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Siebzehntes Kapitel

Es reicht des öfteren ein Verlangen hin, um einen Menschen in Mißbehagen zu versetzen; nun stelle man sich zwei auf einmal, das eine im Kriege mit dem anderen, vor. Der arme Renzo hatte seit vielen Stunden deren zwei in sich, wie man weiß: das Verlangen zu laufen, und das, sich verborgen zu halten; und die unseligen Reden des Kaufmanns hatten ihm zu gleicher Zeit eines wie das andere in gleicher Weise verstärkt. Sein Abenteuer hatte also Aussehen gemacht: man ging also darauf aus, ihn in Gewahrsam zu nehmen: wer weiß, wieviel Häscher auf den Beinen waren, um auf ihn Jagd zu machen; was für Befehle man schon erlassen hatte, in Dörfern, in Wirtshäusern, auf den Straßen aufzupassen. Er bedachte zwar auch, daß es am Ende nur zwei Häscher gab, die ihn kannten, und daß er den Namen nicht an der Stirn geschrieben trug; aber es fielen ihm hundert Geschichten, die er gehört hatte, von Flüchtlingen ein, die auf seltsame Weise entdeckt und ergriffen, am Gange, am verdächtigen Wesen, an anderen unversehenen Kennzeichen erkannt worden waren; alles machte ihn zaghaft.

Wenngleich in dem Augenblick, als er Gorgonzola verließ, die Glockenschläge des Ave Maria erklangen und die einbrechende Dunkelheit jene Gefahren unablässig verminderte, so schlug er doch nur mit Widerstreben die Landstraße ein und nahm sich vor, beim ersten Fußwege abzugehen, der die Richtung zu verfolgen schiene, in der er sich halten müßte. Anfangs begegnete er einem und dem anderen Wanderer; aber in der Einbildung voll von den garstigen Sorgen, hatte er nicht das Herz, einen anzureden, um Erkundigungen einzuziehen. – Jener hat von sieben Miglien gesprochen – dachte er. Und gesetzt auch, es sollten acht oder zehn werden, wenn ich auf Quer- oder Fußwegen gehe, so werden doch die Beine, die die anderen zurückgelegt haben, auch diese zurücklegen. Nach Mailand zu gehe ich ganz gewiß nicht, also gehe ich der Adda zu. Gehe ich nur immer und immer zu: so komme ich früher oder später hin. Die Adda hat eine laute Stimme, und sobald ich in ihrer Nähe bin, habe ich niemand mehr nötig, der mich hinweist. Ist irgendeine Barke zum Übersetzen da, so setze ich gleich über; wo nicht, so halte ich mich bis morgen früh auf einem Felde, auf einem Baume wie die Sperlinge: besser auf einem Baume als im Gefängnisse.

Bald darauf sah er einen Nebenweg links abgehen und schlug ihn ein. Wenn er nunmehr jemand angetroffen hätte, würde er nicht mehr angestanden haben zu fragen; aber er vernahm hier keinen Fußtritt eines lebenden Menschen. Er ging also den Weg entlang und dachte nach. – »Ich soll einen Teufelslärm gemacht haben! Ich und alle die Herren totschlagen! Ein Bündel Briefe bei mir! Meine Spießgesellen haben meinetwegen Wache gehalten! Ich wollte doch was darum geben, wenn ich mich einmal mit dem Kaufmann, unter vier Augen, jenseit der Adda – ach, hätte ich doch schon die vertrackte Adda hinter mir! – befinden und ihm den Weg vertreten und ihn recht eindringlich fragen könnte, wo er doch all die schönen Neuigkeiten aufgetrieben habe. Wißt Ihr wohl, mein lieber Herr, daß die Sache so und so sich zugetragen hat, und daß ich den Teufelslärm gemacht habe, um Ferrer beizustehen, als ob er mein leiblicher Bruder wäre; wißt Ihr wohl, daß die Schurken, die, wenn man Euch anhörte, meine Freunde gewesen sind, einen schlimmen Spaß mit mir vorhatten, weil ich einmal als ein guter Christ ein Wörtchen mit ihnen sprach; wißt Ihr, daß, derweil Ihr nur Euern Laden in Obacht nahmt, ich mir die Hüften zerquetschen ließ, um Euern Herrn Proviantverwalter zu retten, den ich niemals weder gesehen noch gekannt habe? Sie können warten, bis ich mich rühre, um den Herren Hilfe zu leisten ... Freilich muß man es um der Seligkeit willen tun; sie sind auch unsere Nächsten! Und das große Bündel Briefe, worin der ganze Anschlag beschrieben stand, und das jetzt die Gerechtigkeit in den Händen hat, wie Ihr ganz genau wißt, nun ja, das will ich hier ohne die Hilfe des Teufels vor Euch erscheinen lassen. Wärt Ihr denn wohl neugierig, es zu sehen, das Bündel? Da, hier seht Ihr es ... Ein einziger Brief? ... Ja, Herr, ein einziger Brief, und diesen Brief, wenn Ihr es wissen wollt, hat ein Geistlicher geschrieben, der Euch einmal Christentum lehren kann, ein Geistlicher, von dem, ohne Euch unrecht zu tun, ein einziges Haar mehr wert ist als Euer ganzer Bart; und der ist denn geschrieben, der Brief, wie Ihr seht, an jenen anderen Geistlichen, der auch ein Mann ist ... Nun seht also, wie es um die Erzschelme, meine Freunde, steht; oh! und lernt ein andermal ein wenig besser reden, besonders wenn von Euerm Nächsten die Rede ist.«

Aber nach einiger Zeit hörten diese und andere ähnliche Gedanken völlig auf; die Gegenwart nahm alle Kräfte des armen Pilgers in Anspruch. Der Argwohn, verfolgt und entdeckt zu werden, der ihm die Tagereise so sehr verbittert hatte, beunruhigte ihn nicht weiter; aber wie vielerlei machte ihm diese nächtliche Reise mehr als sattsam beschwerlich! Die Finsternis, die Einsamkeit, die zunehmende und nunmehr schmerzhafte Ermüdung; es wehte eine heimliche, gleichmäßige durchdringende Luft, die da einem nicht eben zustatten kommen konnte, der noch in den nämlichen Kleidern war, die er angezogen hatte, um darin bloß zur Trauung auszugehen und dann frohlockend gleich nach dem wenige Schritte entfernten Hause zurückzukehren; und was alles noch lästiger machte, dies abenteuernde Herumirren, um, wie man zu sagen pflegt, der Nase nach, nach einer Ruhe- und Zufluchtsstätte auszugehen.

