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Der Arm des Comersees, der sich nach Mittag hin durch zwei ununterbrochene Bergketten mit lauter Buchten und Busen hinwindet, je nachdem die Berge vorspringen oder zurückweichen, zieht sich fast auf einmal zusammen und nimmt Lauf und Gestalt eines Flusses an, wo ihm rechts ein Vorgebirge und gegenüber ein weites Uferland gelegen ist. Die Brücke, die daselbst weite Ufer verbindet, scheint die Umwandlung dem Auge noch kenntlicher zu machen und bezeichnet den Punkt, wo der See aufhört und die Adda wieder beginnt; und es nimmt darauf diese den Namen See von neuem an, wo die abermals hervortretenden Ufer, die Wasser sich ausbreiten und neue Buchten und Busen bilden.
Das von drei angeschwollenen Regenbächen angeschwemmte Uferland senkt sich von zwei anliegenden Bergen nieder, deren einer der St.-Martins-Berg, der andere in lombardischer Mundart, il Resegone, die große Säge, von seinen vielen aneinandergereihten Spitzen heißt, die ihn in der Tat einer Säge ähnlich machen. Und so unterscheidet ihn denn auf den ersten Blick jedermann, wenn anders ihm gegenüber, wie zum Beispiel von den mitternachtwärts gelegenen Basteien von Mailand aus, an diesem einfachen Merkmale in dem langen ausgedehnten Höhenzuge von den anderen Bergen minder auffälligen Namens und gewöhnlicherer Form.
Eine gute Strecke weit steigt die Landschaft allmählich und unaufhörlich bergan; sodann zerteilt sie sich in Hügel und Talschluchten, Abhänge und Blachfelder, dem Gerippe der beiden Berge und dem Bette gemäß, das sich die Fluten gewühlt haben. Der von den Engpässen der Regenströme durchschnittene unmittelbare Rand ist fast nur Kiessand und Kieselgestein; weiterhin sind Felder und Weingärten mit zerstreuten Ortschaften, Villen und Gehöften; hier und da sieht man den Berg überziehende Gebüsche. Lecco, die vornehmlichste dieser Ortschaften, die der ganzen Pflege den Namen gibt, liegt unfern der Brücke, am Gestade des Sees und befindet sich teilweise in ihm selbst, wenn er anschwillt: heutzutage ein ansehnlicher Flecken und auf dem Wege, eine Stadt zu werden.
Zu der Zeit, da die Tatsachen sich ereigneten, die wir zu erzählen vorhaben, war dieser schon beträchtliche Flecken auch ein Kastell und hatte deshalb die Ehre, einen Kommandanten zu beherbergen, und den Vorteil, eine stehende Besatzung spanischer Soldaten zu besitzen, die die Frauen und Jungfrauen des Landes Züchtigkeit lehrten, einem und dem anderen Ehemanne oder Vater von Zeit zu Zeit auf die Schultern klopften, und am Ende des Sommers niemals verabsäumten, sich über die Weinberge zu verbreiten, um die Trauben zu lichten und den Landleuten die Mühen der Weinlese zu erleichtern.
Von einer dieser Ortschaften zur anderen, von der Höhe zum See bergab, von einem Hügel zum anderen, abwärts durch die kleinen Zwischentäler liefen und laufen noch jetzt viele schmale Fußwege, hier steil, dort eben, da sanft abfallend, meistenteils von Mauern aus großen Feldsteinen eingeschlossen, die stellenweise mit altem Efeu bekleidet sind, der, mit den Wurzeln den Kalk ausstoßend, sich an dessen Stelle schlingt und die Mauer so umschlossen hält, daß sie von ihm über und über ergrünt. Zuweilen sind diese Wege ausgehöhlt und zwischen den Mauern wie begraben, so daß der Wanderer, den Blick erhebend, nichts anderes als den Himmel und irgendeine Bergspitze entdeckt. Anderswo sind die Erdwälle, die bald am Saume einer Ebene hinlaufen, bald wie eine lange Stufe über den Abgrund hinausragen und von bollwerkähnlich hoch aufgeführten Mauern gehalten werden, die vom Fußsteige nicht höher als eine Brustwehr sich erheben, so daß der Blick des Wanderers nach mannigfaltigen, höchst anmutigen Aussichten umherschweifen kann. Einerseits herrscht die dunkelblaue Fläche des von Erdengen und Landzungen durchschnittenen Sees, mit den von der Flut umgekehrt abgespiegelten Dorfschaften des Gestades, anderseits die Adda, die kaum unter den Bogen der Brücke hin sich aufs neue zu einem kleinen See erweitert und, sodann wieder verengt, sich bis zum Horizonte in leuchtenden Windungen ausdehnt; in der Höhe, die gehäuften Massen der über dem Haupte des Schauenden hängenden Berge, darunter der urbar gemachte Abhang, die kleinen Dörfchen, die Brücke; gerade gegenüber das jenseitige Ufer des Sees und der daran emporsteigende Berg, der ihn begrenzt.
Durch eine dieser kleinen Gassen kehrte, als der 7. November des Jahres 1628 zu Rüste ging, Don Abbondio ***, der Pfarrer einer der obengenannten Ortschaften, von einem Spaziergange langsam nach Hause zurück. Er betete still sein Brevier und machte es zuweilen nach dem oder jenem Psalm über dem Zeigefinger der rechten Hand, den er als Buchzeichen darin ließ, zu; legte dann beide Hände auf den Rücken, die rechte mit dem geschlossenen Buche in die Fläche der linken und setzte mit gesenkten Augen seinen Weg fort, indem er von Zeit zu Zeit die kleinen Steine des Anstoßes, die auf dem Stege lagen, mit dem Fuße nach der Mauer stieß und den müßigen Gedanken, die seine Seele in Versuchung geführt, derweil die Lippe von selbst ihr Komplet hersagte, ein gemächliches Gehör lieh. Von den Gedanken danach ablassend, schlug er die Augen zu dem Berge auf, der sich ihm gegenüber erhob, und starrte in den Schimmer der kaum gesunkenen Sonne, der, durch die Spalten des entgegenstehenden Berges dringend, sich hier und da an den hervorragenden Massen wie breite ungleiche Purpurstreifen abmalte. Nachdem er das Brevier abermals aufgeschlagen und noch einen Abschnitt gebetet hatte, gelangte er zu einer Krümmung des Gäßchens, wo er die Augen immer vom Buche zu erheben und sich umzuschauen pflegte, was er denn auch an diesem Tage tat. Nach der Krümmung ging die Gasse etwa sechzig Schritt weit geradeaus und teilte sich dann in zwei schmale Stege, wie ein Ypsilon: der rechts zog sich bergaufwärts und führte auch zu der Pfarrwohnung; der linke Absenker neigte sich ins Tal hinunter bis zu einem Gießbach, und auf dieser Seite ging die Mauer dem Wanderer nur bis an die Hüften. Die inneren Mauern der beiden Fußwege, anstatt in einer Ecke sich zu vereinigen, gingen in einer kleinen Kapelle aus, an die gewisse lange, geschlängelte, zugespitzte Figuren gemalt waren, die in der Absicht des Künstlers und in den Augen der Bewohner der Umgegend Flammen bedeuteten, und abwechselnd mit den Flammen gewisse andere Figuren, die sich nicht beschreiben lassen und die Seelen aus dem Fegefeuer vorstellten: Seelen wie Flammen, ziegelfarben auf graulichem Grunde, hier und da durch Abbröckeln des Kalkes verletzt.
