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An Mrs. Thomas Mann, Pacific Palisades (Calif.)
Fort Dix (bei New York), den 6. I. 1943
Soldatenmutter!
Es ist nur, damit Du weißt, wo ich stecke. Lange freilich wird hier meines Bleibens nicht sein. Dies ist ein »Induction Center«, was bedeuten will, daß die neuen Rekruten hier herumsitzen und warten, bis sie einer bestimmten Waffengattung zugeteilt und irgendwohin zum »Basic Training« verfrachtet werden. Ich kann nur hoffen, daß dieses »Herumsitzen« – ein ziemlich euphemistischer Ausdruck! – sich in meinem Fall nicht gar zu sehr in die Länge ziehen möge; denn, unter uns gesagt, das Leben hier ist nicht gerade lustig.
Die ersten zwei, drei Tage gingen noch. Zunächst gab es die Einkleidungszeremonie (Uniform, Stiefel, Windjacke, Overalls zur Arbeit, sogenannte »fatigues«, Regenmantel, Wintermantel, Handschuhe, Hemden, Socken, Unterwäsche, sogar Toilettengegenstände: alles von prächtiger Qualität; aber noch keine Waffen …); dann kamen allerlei Interviews mit »classification officers« und die berühmte Intelligenz-Prüfung, bei der ich übrigens nur knapp mittelgut abschnitt. (Angeborene Blödigkeit? Oder sollte der »test« nicht unbedingt zuverlässig sein?) Außerdem wurden wir gegen die verschiedensten Seuchen geimpft und mußten eine Reihe von Ansprachen – teils religiös erbaulicher, teils wissenschaftlich aufklärender Art – über uns ergehen lassen. Am besten gefiel mir der Vortrag »Wie hüte ich mich vor Geschlechtskrankheiten?«, besonders wegen des sehr realistischen Films, der nachher zur Vorführung kam. Nun weiß ich alles. Dein Sohn ist gewarnt.
Also, wie gesagt, diese ersten Tage waren noch leidlich angeregt. Dann fing der Stumpfsinn an. Die Herren Sergeanten und Korporale lassen uns die wunderlichsten Dinge tun. Ein beliebter Sport ist das Aufheben von Zigarettenstummeln und Papierfetzen. Heute früh, gleich nach dem Bett-Machen (Du solltest sehen, wie gut ich das schon kann!), mußte unsere Kompanie zu einem Marsch durch das ganze Lager antreten, wobei es sich nicht etwa um eine militärische Übung handelte, sondern um eine Säuberungsaktion großen Stils. Ich sammelte im Lauf des Morgens so viele »cigarette butts«, daß der Feldwebel ganz beeindruckt war und mich gnädig auf die Schulter klopfte: »Good work, Soldier! Keep it up!« Nachmittags hatte ich dann ein relativ leichtes Amt: vier Stunden lang Wache-Stehen vor dem Klosett im Clubhaus der Offiziere. Das Klosett ist nämlich kaputt und soll zur Zeit nicht benutzt werden, ein mißlicher Umstand, auf den ein großes Plakat an der Türe ausdrücklich und eindeutig hinweist. Aber irgendein zerstreuter Oberst oder mutwilliger General könnte es sich ja einfallen lassen, die lädierte Toilette (warum man sie wohl nicht abschließt?) trotzdem zu benutzen. Um dies zu verhindern, ist die Wache da. Hätte der Commanding Officer von Fort Dix sich an mir vorbei in den verbotenen Lokus drängen wollen, ich wäre berechtigt, ja verpflichtet gewesen, ihm mit höflicher Entschiedenheit entgegenzutreten: »Sorry, Sir! But this latrine happens to be out of order.« Glücklicherweise kam es nicht so weit. Die vier Stunden verliefen ohne Zwischenfall.
Morgen habe ich den ganzen Tag »K. P.«, was allgemein als das Schlimmste gilt … Aber Du weißt womöglich gar nicht, was »K. P.« bedeutet? »Kitchen Police« natürlich, was denn sonst? Küchendienst von fünf Uhr morgens bis zehn Uhr abends! Deine schwarze Magd würde Dir schön kommen, wenn Du ihr dergleichen zumuten wolltest.
Ich bin trotz alledem guter Dinge. Die Leute in meiner (sehr provisorischen) Kompanie sind ganz nett; meistens italienischer Abstammung und in Brooklyn gebürtig. Ziemlich rührend war das Wiedersehen mit einem Liftboy aus dem Bedford-Hotel: er schlief just in dem Bett über meinem. – Wie der Zufall doch spielt! Da ich ihm in zivilen Tagen generöse Trinkgelder zu geben pflegte, zeigte er sich recht huldvoll und unterwies mich in der Kunst des Stiefel-Putzens. Heute früh bekam er seine »travel orders« und ist jetzt schon unterwegs – »destination unknown«. (Kein G. I. darf je wissen, wohin er verschickt wird! Alles ist »militärisches Geheimnis«!) Der Junge, der nun das Bett des Liftboys übernommen hat, scheint auch ganz brav, wenngleich ein bißchen wortkarg. Der einzige, dem er sich anvertraut, ist sein lieber Herrgott im Himmel. Vor dem Schlafengehen kniete er ein paar Minuten lang auf dem kalten Boden, gleich neben unserem Lager, mit gefalteten Händen und gesenkter Stirn. Es war noch hell im Saal, so daß alle ihn sehen konnten. Hat aber keiner über ihn gelacht.
Ich kritzle und kritzle, beim Schein meiner Taschenlampe, was natürlich streng verboten ist. Wenn der Sergeant mich erwischt, muß ich auch übermorgen noch »K. P.« machen. Ein gräßliches Risiko! Du gestattest also, daß ich hastig-herzlich schließe. Mit Kratzfüßen für Vater Zauberer …
An Miss Erika Mann, New York
Camp Joseph T. Robinson (Arkansas), den 14. II. 1943
Ich bin heute nacht »C. Q.« (»in charge of quarters«) was heißen will, daß ich bis zum »reveille« (hier seltsamerweise »révelli« ausgesprochen) im »Orderly Room« (anderswo »Schreibstube« genannt) zu sitzen habe. Sollte das Telephon läuten, so würde ich mit schneidiger Stimme sagen: »B Company Orderly Room – Private Mann speaking!« Und wenn ein »enemy agent« sich einzuschleichen versuchte, müßte ich ihn mit meinem Gewehr in Schach halten, bis die M.P.'s (Military Police) kommen, um ihn festzunehmen. Das Telephon läutet aber nicht, und kein Spion läßt sich sehen. Ich habe also reichlich Zeit, Dir auf der schönen Schreibmaschine des First Sergeant ein Ausführliches hinzutippen.
Wo magst Du Dich aufhalten? Ich hatte alle Deine »lecture«-Engagements fein säuberlich auf einem Zettel: der mir denn auch prompt abhanden kam. Nun weiß ich nicht, in welcher Gegend des Landes Du Dich derzeit produzierst, und schreibe Dir also ins »Bedford«: hoffentlich schickt man Dir's nach. Wenn aber Deine Tournée Dich in diese südliche Regionen führen sollte, so denkst Du gewiß daran, daß die Stadt Little Rock – Kapitale des Staates Arkansas – ganz in der Nähe unseres Camp gelegen und per Schnellzug, Flugzeug oder Autobus sehr bequem zu erreichen ist. Das wäre doch gar zu schön, wenn Du plötzlich mal kämest! Einen Abend würde man mir hier schon Urlaub geben, obwohl der First Sergeant – so ein Dicker mit mürrischen Hängebacken und bösen Metzgerhundaugen – im allgemeinen eher zum Sadismus neigt. Aber schlimmstenfalls gehe ich halt zur höheren Instanz und appelliere an die Menschlichkeit des Commanding Officer, ein recht fideler Herr, der seine Leute gern bei guter Laune hält.
Ich habe überhaupt Glück mit den Vorgesetzten (der Oberfeldwebel ist eine häßliche Ausnahme) und mit den Kameraden komme ich auch gut aus. Die meisten sind jünger als ich, rüstige Fußballspieler zwischen achtzehn und fünfundzwanzig, weshalb ich denn nicht gerade zu den besten Soldaten der Kompanie gehöre. Das Exerzieren fällt mir ziemlich schwer, die langen Märsche machen mich recht müde, und mit der Flinte weiß ich noch immer nicht viel anzufangen. Du kennst ja meine manuelle Ungeschicklichkeit. Da läge es doch nahe, daß die Fußballspieler meiner spotteten, zumal ich ja auch sonst ein wenig aus dem Rahmen falle. Mein Akzent ist fremd, ich lese Bücher, soll sogar selbst welche geschrieben haben: alles sehr zum Kichern! Man kichert aber nicht, sondern schmunzelt höchstens und nennt mich »the professor«. Das ist gutmütige Ironie – nicht ohne Wohlwollen, ja nicht ohne einen gewissen humoristischen Respekt … Ob europäische Soldaten einen Kauz meiner Art mit ebensoviel Takt und Toleranz behandeln würden? Der Durchschnittsamerikaner mag noch unwissender und naiver sein als der durchschnittliche Europäer; aber gerade diese Naivität macht ihn freundlicher, generöser. Unter den Münchener Buben im Wilhelmsgymnasium habe ich mich fremder und einsamer gefühlt als jetzt bei den G. I.'s.
Über ernste Dinge freilich unterhält man sich wohl besser nicht mit ihnen. Es kommt auch fast nie dazu. Der bevorzugte Gesprächsgegenstand sind Mädchen. Wenn ausnahmsweise niemand eine Weibergeschichte zu erzählen oder ein attraktives Bild zu zeigen hat, so wird auf die Armee geschimpft; es gehört zum guten Ton, alles Militärische zu hassen und zu verachten. Dabei tut man aber doch seine Pflicht und legt Wert darauf, sich als Soldat auszuzeichnen. Daß Amerika den Krieg gewinnen wird, gilt allgemein als selbstverständlich; was aber die Probleme und Umstände betrifft, die zum Kriege geführt haben, so herrscht eine erstaunliche Ahnungslosigkeit. Diejenigen G. I.'s, die sich für solche Fragen überhaupt interessieren – es sind ihrer nicht viele! –, scheinen zu glauben, die Vereinigten Staaten seien von einem selbstsüchtig schlauen, dabei erbärmlich reduzierten England in den Kampf gegen Hitler gehetzt worden. Neulich gab es hier im Camp eine Vorführung des sehr eindrucksvollen und informativen Films »What we are fighting for«. – Alle mußten ihn sehen, und alle hätten bei dieser Gelegenheit manches lernen können. Denn, wenn der Film auch vielleicht nicht ganz deutlich machte, wofür wir kämpfen, so zeigte er doch mit drastischer Genauigkeit, was es für Mächte sind, gegen die wir uns zu wehren haben. Und die Reaktion des soldatischen Publikums? Ein Achselzucken! »Propaganda«. Mit diesem Wort läßt sich alles erledigen, alles beiseite schieben. Skeptische Ignoranz ist nicht zu überzeugen, nicht zu beunruhigen, nicht zu erschüttern. Konzentrationslager? Gestapo-Terror? Überfälle auf schwache Nachbarn? Vertragsbruch? Massenmord? Welteroberungspläne? Der ignorante Skeptiker grinst und hebt die Schulter: »That's just propaganda …« Der ignorante Skeptiker amüsiert sich über Hitler und Mussolini – zwei harmlose Clowns, die zum Vergnügen der G. I.'s auf der Leinwand gestikulieren und schwadronieren. Der ignorante Skeptiker findet den Nürnberger Parteitag »a pretty good show«, die Bücherverbrennungen »a lot of fun«. Pfui-Rufe gab es nur für die Japaner, die man wirklich nicht besonders gerne hat: »Pearl Harbor« wird ihnen doch ein wenig nachgetragen, und übrigens sind sie »farbig«, was als verächtlich gilt.
Ja, das Rassen-Problem … Vorhin habe ich von der »Toleranz« der G. I.'s gesprochen. Ich bleibe dabei: sie sind im ganzen duldsam und generös, ohne Vorurteil, ohne Hochmut und Tücke. Aber es kann nicht geleugnet werden, daß diese Toleranz in vielen Fällen eben doch nur eine begrenzte und bedingte ist; an einem gewissen Punkte hört sie auf. Die Schwarzen und die Gelben sind »Untermenschen«. Man nennt sie nicht so, sondern »nigger« und »yellow-belly«: es läuft aufs gleiche hinaus.
Wir haben uns über diesen melancholischen Aspekt des amerikanischen Lebens, die Neger-Frage, ja schon des öfteren miteinander Gedanken gemacht. Aber seitdem ich hier im Süden bin – Arkansas gehört beinahe schon zum »Deep South« –, ist mir das Problem doch erst in seiner ganzen Dringlichkeit und Bitterkeit bewußt geworden. Von den vier Burschen, mit denen ich mein Zelt oder »Bungalow« teile, stammt einer aus dem Staate Alabama. Johnny heißt er, ein recht lieber Mensch, kaum zwanzig Jahre alt, sanft von Gesicht und Wesen. Aber Du solltest ihn über die »f......niggers« reden hören! Kein Nazi kann schlimmer sein. Ich glaube, so ein Alabama-Johnny würde Hungers sterben, ehe er sich mit Schwarzen an einen Tisch setzte. Lieber im Regen schlafen, als in einem Raum mit Negern! »Those bastards stink!« Johnny bleibt dabei.
Ist das nicht schrecklich? Mich erschreckt es sehr.
Was man so fein »segregation« nennt – die konsequente, starre Trennung zwischen Weiß und Schwarz – wird gerade hier, in der Armee, zum unerträglichen Skandal. Glaubst Du, wir kämen jemals in Kontakt mit unseren dunklen Kameraden? In »Camp Joseph T. Robinson« sind auch Neger-Truppen stationiert. Aber sie leben ganz für sich, in einem besonderen Distrikt des Lagers, einer Art von »schwarzem Ghetto« mit eigener Kirche, eigenem Kino, eigenem »P. X.« (Post-Exchange oder Kantine). Im Autobus, der uns nach Little Rock befördert, gibt es eine eigene Abteilung »For Colored People«. Das geht doch einfach nicht! Das ist doch nicht in Ordnung! Wenn diese Leute gut genug sind, für unser Land zu kämpfen und zu sterben, dann können sie doch nicht zu schlecht sein für unseren »Service Club« und unsere Kapelle! Mit was für Gefühlen diese »colored people« wohl in den Krieg ziehen mögen? Die Frage What are we fighting for?, für diese Parias dürfte sie nicht leicht zu beantworten sein …
Das sind so Nachtgedanken – »rather disturbing«, nicht wahr? Aber nun wird es schon hell draußen, die Trompete wird gleich zum »Révelli« blasen. Wir haben eine Bajonett-Übung heute morgen, nachmittags einen Zwölf-Kilometer-Marsch. Da werde ich wohl wieder etwas stöhnen und schwitzen. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie schwer so ein vollgepackter Tornister ist, wenn man ihn drei, vier Stunden lang schleppen muß! Aber ich schaff es schon. Und wenn ich wirklich gar nicht mehr weiter kann, wird der brave Alabama-Johnny sich meiner erbarmen und den Tornister eine Weile für mich tragen.