Wenn es sich zutrug, daß er durch irgendein Dorf kam, so schlich er ganz still einher, schaute jedoch sich um, ob etwa noch eine Tür offen stehe, aber er sah kein anderes Anzeichen von Wachenden als hier und da etwa einen schwachen Lichtschein, der durch ein durchsichtiges Papierfenster schimmerte.

Auf der Straße außerhalb von Ortschaften blieb er einmal über das andere stehen und horchte, ob er nicht das ersehnte Rauschen der Adda vernähme, aber vergebens. Er hörte nichts anderes als Hundegeheul, das bald kläglich, bald drohend aus irgendeiner abgelegenen Meierei durch die Lüfte drang. Wenn er sich einer oder der anderen näherte, so ging das Geheul in ein heftiges, wildes Bellen über; wenn er vor der Tür vorüberging, sah er fast das gewaltige Tier mit der Schnauze an den Pfosten, wo sie zusammengefügt waren, sein Geheul verdoppeln, wobei ihm die Versuchung verging, anzuklopfen und um ein Obdach zu bitten. Und vielleicht auch, wenn keine Hunde darin gewesen wären, würde er nicht den Mut dazu gehabt haben. – »Wer ist da?« – dachte er bei sich: – »was wollt Ihr zu der Stunde? Wie seid Ihr hierhergekommen? Gebt Euch zu erkennen. Gibt es keine Wirtshäuser mehr, um zu Herbergen? Gerade so werden sie mich im allerbesten Falle fragen, wenn ich anklopfe: und wenn nicht etwa gar so ein Hasenfuß darinnen schläft, der ohne weiteres anfängt zu schreien: ›Zu Hilfe! Diebe!‹ Man müßte gleich mit irgendeiner bestimmten Antwort bei der Hand sein: und was für eine Antwort kann ich bei der Hand haben? Wem, der nachts ein Geräusch hört, kommt was anderes in den Sinn, als Diebe, Landstreicher, Fallstricke: man stellt sich nimmer vor, daß ein rechtschaffener Mensch nachts unterwegs sein könne, wenn es nicht ein Edelmann zu Wagen ist.« – Darum verschob er denn dieses Hilfsmittel bis auf den äußersten Notfall und schritt immer in der Hoffnung weiter, die Adda in dieser Nacht wenigstens zu erreichen, wo nicht hinüberzukommen, und nicht bei hellem Tage noch danach herumirren zu müssen.

Immer weiter und weiter gelangte er in eine Gegend, wo das angebaute Land in einer Heide voll Pfriemengras und Farnkraut erstarb. Er verspürte wenn nicht die Merkmale, so doch wenigstens eine gewisse Vorempfindung eines nahen Flusses und drang auf dem Fußpfade, der sie durchschnitt, vorwärts in die Heide. Nach wenigen Schritten stand er still und lauschte, doch umsonst. Die Langeweile des Weges wurde noch durch die Öde des Ortes, noch dadurch erhöht, daß man weder mehr einen Maulbeerbaum, noch einen Weinstock, noch andere Anzeichen menschlichen Anbaues sah, die ihm vorher fast halb und halb Gesellschaft zu leisten schienen. Dennoch schritt er vorwärts, und da in seinem Gemüt gewisse Vorstellungen, gewisse Erscheinungen zu erstehen begannen, die von hundert Geschichten, die er gehört, darin in Verwahrung gelassen worden waren, so sagte er, um sie zu verscheuchen oder zu beschwichtigen, im Gehen wiederholt Gebete für die Toten her.

Nach und nach gelangte er durch höheres Gestrüpp, Schlehen- und Judendorngebüsch, Eichenloden. Immer zuschreitend und vielmehr mit Ungeduld als Munterkeit sich beeilend, begann er zwischen den Büschen hier und da einen einzelnen Baum zu erblicken, und immer auf dem nämlichen Fußpfade noch weiter hin nahm er wahr, daß er in ein Gehölz kam. Er empfand eine gewisse Abneigung, vorzudringen, aber er überwand sie und betrat es mit Unlust. Je tiefer er hineinkam, desto mehr nahm sein Mißbehagen zu, desto verdrossener ward er über alles. Die Bäume, die er von fern sah, boten ihm seltsame, abschreckende, wunderbare Bildungen dar; der Schatten der leicht erregten Gipfel, der über den monderhellten Pfad hinzitterte, war ihm zuwider, sogar das Rascheln der welken Blätter, die er unter seine Füße trat und in Bewegung brachte, klang seinem Ohre, ich weiß selbst nicht wie, verhaßt. Die Beine empfanden gleichsam eine Sucht, einen Trieb, zu laufen, und zu derselben Zeit schien es, als ob es ihnen sauer würde, den Körper zu ertragen. Er fühlte, daß der nächtliche Luftzug ihm schärfer und bösartiger Stirn und Backen anblies, er fühlte, daß er ihm zwischen Kleider und Fleisch strömte und es zusammenschrumpfte und schneidender in das geschwächte Gebein drang, um darin die letzten Überbleibsel von Lebenskraft auszulöschen. In einem gewissen Augenblicke war es, als ob jener Überdruß, jenes unbestimmte Entsetzen, mit dem der Mut seit einer Weile kämpfte, ihn plötzlich überwältige. Er war nahe daran, ganz zu verzagen, aber vor seiner Angst mehr als vor allem anderen erschreckend, rief er in sein Herz die alten Lebensgeister zurück und versuchte, sich zu ermannen.