Der Pfarrer bog um die Wendung, richtete wie gewöhnlich den Blick auf die kleine Kapelle und sah etwas, worauf er nicht gefaßt war, und das er gern nicht hätte sehen mögen. Zwei Männer standen sozusagen am Zusammenflusse der beiden Fußstege einander gegenüber: einer von ihnen rittlings auf der kleinen niedrigen Mauer, das eine Bein nach außen baumeln lassend und mit dem anderen Fuße auf dem Wege; sein Gefährte, auf beiden Füßen, an die Mauer gelehnt, die Arme über der Brust gekreuzt. Tracht, Haltung und was von der Stelle aus, bis wohin der Pfarrer gelangt, von ihrem Äußeren zu unterscheiden war, ließ in betreff ihres Standes keinen Zweifel übrig. Sie hatten beide auf dem Kopfe ein grünes Netz, dessen Ende mit einer großen Troddel auf die linke Schulter herabhing, und unter dem auf der Stirn ein ungeheuerer Schopf hervorragte; zwei lange an den Enden geringelte Schnauzbärte; den Saum der Jacke in einen glänzenden Ledergürtel gesteckt und daran mit Haken zwei Pistolen gehängt; ein kleines mit Pulver gefülltes Horn wie einen Halsschmuck auf der Brust hängend, auf der rechten Seite in den weiten Pumphosen eine Tasche, aus welcher der Griff eines großen Messers guckte, und zur Linken einen Haudegen mit durchbrochenem Handkorbe von blanken, glänzenden zu einer Chiffre eingefügten Messingplättchen. Auf den ersten Anblick gaben sie sich für Individuen von der Gattung der Bravi zu erkennen.
Diese jetzt ganz ausgestorbene Menschenart stand damals in der Lombardei in der höchsten Blüte und war schon sehr alt. Hätte jemand von ihr keine Vorstellung, so dürften einige urkundliche Angaben über ihre Haupteigenschaften, über die Kräfte, die man aufbot, sie zu vertilgen, und über ihre zähe, üppige Lebenskraft hinreichen, eine solche zu geben.
Unter dem 8. April des Jahres 1583 erklärt Se. Exzellenz, der gnädige Herr Don Carlos von Aragonien, Fürst von Castelvetrano, Herzog von Terranuova, Markgraf von Avola, Graf von Burgeto, Großadmiral und Großkonnetable von Sizilien, Statthalter von Mailand und Generalkapitän Sr. katholischen Majestät in Italien, »von dem unerträglichen Elende, worin diese Stadt Mailand wegen der Bravi und Vagabonden gelebt hat und lebt, völlig unterrichtet,« dieselben in die Acht, und bestimmt und verordnet, daß alle diejenigen in diese Acht begriffen und für Bravi und Vagabonden gehalten sein sollen, welche als Fremde oder Einheimische, entweder kein Gewerbe habend oder, wenn sie es haben, es nicht treibend, gleichviel ob mit oder ohne Sold, sich zu irgendeinem Ritter oder Edelmann, Beamten oder Kaufmann halten, um bei etwas Beistand oder Vorschub zu leisten oder, wie sich vermuten läßt, in der Tat anderen Fallstricke zu legen. Allen diesen gebietet er, binnen sechs Tagen, und im Übertretungsfalle bei Galeerenstrafe das Land zu räumen, und gesteht allen Gerichtspersonen die unbeschränkteste Machtvollkommenheit zu, diesen Befehl in Ausführung zu bringen.