Let me hear from you!
Und komm nach Little Rock!
An Hermann Kesten, New York
Camp Joseph T. Robinson (Arkansas), den 31. III. 1943
Ihr Brief war Labsal. Intelligentes Lob wird immer gern gehört, und was Sie mir über meinen »Gide« schreiben, ist von großer Klugheit und Sensivität, wenngleich gewiß zu freundlich. Mein bestes Buch? Vielleicht. Aber deshalb brauchte es noch immer nicht gut zu sein. Jedenfalls sieht es hübsch aus, darin stimme ich mit Ihnen überein. Die »Creative Age«-Leute haben sich Mühe gegeben. Übrigens klingen die ersten Kritiken ermutigend.
All dies scheint merkwürdig entfernt, entrückt, irgendwie irreal. Man lebt hier so völlig in der Wildnis, von der Welt abgeschnitten, besonders von der literarischen. Seit Wochen besteht mein Leben nur noch aus staubigen Märschen, Exerzieren, Schießübungen, Bajonett-Training, »Obstacle Course« (wobei man über breite Gräben springen und auf hohe Bäume klettern muß), Gewehr-Putzen (besonders schwierig!), Stiefel-Putzen (nicht so schlimm), dazwischen ab und zu der mit Recht so unbeliebte Küchendienst. All dies gehört zum »Basic Training«; ich bin jetzt bald fertig damit. Keine Ahnung, was die unberechenbaren, unergründlichen Autoritäten dann über mich verfügen werden. (Die Army-Hierarchie erinnert mich immer mehr an jene schaurig kapriziösen, anonymen Mächte, die im Kafkaschen »Schloß« und »Prozeß« ihr Wesen treiben …) Vielleicht schickt man mich »overseas«, nach England oder zum Pazifischen Kriegsschauplatz (welch seltsame »contradictio in adjecto«); vielleicht werde ich in ein anderes Camp versetzt und bekomme ein »special training«. In Anbetracht meiner Sprachkenntnisse läge es nahe, daß man mich irgendwie im »Intelligence«-Dienst verwendete, etwa zum Verhören deutscher Kriegsgefangener. Aber man erzählt mir, daß die mysteriöse Army eine Neigung hat, Universitätsprofessoren als Lastwagenführer einzusetzen und Analphabeten mit der Abfassung wichtiger Memoranden zu betrauen; jedenfalls soll es im vorigen Kriege so gewesen sein … Nun, man wird ja da sehen, und mir ist alles recht. Ich wollte Soldat sein, und darf mich nun nicht beklagen. (Tue es auch nicht!)
Was immer übrigens mit mir geschehen möge, ich hoffe doch sehr, daß ich noch Zeit finden werde, die überfällige Einleitung zu »Heart of Europe« endlich abzuschließen. Das kurze Vorwort sollte von einem repräsentativen Amerikaner sein – Archibald MacLeish wäre nicht schlecht oder vielleicht die alte Willa Cather; auch Dorothy Canfield Fisher – weniger glänzend, aber von solider Popularität – wäre in Betracht zu ziehen.
Mein Gewissen tut etwas weh, wenn ich an unsere »Anthology« denke, wozu ich nicht häufig komme, aber doch zuweilen. Ich habe Sie da etwas hereingelegt, lieber Freund. Ein schöner »co-editor«, der plötzlich zum Militärdienst desertiert! Während ich mich mit dem Schießgewehr amüsiere, bleibt Ihnen all die garstige Plage mit der Auswahl portugiesischer und finnischer Autoren. Die kleinen Nationen dürften noch einiges Kopfzerbrechen machen. (What about Yugoslavia? What about Greece?) Was die großen betrifft, so sind wir uns wohl so ziemlich einig und im klaren. Die italienische Gruppe rundet sich ganz artig, mit dem schönen Balzac-Essay von Benedetto Croce als Anfang und Borgeses brillantem »D'Annunzio« als Finale. Auch mit den Franzosen bin ich nicht unzufrieden. Die »introduction« von Iwan Goll wird sicher gut; die Zusammenstellung der Texte scheint mir repräsentativ und glücklich. Valéry, Rolland, Gide, Proust, Martin du Gard, Claudel, Larbaud, Romains, Duhamel, Montherlant, Green, Mauriac, Aragon, Malraux, Eluard, Giraudoux, Saint-Exupéry, Maritain, Cocteau, Bernanos – kein ganz Wichtiger ist ausgelassen: es sei denn Sartre und Breton. Aber für alle ist nun mal nicht Platz. (Weshalb ich auch auf René Crevel schweren Herzens verzichte …) Montherlant ist freilich nicht unbedenklich: er soll vorzüglich mit den Nazis stehen, wohl nicht nur aus Opportunismus, sondern auch aus Überzeugung: im Grunde seines Herzens dürfte dieser ästhetizistisch-sadistische Barde des Stierkampfes stets ein Fascist gewesen sein. Trotzdem ist nicht zu leugnen, daß er Talent hat – ziemlich viel sogar! – und daß sein Beitrag sehr wesentlich, sehr charakteristisch zur französischen Literatur unserer Zeit gehört. Wenn wir aber den suspekten Montherlant dulden, warum dann nicht gleich Céline? Der ist auch begabt – wenngleich ein bösartiger Verrückter. Nein, Céline ginge zu weit. Irgendwo muß eine Grenze sein.
Aber die Grenze ist nicht leicht zu ziehen. Norwegen ohne Hamsun? Selbstverständlich! Trotzdem ist es schade.
Das kurze Gedicht von Stefan George lassen Sie mir bitte! Ich weiß, was dagegen spricht. Aber mir liegt daran.
Annette Kolb und René Schickele kommen doch zu den Deutschen, obwohl sie beide halb-französisch sind? Und Hermann Hesse? Nein, ihn müssen wir wohl als Schweizer präsentieren; er will es so, und die Schweiz ist stolz auf ihn.
Überhaupt das Nationalitäten-Problem! Was machen wir mit Kafka und Rilke? Zwei deutsche Dichter – aber doch Böhmen ihrer Herkunft nach, und übrigens auch in ihrer künstlerischen Art, ihrer ästhetisch-moralischen Haltung entschieden slawisch beeinflußt. Wenn unsere Sammlung schon in nationale »départements« eingeteilt wird, so geht es wohl nicht an, daß wir Kafka und Rilke für Deutschland reklamieren. Das sähe ja fast so aus, als ob wir den Hitlerschen Imperialismus billigten! Prag gehört nun einmal nicht zum Reich.
Mancherlei Probleme! Und es gibt noch mehr. Ich bespräche sie gern mit Ihnen; hoffentlich ergibt sich die Gelegenheit. Bleiben Sie mir inzwischen gewogen, obwohl ich Ihnen das »Herz Europas« aufgeladen habe …
An Mrs. Thomas Mann, Pacific Palisades (Calif.)
Camp Ritchie (Maryland), den 27. IV. 1943
Zunächst meine zwei Neuigkeiten, beide entschieden nett: Erstens, ich bin zum Staff-Sergeant (vier Streifen!) befördert worden; zweitens, laut amtlicher Mitteilung habe ich am nächsten Freitag, den 30. April, in Baltimore, Maryland, vor dem Richter zu erscheinen, um mich dortselbst zum US Citizen schlagen zu lassen. Wenn ich erst einmal Bürger bin, so steht meiner Verschickung nach »overseas« nichts mehr im Wege; sei also darauf gefaßt, nächstens aus fernen Landen von mir zu hören. Oder aus der »Officers' Candidate School«? Als »citizen« könnte ich es vielleicht gar zum Leutnant bringen! Aber wozu? Staff-Sergeant ist mir reichlich fein genug.
Der Spaß ist um so größer, als alles so geschwind gekommen ist, gar nicht im Stil der Army, die sonst nicht zu hurtigen Improvisationen neigt. Vom »Private« avanciert man eigentlich zunächst zum »Pfc« (Private-First-Class), dann zum Korporal, dann zum ordinären, drei-streifigen Sergeanten. Ich bin also von der untersten Stufe direkt zur vierten gehüpft, eine kecke Leistung! In einem gewöhnlichen »outfit« – bei der Infanterie etwa – käme das natürlich nicht in Frage. Aber dieses Camp hier ist ja, wie neulich schon angedeutet, in mancher Hinsicht eher ungewöhnlich – »somewhat on the unusual side«, um mich vorsichtig auszudrücken.
Vorsichtige Diktion ist am Platze; denn alles, was wir hier tun, hat ganz-ganz-ganz geheim zu bleiben. Immer wieder werden wir zur äußersten Diskretion ermahnt. Don't talk! The enemy listens! Plakate, auf denen ein seltsam im Raume schwebendes, innerlich behaartes Ohr recht widrig dargestellt ist, erinnern uns an die diabolische Neugier und Hellhörigkeit des Feindes. Gut, ich sage nichts.
Aber ich darf wohl erzählen, daß es in diesem Lager auffallend viele Europäer gibt, auch Amerikaner, die lange »drüben« waren und fremde Sprachen können. In den Baracken, in der »mess hall«, im »P. X.« wird italienisch, deutsch, französisch, polnisch, tschechisch, norwegisch geredet; korrektes Amerikanisch hört man nur ausnahmsweise. Und so viel bekannte Gesichter! Es wimmelt von alten Freunden aus Berlin, Wien, Paris, Budapest; man kommt sich vor wie in einem Club oder Stammcafe. Zu meiner Kompanie gehören Hans Wallenberg (Sohn des alten Wallenberg, Du weißt schon: der mal bei Ullstein ziemlich wichtig war) und Hans Habe. (Du hast doch sein Buch »A thousand must fall« gelesen? Sehr informativ und obendrein unterhaltend.) Ja, und Hans Busch ist da, Sohn des Dirigenten, Neffe des Violinisten, ein sehr freundlicher und hilfsbereiter Kamerad. Und Sforzino Sforza … Erinnerst Du Dich noch, wie bildhübsch er war, als Sechzehnjähriger, damals in Toulon? Er sieht immer noch reizend aus – wie ein Jünglingsbild des Bronzino: von adlig strenger Anmut, sehr gescheit, sehr liebenswürdig, dabei etwas traurig. Wer sonst noch? Peter Viereck, der unsoldatischste Soldat, den ich je gesehen habe: noch salopper, noch zivilistischer als ich! Übrigens entdecke ich an ihm immer mehr interessante und attraktive Eigenschaften; auch seine Gedichte werden immer besser. Meinen alten Gespielen, Bubi Koplowitz, jetzt Oscar Seidlin (remember?) darf ich gleichfalls nicht unerwähnt lassen – und Tomski! Das war die größte Freude und die größte Überraschung, Sergeant Thomas Quinn Curtiss in diesem kuriosen Milieu wiederzusehen!
Dies ist nur eine kleine Auswahl. Ich sage Dir: es wimmelt! Über Einsamkeit kann ich mich im Camp Ritchie nicht beklagen.
Trotzdem war mir recht trüb zumute, als ich mich neulich – am vorigen Samstag – in Philadelphia von E. trennen mußte. Wir hatten nur ein paar Stunden miteinander; abends ging ihr Schiff nach Lissabon, ein komischer kleiner Frachtkahn, für eine so weite Fahrt kaum geeignet. Hoffentlich hat sie ein ruhiges Meer und macht drüben keine zu tollen Sachen! Sie schien gesundheitlich in guter Form, auch bei sehr guter Laune. Gott sei mit ihr!
Von Philadelphia fuhr ich nach New York weiter, wo ich einen sehr netten Sonntag hatte: Vormittags mit Kesten (Besprechung über die Anthologie); Lunch mit Landshoff, sehr animiert und herzlich; nachmittags, in der »Carnegie-Hall«, herrliche Aufführung der Matthäuspassion unter Bruno Walter; Abendessen mit Tomski, äußerst schick bei »Voisin«; dann noch zu einer »party« bei Carson McCullers, die John Steinbeck als Ehrengast bei sich hatte. Ein Riese von einem Mann (gewiß ebenso groß wie Robert Sherwood), etwas ungelenk, von freundlich stiller Art. Er gefällt mir.
Enough! It's bed-time, the lights will go out any moment. Ich lasse hören, sowie ich von Baltimore zurück bin – as an American citizen, let's hope!
An Mrs. Thomas Mann, Pacific Palisades (Calif.)
Camp Ritchie (Maryland), den 1. V. 1943
Es hat nicht geklappt. Ich stand schon im feierlichen Saal zu Baltimore vor der amerikanischen Flagge und dem George-Washington-Bildnis, bereit, den Eid zu leisten: als ein Beamter mir etwas jählings eröffnete, daß meine »naturalization« verschoben werden müsse. Liegt es an Schwierigkeiten technisch-bürokratischer Art? Steckt etwas anderes dahinter? Ich weiß es nicht, werde es wohl auch nie erfahren.
Nun, ich will mich's nicht anfechten lassen. »That's just one of those things«, wie die G. I.'s mit männlicher Resignation zu sagen pflegen, wenn ihnen etwas schief geht. Übrigens dürfte die Sache bald in Ordnung kommen.
Zunächst freilich fühle ich mich etwas verloren und verwirrt. Meine Kompanie ist heute abgedampft – »destination unknown«. Ich durfte nicht mit. Die Frage meiner Naturalisation ist erst zu klären …
An Prof. Thomas Mann, Pacific Palisades (Calif.)
