniert über die Wiesen laufen, wie du dir idyllischerweise gewünscht hast, und behältst auch ein ganz ansehnliches Stück Himmel über dir – aber merke dir wohl: nur den Greinsfelder Himmel; in Arnsberg schüttle dir nur den Staub von den Füßen, wie Seine Exzellenz, der Minister, binnen wenigen Augenblicken auch tun wird!«
Er stierte vor sich hin, als steige erst jetzt die ganze entsetzliche Zukunft mit ihrer niederschmetternden Wucht vor ihm auf, während Gisela sprachlos vor Schrecken und Abscheu zurückwich und sich an den nächsten Fenstersims anklammerte.
»Ja, ja, alles fort, alles fort!« stieß er heiser hervor. »Die gräflich Völdernschen Dorfinsassen und ihre Abgaben, und die Wildbraten in den Wäldern und die Karpfen in den Teichen, alles, alles wieder hochfürstlich!... Bei dir verfängt das freilich nicht, gelt, meine Kleine? Du bist zufrieden, wenn sie dir Milch und Schwarzbrot lassen... Aber sie, sie! Da liegt sie drunten, die schöne, erhabene, heilige Großmutter, und hält ein Kruzifix, das sie ihr in die weißen Hände gedrückt haben – ha, ha, ha! Der schönen Helena, die schnurstracks nach dem Blocksberg gefahren ist, ein Kruzifix!... Wenn sie aufwachen und das elende Papier sehen könnte! Sie würde es mit den Zähnen zerreißen und den Boden zerstampfen mit ihren Füßen! Sie würde – wie ich – nur eins haben für alle, für alle: ihren Fluch!«...
Er lief an dem jungen Mädchen vorüber, nach der Treppe zu und stieß ein gellendes Hohngelächter aus; es hallte schauerlich von den engen Wänden des Korridors wider und mußte wohl auch schreckhaft in den Salon mit den violetten Plüschvorhängen dringen. Die Türe wurde geöffnet, und der Fürst sah heraus.
Der Minister war bereits im Treppenhause verschwunden; Gisela aber lehnte mit schlaff niedergesunkenen Händen, die Augen voll Entsetzen nach dem Fliehenden gerichtet, wie erstarrt an der Wand.
Der Fürst schritt geräuschlos auf sie zu und legte seine Hand leicht auf die Schulter der Zusammenfahrenden. Ein furchtbarer Ernst lag auf seinem schmalen Gesicht – es schien binnen einer halben Stunde um fünfzehn Jahre gealtert zu sein.
»Kommen Sie herein, Gräfin Sturm«, sagte er freundlich, wenn auch jene zärtliche Güte, mit der er sie sonst anzureden pflegte, aus Ton und Antlitz verschwunden war.
Gisela folgte dem Fürsten mit schwankenden Schritten in den Salon.
»Sie wünschten mich unter vier Augen zu sprechen, nicht wahr, Gräfin?« fragte er, indem er dem Portugiesen einen Wink gab, in das anstoßende Zimmer zu treten.
»Nein, nein!« rief Gisela in ausbrechender Heftigkeit und streckte dem Hinausgehenden zurückhaltend die Hände nach. »Auch er soll hören, wie schuldig ich bin – er soll sehen, wie ich büße!«
Der Portugiese blieb an der Türe stehen, während das junge Mädchen schweigend die Hand auf das Herz preßte – sie rang sichtlich nach Atem und Fassung.