Im nächstfolgenden Jahre jedoch, mit dem 12. April, versieht sich der genannte Herr, »daß die Stadt nach wie vor von solchen Bravi angefüllt sei, die ihr ehemaliges Leben und ihre Gewohnheiten unverändert beibehalten und an Zahl nicht abgenommen haben,« und erläßt daher eine neue geschärfte und bemerkenswerte öffentliche Bekanntmachung wider sie, worin er unter anderen Dingen vorschreibt:
»Daß, wer da immer, er sei aus dieser oder einer fremden Stadt, von zweien Zeugen angegeben werde, in der öffentlichen Meinung für einen Bravo zu gelten, auch wenn er keines Verbrechens überführt werden könnte, schon auf den bloßen Verdacht hin, ein Bravo zu sein, ohne weitere Beweise von den besagten Gerichten oder jedem einzelnen Richter zur Folter und peinlichen Frage gebracht werden dürfe, und, wenn er auch keine Missetat eingestehe, nichtsdestoweniger, eben um des alleinigen Rufes und Namens eines Bravo willen, für eine Zeit von drei Jahren auf die Galeere zu schmieden sei.« Alles dies und noch mehr, was übergangen wird, weil »Se. Exzellenz entschlossen sei, sich von jedermann Gehorsam zu verschaffen.«
Hört man nun also kräftige und entschiedene Worte von solchen Geboten begleitet von einem solchen Herrn, so fühlt man sich äußerst geneigt zu glauben, schon von dem bloßen Widerhalle derselben hätten alle Bravi für immer verschwinden müssen. Aber das Zeugnis eines nicht minder gewichtigen Herrn mit ebenso vielen Namen, nötigt uns, das Gegenteil für wahr zu halten. Es ist dies Se. Exzellenz, der gnädige Herr, Juan Fernandez von Velasco, Konnetable von Kastilien, Oberkammerherr Sr. Majestät, Herzog der Stadt Frias, Graf von Haro und Kastelnovo, Herr der Stadt Velasco und der der sieben Infanten von Lara, Statthalter des Staates Mailand usw., der unterm 5. Juni des Jahres 1593, auch seinerseits völlig unterrichtet, »wie schädlich und verderblich die Bravi und Vagabonden seien, und welch schlimmen Einfluß derart Leute, der Gerechtigkeit zum Trotz, auf die öffentliche Wohlfahrt haben,« ihnen neuerdings ankündigt, daß sie im Verlaufe von sechs Tagen das Land zu meiden haben, und ihnen dieselben Drohungen und Vorschriften seines Vorgängers ausdrücklich wiederholt. Ja, am 23. Mai des Jahres 1598, »zu nicht geringem Leidwesen seiner Seele in Kenntnis gesetzt, daß von Tag zu Tage in dieser Stadt und in diesem Staate die Zahl solcher Bravi und Vagabonden zunehme und von ihnen Tages und Nachts nichts anderes verlaute, als wie sie vorsätzlich Wunden geschlagen, Mord und Raub und alle anderen Arten von Verbrechen begangen, zu denen sie sich um so leichter verständen, als sie darauf bauen könnten, von ihren Häuptern und Gönnern vertreten zu werden«, verordnet er wiederholt die nämlichen Mittel, indem er, wie man bei hartnäckigen Übeln zu tun pflegt, die Dosis verstärkt. »Jedermänniglich,« so schließt er, »enthalte sich also durchaus, dieser gegenwärtigen Verordnung irgend zuwider zu handeln, denn anstatt die Milde Sr. Exzellenz würde er deren Zorn und Strenge zu empfinden haben, da sie beschlossen und bestimmt hat, daß dieses eine schließliche und entscheidende Warnung sein soll.«
Nicht derselben Meinung war indessen Se. Exzellenz, der gnädige Herr Don Pedro Enriquez von Acevedo, Graf von Fuentes, Hauptmann und Statthalter des Staates Mailand, und zwar war er es aus guten Gründen nicht. »Von dem Elende vollkommen unterrichtet, worin diese Stadt und dieser Staat um der großen Anzahl Banditen willen lebe, die in ihm vorhanden, und entschlossen, eine so verderbliche Saat gänzlich auszurotten,« erläßt er am 5. Dezember 1600 ein neues Mandat voll der kräftigsten Vorkehrungen und mit der bestimmten Androhung, »daß sie mit aller Strenge und ohne Hoffnung auf Nachsicht zu buchstäblichster Ausführung zu bringen seien.«
Man muß jedoch glauben, daß er dabei nicht all den guten Willen aufbot, den er anzuwenden verstand, um Kabalen anzuspinnen und seinem großen Feinde Heinrich IV. Feinde zu erwecken; insofern die Geschichte bezeugt, wie es ihm gelang, gegen diesen König den Herzog von Savoyen zu bewaffnen, den er um mehr als eine Stadt brachte, und wie glücklich er den Herzog Biron bewog, eine Verschwörung anzustiften, die ihm seinen Kopf kostete.
Was aber jenes verderbliche Geschlecht der Bravi betrifft, so ist so viel gewiß, daß es fortfuhr, bis zum 22. September des Jahres 1612 zu wuchern. An diesem Tage war Se. Exzellenz, der gnädige Herr Don Giovanni von Mendoza, Markgraf von Hynojosa, Statthalter, Hofmann usw., ernstlich darauf bedacht, es zu vernichten, der an Pandolfo und Marco Tullio Malatesti, die königlichen Hofbuchdrucker, die gewöhnliche Verordnung absendete, auf daß sie sie zur Austilgung der Bravi in Druck ergehen ließen.
Dieselben bestanden dennoch fort, um unterm 24. Dezember des Jahres 1618 die nämlichen und noch härtere Maßregeln Sr. Exzellenz, des gnädigen Herrn Don Gomez Suarez von Figueroa, Herzogs von Feria, Statthalters usw., zu erleben. Und da sie nichtsdestoweniger auch von diesen Schlägen nicht getötet wurden, so fand Se. Exzellenz, der gnädige Herr Gonzalo Fernandez von Cordova, unter dessen Herrschaft der Spaziergang Don Abbondios stattfand, sich genötigt, am 5. Oktober 1627, nämlich ein Jahr, einen Monat und zwei Tage vor jenem denkwürdigen Ereignisse, die alten Verordnungen gegen die Bravi wieder aufzufrischen und zu erlassen.
Und doch war dies nicht die letzte Bekanntmachung, wiewohl wir Nachkommen davon als von einer Sache, die über den Zeitraum unserer Geschichte hinausgeht, keine Meldung tun zu dürfen glauben. Wir wollen nur der einen vom 13. Februar des Jahres 1632 gedenken, in der Se. Exzellenz, der gnädige Herr, Herzog von Feria, zum zweitenmal Statthalter, uns zu wissen tut, »daß die allerärgsten Schandtaten von jenen sogenannten Bravi herrührten.« Und dies genügt, um festzustellen, daß es in der Zeit, von der wir handeln, immer noch Bravi gab.