Camp Ritchie (Maryland), den 2. VI. 1943
Dies wird nur ein ganz kurzer Geburtstagsgruß. Das neue Lebensjahr wird vielleicht eines Deiner interessantesten sein. Alles, was mir über das begonnene Buch zu Ohren kommt, klingt höchst sonderbar und vielversprechend. Du mischest also »musicam«, die Dir allzeit lieb gewesen, mit Medizin und leider auch Theologie? Das wird ein Tränklein geben! Inspiration durch Krankheit? Pathologie des Genies? Künstlertum als Pakt mit dem Teufel? Ich wittere Reize sehr neuer, kühner, dabei aber auch anheimelnd vertrauter Art. Anklänge an den »Tod in Venedig« – if I am not mistaken? Aber alles größer und geisterhafter, ins Gotisch-Magische stilisiert … Vorzüglich! I am all for it! und wäre nicht erstaunt, wenn dieser »Faustus« sich als Dein merkwürdigstes Gespinst erweisen sollte.
Von mir nicht viel Neues. Ich bin immer noch hier, immer noch ein unbeschäftigter Sergeant, immer noch kein Bürger. Man muß viel Geduld haben, besonders in der Army.
An Mrs. Thomas Mann, Pacific Palisades (Calif.)
Camp Crowder (Missouri), den 18. VI. 1943
Ja, wieso hör ich denn nichts von Dir? Schon gut: es ist wohl etwas unterwegs und läßt nur für meinen Geschmack zu lange auf sich warten, weil ich doch halt so »lonesome« und in der Verbannung bin.
Meine Verschickung hierher ist in der Tat ein Stück aus der Tollkiste; die Offiziere geben es selbst, nicht ohne Bestürzung, zu, daß ich eben leider »misplaced« worden bin. Dieses Camp gehört nämlich zum »Signal Corps«, was bedeuten will, daß hier Telephonisten, Funker und andere Spezialisten des Nachrichtendienstes ausgebildet werden. Da nun aber die Organisation, zu der ich in »Ritchie« gehörte, »First Mobile Radio Broadcasting Company« heißt, lag es wohl nahe, mich für einen Radio-Techniker zu halten: obwohl ich – wie Dir nur zu wohl bekannt – von technischen Dingen weniger verstehe als irgendein amerikanischer »high-school boy«. Da sitze ich nun also und niemand weiß etwas mit mir anzufangen. Aus lauter Verlegenheit läßt man mich jetzt die »Company History« schreiben, eine genaue Chronik der Märsche, Geburtstagsfeiern, Schießübungen, Urlaube, Hochzeiten, Skandale, Avancements etc. (»Am 17. April wurde Captain H. B. McCowley zum Major befördert, während Second Lieutenant L. R. Fuchs zum First Lieutenant aufrückte. Die ganze Kompanie bracht den zwei Offizieren, die sich allgemeiner Beliebtheit erfreuen, in Form eines Ständchens ihre herzlichsten Glückwünsche dar.« In diesem Stil.)
»Welch quälende und lächerliche Zeitverschwendung! Natürlich hoffe ich, nicht lang zu bleiben, und spinne überallhin meine Fäden. Wenn gar nichts andres klappt, kann ich wohl nach »Ritchie« zurück, um dort auf die »Intelligence School« zu gehen. Aber bis dahin mögen Wochen vergehen, vielleicht Monate …
An Miss Erika Mann, War Correspondent; US Headquarters in the Middle East
Camp Crowder (Missouri), den 25. VIII. 1943
Dein Brief aus Kairo klang animiert, beinah glücklich. Es macht mich froh, Dich in so froher Form zu wissen. Wo bist Du jetzt? Wirklich in Teheran? Es klingt märchenhaft unglaublich. Weil ich doch immer in Missouri sitze …
Du weißt ja wohl, daß ich versehentlich hierher geraten bin und sinnloserweise festgehalten werde. Es sieht so aus, als sollte ich »for the duration« – bis zum Kriegsende also – in dieser Einöde bleiben. Aber vielleicht ändert sich etwas, wenn ich erst einmal eingebürgert bin. Man versichert mir, meine »naturalization« sei fällig und könne nicht mehr lange auf sich warten lassen. Darf ich es glauben? Trübe Erfahrungen haben mich skeptisch gemacht. Aber ich zwinge mich zu einem gewissen Optimismus (oder Fatalismus?) und nutze die öde Wartezeit, so gut es eben geht.
Übrigens ist festzustellen und zuzugeben, daß ich dann auch wieder Glück im Unglück habe; denn nach einer Periode ziemlich unwürdiger und irritierender Untätigkeit bin ich jetzt leidlich angenehm und konstruktiv beschäftigt, im »Public Relations Office« nämlich, als Mitherausgeber und regelmäßiger Mitarbeiter der Camp-Zeitung »The Message«. Das ist kein übler »job«, zumal mein Vorgesetzter, ein weißhaariger Oberst namens Pratt, von gutmütigem Charakter, gar nicht dumm und mir herzlich wohlgesinnt ist. So dichte ich denn meine Artikelchen, teils über interne Camp-Angelegenheiten (das neu-eröffnete Krankenhaus, unsere Brieftauben-Zucht, die Visite eines Generals aus Washington), teils über den Stand des Krieges. Da gab es ja nun letzthin einiges Erfreuliche zu berichten. In Sizilien kommen wir wohl eher schneller voran, als zu erwarten war; die Nachrichten aus Rom sind ermutigend. Nicht, als ob dieser verkalkte alte Badoglio mir sympathisch wäre. (Erinnert er nicht an Pétain? Wir haben eine Neigung, mit der schwärzesten Reaktion zu flirten! Erst der fragwürdige Monsieur Darlan, jetzt der Herzog von Addis Abeba …) Immerhin, den »Duce« sind wir los, das ist schon etwas, oder sogar viel: nun wird es auch mit dem Berliner Partner in absehbarer Zeit zu Ende sein. Aber je sicherer und näher der militärische Sieg erscheint, mit desto größerer Besorgnis denkt man an die Probleme, ohne deren Lösung es keinen dauerhaften Frieden gibt. Die Gerüchte über Unstimmigkeiten zwischen der Sowjetunion und den angelsächsischen Mächten mehren sich. Der Rücktritt Litwinows von seinem Botschafterposten in Washington dürfte nichts Gutes zu bedeuten haben … Das sind freilich Dinge, die ich in der »Camp Crowder Message« nicht diskutieren kann.
Ich spreche also vom Sieg und tue was für die Stimmung, übrigens nicht nur in unserem G. I.-Wochenblättchen, sondern gelegentlich auch bei den Zivilisten. Bist Du jemals in Neosho gewesen? Oder in Carthage? Niemand kennt diese Missouri-Städtchen; ich aber trete dort als Redner auf; der gutmütige Herr Oberst sieht es gern, und irgendwie muß man sich nützlich machen.
Aber mein wirkungsvollster Coup im Dienst der guten Sache soll noch kommen. »War Bonds« – Du weißt es ja – spielen jetzt hier eine ebenso große Rolle wie die »Kriegsanleihe« in Deutschland anno 1916 und 1917. Immerzu muß etwas aufgestellt werden, um die Leute zum Kauf dieser »Bonds« zu bewegen. Im Rahmen eines solchen »War-Bond Drive« will ich nun eine Auktion veranstalten – irgendwo hier in der Gegend: vielleicht in Kansas City –, wobei signierte Bücher, Manuskripte (auch Noten), Filmstar-Bilder mit echtem Autogramm und andere Herrlichkeiten zur Versteigerung kommen sollen: nicht für Geld natürlich, sondern eben für »Kriegsanleihe«. Kein schlechter Ausdach – wie? Die Handschriften und Porträts erschnorre ich mir im »prominenten« Freundeskreis.
Auf solche Scherze verfällt man, wenn man sonst nichts zu tun hat – oder doch nichts Rechtes – und seine besten Jahre in Missouri vertrauern muß.
Hoffentlich wird es dem Golo besser ergehen in der Army. Du hast gewiß gehört, daß er nun auch bald an die Reihe kommt. Ich beneide ihn nicht um das »Basic Training«, das er vor sich hat. Es ist (believe me!) keine Kleinigkeit. Aber er wird's schon schaffen. Sind im Grunde doch eine zähe Familie.
An Mr. und Mrs. Thomas Mann, Pacific Palisades (Calif.)
(Telegramm)
Camp Crowder (Missouri), den 25. IX. 1943
Endlich naturalisiert stop Zeremonie verlief recht würdig auf großem Paradefeld bei strahlendem Wetter stop bin stolz und froh …
An Commanding Officer, First Mobile Radio Broadcasting Company, Italien (Kabel)
Camp Crowder (Missouri), den 25. IX. 1943
Bin amerikanischer Bürger stop hoffe daß mich anfordern und nachkommen lassen werdet
An Private Golo Mann, Fort McClellan (Alabama)
Camp Crowder (Missouri), den 2. XI. 1943
Zunächst meine Glückwünsche zu Deiner »naturalization«. Ist wohl ein nettes Gefühl – wie? Ich, als alter »citizen«, kann mir's natürlich kaum vorstellen.
Und das »Basic Training«? Auch ganz nett, wenn ich mich recht erinnere. Aber die Einzelheiten sind mir altem Sergeanten längst entfallen. Ausgedehnte Wanderungen mit sinnlos beschwertem Tornister? Nächtliches Biwakieren auf bloßer Erde? Schießübungen bei rauhem Wetter? Keckes Fuchteln mit dem Bajonett? Ja, auf dergleichen läuft es wohl hinaus … (Ob ihr auch zum Grunzen angehalten werdet, wenn ihr die Strohpuppe mit dem Stahl durchbohrt? Wir mußten grunzen, unser Captain legte Wert darauf. Denn die Strohpuppe – nicht wahr? – ist doch der Feind, den zu massakrieren Lust bereitet. Wer Lust empfindet, grunzt; bei sadistisch betonter Libido soll es zu wahren Grunzkonzerten kommen. Dieser Hauptmann in »Camp Joseph Robinson« war gar nicht so blöd, wie er vielleicht manchmal aussah!)
Also, dann halte nur immer Dein Gewehr recht sauber (»your rifle is your best friend«, wie Du wohl weißt) und mache mir überhaupt Ehre! Diese ersten Wochen sind eine Schinderei, dauern aber nicht ewig, was immerhin ein tröstlicher Gedanke ist. Nachher wird's manchmal besser. (Manchmal auch nicht.)
Was mich betrifft, so warte ich auf meine »travel orders«, auch eine Beschäftigung! Meine alte »First Mobile« – irgendwo in Italien – hat mich reklamiert; irgendwann einmal werde ich also wohl den Marschbefehl erhalten. Aber die Army läßt sich Zeit … Grundgütiger Himmel, wie viel Zeit sich unsere Army läßt!
Inzwischen geht hier alles den gewohnten Gang: Ich schreibe jede Woche mein kleines Stück für die »Camp Crowder Message«, halte mal einen »orientation speech« für die G. I.'s hier im Lager oder eine »lecture« im Nachbarstädtchen. Der gute Colonel Pratt ist recht mit mir zufrieden, besonders seit dem sensationellen Erfolg meiner »War Bond«-Auktion. Du lasest wohl darüber in den Blättern? War ja ein groß Geschrei, mir viel zu laut (wie ich mit scheußlich künstlicher Bescheidenheit betonen möchte). Eine Million Dollars – was ist das schon? Diese Summe – Du lasest es gewiß – ist ja bei der Versteigerung eingekommen. Ein Gentleman namens W. T. Grant, Direktor einer Versicherungsgesellschaft, kaufte für eine Million »War Bonds« und erwarb solcherart meine Kollektion, um sie dann der Universitätsbibliothek in Kansas City als Stiftung zu überlassen. (Schauplatz der schönen Handlung war – wie Dir aus den Gazetten sicherlich bekannt – das sehr feine Haus der sehr-sehr feinen »President of Kansas City University«, Dr. Clarence D. Decker.)
Die von mir mühsam erbettelte Sammlung konnte sich aber auch wirklich sehen lassen; mit plötzlich ungehemmt hervorbrechender Eitelkeit sei es festgestellt! Lauter Leckerbissen! Handgeschriebene Noten von Schönberg und Strawinsky, ein dickes Manuskript von Vater Zauberer, sehr säuberliche Briefe von John Steinbeck, Albert Einstein, Hendrik Willem van Loon und manchem anderen, Bücher mit schöner Widmung von Pearl Buck, Thornton Wilder, Pierre van Paassen, Walter Lippmann, Wendell Willkie, Henry A. Wallace, Carlo Sforza, Geneviève Tabouis, Archibald MacLeish, Franz Werfel, Lion Feuchtwanger – kurz, von allen, die gut und daher teuer sind! Und dann stelle Dir noch die Bilder vor, diese glanzvolle Galerie von Vedetten und Virtuosen! Der ganze Ruhm von Broadway und Hollywood, nicht einmal Garbo fehlte. Für so gehäuften »glamour« ist ein Milliönchen wahrlich nicht zu viel!
... Genug des Unsinns! Ich wünschte, ich wäre, wo der Pfeffer wächst, oder vielmehr, wo die Kanonen schießen. Warum wünscht man sich das eigentlich? Ganz gleich, warum – ich wünsch' mir's nun einmal.
An Mr. und Mrs. Thomas Mann, Pacific Palisades (Calif.)
Camp Crowder (Missouri), den 5. XII. 1943
Unser Wiedersehen in Kansas City war doch sehr schön, liebe Elterlein. Und daß E. sich auch dazu gesellen konnte! Quite a family re-union! I enjoyed every minute of it …
Besonders stark bleibt mir die Vorlesung des Zauberers im Gedächtnis. Diese nicht ganz geheuren, nicht ganz erlaubten Experimente des alten Leverkühn prägen sich sehr tief ein. Und das schlimme Gelächter, von dem der kleine Adrian angesichts der spukhaften Phänomene geschüttelt wird, das läßt sich auch nicht vergessen … Was für ein wunderliches Buch da im Entstehen ist! Dein wunderlichstes, verehrter Zauberer, ich muß dabei bleiben.
Eure Visite hat mir Glück gebracht. Bei meiner Rückkehr wurde ich hier, gleich am Bahnhof, mit der Neuigkeit empfangen, daß meine »Orders« endlich eingelaufen. Ich weiß noch nicht das genaue Datum, aber wahrscheinlich werde ich schon vor Ende der nächsten Woche von hier aufbrechen. Es scheint alles ziemlich geschwind gehen zu sollen. Ich bin freudig erregt …
An Mrs. Thomas Mann, Pacific Palisades (Calif.)
United States Army, den 23. XII. 1943
Etwas lächerlich, Dir auf englisch zu schreiben; aber daran werden wir uns nun gewöhnen müssen: der Zensor besteht darauf.
Ich bin noch nicht »drüben« und doch auch nicht mehr »hier«. Es ist eine Art von Niemandsland, wo ich mich jetzt befinde; in der militärischen Sprache nennt man das »Camp of Embarkation«.