So einen Moment neugestärkt, blieb er auf einmal stehen, um zu überlegen, und entschloß sich, auf dem schon durchlaufenen Wege gleich wieder von hinnen zu eilen, gerade auf das letzte Dorf zuzugehen, durch das er gekommen sei, sich unter die Menschen zurückzubegeben und dort, wenn auch im Wirtshause, eine Zuflucht zu suchen.

Wie er nun so dastand, und, nachdem das Geräusch der Füße in den Blättern aufgehört hatte, alles um ihn schwieg, drang ihm ein Getös, ein Rauschen, ein Gemurmel fließenden Wassers in das Ohr. Er merkt auf, überzeugt sich, ruft aus: »Es ist die Adda!« Es war das Wiederfinden eines Freundes, eines Bruders, eines Erretters. Die Ermüdung schwand fast hinweg, sein Puls schlug wieder, er fühlte, daß ihm das Blut frei und warm durch alle Adern rann, er fühlte, daß ihm die Zuversicht der Gedanken anwuchs, und daß jenes bedrückende, trübselige Wesen der Gegenstände großenteils verging, und er zauderte nicht, sich noch weiter, dem befreundeten Brausen entgegen, in die Waldung hinein zu vertiefen.

Er gelangte in kurzem am Ende der Fläche an den Rand eines hohen Ufers und sah, durch das Buschwerk, das es ganz bedeckte, hindurchschauend, unten das fließende Gewässer schimmern! Darauf den Blick erhebend, gewahrte er die weite Ebene des anderen Ufers mit Dörfern und dahinter mit Hügeln überstreut, und auf einem derselben einen großen weißlichen Fleck, in dem er eine Stadt, sicherlich Bergamo, zu unterscheiden meinte. Er stieg an dem Abhange ein wenig abwärts, und mit Händen und Armen das Gestrüpp zerteilend und auseinanderzweigend, blickte er hinunter, ob irgendein Nachen auf dem Flusse in Bewegung sei, horchte auf, ob er etwa Ruderschläge vernähme, aber er sah und hörte nichts. Wenn es sich um etwas Geringeres als um die Adda gehandelt hätte, so würde Renzo flugs hinabgestiegen sein, um eine Furt aufzusuchen, aber er wußte wohl, daß auf die Adda in der Art kein Verlaß sei.

Er schickte sich deshalb an, in guter Ruhe bei sich zu überlegen, was zu tun wäre. Etwa auf einen Baum zu klettern und daselbst auf die Morgenröte zu warten, vielleicht sechs Stunden lang, die sie noch ausbleiben konnte, bei diesem Luftzuge, bei dem Reife in den Kleidern, würde übergenug zum Erstarren gewesen sein. Die ganze Zeit hindurch etwa ab- und zuzulaufen, um sich in Bewegung zu erhalten, würde, abgesehen davon, daß es gar keine recht wirksame Hilfe gegen die Unbilden der freien Luft, doch allzuviel von den armen Beinen verlangt gewesen sein, die schon mehr als ihre Schuldigkeit geleistet hatten. Es fiel ihm zu rechter Zeit ein, auf einem der an die dürre Heide grenzenden Felder eine der kleinen mit Stroh gedeckten, von Baumstämmen und Zweigen gebauten und mit Lehm verkneteten und verstopften Hütten gesehen zu haben, worin die Landleute des Mailänder flachen Landes im Sommer die Ernte aufzubewahren und die Nacht zuzubringen pflegen, um sie zu bewachen; die übrigen Jahreszeiten hindurch bleiben sie verlassen. Er erkor sie sogleich zu seinem Obdach, betrat den Fußpfad wieder, ging durch Waldung, Gebüsch, Heide zurück, erblickte, auf dem Ackerlande angelangt, die Hütte wieder und ging darauf zu. Eine schlechte, auseinandergegangene und wurmstichige Tür war ohne Schloß oder Riegel vor den kleinen Eingang gelehnt; Renzo machte sie auf, trat ein und sah ein von Bastseilen und Zweigen gehaltenes Flechtwerk wie eine Hängematte darin in der Schwebe hängen, aber er ließ es sich nicht einfallen, hineinzusteigen. Er sah ein wenig Stroh am Boden und dachte, daß auch hier ein Schlaf erquicklich sein werde.

Bevor er sich jedoch auf das Lager hinstreckte, das die Vorsehung ihm bereitet hatte, kniete er darauf nieder, um ihr für diese Wohltat und all den Beistand zu danken, den er an diesem fürchterlichen Tage von ihr empfangen hatte. Er sprach sodann sein gewohntes Gebet, und nachdem er das beendigt hatte, bat er den Herrgott um Vergebung, es am vorigen Abend unterlassen zu haben; ja, wie er sagte, gleich wie ein Hund und noch ärger schlafen gegangen zu sein.