Daß die zwei oben beschriebenen hier auf jemand warteten, war nur allzu offenbar; was aber Don Abbondio zumeist verdroß, war, daß er aus gewissen Zeichen erkannte, er sei der Erwartete. Denn bei seinem Erscheinen hatten jene einander angesehen und den Kopf mit einer Bewegung erhoben, die verriet, daß alle beide zugleich zueinander gesagt: Er ist's. Der eine, der rittlings da stand, hatte sich erhoben und sein Bein auf den Weg gezogen; der andere sich von der Mauer aufgerichtet, und beide schritten ihm entgegen. Er hielt sein Brevier fortwährend offen vor sich, als ob er läse, blickte verstohlen darüber hin, um ihre Bewegungen zu erspähen, und wurde mit einem Male von tausend Gedanken bestürmt, als er sie gerade auf sich zukommen sah. Er fragte sich schleunigst selbst, ob zwischen den Bravi und ihm rechts oder links etwa eine Nebengasse abginge, aber es fiel ihm gleich ein: nein. Er stellte eine rasche Prüfung an, um zu erforschen, ob er sich gegen irgendeinen Mächtigen oder einen Rachsüchtigen vergangen habe; aber in dieser Unruhe ermutigte ihn einigermaßen das tröstliche Zeugnis seines Gewissens; dessenungeachtet kamen die Bravi näher und blickten ihn unverwandt an. Er steckte den Zeige- und Mittelfinger der linken Hand in den Halskragen, wie um ihn zurecht zu schieben, fuhr sich mit den beiden Fingern um den Hals und drehte das Gesicht derweil rückwärts, indem er den Mund verzog und so weit hinter sich schielte, als er konnte, ob jemand käme, aber er sah niemand. Er warf einen Blick über die kleine Mauer nach den Feldern: kein Mensch war da; einen anderen auf den Weg vor ihm: niemand als die Bravi. Was war zu tun? umzukehren, war nicht mehr Zeit, auszureißen, war dasselbe, als hätte er gesagt: verfolgt mich, oder noch schlimmeres. Da er der Gefahr nicht ausweichen konnte, so ging er ihr entgegen, denn die Momente dieser Ungewißheit wurden ihm nun so peinlich, daß er nichts mehr wünschte als sie abzukürzen. Er beeilte seine Schritte, betete einen Vers mit lauterer Stimme, drückte in seinem Gesicht so viel Ruhe und Heiterkeit aus als er konnte, und gab sich alle Mühe, ein Lächeln vorzubereiten. Dann, als er sich den beiden Ehrenmännern gegenüber befand, sprach er innerlich: Nun, da wär' ich! und blieb fest vor ihnen stehen.
»Herr Pfarrer!« sagte einer von den beiden, und durchbohrte ihn mit den Augen.
»Wer befiehlt mich?« entgegnete Don Abbondio rasch, indem er die Augen von seinem Buche erhob und es aufgeschlagen mit beiden Händen vor sich hinhielt.
»Sie sind gesonnen,« fuhr der andere mit dem zornigen und drohenden Blicke dessen fort, der einen Untergebenen über einer Schelmerei betrifft: »Sie sind gesonnen, Renzo Tramaglino und Lucia Mondella morgen zu trauen!«
»Das heißt ...« antwortete Don Abbondio mit zitternder Stimme, »das heißt: die Herren sind Weltmänner und wissen recht gut, wie es sich mit solchen Dingen verhält. Den armen Pfarrer gehen sie nichts an: sie machen ihre Geschichten unter sich ab und hernach ... hernach kommen sie zu uns, wie man zu einer Bank geht, um Geld einzufordern, und wir ... wir sind die Diener aller Welt.«
»Nun denn,« sagte der Bravo leise, wiewohl im Tone eines förmlichen Befehls, »diese Heirat wird nicht geschlossen, weder morgen noch jemals.«
»Aber, meine Herren,« entgegnete Don Abbondio so sanftmütig und höflich wie jemand, der einen Ungeduldigen bereden will; »aber, meine Herren, geruhen Sie doch, sich in meine Haut zu stecken. Wenn es von mir abhinge ... Sie sehen selbst ein, daß mir nichts daran gelegen ist ...«
»Ei, was da!« unterbrach ihn der Bravo, »wenn die Sache mit Geschwätz abzutun wäre, so würden Sie uns freilich in den Sack stecken. Wir wissen nichts mehr und wollen nichts mehr hören. Nehmen Sie sich in acht ... Sie verstehen uns.«
»Aber die Herren sind zu gerecht und vernünftig ...«
»Aber,« fiel diesmal der andere Geselle ein, der bis jetzt noch nicht gesprochen hatte, »aber aus der Heirat wird nichts, oder ...« hier kam ein derber Fluch ... »oder wer sie abschließt, wird es nicht bereuen, weil er keine Zeit dazu haben wird, und ...« abermals ein Fluch.
»Still, still!« nahm der erste Sprecher wieder das Wort, »der Herr Pfarrer weiß in der Welt zu leben; und wir sind rechtschaffene Leute, die ihm nichts anhaben werden, wenn er Vernunft annimmt. Herr Pfarrer, der gnädige Herr, Don Rodrigo, unser Gebieter, läßt Sie freundlich grüßen.«
Dieser Name wirkte auf Don Abbondios Gedanken, wie inmitten eines nächtlichen Donnerwetters ein Blitzstrahl, der auf einen Augenblick die Gegenstände unklar beleuchtet und den Schrecken erhöht. Er machte instinktartig eine tiefe Verbeugung und sagte: »Wenn Sie mir nur erklären könnten ...«
»Oh, wer wird Ihnen, der Latein kann, was erklären!« fiel der Bravo abermals mit einem halb grimmigen, halb tölpischen Lachen ein. »Das ist Ihre Sache. Und vor allem lassen Sie sich kein Wort über den Rat entfallen, den wir Ihnen zu Ihrem Besten gegeben haben; sonst ... hem ... würde es nicht anders sein, als hätten Sie die Trauung vollbracht. Nun, was wollen Sie, das man in Ihrem Namen dem gnädigen Herrn, Don Rodrigo, sage?«
»Daß ich ehrfurchtsvoll ...«
»Weiter, Herr Pfarrer.«
»... Bereit ... bereit bin, ihm jederzeit zu gehorchen.« Indem er diese Worte vorbrachte, wußte er selbst nicht recht, ob er ein Versprechen abgab oder einer gewöhnlichen Höflichkeit genügte. Die Bravi nahmen sie in dem ersteren Sinne, oder stellten sich doch so.
»Sehr wohl; nun, gute Nacht, Herr Pfarrer!« sprach einer von ihnen, im Begriff, sich mit seinem Gefährten zu entfernen. Don Abbondio, der wenige Augenblicke zuvor ein Auge seines Kopfes darum gegeben haben würde, ihnen zu entgehen, hätte jetzt sogar gern die Unterhaltung und die Unterhandlungen verlängert.