Natürlich darf ich Dir nicht verraten, wie lange ich mich in dieser sonderbaren Zwischenzone aufzuhalten gedenke; es dürfte sich indessen nur um Tage handeln.
Morgen abend werde ich an Euch denken. Hoffentlich habt Ihr eine leidlich hübsche Weihnachtsfeier. Auf die drei abwesenden Kinder in Uniform möge immerhin ein wehmütiger Champagner-Toast ausgebracht werden; im übrigen aber sollt Ihr Euch, bitte, keine Sorgen machen! Es geht schon alles gut, ich bin des ganz gewiß: weil wir halt eben doch eine zähe kleine Familie sind. Paß auf, das nächste Christfest sieht uns alle wieder vereinigt, und beim Gänsebraten werden martialische Abenteuer erzählt. (Oder gibt es keine Gänse in California? Dann renommiere ich eben beim Truthahn – faute de mieux!)
Ich würde gern allen schreiben, komme aber wohl nicht mehr dazu. Grüße mir also den lieben Zauberer, auch die Borgeses und Bibi nebst Gemahlin und niedlicher Nachkommenschaft. Bruno und Liesl (Frank) habe ich noch aus »Crowder« Nachricht gegeben, möchte ihnen aber nichts-desto-trotz nochmals empfohlen sein. Die Walterschen nicht zu vergessen! Und Eva Herrmann! Und Marcuses! Und Alfred Neumanns! Und was es in eurer Gegend sonst noch an freundlichen Gesichtern geben mag!
Von Dir erbitte ich mir als Weihnachtsgabe, daß Du sehr auf Dich achtgibst (auch beim Autofahren!) und mich lieb behältst.
An Mrs. Thomas Mann, Pacific Palisades (Calif.)
Nordafrika, den 15. I. 1944
Grüßgott, wie geht's, mir ganz gut. Die Überfahrt war scheußlich, ein richtiger Albtraum, bei weitem das Garstigste, was ich in der Army – und überhaupt – je durchgemacht. Achttausend Soldaten auf einem Schiff, das eigentlich nur Platz für etwa dreitausend hat! Und mindestens die Hälfte des zur Verfügung stehenden Raumes für ein paar hundert Offiziere reserviert! Das Loch, das mir und fünfzig anderen als Quartier diente – irgendwo ganz unten, im Bauch des Dampfers –, war von fünf Uhr nachmittags bis acht Uhr morgens stockfinster. Als einzig erleuchteter Raum stand uns die Latrine zur Verfügung; dort verbrachte ich denn auch jeden Tag viele Stunden – aufrecht stehend, mit dem Buch in der Hand, eingepfercht zwischen lauter fremde, mißgestimmte, unentwegt schimpfende »soldier boys« (viele davon auch noch seekrank). Welch ein Weihnachtsabend, in der überfüllten Toilette! Auch das neue Jahr wurde von mir dort begrüßt … Ich könnte noch lange jammern, zum Beispiel über das Essen, von dem einem selbst bei stiller See spei-übel geworden wäre, unterlasse es aber. Denn jetzt bin ich ja hier und je mieser mir auf dem unfreundlichen Meer zumute war, desto vergnügter befinde ich mich auf dem lieben Festland.
Übrigens lebe ich weiterhin unter äußerst primitiven Bedingungen, in einem sogenannten »Replacement Depot«, und habe noch nichts Vernünftiges zu tun. Aber das wird anders, wenn ich erst zu meiner Kompanie gestoßen bin, wahrscheinlich in Sizilien oder Süditalien. Inzwischen freue ich mich an altvertrauten und doch exotischen Szenerien, in der marokkanischen Hafenstadt nämlich, an deren Peripherie unser »Depot« gelegen ist und die ich beinah jeden Tag besuchen darf. Die Mischung aus französischen und arabischen Elementen hat für mich ihren ganzen Zauber behalten. Ich bin ebenso entzückt, ebenso dankbar wie als Neunzehnjähriger. Stundenlang könnte ich vor einem dieser etwas schmutzigen Cafés am Marmortischchen auf der Straße sitzen, zwischen einem würdig starren Scheich im weißen Burnus und einem nicht minder vornehmen Monsieur im seltsam altfränkischen schwarzen Habit, mit Pincenez, soigniertem Spitzbart und rot-geschmücktem Knopfloch. Der Kaffee ist freilich miserabel, und was man in den Restaurants vorgesetzt bekommt, taugt auch nicht viel. Überhaupt scheint die wirtschaftliche Lage hier recht prekär; man sieht viel Elend, hört viel bittere Klagen. Dabei hat Marokko doch vom Kriege nur relativ wenig mitgemacht! Tunis muß unvergleichlich schlimmer zugerichtet sein. Von der ausgehungerten, zerbombten, zerbröckelnden »Festung Europa« gar nicht erst zu reden …
An André Gide, durch »Éditions E. Charlot«, Algier
Tunis, den 8. II. 1944
So eine Enttäuschung! Die amerikanische Presse hat unlängst mitgeteilt, Sie seien hier in Tunis – und nun ist es schon nicht mehr wahr! Sie sind abgereist, wie ich gestern hier in Erfahrung brachte, und halten sich jetzt »irgendwo in Marokko« auf. (Die genaue Adresse war nicht festzustellen: weshalb ich Ihnen über das Verlagshaus schreibe.)
In Marokko! Und gerade von dort komme ich! Zwei Wochen lang war ich in Casablanca, oder doch ganz in der Nähe. Auch in Rabat, Fez und Oran habe ich – »en route« nach Algier – kurz Station gemacht. In irgendeiner dieser Städte müssen Sie doch sein? Hätte ich nur eine Ahnung davon gehabt … Je suis navré. Es ist ewig-schade.
Ob mein Brief aus dem Army-Camp in Missouri Sie je erreicht hat? Kaum. (Obwohl »André Gide, Afrique du Nord« als Anschrift genügen sollte …) Auch mein Buch ist Ihnen wahrscheinlich noch nicht zu Gesicht gekommen; ich meine den ziemlich dicken Wälzer, den ich über Sie und Ihr Werk geschrieben habe. In Amerika hat man das Ding recht freundlich aufgenommen. Werden auch Sie es tun? Sie können sich denken, mit welcher Spannung und mit wieviel Sorge ich auf Ihr Urteil warte. Hoffentlich kommt das Exemplar bald an, das ich Ihnen aus New York nach Algier schicken lasse.
Wie viel es zu erzählen, zu besprechen gäbe! Nun muß ich mich mit der Lektüre Ihrer neuen Schriften trösten; in dem Sammelband »Attendu que …« gibt es wohl manches, was ich noch nicht kenne, und die erste Nummer Ihrer Zeitschrift »L'Arche« sieht vielversprechend aus. Aber für die versäumte Begegnung ist all dies kein völliger Ersatz. Wäre ich ein freier Mann, ich ließe mir's nicht nehmen, nach Marokko zurückzureisen. Aber ich bin nicht frei. Ich trage Uniform.
Trotz allem ist es gut, Sie in der Nähe zu wissen. Bleiben Sie gesund! Sie werden gebraucht, von vielen. Auch von mir.
An Mrs. Thomas Mann, Pacific Palisades (Calif.)
Italien, den 22. III. 1944
Ich bin in einer Stadt, deren Namen Du nie erraten wirst. Ich arbeite für eine Organisation, von deren Tätigkeit Du Dir keinerlei Vorstellung machen kannst. Die Organisation heißt »Psychological Warfare Branch« – so viel darf ich sagen.
Es geht mir gut. Ich bin guten Mutes.
Zwar habe ich schon einiges sehr Arge und Wüste gesehen – erst in Nordafrika (das zerstörte Bizerta!), dann in Sizilien und hier in der Gegend; aber auch an schönen Eindrücken fehlt es nicht. Die Stadt, deren Namen Du nie errätst, hat immer noch großen Reiz, obwohl sie ziemlich schwer beschädigt ist und übrigens auch weiterhin lästige Visiten empfängt: wir haben oft unruhige Nächte. Bedrohlicher aber als die etwas reduzierte deutsche Luftwaffe wirkt im Augenblick jener vulkanische Berg, der nicht weit von hier gelegen ist (Du ahnst natürlich nicht, welchen Berg ich etwa meinen könnte!) und der seit einigen Tagen eine höchst ungewöhnliche Aktivität entwickelt. Er speit allen Ernstes Feuer oder vielmehr die feurige Lava-Masse, die wir aus den »Letzten Tagen von Pompeji« kennen. Es ist ein rechtes Spektakel, zumal abends, wenn die ungeheure Rauchwolke um den eruptiven Gipfel von gewittrigen Flammen durchzuckt und erleuchtet wird. Ich kann nicht umhin, zu vermuten, daß dieser großartig-gräßliche Ausbruch irgendwie mit unserem eigenen frevelhaften Tun, mit dem Kriege also, zusammenhängt. Die Elemente, die das Gebild von Menschenhand ohnedies hassen, benutzen mit düsterer Wollust die Gelegenheit, sich in einen apokalyptischen Prozeß einzuschalten, der allerdings seinerseits von Menschenhand begonnen worden ist. Die eifersüchtige Natur will uns das Zerstörungswerk nicht allein vollenden lassen. Und in der Tat scheint der zornige Vesuv mindestens ebenso leistungsfähig wie ein Geschwader von erstklassigen Bombern. Mehrere Ortschaften am Fuß des Berges mußten schon evakuiert werden. Auch hier, in den Straßen der nicht-zu-erratenden Stadt, macht sich der Aschenregen bemerkbar. »Psychological Warfare Branch« sollte den ungebärdigen Vulkan zur Raison bringen.
Von ominösen Naturspielen und gelegentlichen Luftangriffen abgesehen, geht es hier übrigens recht friedlich zu. Armut und Korruption sind in Italien freilich noch krasser als in Nordafrika; trotzdem scheinen die Massen sich ihrer Befreiung aufrichtig zu freuen. Die »Tedeschi« sind allgemein unbeliebt. Jedenfalls wird allgemein auf sie geschimpft: vielleicht teilweise aus Liebedienerei (man versucht, ich bei uns einzuschmeicheln), teilweise gewiß von Herzen. Geschimpft wird allerdings auch sonst, über den Schwarzen Markt, zum Beispiel, der immer frecher wuchert (leider auch unter Beteiligung und zum Profit unserer eigenen Truppen!) und über die wahrhaft stupenden Preise. Die hübschen Dinge, die man in den Läden sieht, sind für neunundneunzig Prozent der Bevölkerung durchaus unerschwinglich. Aber trotz dieser Übelstände – und manchen anderen, auf die ich lieber nicht eingehe – ist man offenbar froh, die Nazis los zu sein, und zeigt herzliche Sympathie für die Alliierten – die doch nun einmal den Krieg gewinnen … Obwohl wir vor Cassino und am »Landekopf« nicht so schnell vorwärtskommen, wie zunächst erwartet, zweifelt hier niemand an unserem Sieg, zumal die Nachrichten aus dem Osten günstig bleiben und aus Deutschland Ermutigendes über die Wirkung unserer Bombardements gemeldet wird.
Ich spreche viel mit Italienern über Kriegs- und Nachkriegsprobleme; die Leute hier sind zutraulich und eloquent; jeder Fremde im Café oder in der Straßenbahn ist für eine nette kleine Diskussion zu haben. Auch alte Freunde habe ich wiedergesehen, vor allem die Sforzas, père et fils, die ja sehr bald nach der Befreiung hierher zurückgekehrt sind. Über die politischen Aktivitäten und Aspirationen des Papa dürftest Du durch die Presse unterrichtet sein. Er ist groß in Form, brillanter, provokanter, triumphaler denn je: der letzte Grandseigneur (oder doch einer der letzten) in jedem Wort, jeder Geste. Mit Sforzino, dem ich seit den Tagen von Camp Ritchie herzlich zugetan bin, komme ich oft zusammen. Neulich nahm er mich über das Weekend zu Benedetto Croce, der mit seiner Familie nicht weit von hier – ich darf nicht sagen, wo – sehr schön am Meere wohnt. Ein merkwürdiger Fall, dieser Croce! Die schlaue Zähigkeit, die er im intellektuellen Kampf gegen den Fascismus zwei Jahrzehnte lang bewiesen hat – nicht im Exil, sondern hier im Lande – nun macht sie sich bezahlt. Sein Prestige ist ungeheuer; der alte Philosoph hat heute mehr moralische Autorität, mehr Einfluß, ja mehr Macht als irgendeiner der Politiker, Sforza nicht ausgenommen. Sforza war Emigrant; zwar hatte er es mit der Heimkehr eilig, aber er ist doch nun einmal weggewesen. Croce nicht! Deshalb ist Croce stärker. Interessant – nicht wahr? … Übrigens war er reizend. Zunächst fürchtete ich, ihn senil zu finden; er ist beinah achtzig und sieht nicht jünger aus. Aber im Gespräch belebte sich sein pergamentenes Gesicht; plötzlich erschien er jung oder doch alterslos – ein agiles Heinzelmännchen voll Weisheit und Humor. Er sprach viel von Deutschland, oft mit Bitterkeit, dann aber auch wieder mit Bewunderung. Wie intim er deutsche Dichtung kennt! Er rezitierte mir Goethe, mit seltsamem Akzent, aber fehlerfrei. Sehr herzlich erinnerte er sich einer Begegnung, die er vor tausend Jahren irgendwo mit Euch gehabt, in München, bei Hans Feist, wenn ich nicht irre. Und mindestens dreimal hat er mich ermahnt, ich möge in meinem nächsten Brief erwähnen, daß er Euch grüßen läßt.
Ich meinerseits darf Dich bitten, der lieben Medi und ihrem Borgese (von dem hier natürlich oft die Rede ist) meine Gratulation zum zweiten Töchterchen auszurichten. Ich schreibe ihnen auch noch direkt, sobald ich dazu komme.
Glückwünsche auch dem Zauberer zum Erfolg von »Joseph, the Provider« – ich lese gerade in unserer Soldatenzeitung, »The Stars and Stripes«, daß der »Book of the Month Club« den Roman akzeptiert hat. Prächtig, prächtig! So wird unser Joseph also wirklich noch zum »Ernährer«, wenigstens für eine bedürftige Familie … Wächst der »Faustus«? Schreib mir noch darüber!
Ob der Golo noch in den Staaten ist oder schon »overseas«? Und E.? – Ich denke an Euch alle.
An Mrs. Thomas Mann, Pacific Palisades (Calif.)