»Ich habe heute abend verraten, daß ich um das Verbrechen meiner Großmutter wußte«, sagte sie mit erstickter Stimme und niedergeschlagenen Augen. »Ich habe es gewagt, mit dem Bewußtsein der Schuld in Euer Durchlaucht Gesicht zu sehen, und habe den Mut gefunden, mit Ihnen über harmlose Dinge zu plaudern, während ich doch nichts anderes hätte sagen dürfen, als: ›Sie sind grausam hintergangen worden!‹... Ich weiß, daß der Hehler so strafbar ist wie der Dieb, aber, Durchlaucht«, rief sie, den in Tränen schwimmenden Blick zu ihm aufschlagend, indem sie bittend die Hände über der Brust faltete, »lassen Sie wenigstens eins für mich sprechen – ich bin immer ein verlassenes, liebearmes, verwaistes Geschöpf gewesen, das bei allem Reichtum nichts besessen hat, als das Bild, das Andenken der Großmutter!«
»Armes Kind, mit Ihnen gehe ich nicht ins Gericht«, sagte der Fürst bewegt. »Aber wer hat es übers Herz bringen können, Ihre junge Seele durch die Mitwissenschaft zu belasten? Sie können doch unmöglich als Kind –«
»Ich weiß um das Geheimnis erst seit wenigen Stunden«, unterbrach ihn Gisela. »Der Minister« – es war ihr unmöglich, dem Verabscheuten noch einmal den Vaternamen zu geben – »hat mir kurz vor Beginn des Festes den Vorfall mitgeteilt... Warum er mich zur Mitwisserin machte, sah ich nicht ein – jetzt weiß ich den Grund – aber Euer Durchlaucht werden mir erlauben, darüber zu schweigen... Ich glaubte den Namen Völdern retten zu müssen, und wenn ich auch den Ausweg, den Baron Fleury mir vorschlug, entschieden zurückwies, so hielt ich doch wenigstens einen Teil seines Gedankens fest: Ich wollte mich für meine Lebenszeit nach Greinsfeld zurückziehen, die Einkünfte der erschlichenen Güter jährlich an die Armen des Landes verteilen und schließlich das fürstliche Haus zu meinem Erben ernennen.«
Bei den letzten Worten stand sie plötzlich von Purpur übergossen da – ihr Blick hatte zum erstenmal, seit sie im Zimmer war, den des Portugiesen getroffen, der unverwandt auf ihr ruhte. Sie wurde sich in diesem Augenblick unter Schrecken und Beschämung wieder bewußt, daß der Gedanke, ihm anzugehören, vor kaum einer Stunde alle diese schönen Vorsätze aus ihrer Seele spurlos weggewischt hatte.
Dem Fürsten war ihr tiefes Erröten entgangen. Er hatte während der Mitteilung der jungen Dame mit auf dem Rücken verschränkten Händen rastlos den Salon durchmessen.
»Baron Fleury wollte Sie zur Nonne machen, nicht wahr, Gräfin?« fragte er stehen bleibend.
Gisela schwieg verlegen.
»Der grausame Egoist!« murmelte er zwischen den Zähnen. Er legte die schmale, fieberheiße Hand auf den tief gesenkten Scheitel des jungen Mädchens.
»Nein, nein – Sie sollen nicht lebendig in Greinsfeld begraben werden«, sagte er gütig. »Armes, armes Kind, Sie waren in schlimmen Händen!... Nun weiß ich auch, weshalb Sie um jeden Preis krank sein sollten und mußten. Sie sind von lauter verräterischen Seelen umgeben gewesen – man hat Sie geistig und körperlich zu morden gesucht... Aber nun sollen Sie wissen, was es heißt, jung und gesund zu sein – Sie sollen die Welt, die schöne Welt kennen lernen!«
Er ergriff ihre Hand und führte sie nach der Tür.
»Für heute kehren Sie nach Ihrem Greinsfeld zurück; denn hier ist Ihres Bleibens nicht –«
Gisela blieb zögernd an der Schwelle stehen.
»Durchlaucht«, sagte sie rasch entschlossen, »ich bin nicht allein hierhergekommen, um ein Bekenntnis abzulegen –«
»Nun?«
»Das fürstliche Haus hat zu schwere Verluste durch den Raub erlitten, es sind ihm so viele Einkünfte verloren gegangen. Ich bin die einzige Erbin der Gräfin Völdern; es ist meine heilige Pflicht, nach Kräften auszulöschen, was sie Schlimmes getan hat – nehmen Sie alles, was sie mir hinterlassen –«
»Oh, meine liebe, kleine Gräfin,« unterbrach sie der Fürst lächelnd, »glauben Sie im Ernst, ich könnte Sie brandschatzen und Sie, das arme, schuldlose Geschöpfchen, für das Vergehen Ihrer Großmutter büßen lassen?... Hören Sie, mein Herr?« wandte er sich schwer betonend und mit großer Genugtuung an den Portugiesen. »Sie haben mir mittels Ihrer Enthüllungen eine tiefe Wunde geschlagen, Sie haben die Axt an die Wurzeln des Adels gelegt, aber der liebliche Mädchenmund hier versöhnt wieder – er hat den Adel in meinen Augen gerettet!«
»Der Gedanke, den die Gräfin eben ausgesprochen hat, liegt allerdings nahe« – entgegnete der Angeredete ruhig – »auch Herr von Eschebach hat ihn gehabt. Er hat als Ersatz für die Einkünfte, die durch den von ihm unterstützten Betrug dem Fürstenhause während vieler Jahre entzogen worden sind, Euer Durchlaucht ein Kapital von viermalhunderttausend Talern vermacht.«
Der Fürst fuhr überrascht empor.