»Meine Herren,« hob er an, indem er das Buch mit beiden Händen zumachte; aber sie gaben ihm weiter kein Gehör, sondern schlugen den Weg ein, auf dem er gekommen war, und entfernten sich, einen Gassenhauer singend, den ich nicht mitteilen will. Der arme Don Abbondio blieb einen Moment mit offenem Munde, wie bezaubert, stehen und machte sich dann auch seinerseits durch das eine der beiden Gäßchen, welches nach seiner Wohnung führte, auf den Weg, nur mit Mühe ein Bein um das andere, die ihm erstarrt schienen, vorsetzend, und zwar in einem Gemütszustande, den der Leser besser verstehen wird, sobald er von der natürlichen Beschaffenheit dieser Persönlichkeit und den Verhältnissen der Zeiten, in denen sie zufällig lebte, weiteres erfahre.
Don Abbondio, der Leser hat das wohl schon gemerkt, war nicht löwenherzig geboren. Er hatte vielmehr seit seinen frühesten Jahren wahrnehmen müssen, daß der beschwerlichste Zustand dermalen der eines Tieres ohne Klauen und Zähne sei, das daneben doch keine Neigung hegte, verschlungen zu werden. Die gesetzliche Macht beschützte in keiner Weise den ruhigen, friedsamen Menschen, der doch sonst keine anderen Mittel hatte, sich von anderen gefürchtet zu machen. Nicht etwa, daß es an Gesetzen und Strafen gegen eigenmächtige Gewalttaten gefehlt hätte. Gesetze regnete es genug hernieder; die Vergehen waren aufgezählt und mit ängstlicher Weitschweifigkeit unterschieden; die Strafen unsinnigermaßen übertrieben, und, wo nicht genug, beinahe in jedem Falle nach Willkür des Gesetzgebers selbst und der hundert Vollzieher zu erhöhen, der Rechtsgang nur darauf abzielend, den Richter von allem zu entbinden, was ihm hätte hinderlich sein können, ein Verdammungsurteil zu sprechen; die Stellen, welche wir aus den Verordnungen gegen die Bravi angeführt haben, sind ein geringfügiger, aber wahrhafter Beweis dafür.
Bei alledem, ja großenteils eben deswegen, dienten diese von einer Statthalterschaft zur anderen wiederholten und verstärkten Verordnungen nur dazu, auf eine hochtrabende Weise die Ohnmacht ihrer Urheber zu beurkunden, oder, wenn sie eine unmittelbare Wirkung hervorbrachten, so war es besonders die, daß sie der Bedrückungen noch viele denen hinzufügten, welche die Friedsamen und Schwachen schon von den Ruhestörern zu erdulden hatten, und daß sie die Gewalttätigkeit und Vorsicht dieser erhöhten. Die Straflosigkeit war ausgebildet und hatte Wurzeln, an die jene Verordnungen nicht reichten, oder die sie nicht ausreißen konnten. Ein Gleiches war es mit den Zufluchtsstätten, ein Gleiches mit den Vorrechten einiger Stände, die die gesetzliche Macht teils anerkannte, teils mit mißgünstigem Stillschweigen duldete oder mit eitlen Einsprüchen in Abrede stellte, die aber von jenen Ständen und fast von jedem ihrer einzelnen Angehörigen in der Tat aufrecht erhalten und mit reger Eifersucht auf ihren Vorteil und ihre Ehre behütet wurden. Ward nun solche Straflosigkeit gegenwärtig durch die Verordnungen bedroht und gekränkt, so mußte sie natürlicherweise bei jeder Drohung und bei jeder Kränkung neue Kräfte und neue Erfindungen aufbieten, um sich zu erhalten. So geschah es denn auch in Wahrheit. Und beim Erscheinen der Verordnungen, die darauf abzielten, die Übeltäter zu unterdrücken, suchten diese in ihrer wirklichen Kraft neue bequemere Mittel, um das, was jene soeben untersagt hatten, nach wie vor zu begehen. Denn sie vermochten gar wohl, den Arglosen, der ohne eigene Kraft und ohne Schutz war, bei jedem Schritt festzunehmen und zu belästigen, weil sie zu dem Ende, männiglich in der Hand zu haben, um jedwedes Verbrechen zu verhüten oder zu bestrafen, alle Bewegungen des Privatmannes der Willkür von tausend obrigkeitlichen Personen und vollziehenden Beamten unterwarfen. Wer aber, ehe er das Verbrechen beging, seine Maßregeln getroffen hatte, sich beizeiten in ein Kloster oder in einen Palast zu flüchten, wohin die Schergen nimmer gewagt haben würden, einen Fuß zu setzen; wer, ohne andere Maßregeln, eine Livree trug, die zu verteidigen die Eitelkeit und der Vorteil eine mächtige Familie, einen ganzen Stand verpflichtete, der war in seinem Tun und Lassen frei und konnte den ganzen Lärm wegen der Verordnungen verlachen. Von eben denen, die dazu angestellt waren, sie zur Ausführung zu bringen, gehörten einige durch Geburt dem bevorrechteten Teile an und andere waren durch Schutz von ihm abhängig. Die einen wie die anderen hatten sich ihrer Erziehung, ihrem Vorteil, ihrer Gewohnheit gemäß, oder aus Nachahmung dessen Grundsätze angeeignet und würden sich wohl gehütet haben, um eines an den Straßenecken angehefteten Stückes Papier willen dawider zu verstoßen. Hingegen die mit der unmittelbaren Vollstreckung Beauftragten, und wären sie unternehmend wie Helden, gehorsam wie Mönche und demütig wie Märtyrer gewesen, würden damit doch nicht zustandegekommen sein, weil sie denen, mit welchen sie in Krieg geraten wären, an Zahl nachstanden und die öftere Wahrscheinlichkeit für sie bestand, von dem, der ihnen in abstracto und sozusagen in der Theorie zu handeln gebot, verlassen, ja sogar aufgeopfert zu werden. Überdies waren sie im allgemeinen die verworfensten, ruchlosesten Menschen ihrer Zeit, deren Amt selbst von denen gering geschätzt wurde, die davor hätten Scheu tragen können, und galt ihr Titel für einen Schimpf. Es war also ganz natürlich, daß sie, anstatt das Leben an ein unmögliches Unternehmen zu wagen oder wegzuwerfen, ihre Untätigkeit oder vielmehr ihre Nachsicht gegen die Mächtigen feil hatten, und sich vorbehielten, ihr verachtetes Ansehen und die Macht, die sie allenfalls besaßen, bei Gelegenheiten auszuüben, wo das Bedrücken nicht mit Gefahr verknüpft war, das heißt, auf wehrlose, friedfertige Menschen angewendet wurde.
