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Lucia trat in das untere Zimmer ein, wo der geängstigte Renzo Agnesen unterrichtete, die ihn angstvoll anhörte. Alle beide wendeten sich der zu, die mehr als sie davon wußte, und von der sie eine Erklärung erwarteten, die nicht anders als schmerzlich sein konnte, alle beide ließen mitten durch den Schmerz, und neben der verschiedenartigen Liebe eines jeden zu Lucien einen auch wieder verschiedenartigen Verdruß blicken, daß sie ihnen etwas, und nun gar so etwas verschwiegen habe. Wie begierig auch Agnes war, die Tochter reden zu hören, so konnte sie sich doch nicht enthalten, ihr einen Vorwurf zu machen. Deiner Mutter von so etwas nichts zu sagen!
»Jetzt werde ich euch alles sagen«, versetzte Lucia, sich die Augen mit der Schürze trocknend.
»Sprich, sprich! – Sprich, sprich!« riefen gleichzeitig Mutter und Bräutigam.
»Heiligste Jungfrau!« schrie Lucia. »Wer hätte geglaubt, daß es so weit kommen könnte!« Und mit von Tränen unterbrochener Stimme erzählte sie, wie wenige Tage zuvor, als sie aus der Spinnerei heimgekehrt und hinter ihren Gefährtinnen zurückgeblieben, Don Rodrigo in Gesellschaft eines anderen Herrn an ihr vorübergegangen sei. Jener habe gesucht, sie, wie sie meinte, mit gar nicht hübschen Reden aufzuhalten, aber sie habe ihre Schritte beschleunigt, ohne auf ihn zu achten, und ihre Gefährtinnen eingeholt, derweil sie den anderen Herrn laut lachen und Don Rodrigo sagen gehört: »Wir wollen wetten!« Den Tag nachher hatten sie sich wieder auf dem Wege befunden; Lucia aber war mit niedergeschlagenen Augen mitten unter den Gefährtinnen gewesen, und der andere Herr hatte überlaut gelacht, und Don Rodrigo gesagt: »Wir werden sehen, wir werden sehen!«
»Dank dem Himmel!« fuhr Lucia fort, »das war der letzte Spinntag. Ich erzählte es gleich ...«
»Wem hast du es erzählt?« fragte Agnes, nicht ohne eigenen Unwillen auf den Namen des bevorzugten Vertrauten lauernd.
»Dem Pater Cristoforo in der Beichte, Mutter,« antwortete Lucia, mit sanft entschuldigender Betonung. »Ich erzählte ihm alles das letztemal, als wir miteinander zur Klosterkirche gingen, und wenn Ihr darauf acht gegeben, ich nahm den Morgen bald das, bald jenes vor, um andere Leute, die desselben Weges gingen, herankommen zu lassen und in ihrer Gesellschaft zu sein, denn seit dem Zusammentreffen fürchtete ich mich vor den Straßen so ...«
Bei dem verehrten Namen des Paters Cristoforo milderte sich Agnesens Unwille. »Du hast wohlgetan,« sprach sie, »aber warum hast du nicht auch deiner Mutter alles erzählt?«
Lucia hatte zwei gute Gründe gehabt: den einen, um die gute Frau weder durch eine Sache zu betrüben noch zu erschrecken, gegen die sie doch würde keine Vorkehrung haben treffen können; den anderen, um eine Geschichte nicht der Gefahr auszusetzen, durch vieler Mund zu gehen, die sorgfältig, und zwar um so mehr verheimlicht werden sollte, als Lucia hoffte, ihre Hochzeit solle die abscheuliche Verfolgung im Entstehen abbrechen. Von diesen beiden Gründen führte sie nur den einen an.
»Und mit dir,« sagte sie darauf, indem sie sich zu Renzo in dem Tone wendete, der den Freund nötigen will, anzuerkennen, daß er unrecht gehabt habe, »sollte ich mit dir davon sprechen? Du hast ja doch nun genug davon erfahren!«
»Und was hat dir der Pater gesagt?« fragte Agnes.
»Er hat mir gesagt, ich solle, so sehr ich es imstande sei, die Hochzeit zu beschleunigen suchen, mich derweil eingezogen halten und recht zu dem Herrn beten, er hoffe, jener werde sich nicht mehr um mich kümmern, wenn er mich nicht sehe. Und so kam es denn, daß ich mich zwang,« fuhr sie, aufs neue zu Renzo gewendet, fort, ohne ihm jedoch ins Gesicht zu sehen, und über und über rot werdend, »so kam es, daß ich die Scham verleugnete und dich bat, dazu zu tun, daß wir noch vor der bestimmten Zeit getraut würden. Wer weiß, was du von mir gedacht haben magst! Aber ich tat es in guter Absicht, und weil es mir so geraten worden, und weil ich überzeugt war ... und diesen Morgen war ich so weit entfernt zu denken ...«
Hier wurden Luciens Worte von einem heftigen Tränenguß unterbrochen.
»Ha, Schurke! Ha, du verdammter Bösewicht!« schrie Renzo und lief in der Stube auf und ab, indem er zu wiederholten Malen das Heft seines Dolches erfaßte.
»Um Gottes willen! was für eine Verwirrung!« rief Agnes aus.
Plötzlich blieb der Jüngling vor Lucien stehen, die weinte, blickte sie mit einer Gebärde wütender und herzbrechender Zärtlichkeit an und sprach: »Das ist das Letzte, was der Bösewicht verschuldet.«
»Ach, nein, Renzo, um des Himmels willen!« schrie Lucia. »Nein, nein, um des Himmels willen. Gott ist auch für die Armen da, und wie willst du, daß er uns helfe, wenn wir Böses tun?«
»Nein, nein, ums Himmels willen!« wiederholte Agnes.