»Und darum,« fuhr er dann bei sich fort, indem er die Hände auf das Stroh stützte und vom Knien sich niederlegte, »darum eben mußte ich auch am Morgen auf so schöne Art erweckt werden.« Er nahm darauf noch alles Stroh zusammen, was ringsherum übrig war, und legte es über sich weg, indem er sich auf diese Weise, so gut es sich tun ließ, eine Art Decke machte, um die Kälte zu mildern, die auch hier empfindlich genug wurde, und kroch mit der Absicht darunter, eines recht guten Schlafes zu genießen, den er an diesem Tage sogar überteuer erkauft zu haben meinte. Kaum aber hatte er das Auge geschlossen, so fing in seinem Gedächtnis oder in seiner Einbildung – ich würde den Ort nicht genau anzugeben wissen –, so fing, sage ich, ein so gedrängtes, so unablässiges Kommen und Gehen von Leuten an, daß ihm dies den Gedanken an Schlaf weit von dannen scheuchte. Der Kaufmann, der Notar, die Häscher, der Schwertfeger, der Wirt, Ferrer, der Proviantverwalter, die Gesellschaft im Wirtshause, der ganze Schwarm auf den Straßen, dann Don Abbondio, dann Don Rodrigo; und unter so vielen keiner, der nicht Erinnerungen an Unglück oder Groll mit sich brachte.

Nur drei Vorstellungen hatte er, die alles bitteren Angedenkens ledig, von allem Argwohn rein, durchaus angenehm waren, und vornehmlich zwei, einander gewiß unähnlich, aber in dem Herzen des Jünglings eng verbunden, ein schwarzer Haarwuchs und ein weißer Bart. Aber der Trost, den er empfand, wenn er die Gedanken auf sie richtete, war bei weitem nicht rein und ruhig. Wenn er sich den guten Mönch vorstellte, fühlte er lebhafter die Schmach der Übereilungen, der häßlichen Unmäßigkeit, und wie wenig er seine väterlichen Ratschläge in Ehren gehalten hatte; und wenn er Luciens Bild beschaute! wir versuchen nicht, auszusagen, was er da fühlte; der Leser kennt die Umstände, er stelle es sich vor. Und jene arme Agnes, er vergaß sie auch nicht; jene Agnes, die ihn doch auserwählt, die ihn schon mit ihrer einzigen Tochter vereint angesehen, und ehe sie von ihm den Namen Mutter erhalten, Sprache und Herz einer solchen angenommen und deren Sorgfalt ihm durch Taten bewiesen hatte. Aber noch ein Schmerz mehr, und nicht der mindest stechende, war der Gedanke, daß zum Danke eben für so freundliche Gesinnungen, für soviel Wohlwollen die arme Frau nun aus ihrer Wohnung vertrieben, fast flüchtig, der Zukunft ungewiß war, und Kummer und Trübsal gerade daraus löste, wovon sie die Ruhe und Freude ihrer letzten Lebensjahre erhofft hatte. Was für eine Nacht, armer Renzo! Die die fünfte seines Ehestandes hätte sein sollen! Was für eine Kammer! Was für ein Hochzeitsbett! Und nach was für einem Tage! Und welche Tage standen ihm noch bevor! – »Wie es Gott will!« antwortete er den Gedanken, die immer mehr verwilderten, »wie Gott will. Er weiß, was er tut, er ist auch für uns da. Es wird mir alles zur Buße für meine Sünden zuerkannt. Lucia ist so gut! Der Herrgott wird sie doch nicht lange, lange, lange leiden lassen!«

Unter diesen Gedanken und nunmehr daran verzweifelnd, daß er Schlaf finden werde, und derweil der Frost immer lästiger wurde, so daß er ihn von Zeit zu Zeit unwillkürlich schüttelte und daß er mit den Zähnen klappern mußte, seufzte er den Anbruch des Tages herbei und ermaß mit Ungeduld den trägen Lauf der Stunden. Ich sage »ermaß,« denn alle halben Stunden hörte er in dieser tiefen Schweigsamkeit die Schläge einer Uhr widerhallen; es muß die von Trezzo gewesen sein. Und das erstemal, daß ihm der Glockenschlag so unerwartet, ohne irgendeinen Gedanken, woher er dringen könne, vernehmlich ward, senkte er ihm ein gewisses geheimnisvolles und feierliches Etwas, das Gefühl einer Mahnung in das Herz, die von einer unbekannten Stimme eines ungesehenen Wesens herrührte.

Sobald der Hammer endlich elfmal angeschlagen hatte, erhob sich Renzo, der diese sechste Stunde des Morgens zum Aufbruch bestimmt, halb erfroren, kniete hin, sprach, und zwar mit mehr als gewöhnlicher Inbrunst, sein Morgengebet, stand auf, streckte sich, dehnte Arme und Beine aus, schüttelte Schultern und Hüften, wie um alle Glieder wieder einzurichten, blies in die eine, dann in die andere Hand rieb sie, stieß den Eingang der Hütte auf und warf die Augen zuvörderst ringsumher, ob niemand da wäre. Da niemand da war, so wandte er sich, um mit dem Blick den Fußsteig zu suchen, den er am vergangenen Abend verfolgt hatte, erkannte ihn wieder, klar und bestimmt, und schlug ihn ein.

Der Himmel kündigte einen schönen Tag an: auf einer Seite stach der Mond, blaß und strahlenlos, noch aus dem unermeßlichen Gefilde des ins Aschgraue fallenden Himmelsblaues hervor, das allmählich gen Morgen hinab leicht in ein rosiges Gelb überging; tiefer unten am Gesichtskreise breiteten sich mit langen, ungleichen Bäuchen einige mehr dunkelblaue als schwarze Wolken aus, von denen die fernsten unten mit einem fast feurigen Streifen gesäumt waren, der immer brennender und greller ward: mittagwärts erglänzten andere zusammengeflossene leichte und geschmeidige Wolken, sozusagen in tausend namenlosen Farben an diesem Himmel der Lombardei, so schön, so prächtig, so beschaulich. Wenn Renzo sich zu seinem Vergnügen hier befunden hätte, so würde er gewiß emporgeschaut und diese Morgendämmerung, so verschieden von der, die er in seinen Bergen zu sehen gewohnt war, bewundert haben; aber er sah zur Erde und ging rasch von dannen, ebensowohl um sich zu erwärmen wie um bald hinüberzukommen. Er schreitet durch die Felder, durch das Gestrüpp, durch die Büsche hin, dringt durch die Waldung, indem er umherschaut und mit einer Art von Mitleid wieder der Angst gedenkt, die er vor wenigen Stunden hier empfunden; er erreicht den Uferrand, sieht hinunter, und zwischen den Hecken durch erblickt er einen kleinen Fischernachen, der dieses Ufer entlang langsam stromaufwärts fuhr. Er klettert alsbald auf dem kürzesten Wege zwischen dem Dorngesträuch hinunter; steht am Rande des Flusses; ruft dem Fischer nicht allzu laut zu, und winkt ihm, in der Absicht, zu erscheinen, als ob er einen Dienst von nur geringer Wichtigkeit von ihm anspreche, aber, ohne sich dessen zu versehen, mit einer gewissen, halb flehentlichen Gebärde, anzulanden.