Italien, den 15. V. 1944
Kein Grund, sich um mich zu sorgen! Ich bin »vorne« – »im Einsatz«, wie man das jetzt bei der deutschen Wehrmacht nennt –, mit dem »Combat Team« der »First Mobile Radio Broadcasting Company«; aber so ganz vorne doch wieder nicht. Zu Deiner Beruhigung kann ich Dir erzählen, daß von meinen zwei Zeltgenossen der eine ein Zivilist ist, Jim Clark: ein sehr netter und begabter Mensch; der andere ein Offizier: eben jener Captain Martin Herz, mein besonderer Gönner, der mich aus Missouri hierher berufen hat. Du kannst Dir denken, daß man einen Zivilisten – wie tapfer er auch immer sein mag – nicht gerade in exponierter Stellung unterbringen würde. Übrigens hat dieses Arrangement für mich auch seine Nachteile. Schließlich bin ich doch ein gewöhnlicher »enlisted man«, dem es eigentlich keineswegs zukommt, mit einem »Mister« (der Majorsrang hat) und einem Hauptmann zusammen zu kampieren. Wenn meine Zeltgenossen Besuch von ihresgleichen, von Offizieren also, bei sich empfangen, so ziehe ich mich immer gleich zurück. Da ich aber mit den G. I.'s meiner eigenen Klasse jetzt nur wenig in Berührung komme, bin ich recht isoliert, in einem sozialen Vakuum, sozusagen, was freilich kein ungewohnter Zustand für mich ist. Nur, daß die »Standesunterschiede« in der Armee eben doch wohl noch starrere, unbedingtere Gültigkeit haben als im zivilen Leben. Die militärische Hierarchie ist eine Realität, die sich nicht ignorieren läßt.
Bin aber trotzdem zufrieden und zuversichtlich. Die Situation an dieser Front hat sich neuerdings sehr gebessert: ihr werdet bald schöne Neuigkeiten lesen – und wohl nicht nur Italien betreffend. Auch in anderen Teilen Europas sind große Ereignisse fällig. Sehr möglich, daß »es« (Du errätst, was ich meine) schon geschehen ist, wenn dieser Brief in Deine Hände kommt …
Schade, daß ich Dir nichts über meine Tätigkeit erzählen darf! Sie ist oft interessant. Gerade in den letzten Wochen gab es reichlich zu tun; je mehr Gefangene wir machen, desto beschäftigter bin ich. Zu literarischer Arbeit habe ich kaum Zeit; ein Artikel, den ich über Sforza und Croce – »Two Great Italians« – schreiben will, muß zunächst liegenbleiben. Dabei wäre ich eben jetzt in produktiver Laune, ermutigt, angeregt durch einen überraschend warmen, fast überschwenglichen Brief von André Gide, der mein Buch endlich bekommen und – wie es scheint – nicht ohne Freude gelesen hat. Ich habe ihm (so schreibt er) »Trost und Stärkung« gegeben – »courage, récomfort, réconciliation avec moi-même et avec mes écrits. Comme vous les expliquez bien, et motivez! J'aurais été bien empêché si, cette conscience et clairvoyance que vous m'apportez aujourd'hui, je l'avais eue d'abord; mais combien profitable m'est aujourd'hui cet éclaircissement de ma vie! J'en arrive presque, grâce à vous, à me comprendre, à me supporter, tant votre présentation de mon être, de ma raison d'être, de mes efforts, de mes erreurs même, comportent de l'intelligence et de sympathie. Je reçois votre livre comme une récompense …«
An Miss Erika Mann, US War Correspondent, London
Italien, den 22. VI. 1944.
Ob Du noch in England bist oder schon irgendwo in der Gegend von Cherbourg? Ach, wie ich Dich kenne, warst Du unter den ersten, die gelandet sind …
Nun ja, auch ich bin unter den ersten in Rom gewesen – was allerdings nicht so gefährlich war. Aber schön! Die Stadt – übrigens beinah unbeschädigt – präsentierte sich im Festesglanz. Was für ein Empfang! Die Leute waren außer Rand und Band. Jubel, Blumen, Musik, Hochrufe, Tränen der Rührung, Umarmungen, wo immer wir uns zeigten! So huldigt man nicht Siegern, nur Befreiern. Evviva i liberatori!! Überall der gleiche Schrei … Dazwischen freilich manchmal auch die Frage: »Warum hat es so lang gedauert? Ihr habt uns warten lassen …«
Aber jetzt geht es schnell. Rom (ich war nur ein paar Tage dort) liegt schon weit zurück, zeitlich und räumlich. Wir bleiben in Bewegung – auf die Alpen zu, die gar nicht mehr so sehr entfernt erscheinen. Übrigens ist es, bei allem Hochgefühl, nicht gerade eine Vergnügungsreise. Auch ein Siegesmarsch bringt Strapazen mit sich. Je rapider wir vorwärtskommen, desto mehr Anstrengung und Unbequemlichkeit! Wenn die italienischen Landstraßen nur nicht so staubig wären! So was an Staub! Den ganzen Tag läuft man mit weiß-gepudertem Haar herum, das Gesicht mit einer Kruste aus Dreck und Schweiß bedeckt. Denn jetzt wird es heiß. Nachdem wir in unseren Zelten so lang unter Nässe und Frost gelitten haben, ist es nun die Sonne, die uns nicht minder lästig zusetzt. Überhaupt diese Zelte! Ich gäbe viel darum, einmal wieder in einem Hause schlafen zu dürfen. Aber sogar in Rom wurde unter freiem Himmel kampiert, im Park der »Villa Savoia«, am Rand der Stadt. Und seither habe ich kaum ein Haus gesehen, in dem sich schlafen ließe. Die Dörfer, durch die wir kommen, sind Trümmerhaufen …
Du siehst, das Leben der »liberatori« hat auch seine trüben Seiten. Aber in der Normandie – wüßte ich nur, ob Du dort bist! – geht es wohl schlimmer zu. Die Hauptsache ist, daß wir siegen; lange kann's nicht mehr dauern: das Ende des Kriegs scheint in Sicht. Hier, bei der Fünften Armee, gibt es Optimisten, die glauben – und sogar wetten! –, daß wir vor dem Herbst in Wien und München sind. Das dürfte wohl ein bißchen übertrieben sein; aber man kann nie wissen …
Nur die Deutschen wollen noch immer nicht merken, daß sie erledigt sind. Das ist jedenfalls der Eindruck, den man von den Kriegsgefangenen bekommt. Die Truppen des Herrn Marschall Kesselring scheinen nach wie vor überzeugt, daß Deutschland schließlich doch noch irgendwie gewinnen werde, sei es durch diese eklige »Vergeltungswaffe« (stört sie Euch sehr?), sei es durch irgendeine andere mirakulöse Fügung. Ein besonders schlauer »Landser« (dieses neudeutsche Wort ist Dir doch schon bekannt?) überraschte mich neulich mit folgender Offenbarung: »Wenn die Russen erst in Preußen stehen, werdet ihr Amerikaner Angst bekommen und einen Separatfrieden mit uns schließen. Dann gibt es ein Bündnis zwischen Anglo-Amerikanern und Deutschen gegen die Sowjets – unter deutscher Führung natürlich!« Drollig sieht es aus in solchen Köpfen!
Neben den Sturen und Arroganten finden sich unter den Kriegsgefangenen freilich auch andere, die klar denken können und mit denen man sich gerne unterhält. Gerade vor ein paar Tagen, in Civitavecchia, wurde mir ein besonders netter und intelligenter »P. W.« zum Verhör geschickt, ein junger Münchener übrigens, Schauspieler seines Standes: er war lange bei Otto Falckenberg an den »Kammerspielen«. Komisch, wie? – So eine Begegnung im Gefangenenlager! Wir plauderten über gemeinsame Bekannte, fast-vergessene Gestalten aus der Münchener Literatur- und Theaterwelt. Der Junge – Hans Reiser heißt er – erzählte sehr amüsant: auch über die Wehrmacht, von der er sich in Rom nicht ohne Gefahr getrennt. Er haßt die Nazis; selbst in unseren Kreisen habe ich so fulminante Worte der Anklage, des Zornes kaum je gehört. Sein Abscheu vor dem schuldbeladenen Regime war echt, des bin ich ganz gewiß; echt auch sein Glaube an die Erneuerungsfähigkeit, die Zukunft des deutschen Volkes. Ich sah ihn an, während er redete, den entflammten Blick, die helle Stirn, das trotzig starke Kinn. Ich dachte: ›Gibt es viele wie dich? Wenn ich wüßte, daß es in Deutschland eurer viele sind, ich teilte deinen Glauben.‹
Hoffentlich wird es mir möglich sein, dem Kriegsgefangenen Hans Reiser irgendwie zu helfen.
An Mrs. Thomas Mann, Pacific Palisades (Calif.)
Italien, den 1. IX. 1944
Um einmal ganz apart zu sein, schreibe ich Dir aus einem kanadischen Feldlazarett. Nein, man hat mir keine kostbaren Glieder abgeschossen! Es ist nur ein bißchen Malaria, ein ziemlich leichter Anfall übrigens: das Fieber, gestern noch etwas heftig, ist heute schon im Heruntergehen, dank dem vortrefflichen Chinin, das ich in rauhen Mengen konsumiere. Ich bin ein wenig taub, was auf den Chinin-Genuß zurückzuführen sein dürfte; aber auch das wird sich geben.
Die Malaria-Infektion muß ich mir irgendwie, irgendwo auf der langen, staubigen Autofahrt (im offenen »jeep«!) von Florenz nach Rimini zugezogen haben. Wie in meinem vorigen Brief schon angekündigt, bin ich ja zeitweilig – wohl nur für ein paar Wochen – an die englische Achte Armee »ausgeliehen« worden. »Psychological Warfare Branch« ist eine inter-alliierte oder, um genau zu sein, eine britisch-amerikanische Organisation, und wenn den Psychologen von der »Eighth Army« ein Mann mit bestimmten Qualifikationen fehlt, so können sie ihn von unserer »Fifth« bekommen. Für mich ist es übrigens eine nette Abwechslung; die Reise quer durch Italien bis zur adriatischen Küste, hatte bei aller Unbequemlichkeit ihre Reize; es gab Aufenthalte in Perugia und Assisi, zwei Herrlichkeiten, die mir noch unbekannt gewesen. Eindrücke solcher Art sind mit ein bißchen Sumpffieber nicht zu hoch bezahlt.
Von den Briten habe ich noch nicht viel gesehen, außer ein paar kanadischen Doktoren und Krankenschwestern. Bei der »P. W. B.«-Gruppe, die sehr nahe der Front stationiert ist, hielt ich mich nur zwei Tage auf, ehe man mich ins Hospital transportierte. Die erste Impression war angenehm; es scheint mir, daß die Tommies in etwas höflicheren, zivilisierteren Formen miteinander verkehren als unsere ungehobelten G. I.'s. Sollte die alte europäische Kultur doch ihre Vorteile haben? Nachteile hat sie freilich auch, wie mir im Gespräch mit englischen Offizieren wieder so recht klargeworden ist. Diese Herren sind von einer Arroganz, die gerade durch ihre Diskretion, ihre kühle und korrekte Nonchalance erst recht aufreizend wirkt. Habe ich nicht neulich in einem Brief an Dich Bemerkungen über die »Standesunterschiede« in unserer Army gemacht? Nun, wenn bei uns zwischen »enlisted men« und »commissioned officers« eine Kluft besteht, hier bei den Engländern gibt es einen Abgrund! Übrigens ist die britische Hierarchie komplizierter und nuancierter als die amerikanische: statt des einfachen Zweiklassen-System hat man hier drei soziale Kategorien: zwischen den »Privates« und den Offizieren bilden die »Sergeants« eine doch schon halb-privilegierte Mittelschicht. Meine vier dummen Streifen, die bei uns niemandem Eindruck machen, gereichen mir hier zum Vorteil. Ich speise mit den Feldwebeln in ihrer besonderen »mess«, wo es manierlich zugeht: man läßt sich sogar bedienen. Du siehst also, wenn Dein Sohn auch nicht gerade zur Aristokratie gehört, so darf er sich doch zur gehobenen Bourgeoisie zählen.
A propos »Aristokratie«: kurz ehe ich das Hauptquartier der Fünften Armee verließ, gab es dort höchst adligen Besuch: Winston Churchill war da, ich hatte die Ehre, für ihn Spalier zu stehen. Eine Ehre war es mir in der Tat. Du weißt ja, wie sehr ich den Mann bewundere: der größte Redner unserer Epoche, eine Figur von starker Menschlichkeit und imposantem Format, nicht ohne geniale Züge. Von seinem physischen Format übrigens war ich enttäuscht: er wirkte recht klein und gedrungen, wie er da neben unserem hühnenhaften General Clark die Front abschritt, mit seiner unvermeidlichen langen Zigarre und alkoholisch gerötetem Bulldoggengesicht. Aber es war doch rührend, ihn so aus der Nähe zu sehen, nickend und brummend, auch ein wenig schnaufend im mühsam-stolzen Schreiten, die rechte Hand mit zwei gespreizten Fingern erhoben zum Siegeszeichen. Ja, seinen Sieg, nun wird er ihn bald haben! Aber dann …? Ein Friedensführer ist er wohl nicht. Gut, daß wir Roosevelt haben!
Kann Roosevelt allein es schaffen? Manchmal ist mir bang. Unleugbar, es gibt Augenblicke, da der Gedanke an das nahe Ende des Krieges mich mit Angst erfüllt … Aber das ist das Fieber. Ich hätte nicht so lange schreiben sollen. Schluß!
Gruß dem Vater und den Freunden, besonders dem lieben Bruno (Frank). Was Du mir über sein Befinden mitzuteilen hattest, klang recht alarmierend. Ob es ihm besser geht? Ich muß oft an ihn denken. Und auch Werfel ist krank? Gerade jetzt, wo er mit seiner »Bernadette« soviel Erfolg hat und genießen könnte! Es sieht fast so aus, als ob das Leben in Kalifornien gefahrenreicher wäre, als hier »im Einsatz«.