»Renzo!« sagte Lucia mit der Miene der Hoffnung und ruhigerer Entschlossenheit, »du hast ein Gewerbe und ich kann arbeiten, laß uns so weit fortgehen, daß der Mensch nicht mehr von uns sprechen hört.«
»Ach, Lucia! und alsdann? Wir sind noch nicht Mann und Frau. Wird uns der Pfarrer das Zeugnis der Ledigkeit geben wollen? Der Mann? Wenn wir getraut wären, ja, dann! ...«
Lucia verfiel wieder ins Weinen, und alle drei beharrten im Stillschweigen, mit dem Ausdrucke der Niedergeschlagenheit, der einen traurigen Gegensatz zu dem festlichen Prunke ihres Anzuges bildete.
»Hört, Kinder! laßt euch sagen,« sprach Agnes nach einer kleinen Weile: »Ich bin vor euch auf die Welt gekommen, und kenne die Welt ein wenig. Man muß sich auch nicht allzusehr schrecken lassen; der Teufel ist nicht so schwarz, wie man ihn abmalt. Uns armen Leuten scheint der Zwirn verworrener, weil wir das Ende nicht finden können; aber ein guter Rat, ein Wörtchen eines Studierten ... ich weiß recht wohl, was ich sagen will. Folgt mir, Renzo; geht nach Lecco, sucht den Doktor Notverhelfer auf, erzählt ihm ... aber nennt ihn nicht so, ums Himmels willen nicht, es ist ein Spitzname. Ihr müßt sagen, Herr Doktor ... ja, wie heißt er doch? Ei, sieh! da weiß ich den rechten Namen nicht, sie nennen ihn alle so. Genug, fragt nach dem großen, dürren, kahlen Doktor mit der roten Nase und der Himbeere auf der Backe.«
»Ich kenne ihn von Ansehen«, sagte Renzo.
»Gut,« fuhr Agnes fort, »das ist ein Mann! Ich habe mehr als einen so arg in der Klemme stecken gesehen, daß er sich nicht zu raten und nicht zu helfen wußte, und nachdem er mit dem Doktor Notverhelfer – seht Euch wohl vor, daß Ihr ihn nicht so nennt – eine Stunde unter vier Augen gewesen war, habe ich ihn, sage ich Euch, darüber lachen sehen. Nehmt die vier Kapphähne, die armen Dinger! denen ich zum heutigen Abendschmaus den Hals umdrehen sollte, und bringt sie ihm, denn man darf solchen Herren nimmer mit leeren Händen kommen. Erzählt ihm den ganzen Vorfall, und Ihr werdet sehen, daß er Euch stehenden Fußes Dinge sagt, die uns nicht einfallen würden, dächten wir Jahr und Tag darüber nach.«
Renzo nahm den Vorschlag sehr gern an, Lucia billigte ihn, und Agnes langte, stolz darauf, ihn getan zu haben, die armen Bestien, eine nach der anderen, aus dem Kapaunenstalle, faßte ihre acht Beine zusammen, als ob es ein Blumenstrauß wäre, umwickelte und verknüpfte sie mit einem Bindfaden und gab sie Renzo in die Hand, der, nachdem er Worte der Hoffnung gegeben und empfangen hatte, durch ein kleines Gartentürchen fortging, wo ihn die Jungen nicht sahen, die ihm sonst mit dem Geschrei: »der Bräutigam! der Bräutigam!« nachgelaufen sein würden.
So schritt er auf Fußwegen, ingrimmig, quer durch die Felder hin, überdachte sein Unglück wieder und erwog seine Worte, die er bei dem Doktor Notverhelfer anzubringen hatte.
Ich überlasse übrigens dem Leser sich selbst vorzustellen, wie es unterwegs den armen Tieren ergehen mochte, die so geschnürt und, Kopf unten, bei den Beinen in der Hand eines Menschen gehalten wurden, der, von so vielen Leidenschaften aufgeregt, mit Gebärden die Gedanken begleitete, die ihm durch das Gemüt stürmten, und in gewissen Momenten des Zorns, der Entschlossenheit oder Verzweiflung kräftig den Arm ausstreckend, ihnen die fürchterlichsten Stöße gab und die vier baumelnden Köpfe schüttelte, die mittlerweile aufeinander loszupicken trachteten, so wie es unter Unglücksgefährten nur zu häufig zu geschehen pflegt.
In dem Flecken angelangt, fragte er nach der Wohnung des Doktors; sie wurde ihm bezeichnet, er ging hin. Beim Eintritt überkam ihn jene Schüchternheit, die die armen Ungelehrten in der Nähe eines Herrn und Gelehrten empfinden. Er vergaß alle Reden, die er in Bereitschaft hatte; aber er warf einen Blick auf die Kapphähne und ermutigte sich. Er trat in die Küche ein und fragte die Magd, ob er mit dem Herrn Doktor sprechen könne? Die Magd sah die Tiere und legte, an ähnliche Gaben gewöhnt, Hand daran, wiewohl Renzo sie zurückzog, weil er wollte, daß der Doktor sie sähe und erführe, daß er etwas mitbrächte. Der Doktor kam wirklich dazu, während die Magd sagte: »Gebt her und geht ins Studierzimmer.«
Renzo machte dem Doktor einen tiefen Bückling, der ihn mit einem leutseligen: »Kommt, mein Sohn«, empfing und ihn mit sich in die Studierstube eintreten ließ.