Der Fischer läßt einen Blick das Ufer entlang gleiten, guckt achtsam vor sich über das Wasser hin, das kommt, wendet sich, um über das Wasser hin, das geht, zurückzuschauen, und richtet sodann das Vorderteil des Kahnes nach Renzo zu und landet an. Renzo, der am äußersten Saume des Flusses fast schon mit einem Fuße im Wasser stand, erfaßt die Spitze des Vorderteiles und springt in den Kahn.

»Für gute Worte und für Geld,« sagt er, »möchte ich einen Augenblick nach jenseits.« Der Fischer hatte ihn erraten und wendete das Vorderteil schon dahin. Renzo gewahrt am Boden der Barke ein anderes Ruder, bückt sich und nimmt es auf.

»Gemach, gemach,« sagte der Schiffer; aber sowie er dann sah, mit welchem Geschick der Jüngling Hand an das Werkzeug gelegt hatte und sich anschickte es zu führen, fügte er hinzu: »Ah, ha, Ihr seid vom Handwerk!«

»Ich pfusche ein wenig,« antwortete Renzo und setzte es mit mehr als pfuscherhafter Kraft und Meisterschaft ein.

Und derweil er alle seine Kräfte aufbot, warf er von Zeit zu Zeit einen scheuen Blick auf das Ufer, von dem sie sich entfernten, und sodann einen angstvollen auf das, wohin sie ihre Richtung nahmen, und ärgerte sich, daß sie schräg hinüberfahren mußten, denn der Strom war hier zu reißend, um sich geradezu durchschneiden zu lassen, und die Barke mußte, teils der Strömung entgegen, teils ihr folgend, in einer krummen Linie ihren Weg zurücklegen.

Gleichwie es mit allen ein wenig mühsamen und verwickelten Angelegenheiten zu gehen pflegt, daß die Schwierigkeiten sich anfangs im ganzen darstellen und bei der Ausführung hernach stückweise zum Vorschein kommen, so empfand Renzo nunmehr, als die Adda, man kann sagen hinter ihm lag, eine große Unruhe darüber, daß er nicht gewiß wußte, ob sie hier auch die Landesgrenze war, oder ob nicht vielmehr, nach Überwindung dieses Hindernisses, ein anderes ihm zu überwinden übrig bliebe. Er veranlaßte also den Fischer durch einen Zuruf, sich ihm zuzuwenden, deutete mit dem Kopfe auf den weißlichen Fleck, den er schon vergangene Nacht unterschieden hatte, und jetzt weit deutlicher vor sich sah, und sagte: »Ist der Ort da Bergamo?«

»Die Stadt Bergamo,« versetzte der Fischer.

»Und das Ufer hier ist bergamaskisch?«

»Gebiet von San Marco.«

»Es lebe San Marco!« rief Renzo aus.

Der Fischer sagte nichts.

Sie stoßen endlich an das Ufer; Renzo schwingt sich heraus, dankt im Herzen Gott und mit dem Munde dem Barkenführer, fährt mit der Hand in die Tasche, langt eine Berlinga heraus, die, die Umstände angesehen, keine geringe Entäußerung war, und reicht sie dem Ehrenmanne, der, nachdem er noch einen Blick auf das Mailänder Ufer und den Fluß auf- und abwärts geworfen, die Hand ausstreckte, die Gabe nahm, sie einsteckte, dann die Lippen zusammenkniff und überdies, mit sehr ausdrucksvollem Gesicht, kreuzweise den Zeigefinger darüberlegte. Darauf sagte er: »Glückliche Reise,« und kehrte sich um.

Damit die so rasche und behutsame Dienstwilligkeit dieses Mannes gegen einen Unbekannten den Leser nicht zu sehr in Erstaunen setze, müssen wir ihm zu wissen tun, daß derselbe, von Betrügern und Banditen des öfteren um eine gleiche Gefälligkeit angegangen, gewöhnt war, sie nicht sowohl des geringen und ungewissen Verdienstes wegen, den sie ihm eintragen konnte, zu leisten, als um sich in diesen Menschenklassen keine Feinde zu machen. Er leistete sie, sage ich, ein jedesmal, wenn er sich für versichert halten konnte, von Zöllnern, Häschern und Kundschaftern nicht gesehen zu werden. Ohne es also etwa mit den ersteren viel mehr als mit den letzteren zu halten, suchte er alle mit eben der Unparteilichkeit zu befriedigen, worein sich meistens derjenige findet, welcher sich genötigt sieht, mit dem gewissen einen umzugehen, und gehalten ist, gewissen anderen Rechenschaft abzulegen.

Renzo verweilte ein paar Augenblicke am Ufer, um das gegenüberliegende, das Land, das kurz zuvor so sehr unter seinen Füßen brannte, zu betrachten.