An F. H. Landshoff, New York
Italien, den 20. XII. 1944
Leutnant X, der von hier aus direkt nach New York fliegt, wird so freundlich sein, diesen Brief an Dich mitzunehmen, was natürlich einen Verstoß gegen »Army regulations« bedeutet und also nicht herumgeschwatzt werden darf. Indessen sah ich keinen Grund, das gefällige Angebot abzulehnen; denn obwohl ich dir keine militärischen Geheimnisse verraten will, ist es doch angenehm, einmal »unzensuriert« zu schreiben, und übrigens lag mir daran, meinen kleinen Beitrag für »Die Neue Rundschau« auf möglichst sichere und schnelle Art zu expedieren. Du weißt ja wohl, daß Gottfried (Bermann Fischer), den ich zu grüßen bitte, in der »Sonderausgabe zu Th. M.'s 70. Geburtstag« gern ein paar Seiten von mir bringen will. Hier sind sie also, »pas grand' chose«, aber von Herzen. (Manuskript liegt bei.)
Du fragst mich, was ich treibe. Ich sitze im Dreck, wate im Schlamm, spaziere durch Schnee und Regen. Nach einem kurzen Gastspiel bei der englischen Achten bin ich zu unserer lieben alten Fünften zurückgekehrt und hause nun schon seit bald drei Monaten irgendwo hoch oben im Apennin, wo es am wildesten und unwegsamsten ist. Wie Du ja wohl aus den Gazetten weißt, ist unser Vormarsch an dieser Front irgendwie ins Stocken geraten, ungewiß, warum: aber General Clark könnt' es vermutlich erklären. Statt Bologna und Milano im Sturm zu nehmen, haben wir uns nun nördlich von Florenz – nicht sehr weit nördlich! – vorläufig zur Ruhe gesetzt: wenn man den Aufenthalt in so rauher Berglandschaft als »Ruhe« bezeichnen will. Es ist eher lästig, zumal man doch im August und September den Krieg eigentlich schon für beendigt gehalten hatte. Und nun machen diese wahnsinnigen Deutschen im Westen eine Gegenoffensive und halten uns hier in den Apenninen fest! Was soll's? Sogar die Dümmsten unter ihnen müssen nun doch wohl begriffen haben, daß der Kampf für sie verloren ist. Warum hören sie nicht endlich auf? Worauf warten sie, die Unglückseligen? Dies die Frage, die ich nicht nur Dir und mir, sondern auch jenen immer wieder stelle.
Im Augenblick ist es vor allem der »Volkssturm«, der uns beschäftigt: » Volkssturm – Volksmord!« »Weil die Herren Hitler, Himmler, Goebbels und Konsorten wissen, daß ihr schuldbeladenes Leben verwirkt ist, wollen sie die deutsche Nation zum Selbstmord zwingen!« Ist doch auch wahr!
Überhaupt möchte ich betonen, daß wir bei aller »Berechnung« durchaus nicht verlogen sind. Keinerlei Versprechungen, die Zukunft des deutschen Volkes betreffend, dürfen je in unseren Texten vorkommen: Befehl aus Washington! Die Deutschen werden nachher nicht behaupten können, wir hätten sie mit gleißnerischer Rede in die Niederlage geschwatzt (sie werden es trotzdem behaupten, aber sehr zu Unrecht.) Unsere Front-Propaganda verträgt sich vollkommen mit der Unconditional-Surrender-Formel, an der von Roosevelt festgehalten wird. »Wir geben uns dem deutschen Soldaten gegenüber nicht als »Befreier«, sondern treten als Sieger auf. Die Essenz unserer Botschaft ist immer wieder: »Ihr habt verloren, wozu kämpft ihr noch?«
Neben den Flugblättern, die ich im Schweiße meines Angesichts, dabei oft mit frosterstarrten Fingern dutzendweise herstelle, spielen natürlich Radio und Lautsprecher die wichtigste Rolle in unserer psychologischen Kampagne. Vor allem mit den Lautsprechern hatten wir letzthin gute Erfolge, an denen ich nicht ganz unbeteiligt bin. Aufrichtigsten Herzens rede ich durch das Mikrophon direkt auf die deutschen Soldaten ein: »Kommt rüber! Macht schnell! Der Krieg ist sowieso gleich aus, wozu wollt ihr noch in letzter Minute euer Leben riskieren?« Ich aber riskiere das meine, während ich mein Bestes tue, den »Landsern« drüben die simple Wahrheit einzutrichtern; denn das Mikrophon steht sehr weit vorn, ganz nah am Schuß …
Seltsamerweise bin ich überhaupt nicht nervös bei solchen Gelegenheiten. Oder vielleicht ist es gar nicht so besonders seltsam? Ich hänge nicht am Leben. Mit Heroismus hat diese Ruhe nichts zu tun. De facto ist mir ganz einfach wohler an der Front als im Hauptquartier der Fünften Armee, wo ich »eigentlich« stationiert bin. Dort hört man die Kanonen nur wie ein entferntes Donnergrollen. Die Tage vergehen in trübem Einerlei. Immer der Nebel! Immer der Dreck! Immer der kalte Regen oder der feuchte Schnee! Und das Essen ist miserabel.
Übrigens sieht es im Augenblick so aus, als ob meine persönlichen Verhältnisse sich demnächst ändern sollten. Die Soldatenzeitung »The Stars and Stripes (Mediterranean Edition)« will mich als »staff writer«. Ich bin nicht abgeneigt. Es wäre mir lieb, wieder englisch schreiben zu dürfen. Außerdem würde ich nach Rom versetzt. Es klingt fast zu schön, um wahr zu sein – oder auch nur wahrscheinlich. Die große Frage ist, ob »P. W. B.« mich gehen lassen wird.
Und Du? Erzähl mir von Deinen Tätigkeiten und Plänen! Verdienst Du goldene Berge mit »Heart of Europe« oder trägt das Buch, im Gegenteil, zu Deinem finanziellen Ruin bei? Wird die Wiedereröffnung des Amsterdamer Querido-Verlages schon vorbereitet? Bedenke, daß der Friede über Nacht ausbrechen kann, und dann wollen alle wieder in deutscher Sprache erscheinen! Ich selbst werde wohl freilich beim Englischen bleiben; aber es gibt ja gute Übersetzer …
Grüße mir den Kesten. Ist sein Roman von den Nürnberger Zwillingen schon abgeschlossen? Ich beneide ihn um seine Produktivität! Mir fällt gar nichts mehr ein, nur noch Slogans für Flugblätter und biedere Trivialitäten für die Soldatenzeitung. Je älter man wird, je mehr man erlebt hat, desto schwieriger wird das Schreiben. Sogar dieses Geburtstags-Artikelchen für Vater Zauberer hat mir Mühe gemacht – und ist dabei recht dürftig ausgefallen.
Beilage (für »Die Neue Rundschau«):
Feierlich bewegt
Mit der amerikanischen Armee in Italien, Weihnachten 1944
»Joseph, der Ernährer« ist das einzige deutsche Buch im Gepäck eines amerikanischen Soldaten. Ich bin der amerikanische Soldat. Das Buch ist mir ein sehr tröstlicher und stärkender, in der Tat, ein väterlicher Freund gewesen in einer Zeit, da ich des Trostes und der Stärkung zuweilen bedürftig war. Ja, gerade unter den harten, unerfreulichen Bedingungen meines jetzigen kriegerischen Lebens hat sich mein Gemüt als besonders empfänglich und dankbar erwiesen für den Zuspruch dieses feierlichen Witzes und dieser geistvollen Frömmigkeit.
Es waren merkwürdige Umstände, unter denen ich mir die schöne Geschichte und kunstvolle Gotteserfindung zu Gemüte führte. Meistens las ich nachts, beim Licht eines Kerzenstummels, in einem eisigen Zelt, durch dessen Leinwand der italienische Winterregen sickerte. Das Buch begleitete mich auf meinen Fahrten durch das zerstörte Land. Ich hatte es bei mir, als ich im Speicher eines verödeten und zerschossenen italienischen Bauernhauses einquartiert war. Während ich mich an Josephs tiefsinnigen Schelmenstücken ergötzte, gingen in meiner unmittelbaren Nähe die sonderbarsten und beunruhigendsten Dinge vor sich. Die schwere Artillerie – unsere sowohl als die feindliche – vollführte einen wahren Höllenlärm. Manchmal mußte ich meine Lektüre unterbrechen, um mich vor den Granaten in Sicherheit zu bringen. So stieg ich denn aus meinem Speicher in den Keller hinunter, mit dem Buch unterm Arm.
Ich ließ mich durch den Radau nicht in meinem Spaß und meiner Andacht stören. Wenn ich mich bei einer leichten Nervosität ertappte, so gedachte ich Mai-Sachmes, des ruhigen Amtsmannes über das Gefängnis, der – eher zu seinem Leidwesen – beim besten Willen nicht erschrecken konnte. Daraufhin fiel es mir leichter, die eigene Schreckhaftigkeit beinah völlig zu überwinden, wie erschrecklich der Feind auch immer toben mochte.
Der Feind – das sind die Deutschen. Das Buch aber, in das ich so innig vertieft war, daß es mich sogar die Angst vor dem Feind vergessen ließ, dieses Buch ist in deutscher Sprache von einem Deutschen geschrieben. All dies ist entschieden wunderlich.
Tagsüber hatte ich oft mit deutschen Kriegsgefangenen zu tun. Was für ein Kauderwelsch redeten denn diese Burschen? War das deutsch? Es klang nicht wie die Sprache, die mein Vater mich zu sprechen und zu lieben lehrte. Würden diese Fallschirmspringer und SS-Leute für die archaisch-ironischen Finessen des »Joseph«-Stils irgendwelches Verständnis haben? Was für Gesichter sie wohl machen würden, wenn ich es mir einfallen ließe, ihnen ein paar Abschnitte aus dem biblischen Roman vorzutragen?
Indessen gab es unter meinen Kameraden einen, dem sehr daran gelegen schien, das Buch im deutschen Original zu studieren. Der junge Mensch, der sich den »Joseph« bei mir ausleihen wollte, war von Geburt ein Deutscher, hatte aber schon seit einer Reihe von Jahren in Amerika gelebt und sich dort völlig akklimatisiert. Er war besonders beliebt und angesehen bei seiner Einheit: ein tüchtiger Soldat und obendrein ein herzensguter Junge, hilfsbereit und lustig, begabt mit natürlichem Charme und anspruchloser Anmut.
Eines Morgens beim Frühstück sagte ich zu ihm: »Du, übrigens, ich bin fertig mit dem dicken Buch, du kannst es haben.«
Er sagte: »That's fine. Ich hole mir's abends ab.«
Damit trennten wir uns. Fünf Minuten später ging er über die Dorfstraße, gerade als das feindliche Feuer wieder einsetzte. Er wurde in den Rücken getroffen. Lange kann er nicht gelitten haben.
Ich will den Namen meines jungen Freundes hierher setzen. Er hieß Johnnie Löwenthal. Er war einer aus Josephs alter, leiderfahrener Familie.
Man sagt wohl, daß Menschen in kritischen Situationen die Zuverlässigkeit und Stärke ihres Charakters beweisen können. Das trifft auch auf Bücher zu. Ein Buch, das seine Gültigkeit und seine Anziehungskraft im Kanonenfeuer, inmitten von Tod und Zerstörung bewährt, muß von echter, kraftvoller Substanz sein. Es hat die Feuerprobe bestanden.
Wenn ich mich der schlimmen Tage in dem beschossenen italienischen Dorf erinnere, ist es zuerst und vor allem Joseph, der Ernährer, der mir in den Sinn kommt. Die wüsten Gesichte des Krieges verblassen, werden schattenhaft, während die Figuren der schönen Gotteserfindung an plastischer Wirklichkeit eindrucksvoll gewinnen. Seht, da sind sie wieder, sorgfältig ausgestattet mit ihren einmaligen und doch menschlich typischen Eigenschaften! Da sind die alten Freunde: Joseph, der sich vom inspirierten Lamm aufs natürlichste und erfreulichste zum obersten Schattenspender und Herrn des Brotes entwickelt; Jaakob, der Feierliche, der im Fortschreiten der Erzählung zusehends geschichtenreicher und erinnerungsschwerer wird; und Josephs Brüder, die ihrerseits Kinder zeugen und ihr Lebenspensum verrichten, während die Geschichte, Sandkorn für Sandkorn, still und stetig durch die gläserne Enge läuft. Ja, und da sind neue Gesichter: Mai-Sachme, der gelassene Verwaltungsbeamte, Physikus und Literat; der oberste Bäcker und der oberste Mundschenk, zwei unvergeßliche Chargen, eigens zu dem Zwecke eingeführt, daß Josephs prophetisches Talent sich an ihnen erstmalig bewähren möge; Amenhotep, der zärtliche und verzärtelte Gottsucher, der mit Joseph in der kretischen Laube das große Göttergespräch führt; Thamar, diese faszinierende Person, die sich mit verblüffender Entschlossenheit auf die Bahn zu bringen versteht, und Serach, die kindliche Musikantin, deren schlaue und holde Lied-Improvisation in meiner Erinnerung den Donner der schwerkalibrigen Geschütze übertönt. Immer höre ich ihre rührende Stimme:
Gott kann Striemen und lindern.
Ach, wie wunderlich ist er mit seinem Tun
unter den Menschenkindern.
Ach, wie wunderlich ist er mit seinem Tun! … Ja, auch mir ist wunderlich zumut. Ich bin tief und feierlich bewegt. Alles kommt mir etwas traumhaft vor – die Umgebung, in der ich diese Zeilen zu Papier bringe, und auch der Anlaß, für den ich sie schreibe.
Ist mein Vater wirklich siebzig Jahre alt? Das klingt mir doch äußerst traumhaft! Dann wäre es ja zwanzig Jahre her, daß wir im Rathaussaal zu München seinen Fünfzigsten mit behäbig-offiziellem Aufwand begingen …
Was für zwanzig Jahre! Wenn das alles nur ein »Gottesscherz« gewesen ist – wie Serach es von Josephs diversen Brunnenfahrten und Auferstehungen behauptet –, dann sind Gottes Scherze in der Tat ganz unbegreiflich grimmiger Natur. Er hat uns wahrlich bewiesen, daß Er imstande ist, uns gehörig zu striemen. Eine kleine Linderung erscheint überfällig.
Oder sind in der Züchtigung schon Elemente einer kommenden Haupterhebung und Weltversöhnung enthalten? Der geduldig schöpferische Siebzigjährige, den die literarische Weltöffentlichkeit am 6. Juni 1945 feiern wird, scheint dergleichen Ahnungen in seinem geschichtenreichen, erinnerungsschweren Herzen zu tragen. Er versteht sich auf Ahnungen, Andeutungen und Antizipationen. Die scheinbar absurden Fügungen göttlicher Launenhaftigkeit werden weniger unverständlich und weniger schwer zu ertragen, wenn er sie lächelnd betrachtet und gestalterisch deutet.