Es war diese ein geräumiges Gemach, worin, auf drei Wände verteilt, die Bildnisse der zwölf Cäsaren hingen, und dessen vierte Wand von einem großen Gestell voll alter bestaubter Bücher verdeckt war. In der Mitte stand ein Tisch voller Zeugnisse, Gesuche, Beschwerden, Verordnungen, mit drei bis vier Stühlen ringsherum, und auf der einen Seite ein großer Sessel mit Armlehnen und hoher viereckiger Rückenlehne, die an den Ecken in zwei wie Hörner aufragende Holzschnörkel ausging; er hatte einen kuhledernen Überzug mit starken, schildförmigen Beschlägen, von denen einige längst abgefallen waren und den Überzug an den sich hier und da zusammenrollenden Enden entblößt hatten.
Der Doktor war im Hauskleide, das heißt, er trug einen schmutzigen, schwarzen Doktorrock, der ihm vor vielen Jahren gedient hatte, wenn er bei feierlichen Gelegenheiten und wichtiger Dinge halber in Mailand erschien. Er machte die Tür zu und ermutigte den jungen Menschen mit den Worten: »Mein Sohn, tragt mir Euren Fall vor.«
»Ich möchte Ihnen ein Wörtchen im Vertrauen sagen.«
»Da bin ich,« versetzte der Doktor, »sprecht«, und ließ sich in den großen Armstuhl nieder.
Renzo, dicht vor dem Tische, und mit der rechten den Hut um die andere Hand herumdrehend, hub wieder an: »Ich möchte gern von Ihnen, einem Studierten, hören ...«
»Sagt mir die Sache, wie sie ist«, fiel der Doktor ein.
»Sie müssen es mir zu gut halten, Herr Doktor: wir armen Leute verstehen nicht unsere Worte zu setzen. Ich möchte also gern wissen ...«
»Närrisches Volk! Ihr seid doch alle so: anstatt die Sache zu erzählen, wollt ihr fragen, weil ihr eure Pläne schon im Sinne habt.«
»Verzeihen Sie, Herr Doktor. Ich möchte wissen, ob eine Strafe darauf steht, wenn man einem Pfarrer droht, der eine Trauung nicht vollziehen will.«
»Verstehe,« sagte der Doktor für sich hin, der in Wahrheit nichts verstanden hatte, »verstehe«; machte gleich ein ernsthaftes Gesicht, wiewohl sein Ernst mit Mitleid und Eile untermischt war; kniff die Lippen fest zusammen und ließ einen unverständlichen Laut daraus vernehmen, der eine Empfindung andeutete, welche sich dann bestimmter in seinen ersten Worten aussprach: »Ein ernster Fall, mein Sohn; ein vorbedachter Fall. Ihr habt wohlgetan, zu mir zu kommen. Der Fall ist klar, in hundert Verordnungen erwähnt und ... halt, in einer Verordnung des jetzigen Herrn Statthalters vom vergangenen Jahre. Gleich, gleich will ich es Euch zeigen und mit Händen greifen lassen.«
Indem er so sprach, erhob er sich von seinem Sessel, fuhr mit den Händen in das Chaos von Papieren und warf das Unterste zu oberst, als ob er Getreide in einen Scheffel schüttete.
»Wo steckt es denn? Nichts, nichts, man muß so vielerlei unter den Händen haben! Aber sie muß ganz gewiß hier sein, denn es ist eine Verordnung von Wichtigkeit. Ah! da, da.«
Er nahm sie, entfaltete sie, sah nach dem Tage und zog ein noch ernsteres Gesicht, indem er ausrief: »Den 15. Oktober 1627! Richtig, vom vorigen Jahre, eine neue Verordnung, vor denen hat man mehr Furcht. Könnt Ihr lesen, mein Sohn?«
»Ein wenig, Herr Doktor.«
»Schon gut, tretet hinter mich und Ihr werdet sehen.«
Und er hielt die Verordnung in die Höhe und hub an zu lesen, einige Stellen rasch hinmurmelnd, andere laut und vernehmlich, und, wo es not tat, mit besonderem Ausdruck betonend:
»›Obwohl durch die Verordnung, die der Herr Herzog von Feria am 14. Dezember 1620 erlassen und Se. Exzellenz, der gnädige Herr, Herr Gonzalo Fernandez von Cordova bestätigt usw., mit außerordentlichen und gestrengen Maßregeln den Bedrückungen, Erpressungen und Gewalttätigkeiten begegnet ward, die sich einige unterfangen, gegen die so getreuen Untertanen Sr. Majestät auszuüben, so hat nichtsdestoweniger die Menge der Verbrechen, die Bosheit usw. dermaßen überhand genommen, daß Se. Exzellenz in die Notwendigkeit versetzt worden usw. und sonach, mit Zuziehung des Senates und einer Kommission usw. beschlossen hat, die gegenwärtige Verordnung öffentlich bekannt zu machen.
Und was zuvörderst die Gewalttätigkeiten angeht, so lehrt die Erfahrung, daß in diesem Staate viele, sowohl in Städten als auf dem Lande,‹ hört Ihr? ›grausame Erpressungen sich zuschulden kommen lassen und die Schwächeren auf mehrfache Weise unterdrücken, wie indem sie ihnen ungerechte Kauf- oder Pachtverträge aufnötigen‹ usw.: Wo bist du denn? ach! da; hört zu: ›Ehen ins Werk setzen oder nicht ...‹ he!«
»Das ist mein Fall,« sprach Renzo.