»Ach, nun bin ich ja doch heraus!« war sein erster Gedanke. – »Liege du da, verwünschtes Land!« war der zweite, der Abschied vom Vaterlande. Aber der dritte betraf diejenigen, die er in dem Lande zurückließ. Nunmehr verschränkte er die Arme über die Brust, stieß einen Seufzer aus, senkte die Augen zu dem Wasser nieder, das zu seinen Füßen hinlief, und dachte: es ist unter der Brücke hingeflossen. – Also nannte er, nach Art seiner Landsleute, autonomastisch die von Lecco. – »Ha! schlimme Welt! Nun, wie Gott will.« –

Er kehrte den traurigen Gegenständen den Rücken und machte sich auf den Weg, indem er auf den weißlichen Flecken am Abhange des Berges, als auf seinen Zielpunkt, gerade lossteuerte, bis er jemand gefunden haben werde, von dem er sich den Weg genauer angeben lassen könne. Und man mußte sehen, mit welcher Ungezwungenheit er auf die Wanderer zutrat, und ohne lange zu zaudern, ohne sich in viele Worte zu verstricken, den Namen des Ortes aussprach, wo jener Vetter von ihm wohnte, um nach dem Wege dahin zu fragen. Von dem ersten, der ihn ihm angab, hörte er, daß er noch neun Miglien zurückzulegen hatte.

Diese Wanderung war keine heitere. Ohne von den Sorgen zu reden, die Renzo in sich hegte, wurde sein Auge alle Augenblicke von schmerzlichen Gegenständen getrübt, an denen er abnehmen konnte, daß er in dem Lande, das er betreten hatte, den Mangel wiederfinden würde, den er in dem seinigen verlassen.

Den ganzen Weg entlang und mehr noch auf den Landgütern und in den Flecken, sah er die Bettler immer häufiger werden, und zwar Bettler, die es meist durch die Umstände und nicht von Handwerk wegen waren, die ihr Elend mehr im Angesicht als in der Kleidung kundgaben; Landleute, Bergbewohner, Handwerker, ganze Familien, und ein verworrenes Gesumme von flehentlichen Bitten, Klagen und Gewimmer. Dieser Anblick beunruhigte ihn schon an sich, außer daß er auch noch ein schmerzliches Mitleid wegen seiner eigenen Angelegenheit in seinem Herzen erweckte.

– »Wer weiß« – sann er bei sich nach – »ob ich dort mein Fortkommen finde? ob es noch wie in den vergangenen Jahren dort Arbeit gibt? Ach was! Bortolo will mir wohl, er ist ein guter Junge, er hat sich Geld gemacht, er hat mich so oft eingeladen; er wird mich nicht verlassen. Und dann, die Vorsehung hat mir seither geholfen; sie wird mir auch in Zukunft helfen.« –

Inzwischen nahm seine schon seit einiger Zeit rege gewordene Eßlust im Verfolge des Weges immer mehr zu, und obwohl Renzo, als er anfing, ernstlich darauf zu achten, fühlte, es ohne großes Ungemach bis an sein Ziel aushalten zu können, das jetzt nur noch zwei Miglien entfernt war, so erwog er doch, daß es nicht schicklich sein werde, wie ein Straßenbettler vor seinen Vetter zu treten und ihm zum ersten Willkommen zu sagen: »Gib mir zu essen.« Er zog allen seinen Reichtum aus der Tasche, ließ ihn mit dem Finger in die eine Hand laufen, rechnete ihn zusammen. Die Rechnung erforderte keine große Rechenkunst, aber dennoch reichte er zur Bestreitung eines kleinen Mahles aus. Er trat in ein Wirtshaus, um sich zu erquicken, und wirklich verblieben ihm, nachdem er bezahlt hatte, noch ein paar Soldi.

Beim Heraustreten sah er nahe bei der Tür, am Wege, so daß er beinahe, wenn er sich nicht noch in acht genommen, sie mit dem Fuße berührt hätte, zwei Frauen liegen, eine bejahrte und eine andere jüngere, mit einem ganz kleinen Kinde, das, nachdem es an der einen wie an der anderen Brust vergebens gesogen hatte, in Wehklagen ausbrach; alle trugen die Farbe des Todes; und neben ihnen stand ein Mann, dem man an Gesicht und Gliedern noch die Spuren ehemaliger Kraft ansah, die von langer Trübsal gezähmt und fast gebrochen war. Alle drei streckten dem, der mit freiem Schritte und neuerfrischtem Aussehen heraustrat, die Hand entgegen; keiner sprach; was hätte eine Bitte auch noch mehr sagen können?

»Es gibt eine Vorsehung!« sagte Renzo, und mit der Hand hastig in die Tasche greifend, entledigte er sie der wenigen Soldi, gab sie in die Hand, die ihm am nächsten war, und ging seines Weges.