»Ah – war er in der Tat ein solcher Krösus?« Er durchmaß das Zimmer einigemal mit raschen Schritten, ohne ein Wort zu sprechen.
»Ich kenne Ihre Lebensgeschichte nicht, mein Herr«, sagte er, vor dem Portugiesen stehen bleibend. »Aber einige Ihrer Andeutungen, dem Baron Fleury gegenüber, ließen mich an einen erschütternden Vorfall denken – Ihr Bruder ist ertrunken, und Sie haben infolgedessen Deutschland verlassen?«
»Ja, Durchlaucht.« – Wie schmerzlich grollend klangen diese Töne!
»Sie trafen Herrn von Eschebach zufällig auf Ihren Streifereien durch die Welt?«
»Nein. Er war mit meinen Eltern befreundet gewesen; er hat mich und meinen Bruder direkt aufgefordert, nach Brasilien zu kommen; ich verließ Deutschland, um seinem Rufe zu folgen.«
»Ah, dann sind Sie gewissermaßen sein Adoptivsohn, sein Erbe?«
»Er hat allerdings geglaubt, er müsse mir für ein wenig Liebe und Pflege, die er von mir empfangen hat, mit seinen Reichtümern dankbar sein... Aber mir hat gegraut vor dem Mann und seinen Schätzen, als er mir auf seinem Totenbette jene Geständnisse machte. Ich kann es ihm noch nicht verzeihen, daß er bis an seinen Tod schweigen konnte, daß er in seinem ehemaligen Vaterlande viel Schlimmes hatte geschehen lassen, während es eines Wortes von ihm bedurfte, um den zu stürzen, der es verübte. Er war feig gewesen und hatte den Makel auf seinem Namen gefürchtet... Ich habe das Erbteil öffentlichen wohltätigen Anstalten zugewiesen... Das Glück hat meine Privatunternehmungen begünstigt – ich stehe auf eigenen Füßen!«
»Kehren Sie nach Brasilien zurück?« Der Fürst sagte das mit einem eigentümlich lauernden Blick, indem er dem Portugiesen näher trat.
»Nein – ich wünsche mich in meiner Heimat nützlich machen zu können... Durchlaucht, ich gebe mich der beglückenden Hoffnung hin, daß mit dem Augenblick, da jener Elende über die Schwelle dort auf Nimmerwiederkehr geschritten ist, ein neuer Lebensodem durch das Land gehen wird –«
Des Fürsten Gesicht verfinsterte sich auffallend. Er senkte den Kopf und sah unter den tief zusammengezogenen Brauen hervor mit einem scharf messenden Blick zu dem gewaltigen Mann auf.
»Ja, er ist ein Elender, eine durch und durch verdorbene Seele,« sagte er langsam und jedes Wort betonend. »Aber das müssen Sie mir nicht vergessen, mein Herr – er war ein ausgezeichneter Staatsmann!«
»Wie, Durchlaucht, dieser Mann, der mit eisernem Griffe jedwede, auch die harmloseste Bestrebung nach einem höheren Aufflug im Volke niedergehalten hat?... Der Mann, der während seiner langen Wirksamkeit nicht einen Finger rühren mochte, der Not im Lande abzuhelfen? Der im Gegenteil der Industrie, den Einzelbestrebungen tüchtiger Köpfe stets einen Hemmschuh angelegt hat, wo er irgend konnte, aus Besorgnis, das Volk könne mit gefülltem Magen so übermütig werden, auch einmal einen Blick in die politische Küche des Staatslenkers werfen zu wollen?... Der Mann, der die hierarchischen Gelüste zuletzt auch auf sein Regierungsprogramm geschrieben hat, weil seine Weltweisheit der gewaltigen Strömung gegenüber doch nicht mehr ausreichte?... Er, der nicht einen Funken Religion in der Brust trägt, er hat sie an seinen Herrscherstab geknebelt: mächtig unterstützt von einer wühlenden, herrschsüchtigen Kaste, die den Vorzug der öffentlichen Rede besitzt, hat er die Hohe, die Milde, die ein Quell des Lichtes, des Trostes, der Erquickung für die Menschenseele sein soll, zur eisernen Jungfrau gemacht, die jeden, der ihr naht, in ihren Armen unbarmherzig erstickt und erdrückt!... Gehen Euer Durchlaucht durch das Land –«