»Hört nur, hört! es kommt noch mehr; dann werden wir die Strafe sehen. ›Es mag von Zeugen bekräftigt werden oder nicht, daß einer sich von dem Orte entfernt, wo er wohnt usw., der eine Schuld bezahlt, ein anderer ihm nicht zu nahe tritt, dieser nach seiner Mühle geht‹: Alles das hat nichts mit uns zu schaffen. Ah! nun sind wir dabei: ›ein Priester dasjenige nicht vollbringt, wozu sein Amt ihn verpflichtet, oder Dinge begeht, die ihm nicht zustehen.‹ Nun?«
»Es ist, als ob sie die Verordnung ausdrücklich für mich gemacht hätten.«
»He! nicht wahr? hört nur, hört: ›Andere ähnliche Gewalttätigkeiten, die Lehnsträger, edle, bemittelte, geringe und gemeine begehen.‹ Es kommt nichts durch: sie stehen alle darauf: es ist wie das Tal Josaphat. Nun hört die Strafe an. ›Da alle diese und andere ähnliche Übeltaten zwar verboten sind, es nichtsdestoweniger aber notwendig geworden, größere Strenge anzuwenden, so beschließt und gebietet Se. Exzellenz, ohne durch Gegenwärtiges aufzuheben usw., daß gegen die Übertreter irgendeines der obgenannten oder anderer Punkte von allen ordentlichen Richtern dieses Staates mit Geld- und Leibesstrafe, ja auch mit Verbannung, Galeere und sogar dem Tode verfahren werde‹ ... eine wahre Geringfügigkeit! ›nach der freien Bestimmung Sr. Exzellenz oder des Senates und in Gemäßheit der Fälle, Personen oder Umstände. Und dieses zwar un-wi-der-ruf-li-cher-wei-se und mit aller Strenge‹ usw. Das sind Geschichten! nicht? Und seht hier die Unterschriften: ›Gonzalo Fernandez de Cordova‹; und weiter unten: ›Platonus‹ und hier wieder: ›Vidit Ferrer‹: es fehlt nichts.«
Derweil der Doktor las, folgte ihm Renzo langsam mit dem Auge, indem er den Sinn recht zu fassen und die hochheiligen Worte, welche ihm, wie er meinte, Hilfe bringen sollten, selbst anzusehen begehrte. Der Doktor verwunderte sich, wie er sah, daß sein neuer Klient viel mehr aufmerksam als betroffen war. Der muß immatrikuliert werden, sprach er bei sich. »Aha!« fuhr er dann zu ihm fort: »Ihr habt Euch doch den Schopf abschneiden lassen. Ihr seid vorsichtig gewesen; aber da Ihr Euch in meine Hand geben wollt, war es nicht nötig. Die Sache ist ernsthaft; indessen wißt Ihr nicht, was ich mir getraue zu vollbringen, wenn es darauf ankommt.«
Um diese Abschweifung des Doktors zu verstehen, muß man wissen oder sich erinnern, daß zu jener Zeit die Bravi vom Handwerk und Bösewichter aller Art einen langen Haarschopf zu tragen pflegten, den sie sich dann, wenn sie jemand angriffen, in den Fällen über das Gesicht zogen, wo sie für nötig erachteten, sich zu verlarven, und das Unternehmen so beschaffen war, daß es zugleich Kraft und Klugheit erforderte. Die Verordnungen übergehen diese Sitte nicht mit Stillschweigen.
»Es befiehlt Se. Exzellenz (der Markgraf de la Hynojosa), daß, wer da das Haar von solcher Länge trägt, daß es die Stirn bis an die Augenbrauen bedeckt, oder vor oder hinter den Ohren eine Haarflechte hat, die Strafe von dreihundert Scudi oder, im Falle der Zahlungsunfähigkeit, drei Jahre Galeerenstrafe für das erstemal und für das andere außer der genannten eine noch größere Geld- oder Leibesstrafe nach dem Gutdünken Sr. Exzellenz verwirkt.
Dagegen gestattet sie, daß, wer da eine Glatze oder sonstigen vernünftigen Vorwand dazu, als, ein Abzeichen oder eine Wunde hat, um des Anstandes oder seiner Gesundheit willen, die Haare so lang trage, als vonnöten sei, derlei Mängel und nichts weiter zu bedecken; warnet jedoch, deswegen die Gebühr und das bloße Bedürfnis nicht zu überschreiten, um nicht in die den anderen deshalb zuerkannte Strafe zu verfallen.
Auch legt sie den Barbieren auf, bei Strafe, hundert Skudi zu zahlen oder öffentlich dreimal mit dem Folterseile gewippt, und auch nach Gutachten, wie oben, noch schärfer körperlich gezüchtigt zu werden, denen, die sie scheren, durchaus keine Zöpfe, Schöpfe, Büschel oder überhaupt ungewöhnlich lange Haare, weder auf der Stirn, noch an den Seiten oder hinter den Ohren stehenzulassen, die vielmehr alle, wie oben ausgenommen, wie gesagt, im Falle von Glatzen oder anderen Gebärden, gleichmäßig zu schneiden sind.«
Der Haarschopf gehörte also gewissermaßen mit zur vollständigen Bewaffnung und war eine Auszeichnung der Raufer und zügellosen Menschen, die man nachgehends darum gemeiniglich Schöpfe nannte. Dieser Ausdruck ist geblieben und besteht im Dialekte noch immer in milderem Sinne fort; auch wird es vielleicht nicht einen unserer Mailänder Leser geben, der sich nicht erinnerte, in seiner Kindheit entweder die Eltern, oder den Lehrer oder irgendeinen Freund oder Diener des Hauses von ihm sagen gehört zu haben: er ist ein Schopf, er ist ein Schöpfchen.