Die Labung und das fromme Werk – denn wir sind aus Seele und Körper zusammengesetzt – hatten alle seine Gedanken ermutigt und erheitert. Ganz gewiß hatte er mehr Vertrauen auf die Zukunft gewonnen, seitdem er derart seine letzte Baarschaft weggegeben, als er gewonnen haben würde, hätte er zehnmal so viel dazu gefunden. Denn wenn die Vorsehung die letzten Heller eines flüchtigen Fremdlings, der, von seiner Heimat fern, selbst nicht wußte, wovon er leben sollte, dazu angewandt hatte, diese Elenden, die am Wege umkamen, an diesem Tage zu erhalten; wie hätte er denken können, daß sie hernach denjenigen werde im Stiche lassen wollen, dessen sie sich dazu bedient, und dem sie ein so lebendiges, so wirksames, sich so ganz hingebendes Gefühl von ihr eingeflößt hatte? Dies war ungefähr der Gedanke des Jünglings, nur noch minder klar, als ich ihn in Worte habe fassen können. Indem er während des ferneren Weges die Umstände und Ereignisse bei sich erwog, die ihm am trübseligsten und verworrensten vorgekommen waren, erschien ihm alles leichter. Die Teuerung und das Elend mußten doch einmal aufhören; man erntet ja alljährlich; inzwischen hatte er seinen Vetter Bortolo und seine eigene Betriebsamkeit; zur Beisteuer hatte er zu Hause ein kleines Sümmchen Geld, das er sich gleich schicken lassen wollte; damit konnte er mit Sparsamkeit, von einem Tage zum anderen, bis zu der guten Zeit fortleben. – »Ist dann endlich einmal die gute Zeit wieder da,« – fuhr Renzo in seiner Vorstellung fort – »so wird die Lust zu arbeiten wieder rege; die Brotherren reißen sich um die Mailänder Arbeiter, die sich auf das Handwerk am besten verstehen; die Mailänder Arbeiter tragen die Nase hoch; wer tüchtige Leute haben will, muß sie bezahlen; man verdient sich sein Brot und kann ein wenig zurücklegen; man richtet sich ein Häuschen ein und läßt den Frauen schreiben, daß sie kommen sollen ... Aber warum so lange warten? Hätten wir etwa mit dem kleinen Zuschuß dort drüben diesen Winter nicht ausgereicht? Nun, so können wir ja hier hüben auch leben. Pfarrer gibt es allenthalben. Sie mögen kommen, die beiden lieben Frauen; man hält Haus. Was für ein Vergnügen, wenn wir auf dieser nämlichen Straße hier allesamt spazieren gehen werden! Wenn wir in einer Barutsche bis zur Adda fahren und am Ufer, an eben dem Ufer, ein Mittagbrot verzehren und ich den Frauen die Stelle zeige, wo ich über, gesetzt, das Dorngebüsch, wo ich heruntergekommen bin, den Fleck, wo ich mich umgeschaut habe, ob ein Nachen da sei.« –

Er kam in dem Dorfe des Vetters an; beim Eingange, ja noch ehe er einen Fuß hineingesetzt, unterschied er ein hohes, hohes Haus mit mehreren Reihen langer Fenster, die eine über der anderen, und mit einem geringeren Raume dazwischen als eine Abteilung in Stockwerke erfordert; er erkennt eine Spinnmühle, tritt ein, fragt mit lauter Stimme, unter dem Getöse des stürzenden Wassers und der Räder, ob hier Bortolo Castagneri wohne.

»Herr Bortolo? dort ist er.«

– »Herr! ein gutes Zeichen,« – dachte Renzo, sieht seinen Vetter, läuft auf ihn zu. Dieser dreht sich um, er kennt den Jüngling, der zu ihm sagt: »Da bin ich.« Ein »Ih!« der Überraschung, ein Ausbreiten der Arme, ein wechselseitiges Umhalsen! Nach den ersten Begrüßungen zieht Bortolo unseren Jüngling von dem Rauschen der Getriebe und den Blicken der Neugierigen mit sich fort in ein anderes Gemach und sagt zu ihm:

»Ich heiße dich willkommen; aber du bist ein närrischer Kauz. Ich hatte dich so vielmal eingeladen, niemals wolltest du kommen; jetzt kommst du nun gerade im unrechten Augenblick.«

»Was soll ich dir darauf sagen, ich bin nicht aus freien Stücken gekommen,« sprach Renzo, und in der äußersten Kürze, wiewohl nicht ohne große Gemütsbewegung, erzählte er ihm seine traurige Geschichte.

»Das ist was anderes,« sagte Bortolo. »Ei, du armer Renzo! Aber du hast auf mich gerechnet, und ich werde dich nicht verlassen. Freilich wohl ist jetzt keine Nachfrage nach Arbeitern, vielmehr behält ein jeder nur mit genauer Not die seinigen weiter, um sie nicht zu verlieren und das Geschäft ins Stocken zu bringen, aber der Herr will mir wohl und hat sein Schäfchen im Trocknen. Und um dir es nur zu sagen: zum großen Teile verdankt er es mir, ohne mich zu rühmen, so hat er sein Geld und ich mein bißchen Geschicklichkeit. Ich bin der erste Arbeiter, mußt du wissen! und überdies, laß dir sagen, bin ich das Faktotum. Arme Lucia Mondella! Ich erinnere mich ihrer, als ob es von gestern wäre; ein gutes Mädchen! Immer die andächtigste in der Kirche; und wenn man an ihrem kleinen Häuschen vorüberging ... Ich sehe es noch vor mir, das Häuschen, draußen vor dem Dorfe, mit einem schönen Feigenbaume, der über die Mauer ragte ...«

»Nicht doch, nicht doch; sprechen wir nicht davon. Ich will nur sagen, daß, wann man auch an dem Häuschen vorüberging, man immerdar die Haspel hörte, die sich drehte, und drehte und drehte. Und der Don Rodrigo! Schon zu meiner Zeit wandelte er auf solchen Wegen; aber jetzt treibt er es ja erst recht teufelmäßig, wie ich sehe, so lange ihm Gott den Zügel schießen läßt. Also wie ich dir gesagt habe, leidet man auch hier ein wenig Hunger ... Aber, da fällt mir eben ein, wie steht es denn mit der Eßlust?«

»Ich habe vor einer kleinen Weile unterwegs gegessen.«

»Und mit der Barschaft, wie ist's damit beschaffen?«

Renzo streckte die eine Handfläche aus, führte sie zum Munde, und hauchte ein wenig darüber hin.

»Tut nichts,« sagte Bortolo, »ich habe welches; sei du nur gutes Muts, bald, bald sollen sich die Sachen ändern, so Gott will, und da magst du es mir wiedergeben und wirst auch was vor dich bringen.«

»Ich habe einen kleinen Notpfennig zu Hause; den will ich mir schicken lassen.«

»Schon gut, und unterdessen rechne auf mich. Gott hat mir Gutes getan, damit ich Gutes tun soll, und wenn ich das nicht an Verwandten und Freunden tue, an wem sollte ich es denn sonst tun?«

»Ich hab' es ja gesagt, von der Vorsehung!« rief Renzo aus und drückte dem guten Vetter liebreich die Hand.