»Still, still!« unterbrach ihn der Fürst mit einer abwehrenden Handbewegung – sein Antlitz war kalt und starr geworden, als sei es plötzlich zu Eis gefroren. »Wir leben weder im Orient noch in jener Märchenzeit, wo die Großwesire durch die Straßen wandelten, um das Urteil des Volkes zu hören... Es wird jetzt so viel durcheinander gewünscht, phantasiert und gefaselt, daß sich nur über dem Chaos zu halten vermag, wer unbeirrt, fest, unverrückbar auf seinem Standpunkt beharrt... Ich kenne Ihre schwärmerischen Ansichten bereits – Ihr Werk da drüben trägt sie an der Stirn – ich zürne Ihnen darum nicht, aber sie können niemals die meinigen sein... Sie hassen den Adel, ich aber werde ihn halten und stützen bis zum letzten Atemzuge... Ja, ich würde nicht anstehen, dem Prinzip die schwersten Opfer zu bringen... Ich verhehle mir nicht, daß die heutigen Ereignisse, wenn sie ruchbar werden, viel böses Blut machen müssen – und um deswillen berühren sie mich doppelt schmerzlich... Jenen Ehrlosen muß ich selbstverständlich fallen lassen. Wenn man aber seiner Entlassung andere Beweggründe unterlegen, mit einem Worte, wenn man die Sache in ihrer schlimmsten Beleuchtung jetzt noch unterdrücken könnte, ich wäre sehr gern bereit, das Ganze – die Persönlichkeit des Barons Fleury natürlich ausgeschlossen – als nicht geschehen zu betrachten... Ich ließe Sie, beste Gräfin, am liebsten im Besitz der fraglichen Güter –«
»Durchlaucht!« rief das junge Mädchen, als traue es seinen Ohren nicht. »Oh,« fügte sie mit schmerzlich sinkender Stimme hinzu, »das ist eine zu harte Strafe für meine Mitwisserschaft des Verbrechens!... Ich verwahre mich für alle Zeit gegen die Zurücknahme!« protestierte sie feierlich.
»Nun, nun, mein Kind – nehmen Sie das nicht zu tragisch!« rief der Fürst verlegen. »Es war wirklich nicht so ernst gemeint... Jetzt gehen Sie aber. In der Kürze werde ich nach Greinsfeld kommen und Rücksprache mit Ihnen nehmen – Sie sollen künftig unter dem Schutze der Fürstin an meinem Hofe leben.«
Gisela schrak zusammen, und abermals ergossen sich die Blutwellen über ihr Gesicht. Aber sie hob die Wimpern und sah den Fürsten mit ihren brauen Augen fest an.
»Euer Durchlaucht überhäufen mich mit Güte«, versetzte sie. »Ich erkenne diese Auszeichnung doppelt dankbar an, da die Familie Völdern sie wahrscheinlich nicht verdient hat... Allein ich darf die Ehre, am Hofe zu A. zu leben, nicht annehmen, weil mir bereits mein Lebensweg klar und bestimmt vorgezeichnet ist.«
Der Fürst trat erstaunt zurück. »Und darf man nicht wissen?« fragte er.
Die junge Dame schüttelte unter einem abermaligen Erglühen heftig den Kopf – sie machte eine unwillkürliche, rasche Bewegung nach der Tür, als wolle sie das Weite suchen.
Der Fürst schwieg und reichte ihr zum Abschiede die Hand.
»Aus den Augen verlieren werde ich Sie doch nicht, Gräfin Sturm«, sagte er nach einer kleinen verlegenen Pause. »Und wenn Sie je einen Wunsch haben, den zu erfüllen mir möglich ist, so vertrauen Sie mir ihn an, nicht wahr?«
Gisela verbeugte sich tief und trat über die Schwelle. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloß – die ehemalige kleine Beherrscherin dieser Räume hatte den Salon mit den violetten Plüschvorhängen und das verführerische unselige Seezimmer zum letztenmal gesehen.
Sie eilte wie gejagt durch den Korridor. Unten am Fuß der Treppe stand händeringend Frau von Herbeck.
»Um Gottes willen, liebe Gräfin, wo stecken Sie?« rief sie in tiefverärgertem Ton. »Es ist doch zu rücksichtslos von Ihnen, mich nachts so mutterseelenallein in dem ungeheuerlichen Saal sitzen zu lassen!«
»Ich war bei Seiner Durchlaucht,« entgegnete Gisela kurz, indem sie rasch an der kleinen Frau vorüberschritt und nach dem Saal zurückkehrte. Drin, an dem mächtigen Eichentisch, auf dem die Lampe brannte, blieb sie stehen. Sie stützte die Hand auf die Tischplatte und stand plötzlich vor der grollenden Gouvernante als die Herrin, die einer Untergebenen eine Eröffnung zu machen hat.