»In der Tat, so wahr ich ein armer Junge bin,« erwiderte Renzo, »ich habe in meinem ganzen Leben keinen Schopf getragen.«
»Wir kommen zu nichts«, versetzte der Doktor mit halb verschmitztem, halb ungeduldigem Lächeln. »Wenn Ihr kein Vertrauen zu mir habt, so kommen wir zu nichts. Wer dem Doktor eine Lüge sagt, seht, mein Sohn, der ist ein Tropf, der dem Richter die Wahrheit sagen wird. Dem Sachwalter muß man die Sache klar machen: es ist hernach unsere Sache, Verwirrung hineinzubringen. Wenn Ihr wollt, daß ich Euch helfe, so müßt Ihr mir alles von A bis Z hersagen, und das Herz auf der Zunge haben, wie gegen Euren Beichtvater. Ihr müßt mir die Person nennen, von der Ihr den Auftrag erhalten habt: es wird natürlich jemand von Ansehen sein, und in dem Falle werde ich mich zu ihm verfügen und das Nötige vorsorgen. Ich werde ihm kein Wörtchen sagen, seht Ihr, daß ich von Euch weiß, er habe Euch angestellt: verlaßt Euch darauf. Ich werde ihm sagen, daß ich seinen Schutz für einen armen, verleumdeten jungen Menschen anzuflehen käme, und dann die nötigen Maßregeln mit ihm nehmen, die Sache rühmlich zu Ende zu führen. Versteht Ihr wohl, indem er sich sicher stellt, sichert er Euch ebenfalls. Wenn aber der Streich ganz allein Euch zur Last fiele: nun, ich ziehe mich deshalb nicht zurück: ich habe anderen schon aus ärgeren Klemmen geholfen ... Vorausgesetzt, daß Ihr nur niemand von Ansehen beleidigt habt, verstehen wir uns recht, so verpflichte ich mich, Euch der Verdrießlichkeiten zu entledigen, mit ein wenig Unkosten, verstehen wir uns recht? Ihr müßt mir sagen, wer der Beleidigte, wie man sagt: und je nach dem Stande, der Beschaffenheit und Sinnesart des Freundes wird man ja sehen, ob es geratener ist, ihn durch eine Protektion in Schranken zu halten, oder ihn irgend gerichtlich zu belangen und ihm einen Floh ins Ohr zu setzen, denn, seht Ihr, wenn man mit den Verordnungen recht umzuspringen weiß, so ist niemand schuldig und niemand unschuldig. Was den Pfarrer anlangt, wenn er ein vernünftiger Mann ist, so wird er sich nicht darein mischen; sollte er jedoch ein Starrkopf sein, so weiß man derengleichen auch schon beizukommen. Es kann sich einer aus jedweder Not helfen; aber es gehört ein Mann dazu; und Euer Fall ist ernsthaft, ernsthaft, ernsthaft sage ich Euch. Die Verordnung redet klar, und wenn die Sache zwischen der Gerechtigkeit und Euch so unter vier Augen abgetan werden müßte, stünde es schlimm mit Euch. Ich spreche mit Euch als Freund: dumme Streiche muß man bezahlen: wenn Ihr noch soeben durchschlüpfen wollt: Geld und Aufrichtigkeit, Vertrauen zu dem, der Euch wohl will, Gehorsam, Vollbringen alles dessen, was Euch angeraten wird.«
Derweil der Doktor dieses Geschwätz auskramte, stand Renzo da und gaffte ihn mit so verblüffter Aufmerksamkeit an wie ein Einfaltspinsel auf dem Markte einen Gaukler, der, nachdem er Werg auf Werg sich in den Mund gestopft, Band auf Band und immerfort Band herauszieht, das kein Ende nehmen will. Sobald er aber recht verstanden hatte, was der Doktor sagen wollte, und wie er ihn mißverstanden, schnitt er ihm das Band im Munde mit den Worten ab: »Ach, Herr Doktor! wie haben Sie mich verstanden? Die Sache ist ja gerade umgekehrt. Ich habe niemand gedroht; ich treibe kein solch Gewerbe; Sie mögen meine ganze Gemeinde fragen und werden hören, daß ich niemals etwas mit den Gerichten zu schaffen gehabt habe. Die Schurkerei haben sie an mir begangen; und ich komme zu ihnen, um zu erfahren, wie ich es anzufangen habe, daß ich Gerechtigkeit erlange; ich bin recht froh, die Verordnung gesehen zu haben.«
»Teufel!« rief der Doktor und riß die Augen auf. »Was für ein Mischmasch macht Ihr mir? So ist es aber, so seid ihr, einer wie der andere: geht es denn nicht an, daß Ihr mir die Sache gleich deutlich zu wissen tun könnt?«
»Aber, Herr Doktor, entschuldigen Sie; Sie haben mir nicht Zeit gelassen; nun will ich Ihnen erzählen, wie es sich damit verhält. Sie müssen denn wissen, daß ich heute heiraten,« und hier wurde Renzos Stimme bewegt: »ein Mädchen heiraten wollte, mit dem ich seit diesem Sommer einig war; und heute, wie ich Ihnen sage, war der mit dem Herrn Pfarrer verabredete Tag, und es war auch alles schon ins Gleis gebracht. Da kommt mir nun aber der Herr Pfarrer mit gewissen Ausreden ... kurz und gut, um Sie nicht aufzuhalten, ich habe ihm die Zunge gelöst, wie es recht war; und er hat mir gestanden, es sei ihm bei Lebensstrafe untersagt worden, die Trauung zu vollziehen. Jener Gewalttätige, Don Rodrigo ...«