An Sergeant Thomas Quinn, US Army, Paris
Rom, den 20. III. 1945
Noch immer in Paris? Ich wäre neidisch, hätte ich nicht meinerseits solches Glück gehabt! Seit etwa vier Wochen bin ich hier, bei den »Stars and Stripes«, – einem ausgezeichneten Blatt, nebenbei gesagt: viel lebendiger, viel liberaler als die Pariser Konkurrenz. Unser Chef, Bob Neville, früher in New York, bei »P. M.«, dann bei »Time«, ist ein sehr erfahrener, sehr begabter Journalist; unter den Mitarbeitern (lauter »enlisted men«! gar keine Offiziere), gibt es ein paar starke Talente. Die Karikaturen »Up Front« von Bill Mauldin werden wohl auch jenseits der Alpen nachgedruckt? Ein phantastischer Junge! Erst zweiundzwanzig ist er und sieht noch jünger aus, wie ein »high-school boy«, ein Pennäler, mit frecher Stubsnase und abstehenden Ohren. Aber schon ein Meister! Was mich betrifft, so schreibe ich hauptsächlich für die Sonntagsbeilage, relativ ernsthafte und gründliche Artikel, meist über deutsche Probleme. Eine Stellung, wie ich sie mir sogar im Zivilleben nicht besser wünschen könnte!
Nach den Monaten in der Schlamm- und Felsen-Wildnis fühle ich mich hier wie im Paradies. Wir sind in einem richtigen Hotel untergebracht, drei Mann in einer großen, komfortablen Stube (mit fließendem Wasser!). So gut wirst Du's wohl in Paris nicht haben.
Und die Stadt! Ich hatte sie ja bisher kaum gekannt. Rom war mir verleidet, solang es hier diesen grotesken »Duce« gab. Im vorigen Juni dann sah ich zum ersten Male das freie Rom, nur ein paar traumhaft turbulente Tage lang; aber es war genug, um mir die Sehnsucht nach einem Wiedersehen mit auf den Weg zu geben. Und jetzt, da ich bleiben darf, wird mir allmählich klar, wie recht ich hatte, mich hierher zu sehnen. Rom ist viel reicher an geheimen Kostbarkeiten als etwa Paris, das seine ganze Pracht mit gefallsüchtiger Generosität hinbreitet und dem ersten Blick nichts vorenthält. Rom aber will erforscht, erobert sein. Freilich, es gibt hier keine Avenue, die sich an Glanz und Weite mit den Champs Elysées messen könnte; auch eine Place de la Concorde hat das vergleichsweise enge, provinzielle Rom nicht zu bieten. Aber wo fänden sich in Paris diese versteckten Schätze, das fürstliche Barock in abgelegenen Winkeln, die stillen Seitenstraßen mit diskret-grandiosen Renaissancepalästen?
Übrigens wäre es sehr dumm und undankbar, wenn ich im Hochgefühl neuer Liebe eine ältere verleugnen wollte. Paris ist unvergleichlich, und ein bißchen neidisch bin ich natürlich doch auf Dich, der Du dort sein darfst. Aber unvergleichlich ist auch diese Stadt. Welch ein Glück, daß die zwei Königinnen verschont geblieben sind und noch immer strahlen!
Im Gegensatz zu Neapel und Florenz, die beide doch recht mitgenommen sind, wirkt Rom beinah unverschämt wohlerhalten und wohlhabend. Dies ist privilegierter Boden, dank einem Ruhm von beinahe drei Jahrtausenden und dank der Anwesenheit des Heiligen Stuhles, in dessen Schatten sich's gut leben läßt. Die Römer leben gut, lauter Lebenskünstler! Gewiß gibt es auch Arme, aber sie machen sich unsichtbar oder bleiben doch im Hintergrund. Um so mehr fallen die Reichen auf. Auf dem Corso, in den schönen Gärten der Villa Medici, in den Cafés und Theatern bemerkt man Frauen, deren Eleganz selbst in Hollywood und New York Bewunderung erregen würde. Die dazugehörigen Kavaliere sehen freilich meist ein wenig billig aus: gar zu taillenschlank, das Schnurrbärtchen ridikül gezwirbelt, mit übertrieben glänzendem Pomadehaar und übertrieben blanken, spitzen Schuhen.
Im Theater habe ich schon einiges gesehen, was Dich interessieren würde, vor allem eine Schauspielerin von starkem Temperament und echter Persönlichkeit: Anna Magnani heißt sie. Ihr Talent dürfte bald internationales Aufsehen machen – nämlich in einem Film, »Roma, Città Aperta«, dessen erste Hälfte neulich einem geladenen Publikum vorgeführt wurde. Außerordentlich! Das Drama der »résistance« wird mit einem künstlerisch gebändigten Realismus dargestellt, der an die besten Leistungen der Russen denken läßt. Der Regisseur, Roberto Rosselini, hat unter dem Fascismus nur Mittelmäßiges hervorgebracht. Und nun, nach der Befreiung, gelingt ihm dieser Wurf!
Überhaupt hat man den Eindruck, daß sich hier in kulturell-kreativer Sphäre mancherlei vorbereitet. Ich treffe ziemlich viel Menschen, Schriftsteller, Maler, Theaterleute, auch Politiker. Besonders erfreulich ist mir der Kontakt mit Leonor Fini. Kennst Du ihre Bilder? In Paris dürften Arbeiten von ihr zu finden sein: sie hat lang dort gelebt, was ihrer Malerei anzusehen ist: der Einfluß der Surrealisten fällt sofort ins Auge. Indessen hat alles, was von ihr kommt, sehr eigenen Stil, eine Mischung aus Zartheit und Vitalität, weiblich-sinnlicher Grazie und männlicher Kraft, die es weder bei Max Ernst noch bei Dali gibt. Da Chirico, dessen Anfänge so faszinierend waren, seit geraumer Zeit nicht mehr in Frage kommt (er scheint völlig verkalkt und produziert veritable Scheußlichkeiten!), ist Leonor Fini heute wohl die stärkste und originellste Begabung unter den italienischen Malern.
Und ihr persönlicher Charme kommt mindestens dem ihrer Bilder gleich. Sie ist dynamisch, sehr intelligent, auch schön oder doch attraktiv, mit üppig stolzem Mund und weiten, goldgrün phosphoreszierenden Katzenaugen. Ich verbringe meine Abende gerne in ihrem Atelier, wo man oft interessante Leute trifft. Dem Romancier Moravia, zum Beispiel, bin ich dort begegnet – als Schriftsteller beachtenswert, als Mensch freilich etwas sauertöpfisch und unergiebig –; auch der Choreograph und Tänzer Aurel Milloss – ungarischer Abstimmung, aber seit Jahren in Italien tätig – gehört zu Leonors intimem Kreis. Wenn Du einmal hierher kommst, darfst Du nicht versäumen, Dir in der Oper ein Ballett von ihm anzuschauen. Wo er »klassisch« sein will, wird er manchmal konventionell; aber auf das Phantastische, Bizarr-Makabre versteht er sich und leistet vorzügliches in diesem Genre.
Merkwürdig war das Wiedersehen mit Ignazio Silone, einem alten Bekannten aus Züricher Vorkriegs-Tagen. Er und seine Frau, eine Irin, entschieden reizvoll, baten mich zum Essen in das »Albergo«, wo sie seit ihrer Rückkehr provisorisch hausen. Es ist ein ziemlich elegantes Hotel, von den Franzosen requiriert und verwaltet. Die Silones leben also als Gäste der Besatzungsmacht, »vorläufig«, wie Madame mehrfach versicherte. »Bis wir etwas anderes finden! Aber es gibt ja keine Wohnungen hier in Rom …«
Übrigens machte er einen präokkupierten, fast verstörten Eindruck. Wenn er im Exil Heimweh nach seinem Italien hatte, jetzt scheint er sich ins Exil zurückzusehnen. Wir sprachen viel von der Schweiz. Dort ging es ihm gut, trotz der Nostalgie, von der er sich zu schönen Büchern inspirieren ließ. In Rom aber findet er sich vielfach in Anspruch genommen und abgelenkt; die Politik frißt ihn auf; zum Schreiben kommt er beinah gar nicht mehr.
Oder fehlt es ihm an schöpferischer Initiative? Es wäre nicht erstaunlich, wenn sein Selbstvertrauen gelitten hätte, und damit seine Schaffensfreude. »Fontamara« – außerhalb Italiens schon so lang berühmt – ist nun endlich auch hier erschienen. Die fast gehässige Reserviertheit, mit der die römische Kritik das Buch bespricht, muß den Autor kränken und enttäuschen. Auch das Publikum zeigt wenig Enthusiasmus. Sonderbar! Ein Werk, das sonst überall als gültiger und reiner Ausdruck des italienischen Wesens gilt, wird gerade hier, in Italien, nicht verstanden oder doch nicht gebilligt. Die Italiener sagen: »Silone kennt uns nicht mehr, ist uns fremd geworden. Sein Stil hat fremden Rhythmus; die Bilder und Akzente, mit denen er operiert, sind hier nicht üblich; alles an ihm mutet exotisch an. Im Ausland mag er italienisch wirken, nicht hier! Hier hat er keine Wurzeln. Sein Ruf klingt falsch, weshalb er ohne Echo bleiben wird.«
Bitter ist die Verbannung. Bitterer noch die Heimkehr.
Auch Sforza dürfte dies erfahren haben; aber sein robuster Ehrgeiz, sein sieghafter Elan triumphieren über alle Hindernisse. Gerade in letzter Zeit ist er sehr populär geworden, dank Winston Churchill. Der englische Protest gegen die Berufung Sforzas ins Außenministerium war ein diplomatischer und psychologischer »faux-pas« von solcher Kraßheit, daß er dem Betroffenen – Sforza eben – nur nützen konnte. War er bisher als früherer Emigrant scheel angesehen und verdächtigt worden, so arrivierte er nun über Nacht zum nationalen Märtyrer, fast zum Heros. Wie, Mr. Churchill mischt sich in die internen Angelegenheiten des befreiten Italien? Graf Sforza ist dem britischen Premier nicht royalistisch, nicht reaktionär genug und soll deshalb nicht Minister werden? Welch ein Affront! Bei nächster Gelegenheit – ich bin ziemlich sicher – wird Sforza das gewünschte Amt bekommen: obwohl er im Exil gewesen ist!
... Aber ich vergesse, daß Politik Dich langweilt. Mich im Grunde auch. Könnte man sich's nur leisten, diese schmutzig-öde Sphäre einfach zu ignorieren! Leider geht es nicht.
Du findest ein neues Stück von O'Neill oder Shaw wichtiger als die Yalta-Konferenz der »Großen Drei«? Wenn man sich aber in Yalta nicht geeinigt hat, so kommt es vielleicht nicht mehr zur Shaw-Premiere.
Du bist unpolitisch, anti-politisch? Indessen wäre es doch auch für Dich verdrießlich, wenn es nach diesem Kriege (der ja nun wirklich fast zu Ende ist!) gleich wieder einen gäbe …
An Christopher Lazare, New York
Rom, den 14. IV. 1945
Dein letzter Brief klang traurig, fast verzweifelt. Was Du über die schwierige und verfahrene internationale Lage schreibst – schwierig und verfahren trotz unseres Sieges! – hat mich sehr beschäftigt. Noch mehr frappiert war ich von Deinen Bemerkungen zur problematischen oder, wie Du Dich ausdrückst, »hoffnungslosen« Situation des liberalen Intellektuellen in der heutigen Welt, besonders im heutigen Amerika. Hoffnungslos? Ich wollte Dir widersprechen. Meine Absicht war, Dir eine ausführliche Epistel hinzulegen, voll ermutigender Hinweise auf den Zusammenbruch des Hitler-Reiches und die moralischen Konsequenzen, die von diesem Ereignis zu erwarten seien. Mit dem Ende des Krieges, so wollte ich Dir versichern, beginnt eine Ära der universalen Solidarität, der geistig-sittlichen Erneuerung, des guten Willens. Die »Atlantic-Charta«, Yalta, die Vereinten Nationen, die kommende Weltrepublik, alles sollte gegen Deinen Pessimismus mobilisiert werden.
Und nun kann ich meine tröstliche kleine Predigt nicht halten. Die schönen Worte, die ich für Dich in Bereitschaft hatte, würden jetzt hohl und unwahr klingen. Seit vorgestern abend, seit der Radio-Nachricht aus Warm Springs, Georgia, sieht die Welt anders aus. Plötzlich ist es dunkel.
Roosevelts Tod ist ein fürchterlicher Verlust, ein fürchterliches Zeichen. Wenn einer berufen schien, unsere zerrüttete Zivilisation zu retten, dieser ist's gewesen, und nun gibt es ihn nicht mehr! Er hatte genug Weisheit und Wendigkeit, genug Geduld, genug Autorität, auch Güte; er wurde geliebt, flößte Vertrauen ein, die Bösen aber wußte er einzuschüchtern. Er hätte den Frieden organisiert – wer tut es jetzt? Er war der rechte Mann. Kein anderer in Sicht, der ihn ersetzen könnte! Welch böswillig destruktive Macht hat uns den Unersetzlichen genommen?
Diese Todesnachricht verursacht einen Schock, in welchem Überlegungen sehr rationaler Art sich mit fast abergläubisch düsteren Angstgefühlen sonderbar vermischen. Man weiß, vorüber man sich grämt: der objektiven Gründe gibt es nur zu viele; trotzdem erscheint die subjektive Reaktion fast unbegreiflich heftig. Gram ist plausibel; doch woher das Grauen?
Mir graut bei dem Gedanken, daß eine böswillige Instanz uns solches antun durfte. Den einen zu entfernen, auf den Verlaß gewesen wäre! Den Friedensplaner aus dem Weg zu räumen, gerade jetzt, da er benötigt würde! Wird höheren Orts gewünscht, daß wir verderben sollen? Ist unser Untergang beschlossene Sache? Die »Atlantic Charta« und die »United Nations«, Yalta und Teheran, das massenhafte Sterben, die Invasionen und die Bombardements, das viele Blut, der viele Schweiß, die gar zu vielen Tränen – alles umsonst? Umsonst … Ein Wort, vor dem mir graut.
Es hat eine schlimme Bewandtnis mit diesem Tod. Ich bin voll schlimmer Ahnung.