Einer, der beleidigen will, oder alle Augenblicke beleidigt zu werden fürchtet, sucht natürlicherweise Verbündete und Gefährten. Darum war in jenen Zeiten die Neigung der einzelnen, sich nach Ständen zusammenzutun und einem jeden die höchste Macht zu bewahren, auf den äußersten Punkt gediehen. Die Geistlichkeit war besorgt, ihre Freiheiten zu verfechten und auszudehnen, der Adel seine Vorrechte, der Kriegsmann seine Begünstigungen. Die Kaufleute, die Handwerker waren in Zünfte und Brüderschaften eingetragen, die Rechtsgelehrten schlossen ein Bündnis, sogar die Ärzte bildeten eine Körperschaft. Eine jede dieser kleinen Oligarchien hatte ihr besonderes eigentümliches Gewicht, eine jede gewährte dem einzelnen den Vorteil, nach Maßgabe seines Einflusses und seiner Geschicklichkeit die vereinigten Kräfte vieler für sich zu verwenden. Die Redlichsten machten diesen Vorteil zu ihrer Verteidigung geltend, die Schlauen und Übelgesinnten benutzten ihn, um Bübereien auszuführen, zu denen ihre persönlichen Mittel nicht hinreichend gewesen sein würden, und um sich dafür Straflosigkeit zu sichern. Aber dennoch waren die Kräfte dieser verschiedenen Bünde sehr ungleich, und insonderheit auf dem Lande übte der reiche und gewaltsame Edle, mit einer Anzahl Bravi und von Landleuten umgeben, die durch häusliche Überlieferung daran gewöhnt und durch Eigennutz bewogen oder gezwungen waren, sich fast wie Untertanen und Soldaten des Herrn anzusehen, eine Macht aus, der schwerlich eine andere Verbindung daselbst würde haben widerstehen können.
Unser Abbondio, nicht adlig, nicht reich, nicht beherzt, war sich fast schon von der Schwelle der Kindheit an bewußt, daß er in dieser Gemeinschaft einem Gefäße von gebrannter Erde glich, das mit vielem eisernen Geschirr zusammen wandern muß, und er war darum auch willig genug seinen Eltern gefolgt, die ihn zum Priester bestimmten. Die Wahrheit zu sagen, hatte er nicht eben viel über die Obliegenheiten und die edle Bestimmung des Amtes, dem er sich widmete, nachgedacht. Sich einen gemächlichen Lebensunterhalt zu sichern und in einen verehrten, mächtigen Stand einzutreten, hatten ihm zwei mehr als zureichende Beweggründe zu solcher Wahl geschienen. Aber jeglicher Stand vertritt und stellt den einzelnen nur bis zu einem gewissen Grade sicher: keiner erläßt ihm die Annahme eines gewissen eigentümlichen Systems. Don Abbondio, fortwährend in den Gedanken an seine persönliche Sicherheit befangen, kümmerte sich um jene Vorteile nicht, welche zu erlangen es nötig gewesen wäre, sich viel zu bemühen, oder sich ein wenig in Gefahr zu begeben. Sein System bestand hauptsächlich darin, alle Händel zu vermeiden, und in denen, die er nicht vermeiden konnte, nachzugeben. Unbewaffnete Neutralität in allen Kriegen, die um ihn herum aus den damals äußerst häufigen Streitigkeiten zwischen der Geistlichkeit und weltlichen Macht, und aus den ebenso häufigen Händeln zwischen Beamten und Edelleuten, Edeln und Obrigkeiten, Bravi und Soldaten entsprangen, bis zu den Raufereien zweier Landleute herab, die mit einem Worte beginnen und mit Fäusten oder Messern beendet werden. War er durchaus genötigt, zwischen zwei Kämpfenden Partei zu nehmen, so hielt er sich, wiewohl immer im Hintertreffen, zu dem Stärkeren und bestrebte sich, den anderen zu bedeuten, daß er nicht freiwillig sein Gegner sei. Es war, als ob er zu ihm sagte: Aber warum habt Ihr nicht vermocht, der Stärkere zu sein? Ich würde mich auf Eure Seite geschlagen haben. Indem er sich also von den Gewalttätigen ferngehalten, ihre vorübergehenden, launenhaften Anfechtungen übersehen hatte und denen, die aus ernsterer und mehr vorbedachter Absicht entsprangen, mit Unterwürfigkeit begegnet war, indem er kraft Neigens und Beugens und sogar launiger Ehrerbietung auch den Trotzigsten und Grämlichsten ein Lächeln abnötigte, wenn sie ihm unterwegs begegneten, war es dem armen Manne gelungen, seine sechzig Jahre ohne große Gefährdungen zurückzulegen.
Es ist damit nicht gesagt, daß nicht auch er sein Teil Galle im Leibe gehabt hätte, und zwar hatten diese unablässige Übung im Erdulden und im Unterordnen, so viele stillschweigend hinuntergeschluckte bittere Pillen sie ihm dermaßen erregt, daß, wenn er sich nicht zuweilen hätte Lust machen können, seine Gesundheit sicherlich darunter gelitten haben würde. Aber wie denn am Ende auf Erden und in seiner Nähe Menschen waren, die er für völlig unfähig erkannt hatte, Böses zu tun, also konnte er an diesen mitunter seine lange im Inneren genährte üble Laune auslassen und seine Lust büßen, auch ein wenig eigensinnig zu sein und unbilligerweise zu schelten. Dabei war er denen, die nicht nach seinem Sinne lebten, ein strenger Sittenrichter, gesetzt nämlich, daß er sein Amt als solcher ohne irgendeine wie immer entfernte Gefahr auch ausüben konnte. Der Geschlagene war zum allerwenigsten ein unbedachter, der Ermordete immer ein störrischer Mensch gewesen. Wer gegen einen Mächtigen sein Recht verfochten hatte und einen zerschlagenen Kopf davontrug, dem wußte Don Abbondio immer einiges Unrecht beizumessen: eben keine schwierige Sache, da Recht und Unrecht sich niemals so rein und scharf voneinander sondern, daß ein Teil nur das eine von beiden für sich hätte. Vor allem aber zog er gegen diejenigen seiner Mitbrüder los, die auf ihre Gefahr hin sich eines unterdrückten Schwachen gegen einen mächtigen Bedränger annahmen. Dies nannte er mit aller Gewalt Händel suchen und Wasser mit einem Siebe schöpfen wollen; auch äußerte er strafend, daß dies eine Einmischung in weltliche Dinge auf Kosten der Würde des heiligen Amtes sei. Und gegen diese predigte er, wenn auch immer unter vier Augen oder in einem sehr engen Kreise, mit um so größerer Heftigkeit, je mehr er von ihnen wußte, daß es nicht in ihnen lag, etwas, das sie persönlich betraf, zu ahnden. Er hatte dann eine Lieblingsredensart, womit er Gespräche über derlei Gegenstände zu bekräftigen pflegte: die war, daß ein Ehrenmann, der auf sich achte und nicht über seinen Stand hinauswolle, niemals Ungelegenheiten haben werde.