»Ei was!« unterbrach ihn der Doktor flugs, die Stirn runzelnd, die rote Nase rümpfend und den Mund verziehend; »schert Euch fort! was macht Ihr mir den Kopf mit solch unnützen Reden warm! Sprecht so dummes Zeug mit Euresgleichen, das seine Worte nicht abzuwägen versteht; und kommt einem Ehrenmanne nicht damit, der da weiß, was eine Sache zu bedeuten hat. Marsch, fort! Ihr wißt nicht, was Ihr sprecht, ich will nichts mit Kindern zu tun haben, ich will keine solchen Reden, keine solchen aus der Luft gegriffenen Reden hören.«
»Ich schwöre zu ...«
»Geht, sag ich Euch: was soll ich mit Euren Schwüren tun! Ich lasse mich nicht darauf ein: ich wasche mir die Hände;« und dabei rieb und wand er die eine mit der anderen, als ob er sie wirklich wüsche. »Lernt erst Eure Worte setzen: man kommt einem Ehrenmanne nicht so über den Hals.«
»Aber so hören Sie doch, hören Sie,« wiederholte Renzo vergebens: der Doktor drängte ihn immer scheltend mit den Händen nach der Türe zu, riß sie weit auf, als er ihn so weit gebracht, rief er die Magd und sagte zu ihr: »Gebt dem Menschen gleich, was er gebracht, wieder: ich will nichts, ich will nichts.«
Das Frauenzimmer hatte all die Zeit über, die sie im Hause gewesen, niemals ein ähnliches Gebot vollzogen; es ward indessen mit solchem Nachdruck gegeben, daß sie nicht anstand zu gehorchen. Sie nahm die vier armen Tiere und händigte sie Renzo mit einem Blicke geringschätzenden Mitleids ein, der besagen zu wollen schien: Du mußt einen garstigen Bock geschossen haben! Renzo wollte Umstände machen, aber der Doktor war unzugänglich, und er mußte, erstaunt, verblüfft und ergrimmter als vorher, die verschmähten Schlachtopfer wieder nehmen, abziehen und nach seinem Dorfe zurückkehren, um den Frauen den schönen Erfolg seiner Sendung zu hinterbringen.
Die Frauen hatten in seiner Abwesenheit, nachdem sie anstatt der hochzeitlichen Kleider ihr bescheidenes Alltagsgewand traurig wieder angelegt, von neuem angefangen zu ratschlagen, wobei Lucia schluchzte und Agnes seufzte. Diese besprach sattsam die großen Vorteile, die von dem Rate des Doktors zu hoffen standen, und Lucia sagte: man müsse sich auf alle Weise zu helfen suchen; Pater Cristoforo sei der Mann danach, nicht bloß einen Rat zu erteilen, sondern auch die Hand zu reichen, wenn es darauf ankomme, armen Leuten zu helfen, und es werde sehr gut sein, wenn man ihm zu wissen tun könne, was vorgefallen.
»Wohl wahr,« sagte Agnes, und sie überlegten nun beide, was zu tun sei; da nach dem an zwei Miglien entfernten Kloster zu gehen, ein Unternehmen war, das sie an diesem Tage nicht zu bestehen wagten; und ganz gewiß würde ihnen kein vernünftiger Mensch dazu geraten haben. Derweil sie nun aber die verschiedenen Pläne gegeneinander abwogen, hörten sie an die Tür klopfen und in dem nämlichen Augenblick ein leises, aber vernehmbares Deo gratias. Lucia überlegte, wer es sein könnte, lief hin und öffnete, und herein trat sofort mit einer Verneigung ein einsammelnder Kapuzinerlaienbruder, seinen Bettelsack über die linke Schulter gehängt und das zusammengedrehte offene Ende desselben mit beiden Händen fest auf die Brust haltend.
»Ach, Bruder Galdino!« sprachen beide Frauen.
»Der Herr sei mit euch!« sagte der Bruder. »Ich komme, Nüsse einzusammeln.«
»Geh und hole die Nüsse für die Väter«, sagte Agnes. Lucia stand auf und ging nach dem Nebengemache; ehe sie aber da hineintrat, blieb sie hinter dem Rücken Fra Galdinos stehen, der noch in derselben Stellung verharrte, legte den Zeigefinger an den Mund und warf der Mutter einen Blick zu, der zärtlich, flehentlich und auch gewissermaßen gebieterisch Stillschweigen erheischte.
Der Bettelmönch blinzelte Agnes so von weitem an und sagte: »Und die Hochzeit? Sie sollte doch heute stattfinden: ich habe im Orte eine gewisse Unruhe bemerkt, als ob es eine Neuigkeit gäbe. Was ist vorgefallen?«
»Der Herr Pfarrer ist krank und die Hochzeit muß verschoben werden,« versetzte Agnes hastig. Hätte Lucia nicht den Wink gegeben, so würde die Antwort wahrscheinlich anders gelautet haben. »Und wie geht's mit dem Einsammeln?« fragte sie dann, um von etwas anderem zu reden.