»Also,« fing dieser wieder an, »in Mailand haben sie einen solchen Lärm gemacht! Es kommt mir vor, als wären sie ein bißchen toll. Ja, die Rede ging auch schon hier davon; aber du mußt mir hernach die Sache ausführlicher erzählen. Ach, wir werden was zusammen zu schwatzen haben! Hier freilich, siehst du, geht es ruhiger her, und fangen sie die Sachen ein wenig vernünftiger an. Die Stadt hat zweitausend Last Getreide von einem Handelsherrn gekauft, der in Venedig ist, Getreide zwar, das aus der Türkei kommt; aber wenn es sich um das liebe Brot handelt, nimmt man es nicht so genau. Denke dir nun einmal, was geschieht: die Herren von Verona und von Brescia versperren den Weg und sagen: hier kommt kein Getreide durch. Was tun die Bergamasker? Sie schicken einen nach Venedig, der zu reden versteht. Der Mann ist flugs abgereist, ist vor den Dogen getreten und hat gesagt, was das für dummes Zeug wäre. Aber eine Rede gehalten, eine Rede, sagen sie, die man drucken lassen könne. Es will doch etwas sagen, wenn man einen hat, der zu reden versteht! Gleich ergeht ein Befehl, daß sie das Getreide durchlassen sollen, und die Herren, nicht allein, daß sie es durchlassen müssen, sie sind gehalten, ihm auch noch das Geleite zu geben, und es ist nun unterwegs. Und so hat man auch an die Landschaft gedacht. Ein anderer braver Mann hat dem Senate beigebracht, die Leute hier haußen litten Hunger, und darauf hat der Senat viertausend Scheffel Hirse bewilligt. Auch das hilft mit Brot machen. Und dann, brauche ich es noch zu erwähnen? Wenn es kein Brot mehr gibt, essen wir Zukost. Der Herrgott hat mich mit Gütern gesegnet, wie ich dir sage. Jetzt will ich dich nun zu meinem Herrn bringen; ich habe ihm so vielmal von dir erzählt, und er wird dir ein freundliches Gesicht machen. Ein guter, ehrlicher Bergamaske von altem Schlage, ein Mann, der ein offenes Herz hat. Allerdings erwartete er dich gegenwärtig nicht; aber wenn er deine Geschichte hören wird ... Und was die Arbeiter angeht, die weiß er zu schätzen, denn die Teuerung vergeht, und der Handel besteht. Vor allen Dingen muß ich dir aber noch was sagen. Weißt du, wie sie hiesigen Orts uns aus dem Mailändischen nennen?«

»Wie nennen sie uns denn?«

»Sie nennen uns Füchse.«

»Das ist wahrlich kein schöner Name.«

»Einerlei; wer im Mailändischen geboren ist und im Bergamaskischen leben will, der muß ihn sich geduldig gefallen lassen. Es ist den Leuten gerade so, wenn sie den Mailänder einen Fuchs nennen, als wie wenn sie einen Edelmann gnädiger Herr nennen.«

»Ich denke aber wohl, sie werden es nur dem bieten, der es sich bieten läßt.«

»Mein Sohn, wenn du nicht aufgelegt bist, den Fuchs in einemfort hinunterzuschlucken, so mache dir keine Rechnung, hier jemals leben zu können. Und wenn man das Messer auch immer in der Hand haben wollte; ich setze den Fall, du hättest ihrer zwei, drei, vier umgebracht, so würde doch einmal einer kommen, der dich umbrächte; und nachmals eine schöne Freude, vor dem Richterstuhle Gottes mit drei oder vier Mordtaten auf dem Halse zu erscheinen!«

»Aber ein Mailänder, der ein wenig ...« und hier pochte er mit dem Finger an die Stirn, wie er in dem Gasthause »zum Vollmond,« getan hatte. »Ich will sagen, einer, der sich auf sein Handwerk versieht?«

»Alles eins; er ist hier ein Fuchs wie ein anderer. Weißt du, wie mein Herr sagt, wenn er von mir mit seinen Freunden spricht? – Der Fuchs ist die Hand des Himmels für mein Geschäft gewesen; wenn ich den Fuchs nicht hätte, so wäre ich übel daran. Es ist einmal so Sitte.«

»Eine abgeschmackte Sitte. Und wenn sie zusehen, was wir zuwege bringen; denn kurz und gut, wer hat denn die Kunst hierher verpflanzt und erhält sie im Schwunge, als wir; ist es möglich, daß sie nicht in sich gehen?«

»Bis jetzt noch nicht, mit der Zeit, kann sein, die Jungen, die heranwachsen; aber die gemachten Leute, bei denen hilft nichts; sie haben es sich einmal so angewöhnt und lassen es nicht mehr. Was ist es auch am Ende? Das waren ganz andere Späße, die dir unsere lieben Landsleute gemacht haben und gar noch mit dir vor hatten.«

»Ja, es ist wahr; wenn nichts Schlimmeres dabei ist ...«

»Jetzt, da du einmal das verwunden hast, wird alles gut gehen. Komm zum Herrn und sei getrost.«

In der Tat ging auch alles gut, und zwar entsprach es dermaßen den Verheißungen Bortolos, daß wir es für überflüssig erachten, davon besondere Meldung zu tun. Und es zeigte sich darin in Wahrheit die Vorsehung; denn wir werden gleich sehen, inwiefern Renzo auf den Sparpfennig, den er zu Hause hinterlassen, hätte rechnen dürfen.


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