Meine Leser mögen sich nun denken, welchen Eindruck die erwähnte Begegnung auf das Gemüt des Ärmsten machen mußte! Der Schrecken über jene unheimlichen Gesichter und jene schlimmen Reden, die Drohung eines Herrn, der dafür bekannt war, daß er nicht vergeblich drohe, ein System eines ruhigen Lebens, das so viele Jahre lange Geduld und Mühen gekostet, in einem Augenblicke zerstört, und ein schwer zu durchgehender Engpaß, ein Paß, dessen Ausgang gar nicht zu ersehen war: alle diese Gedanken schwärmten in dem schwachen Kopfe Don Abbondios wild umher.
– Wenn Renzo sich mit einem runden Nein zufriedenstellen ließe, möchte es noch angehen; aber er wird Gründe verlangen, und was, bei der himmlischen Liebe! kann ich ihm erwidern? Ei, ei, ei, er hat auch seinen Kopf, er ist ein Lamm, wenn man ihm nicht zu nahe tritt, aber wenn ihm einer widersprechen will ... ih! Und dann, dann ist er vor Liebe zu der Lucia ganz weg wie ... lose Buben, die sich verlieben, weil sie nicht wissen, was sie tun sollen, heiraten wollen und keine Rücksichten weiter nehmen, weil sie sich aus der Not kein Gewissen machen, die sie einem armen ehrlichen Menschen zuziehen. O weh mir Armen! Mußten denn nun auch gerade die Fratzengesichter mir in den Weg kommen und mit mir anbinden! Was geht's denn mich an? Will ich mich etwa verheiraten? Warum wendeten sie sich nicht lieber an ... Oh, laßt einmal sehen: es ist doch mein Schicksal, daß mir die klugen Gedanken immer erst einfallen, wenn ich sie nicht mehr gebrauchen kann. Hätte man daran gedacht, ihnen zu stecken, sie sollten sich mit ihrer Botschaft ... – Aber indem ward er inne, daß es doch zu gottlos wäre, wenn er bereute, kein Berater oder Mitwirker der Ungerechtigkeit geworden zu sein, und richtete nun allen Ingrimm seiner Gedanken gegen jenen anderen, der ihm derart seine Ruhe geraubt hatte. Er kannte Don Rodrigo nur vom Ansehen und vom Rufe und hatte nie etwas anderes mit ihm zu schaffen gehabt, als daß er seine Brust mit dem Kinn und die Erde mit der Spitze seines Hutes die wenigen Male berührte, da er ihm unterwegs begegnet war. Er hatte zufällig bei mehr als einer Gelegenheit den Ruf dieses Herrn gegen diejenigen verteidigt, die mit gedämpfter Stimme, seufzend und die Augen gen Himmel erhebend, irgendeine seiner Unternehmungen verwünschten: er hatte hundertmal gesagt, er sei ein ehrenwerter Kavalier. Aber in diesem Augenblick gab er ihm in seinem Herzen alle die Beinamen, die er ihm niemals von anderen hatte zuerteilen hören, ohne eiligst mit einem: ei, bewahre! dazwischen zu fahren.
In der Verwirrung dieser Gedanken an der Tür seines Hauses angelangt, das am Eingange des Dörfchens stand, steckte er hastig den Schlüssel, den er schon in der Hand hielt, in das Schloß, öffnete, trat ein, schloß sorgfältig wieder zu und rief alsbald, nach einer treuen Seele verlangend: »Perpetua! Perpetua!« indem er immer auf den kleinen Saal zuschritt, wo sie ganz gewiß sein mußte, um zum Abendessen den Tisch zu decken.
Perpetua war Don Abbondios Magd, eine getreue, ihm zugetane Magd, die nach Gelegenheit zu gehorchen und zu gebieten, und nicht minder zu rechter Zeit verstand, das Gebrumme und die Grillen des Gebieters zu erdulden, als ihn die ihrigen erdulden zu lassen, die von Tag zu Tag häufiger wurden, sintemal sie die Synodezeit der Vierziger überschritten und ledig geblieben, weil sie alle Partien, die sich ihr angeboten, ausgeschlagen hatte, wie sie sagte, oder, weil sie auch nicht einen Hund gefunden, der sie hätte haben wollen, wie ihre Freundinnen sagten.
»Ich komme«, erwiderte Perpetua, indem sie das Fläschchen mit dem Lieblingsweine Don Abbondios an den gewohnten Ort auf den kleinen Tisch stellte und sich langsam in Bewegung setzte; sie hatte aber die Schwelle des Zimmers noch nicht berührt, als er mit so hastigem Schritte, so scheuem Blicke, so verstörtem Angesicht eintrat, daß gar nicht einmal Perpetuens kundige Augen dazu gehört hätten, um gleich zu entdecken, daß ihm etwas ganz Außerordentliches zugestoßen sei.
»Barmherzigkeit! was ist Ihnen, lieber Herr?«
»Nichts, nichts!« versetzte Don Abbondio, der sich ganz atemlos in seinen großen Armstuhl fallen ließ.
»Wie! Nichts? Das wollen Sie mir so schmählich weißmachen, was ist's? Es ist irgendein großes Unglück geschehen.«
»Oh, um des Himmels willen! wenn ich sage, nichts, so ist es entweder nichts, oder eine Sache, die ich nicht sagen kann.«
»Die Sie auch mir nicht sagen können? Wer soll für Ihre Gesundheit Sorge tragen? Wer Ihnen einen Rat geben ...«
»O weh mir! schweigt und richtet weiter nichts an: gebt mir ein Glas von meinem Weine.«
»Und Sie wollen gegen mich behaupten, daß Ihnen nichts ist!« sprach Perpetua, indem sie das Glas vollschenkte und dann in der Hand behielt, als ob sie es ihm nur zur Belohnung der vertraulichen Mitteilung geben wollte, auf die er so sehr warten ließ.