»Nicht sonderlich, gute Frau, nicht sonderlich. Das ist alles.« Indem er dies sagte, nahm er den Sack von der Schulter und ließ ihn zwischen beiden Händen springen. »Das ist alles; und um das wenige zusammenzubringen, habe ich an zehn Türen klopfen müssen.«
»Es ist ein mageres Jahr, Bruder Galdino, und wenn man um das liebe Brot sorgen muß, nimmt man alles mehr zusammen.«
»Was hat man aber für Mittel, liebe Frau, um wieder gute Zeiten zu machen? Almosen. Wißt Ihr, was für ein Wunder vor vielen Jahren in diesem unseren Kloster von Romagna mit den Nüssen geschehen ist?«
»Nein, wahrhaftig nicht, erzählt doch.«
»Nun denn, so müßt Ihr wissen, daß in dem Kloster einer unserer Väter ein Heiliger war, und zwar Pater Macario hieß. Der ging an einem Wintertage auf einem Fußstege durch das Feld eines unserer Wohltäter, der auch ein Biedermann war. Pater Macario sah den Klosterfreund bei einem großen Nußbaume, der sein war, und neben ihm vier Landleute mit geschwungenen Hauen stehen, die daran gingen, den Boden aufzureißen, um die Wurzeln zu entblößen. ›Was tut Ihr mit dem armen Baume?‹ fragte Pater Macario. ›Ei, Pater, er will mir schon seit Jahren keine Nüsse mehr tragen, ich mache mir Brennholz daraus.‹ ›Tut das nicht, tut das nicht,‹ sagte der Pater: ›Ihr sollt wissen, daß er heuer mehr Nüsse als Blätter tragen wird.‹ Der Wohltäter, der wohl wußte, wer derjenige war, der das Wort gesprochen hatte, befahl den Arbeitsleuten auf der Stelle, von neuem Erde auf die Wurzeln zu schütten, rief dem Pater zu, der seine Straße weiterging, und sagte ihm: ›Pater Macario, die halbe Ernte gehört dem Kloster.‹ Das Gerücht von der Weissagung verbreitete sich, und alles lief hinzu, den Nußbaum anzusehen, und fürwahr, im Frühlinge Blüten die schwere Menge und hernach Nüsse, Nüsse, die noch schwerer waren! Der gute Klosterfreund hatte nicht die Freude, sie zu brechen, denn noch vor der Ernte ging er, um den Lohn seiner Barmherzigkeit zu empfangen. Das Wunder aber wurde darum nur desto größer, wie Ihr hören werdet. Der brave Mann hatte einen Sohn von sehr verschiedener Sinnesart hinterlassen. Nun also denn, zur Ernte ging der Sammler aus, um die dem Kloster zustehende Hälfte einzufordern. Jener aber stellte sich ganz fremd in der Sache an und war so dreist, zu erwidern, er habe nimmer sagen gehört, daß die Kapuziner Nüsse machen könnten. Wißt Ihr nun, was geschah? Eines Tages, merkt wohl auf, hatte der Wüstling einige Freunde seines Schlages zu sich geladen und schwelgte mit ihnen, wobei er ihnen die Geschichte mit dem Nußbaum erzählte und die Klosterbrüder auslachte. Die jungen Taugenichtse hatten Lust hinzugehen und den unermeßlichen Haufen Nüsse zu sehen, und er führte sie auf den Kornspeicher. Aber nun hört: er machte die Tür auf, geht nach dem Winkel, wohin der große Haufen geschüttet worden, und indem er spricht: ›Seht her!‹ sieht er selbst hin und sieht ... was? Einen großen Haufen welker Nußblätter. Das war ein Beispiel. Und statt durch die Spende, die ihm abgeleugnet worden, etwas einzubüßen, gewann das Kloster dabei, denn nach einem solchen Vorfalle brachte der Umgang nach den Nüssen so gar viel ein, daß ein Wohltäter, von Mitleid mit dem armen Einsammler gerührt, dem Kloster einen Esel verehrte, der die Nüsse heimtragen hülfe. Und es ward so viel Öl gemacht, daß jedweder Arme kam und holte, was er davon bedurfte, denn wir sind wie das Meer, das von allen Seiten Wasser aufnimmt und es allen Flüssen dagegen zuerteilt.«
Hier erschien Lucia wieder, die Schürze so voller Nüsse, daß sie sie nur mit Mühe zusammenhielt, indem sie die beiden aufgenommenen Zipfel derselben mit den weit ausgestreckten Armen umspannte. Bruder Galdino nahm den Bettelsack von der Schulter und setzte ihn nieder, und derweil er ihn oben auseinanderdrehte, um die reichliche Spende darin aufzunehmen, zog, ihrer Verschwendung halber, die Mutter Lucien ein verwundertes und gestrenges Gesicht, worauf Lucia ihr jedoch mit einem Blick antwortete, der besagen wollte: Ich werde mich rechtfertigen. Bruder Galdino brach in Lobeserhebungen, Glückwünsche, Verheißungen und Danksagungen aus, nahm den Bettelsack wieder auf und ging seines Weges. Lucia aber rief ihn zurück und sagte: »Seid doch so gut und leistet mir einen Dienst, ich möchte nämlich, Ihr sagtet dem Pater Cristoforo, daß ich notwendig mit ihm zu sprechen habe, und daß er mir die Liebe erzeige, zu uns armen Leuten recht bald, aber ja recht bald zu kommen; denn ich kann nicht in die Kirche gehen.«
»Wollt Ihr weiter nichts? Ehe eine Stunde vergeht, soll Pater Cristoforo wissen, was Ihr begehrt.«
»Ich verlasse mich darauf.«
»Zweifelt nicht.« Und dies gesagt, ging er, ein wenig gebeugter und vergnügter als er gekommen war, von dannen.