»Ich bitte Sie, den Wagen zu bestellen und nach Greinsfeld zurückzufahren«, sagte sie ruhig, aber in gebietendem Tone.
»Nun, und Sie?« fragte die Gouvernante, die nicht wußte, wie ihr geschah.
»Ich werde Sie nicht begleiten.«
»Wie, Sie bleiben im weißen Schlosse zurück? Ohne mich?« Sie betonte tiefbeleidigt das letzte Wort in einer aufsteigenden Frageskala, die endlos schien.
»Ich bleibe nicht in Arnsberg... In der Zeit von wenigen Stunden haben sich die Verhältnisse in diesem Hause und ihre Beziehungen zu mir so total verändert, daß meines Bleibens hier nicht mehr sein kann.«
»Barmherziger Himmel, was ist denn geschehen?« rief Frau von Herbeck zurücktaumelnd.
»Ich kann Ihnen das hier unmöglich auseinandersetzen, Frau von Herbeck – mir brennt der Boden unter den Füßen... Fahren Sie so bald wie möglich nach Greinsfeld... Die Erörterungen, die zwischen uns noch stattfinden müssen, werde ich auf schriftlichem Wege abmachen.«
Frau von Herbeck fuhr mit beiden Händen nach ihrem spitzenumhüllten Kopf.
»Herr meines Lebens, bin ich denn wahnsinnig, oder höre ich verkehrt?« schrie sie auf.
»Sie hören ganz richtig – wir müssen uns trennen.«
»Wie – Sie wollen mich fortschicken! – Sie?... Oh, da sind denn doch noch ganz andere Leute da, die zu entscheiden und ein Wörtchen in der Sache zu reden haben, Leute, die es zu würdigen wissen, was ich geleistet habe... Gott sei Dank, so bin ich doch nicht in Ihre Hände gegeben und von Ihren Launen abhängig! In dem Maße steht Ihnen noch lange, lange nicht die Macht zu, mich entlassen zu können... Ich halte es in der Tat unter meiner Würde, darüber auch nur noch ein Wort zu verlieren... Ich werde sofort, wie man sagt, vor die rechte Schmiede gehen und mir bei seiner Exzellenz Genugtuung für Ihr ungebührliches Benehmen ausbitten.«
»Baron Fleury hat keine Gewalt mehr über mich. – Ich bin frei und kann gehen, wohin ich will,« sagte Gisela fest und energisch. »Frau von Herbeck, Sie tun wohl, wenn Sie sich nicht auf Ihre Beziehungen zu Seiner Exzellenz berufen... Ich will Sie nicht aufs Gewissen fragen, weshalb Sie mir so hartnäckig eine längst erloschene Krankheit aufzwingen wollten; – ich will nicht fragen, weshalb auch Sie alles aufgeboten haben, mich von dem Verkehr mit der Welt abzuschneiden – Sie waren die intime Freundin eines gewissenlosen Arztes und mit ihm ein zu williges Werkzeug meines Stiefvaters!«
Die Gouvernante sank wie zerschmettert in einem Lehnstuhle zusammen.
»Das will ich Ihnen verzeihen,« fuhr Gisela fort. »Niemals kann ich aber Entschuldigung dafür finden, daß Ihr ganzes Bestreben darauf gerichtet gewesen ist, mich zu einer herzlosen Maschine zu erziehen!... Sie haben mich um Jugendjahre, um gute Taten, um die erhabensten Lebensfreuden betrogen, indem Sie mein Herz in den Eispanzer der Konvenienz, des Geburtshochmuts schnürten!... Wie durften Sie es wagen, Gott und sein Wort stündlich im Munde zu führen, während Sie einem Ihnen anvertrauten Gottesgeschöpf die edlen Triebe in der Seele zertraten und es so lange hinderten, in Wirklichkeit nach den höchsten Geboten zu leben und zu wirken?«
Sie wandte sich ab und schritt nach der Türe zu. Noch einmal streifte ihr Blick grüßend rings über die dunkeln Wände, die sie so sehr geliebt hatte, dann ging sie hinaus in den Korridor.
»Gräfin«, schrie Frau von Herbeck auf, »wohin gehen Sie?«
Das junge Mädchen winkte Schweigen gebietend und abweisend nach der Gouvernante zurück und stieg die Treppe hinab.