»Gebt her, gebt her«, sagte Don Abbondio, ergriff das Glas nicht mit eben fester Hand und leerte es dann rasch aus, als ob es eine Arzenei gewesen wäre.
»Wollen Sie also, daß ich notgedrungen allenthalben herumfrage, was meinem Herrn zugestoßen sei?« fragte Perpetua, gerade vor ihm stehend, die Hände umgewendet in die Seiten gestemmt und die spitzen Ellbogen nach vorn gekehrt, indem sie ihn fest anblickte, gleich als wollte sie ihm das Geheimnis aus den Augen saugen.
»Um des Himmels willen! macht mir keine Klatschereien, macht mir keinen Lärm, es gilt ... es gilt das Leben!«
»Das Leben!«
»Das Leben.«
»Sie wissen recht wohl, daß ich, so oft Sie mir aufrichtig etwas anvertraut haben, kein einziges Mal ...«
»Großmaul! wie oft? ...«
Perpetua merkte, daß sie eine falsche Taste angeschlagen hatte; darum änderte sie rasch den Ton: »Lieber Herr,« sagte sie mit gerührter und rührender Stimme, »ich bin Ihnen immer zugetan gewesen, und wenn ich das jetzt wissen will, so geschieht es aus Eifer, weil ich wünschte, Ihnen beizustehen, Ihnen einen guten Rat geben, Ihnen das Herz erleichtern zu können ...«
Es ist gewiß, daß Don Abbondio vielleicht ebensogroße Lust hatte, sich seines schmerzlichen Geheimnisses zu entledigen, als Perpetua es zu kennen; nachdem er also ihre wiederholten und ungestümeren Angriffe immer schwächer abgeschlagen und sie mehr als einmal hatte schwören lassen, nicht davon zu sprechen, trug er ihr endlich unter vielen Verzögerungen mit vielen Achs und Wehs den kläglichen Fall vor. Als er zu dem schreckbaren Namen des Anstifters kam, mußte Perpetua einen abermaligen und noch feierlicheren Schwur ablegen, und nachdem Don Abbondio den Namen ausgesprochen hatte, warf er sich mit einem tiefen Seufzer in die Lehne seines Sessels zurück, erhob die Hände zugleich wie bittend und befehlend und sagte: »Um des Himmels willen!«
»Barmherzigkeit!« schrie Perpetua, »o über den Schurken! o über den Hundsfott! Ein Mensch ohne alle Gottesfurcht!«
»Wollt Ihr schweigen? oder wollt Ihr mich ganz zugrunde richten?«
»Oh, wir sind hier allein, und es hört uns niemand. Aber was werden Sie denn nun anfangen, mein armer Herr?«
»Nun sieh einer an!« sprach Don Abbondio mit zürnender Stimme, »was für einen schönen Rat mir die zu geben weiß! Fragt mich, was ich anfangen, was ich anfangen werde, gleich als ob sie in der Klemme und es meine Sache wäre, sie herauszuziehen.«
»Ja, ich wollte Ihnen wohl meinen einfältigen Rat geben, aber ...«
»Nun aber, laßt hören.«
»Mein Rat wäre, da sie ja alle sagen, unser Erzbischof sei ein heiliger, ein beherzter Mann, der sich vor den Fratzen nicht fürchte, und seine Lust daran habe, wenn er einmal einem so großen Schelme den Kopf zurechtrücken könne, um sich eines Pfarrers anzunehmen, daß ich sagen möchte und sage, Sie sollten ihm einen schönen Brief schreiben und ihm zu wissen tun, wie und welchergestalt ...«
»Wollt Ihr still sein? wollt Ihr wohl schweigen? Sind das Ratschläge, wie man sie einem armen Manne gibt? Wenn ich nun einen Büchsenschuß in den Buckel davontrüge ... was Gott nicht wolle! würde mir der Erzbischof den wieder herausziehen?«
»Ei, die Büchsenschüsse teilt man nicht gleich so wie Konfekt aus, und wehe uns, wenn die Hunde jedesmal beißen sollten, wenn sie bellen. Ich habe immer gesehen, daß man Respekt vor dem hat, der die Zähne zu weisen und sich geltend zu machen versteht, und gerade weil Sie niemals Ihr Recht vertreten wollen, ist es so weit mit uns gekommen, daß sie uns, mit Erlaubnis, alle ...«
»Wollt Ihr still sein?«
»Ich bin gleich still; aber so viel ist doch wahr, wenn die Welt merkt, daß einer immerdar, bei jeder Gelegenheit, bereit ist, die Segel ...«
»Wollt Ihr schweigen? Ist es Zeit zu solchen Albernheiten?«
»Es ist schon gut, Sie werden über Nacht daran denken; aber unterdessen fangen Sie nicht an, sich selber weh zu tun, in Ihre Gesundheit hineinzustürmen. Essen Sie einen Bissen.«
»Ich werde daran denken,« brummte Don Abbondio, »gewiß, ich werde daran denken, ich muß daran denken,« und erhob sich, fortfahrend, »ich will nichts zu mir nehmen, nichts; es ist mir nicht danach zumute, ich weiß auch, daß ich daran denken muß. Aber mußte es denn gerade mir begegnen?«
»Lassen Sie nur wenigstens noch den Tropfen hinunterlaufen«, sagte Perpetua einschenkend. »Sie wissen, daß Ihnen das den Magen immer wiederherstellt.«
»Ach! der braucht ein ander Pflaster, der braucht ein ander Pflaster, der braucht ein ander Pflaster.«
Indem er so sprach, nahm er das Licht und fuhr fort zu brummen: »Eine verwünschte Gaukelei! Und das einem Ehrenmanne gleich mir! Wie wird es morgen hergehen?« und brach unter anderen ähnlichen Wehklagen nach seiner Kammer auf, um sich niederzulegen. Auf der Schwelle angelangt, verharrte er einen Moment, wendete sich nach Perpetua um, legte den Zeigefinger auf die Lippen, sagte mit langsamem, feierlichem Tone: »Um des Himmels willen!« und verschwand.