Wenn man sieht, daß ein armes Mädchen mit solcher Zuversicht den Pater Cristoforo zu sich bestellt, und daß der Bruder Einsammler ohne Verwunderung und Umstände den Auftrag übernimmt, so denke nur darum keiner, daß der Cristoforo ein alltäglicher, sogar geringfügiger Mönch gewesen sei. Er war vielmehr ein Mann von großem Ansehen bei den Seinigen, gleichwie in der ganzen Umgegend; aber das Wesen der Kapuziner war solchergestalt, daß ihnen nichts zu niedrig und nichts zu erhaben erschien. Den Geringsten zu dienen und von den Mächtigen bedient zu werden, Paläste und Hütten mit derselben sicheren und demütigen Haltung zu betreten, zuweilen in einem und demselben Hause ein Gegenstand der Kurzweil und eine Person zu sein, ohne die nichts entschieden ward, Almosen allenthalben zu suchen und allen denen zu reichen, die es im Kloster forderten: ein Kapuziner war an alles das gewöhnt. Wenn er unterwegs war, konnte er ebenso leicht einem Fürsten begegnen, der ihm ehrfurchtsvoll das Ende seines Strickes küßte als einem Haufen loser Buben, die sich anstellten, miteinander handgemein zu sein, um ihm den Bart mit Kot zu bewerfen. Das Wort Mönch wurde zu jener Zeit mit der bittersten Verachtung ausgesprochen: und die Kapuziner waren vielleicht mehr als jeder andere Orden ein Gegenstand der zwei entgegengesetzten Gesinnungen und erfuhren die zwei entgegengesetzten Geschicke, denn da sie nichts besaßen, eine Kleidung trugen, die auf das seltsamste von der gewöhnlichen abwich, die Demütigung zu ihrem recht eigentlichen Berufe machten, so setzten sie sich auch desto eher der Verehrung und Geringschätzung aus, die eine solche Eigentümlichkeit von den verschiedenen Launen und Sinnesweisen der Menschen sich zuziehen kann. Sobald Bruder Galdino fort war, rief Agnes aus: »All die Nüsse in diesem Jahre!«
»Verzeiht mir, Mütterchen,« erwiderte Lucia; »hätten wir aber ein Almosen wie die anderen gegeben, so würde Bruder Galdino, Gott weiß, wie lange noch! haben einsammeln gehen müssen, ehe er den Sack voll bekommen; Gott weiß, wann er ins Kloster zurückgekehrt wäre, und wenn man bedenkt, was er alles mit anderen und andere mit ihm geplaudert, so weiß Gott! ob er noch daran gedacht haben würde ...«
»Nun, du hast es recht gemacht, und dann ist und bleibt es freilich immer ein frommes Werk, das gute Früchte trägt«, sagte Agnes, die mit ihren kleinen Fehlern doch eine gute Frau war und für diese ihre einzige Tochter, an der sie mit ganzer Zärtlichkeit hing, wie man sagt, ins Feuer gegangen sein würde.
Indes langte Renzo an, trat, im Gesicht zugleich Zorn und Scham, ein und warf die Kapphähne auf einen Tisch, was für diesen Tag das letzte traurige Erlebnis der armen Tiere war. »Einen schönen Rat habt Ihr mir gegeben!« sagte er zu Agnes. »Zu einem herrlichen Ehrenmanne habt Ihr mich geschickt, zu einem, der den armen Leuten wahrlich hilft!« Und nun trug er seine Unterredung mit dem Doktor vor.
Die über einen so traurigen Erfolg bestürzte Frau schickte sich an, zu beweisen, der Rat sei dennoch gut, und Renzo müsse nur nicht verstanden haben, die Sache recht anzufangen; aber Lucia beseitigte die Frage mit der Ankündigung, sie hoffe, eine bessere Hilfe ausgefunden zu haben. Renzo ergriff auch diese Hoffnung, wie wohl Menschen, die in Unglück oder Not sind, tun; »aber,« sagte er, »wenn der Pater keinen Ausweg findet, so werde ich ihn auf die oder jene Weise finden.«
Die Frauen rieten zu Frieden, Klugheit und Geduld.
»Morgen,« sagte Lucia, »kommt Pater Cristoforo gewiß, und ihr werdet sehen, er findet irgendeine Hilfe aus, von der wir Ärmsten nichts wissen und uns nichts träumen lassen.«
»Das hoffe ich,« sprach Renzo, »aber jedenfalls werde ich mir Recht verschaffen, oder es mir verschaffen lassen. Am Ende gibt es doch Gerechtigkeit in der Welt.«
Über so schmerzliche Wechselreden, über das Gehen und Kommen, wovon berichtet worden, war dieser Tag vergangen und fing es an dunkel zu werden.
»Gute Nacht,« sagte Lucia traurig zu Renzo, der sich nicht entschließen konnte fortzugehen. »Gute Nacht,« erwiderte er noch trauriger.
»Irgendein Heiliger wird uns hilfreich sein,« sprach sie wieder. »Betragt Euch klug und ergebt Euch darein.« Die Mutter fügte andere gute Ratschläge ähnlicher Art hinzu, und der Bräutigam ging mit wild aufgeregtem Herzen fort, die verwunderlichen Worte immer wiederholend: »Am Ende gibt es doch Gerechtigkeit in der Welt!« So wahr ist es, daß ein von großen Schmerzen überwältigter Mensch nicht mehr weiß, was er spricht.