Übrigens scheint die Betroffenheit, der Kummer allgemein. Noch nie habe ich die G. I.'s so bestürzt und betrübt gesehen. In unserem Redaktionsbüro und in der Druckerei, im »Red-Cross-Club«, im »P. X.«, auf der Straße – überall Trauermienen! Sogar die Lautesten sprechen seit vorgestern mit gedämpfter Stimme. Wahrscheinlich werden sie morgen um so roher lärmen; aber schon diese vorübergehende Gedämpftheit ist rührend und bedeutungsvoll, eine Demonstration sehr seltener, fast unerhörter Art.
Rom ist still. Auch die Italiener wissen, daß seit dem 12. April etwas weniger Hoffnung in der Welt ist als vorher.
Aber ist diese große, allgemeine Trauer um F. D. R. nicht doch auch wieder tröstlich? Er war ein Mann der Einsicht und des guten Willens. Die Massen, die ihn beweinen, können ihrerseits nicht ohne guten Willen und auch nicht völlig ohne Einsicht sein.
An Prof. Thomas Mann, New York
US Press Camp, Rosenheim (Bayern), den 16. V. 1945.
Dies ist ein Geburtstagsbrief, mein feierlich bewegter Gruß zu Deinem Siebzigsten. Der Gruß kommt aus Bayern, beinah aus München, wo durch seine Feierlichkeit bis ins Wunderliche und Wunderbare gesteigert wird. Ich habe auch unser Haus gesehen, ich war in der Poschingerstraße.
Aber noch die wunderlichsten und wunderbarsten Abenteuer wollen fein ordentlich, der Reihe nach berichtet sein.
Also, die Sache ist die, daß mein ausgezeichneter Vorgesetzter, Oberst Neville, Herausgeber der »Stars and Stripes« in Rom, auf die bemerkenswert gute Idee gekommen ist, mich als Sonderberichterstatter oder »special correspondent« nach Deutschland zu schicken. Am 2. Mai ergaben sich die deutschen Truppen in Italien; drei Tage später, am 5., zog ich los, begleitet von einem tüchtigen und wohlgelaunten Photographen namens Tewksbury. (Er hat auch die Bilder von unserem Haus gemacht, die ich diesem Brief beilege.)
Wir reisten in einem »jeep«, Tewksbury natürlich am Steuer; denn chauffieren kann ich immer noch nicht. Es war eine schöne Fahrt, eine rechte Frühlings- und Ferienreise: von Rom nach Florenz, und weiter, über Bologna und Verona, nach Bolzano. Je mehr wir uns den Alpen näherten, desto häufiger wurden die Begegnungen mit deutschen Soldaten, wobei es sich nicht etwa um abgesprengte kleine Gruppen oder isolierte Individuen handelte, sondern um völlig intakte, wohlausgerüstete, ziemlich starke Truppeneinheiten unter der kompetenten Aufsicht von deutschen Offizieren. Keine Spur von Panik oder Meuterei! Wenn die Wehrmacht vor Stalingrad, in Tunis, auch in Frankreich einen moralisch-militärischen Kollaps erlitten hat – hier, in Italien, kann von dergleichen kaum die Rede sein. Die Armee des Marschall Kesselring, von der wir uns so lang den Weg zur Po-Ebene versperren ließen, wirkt immer noch formidabel – »im Feld unbesiegt«, wie die Deutschen nach ihrem vorigen Debakel mit charakteristischer Arroganz von sich zu sagen pflegten. Diese Arroganz bleibt auch diesmal wieder ungebrochen.
In Deutschland selber freilich kann man jetzt viel zerknirschte Reden hören; die Niederlage ist zu eklatant: man gibt sie zu, geleugnet wird nur noch die eigene Schuld. Nicht so die »Landser« in Norditalien und Südtirol! Die halten den deutschen Zusammenbruch für einen Trick und können es kaum erwarten, Seite an Seite mit uns nach Moskau zu marschieren.
»Die Deutschen und die Anglo-Amerikaner gehören zusammen«, versicherte mir ein ziemlich prominenter Häuptling der SS in einem Gefangenenlager, nicht weit von Trento. (Die SS-Formationen sind die einzigen, die, mindestens im Prinzip, von uns interniert werden, während alle übrigen deutschen Regimenter, teilweise noch bewaffnet, ganz unbehelligt ihres Weges ziehen.) »Und warum gehören wir zusammen?« fragte rhetorisch der Häuptling, um alsbald triumphierend festzustellen: »Weil wir rassische Verwandte sind! Klar, Mensch! Der Deutsche und der Anglo-Amerikaner hat nordisches Blut und nordische Kultur, im Gegensatz zum Russen, der überhaupt keine Kultur besitzt. Ich war doch selber dort, ich weiß Bescheid. Der Russe wäscht sich nicht, der Russe hat kein Familienleben. So was von Unkultur! Bildung? Disziplin? Gemüt? Beim Russen nicht vorhanden! Und dieser Barbar will über Europa herrschen! Euch Anglo-Amerikanern paßt das genau so wenig in den Kram wie uns. Da aber der Russe angeblich euer Alliierter ist, hat man sich einen Schwindel ausgedacht. Unsere Niederlage – ha ha ha! Ein Witz! Alles abgekartet! Nächste Woche geht es wieder los, wir Deutsche mit euch Amerikanern gegen die Bolschewisten! Der Goebbels hat immer gewußt, daß es so kommen wird. Ein Schlaumeier, unser Goebbels! Sie glauben doch nicht, daß der wirklich tot ist? Lauter Greuelmärchen! Russische Propaganda! Und was den Führer betrifft …« Hier dämpfte der Räuberhauptmann seine Stimme zum geheimnisvollen Raunen. »Na, da gibt es wohl nicht den geringsten Zweifel: Hitler lebt! Klar, Mensch!« In seinem Blick mischte sich feuchte Innigkeit mit kalter Tücke, eine nicht sehr angenehme Kombination, der man gerade bei Nazis ziemlich oft begegnet.
Das Gerücht, daß Adolf Hitler noch am Leben sei und sich irgendwo »in Bereitschaft« halte, wird überall diskutiert. Die meisten Deutschen, auch solche, die angeblich immer gegen den »Führer« gewesen sind, scheinen dieses Märchen durchaus ernst zu nehmen. »Ist Hitler tot?« Immer wieder stelle ich die Frage, und immer ist die Reaktion die gleiche: ein schlaues Blinzeln, ein verlegenes Achselzucken. Nur ein einziger, Hermann Göring, antwortet mir mit einem klaren, festen »Ja«. Aber davon später.
Am Abend des 7. Mai kamen wir in Innsbruck an, dessen dunkle Gassen schaurig verödet schienen. Um sieben Uhr ist Polizeistunde, wie ein amerikanischer »MP« (Military Police) uns erklärte; kein Zivilist darf ohne besondere Erlaubnis auf die Straße. Um so animierter nahm sich die Stadt am nächsten Morgen aus. War es eine befreite Stadt oder eine eroberte? In Österreich weiß man das nicht so genau. Unsere Truppen dürfen mit der Bevölkerung nicht »fraternisieren«: was darauf schließen läßt, daß wir auch hier, wie in Deutschland, als Sieger – nicht als »Befreier« – kommen. Trotzdem fand ich die Stimmung in Innsbruck hoffnungsvoll angeregt von einer freilich etwas hektisch-turbulenten Festlichkeit. Wir kamen kaum von der Stelle in unserem »jeep«, so dicht war das Gedränge. Ortsansässige Bürger, ländliches Volk in pittoresker Tracht, Evakuierte aus allen Gegenden »Großdeutschlands«, befreite Häftlinge aus den Konzentrationslagern und befreite Zwangsarbeiter: Polen, Italiener, Russen, Holländer, Franzosen, alles wimmelte durcheinander, lärmte, schimpfte, lachte, schwatzte in vielerlei Zungen, wollte Auskünfte, bestürmte die hilflosen G.I.'s mit absurden Fragen und Bitten. Ziel und Zentrum der chaotischen Massenwanderung war das sogenannte »Landhaus«, wo ein paar verwirrte österreichische Beamte, ihrerseits beaufsichtigt von ebenso konfusen amerikanischen Offizieren, sich verzweifelt bemühten, etwas wie einen administrativen Apparat in Funktion zu halten. Der provisorische Chef dieser äußerst provisorischen Verwaltungsbehörde, ein noch ziemlich junger, sympathisch robuster und intelligenter Mann namens Dr. Karl Gruber, empfing uns inmitten eines Wirrwarrs, den ich kaum eine Stunde lang ertragen hätte. Dem rüstigen Gruber aber schienen Lärm und Unordnung nichts anzuhaben. Mit humorvoller Gelassenheit und ruhiger Autorität dirigierte er die Schar der aufgeregten Sekretärinnen, fertigte Bittsteller ab, zeichnete Dokumente, durchflog Telegramme, beschwichtigte hysterische Kollegen. Zwischen all diesen Obliegenheiten fand er noch Zeit, sich von Tewksbury photographieren zu lassen und mir einiges über die österreichische Widerstandsbewegung mitzuteilen. Die Innsbrucker »résistance«, die von Gruber befehligt wurde, soll in den letzten Tagen recht Erhebliches geleistet haben. Sehr anschaulich, mit Enthusiasmus, aber ohne jemals prahlerisch zu werden, berichtete der ehemalige Untergrund-Kämpfer von allerlei gefährlichen Abenteuern: wie er einmal schon fast in den Klauen der Gestapo gewesen, um im letzten Augenblick doch wieder zu entwischen, und wie am Schluß eine ganze deutsche Division, irgendwo in den Alpen, sich einem kleinen Trupp von schlechtbewaffneten Tirolern feige ergeben habe.
Er gefällt mir, dieser Mann Gruber. Man sollte gar nicht denken, daß er zur katholisch-konservativen Partei gehört. Sehen die Klerikalen neuerdings so aus, von sehnig hohem Wuchs und braungebrannter Miene, sportlich, lustig, zugleich verwegen und zivilisiert? Das wäre eine angenehme Novität.
Von Innsbruck fuhren wir nach Berchtesgaden weiter. Das Gewimmel von alliierten Truppen, größtenteils Franzosen und »displaced persons« jeder Nationalität, war dort noch dichter, auch noch lärmender, von karnevalistisch wilder Ausgelassenheit. Zahlreiche Betrunkene fielen durch besonders entfesselte Manieren auf; der Wein, an dem sie sich derart angeheitert hatten, stammte aus Hitlers Keller. Zwei Tage lang war der »Berghof« von unseren Soldaten – G.I.'s und Poilus – systematisch geplündert worden; es muß eine Raub- und Siegesorgie großartig-wüsten Stils gewesen sein. Leider kamen Freund Tewksbury und ich zu spät, um dies noch mitzumachen. Wir fanden den berühmten Landsitz von militärischer Polizei bewacht – recht überflüssiger Weise. Nach den Bomben, die hier schon früher gräßlich aufgeräumt, hatten die Plünderer gewissenhaft gewütet. Geborstene Mauern und verkohlte Balken, tiefe Trichter voller Schutt und Asche, zerbrochenes Mobiliar, Scherben und Dreck, ein Trümmerhaufen. Sonst ist nichts mehr da. In den Ruinen des Hauptgebäudes erkennt man noch die Struktur des enormen Fensters, auf das der Hausherr so besonders stolz gewesen sein soll. Hier pflegte er sich mit seinen Gästen, seinen Schranzen und Opfern am Anblick des alpinen Panoramas zu ergötzen. Das Panorama ist noch immer eindrucksvoll; aber die häßlichen Überbleibsel des »Berghof« stören das schöne Bild. Die mannigfachen Baulichkeiten für Gäste, Dienerschaft, Journalisten und Gestapo-Beamte, die Villa Martin Bormanns, Görings Pavillon, lauter schwarze Höhlen, schwarze Haufen: lauter Schmutzflecke und Schandmale in sonst reiner Landschaft. Von dem ganzen mächtigen Komplex, der einst Hitlers Lustschloß und feste Burg gewesen, steht nur noch ein relativ bescheidener Seitenflügel, auch dieser ausgebrannt und ausgeraubt. Eine blau-weiß-rote Flagge schmückt das lädierte Dach. Die Trikolore!
Bei unserer Ankunft in Salzburg, am Abend des gleichen Tages, sahen wir an den Kiosken die Extra-Ausgabe der »Stars and Stripes« mit der großen Überschrift: » It's all over here! Victory in Europe is ours …«
»It's all over …« Vorbei! Geschafft! Erledigt! Man denkt nicht an das Kommende, nicht heute! Heute denkt und fühlt man nur: Uff …
Und die Pazifische Front? Dort gibt es noch kein solches Aufatmen. Pessimisten sagen, der Krieg mit Japan werde sich noch viele Monate, vielleicht Jahre lang hinziehen. Ich kann's nicht glauben. Freilich hätte ich auch nie für möglich gehalten, daß die Deutschen ihren selbstmörderisch-frevelhaften Kampf erst am 8. Mai 1945 beenden würden.
Von Salzburg, das glücklicherweise ziemlich heil geblieben ist, ging es am nächsten Morgen auf der ambitiös angelegten, übrigens stark beschädigten Reichsautobahn nach München. Unterwegs erzählte ich meinem Gefährten von unserem schönen Haus an der Isar, das ich in gutem Zustand vorzufinden hoffte. Hieß es nicht in der Presse, alliierte Bomber hätten die Außenbezirke und Villenvororte der deutschen Städte beinah ganz verschont? Warum also sollte gerade der ländlich stillen Poschingerstraße im Herzogspark etwas zugestoßen sein? Tewksbury und ich amüsierten uns beim Gedanken an die Nazi-Bonzen, die wir im »Kinderhaus« wahrscheinlich vorfinden würden, freche Diebe, behaglich eingenistet! Welch ein Spaß, dem Gesindel mit kalter Höflichkeit die Tür zu weisen! »Wollen Herr Obersturmführer bitte zur Kenntnis nehmen, daß diese Villa rechtmäßiges Eigentum meines Vaters ist! Herr Obersturmführer haben das Haus sogleich zu räumen. Ich gebe Herrn Obersturmführer zwei-ein-halb Minuten …« – Das Haus, befreit und gründlich ausgeräuchert, könnte irgendwie verwendet werden: vielleicht als Münchener Hauptquartier der »Stars and Stripes«. Es war lustig, solche Pläne zu schmieden. Wir unterhielten uns gut auf der Fahrt von Salzburg nach München.
Indessen verging mir das Lachen angesichts der zerstörten Stadt. Ich hatte mir's schlimm vorgestellt, aber es war noch schlimmer. München ist nicht mehr da. Das ganze Zentrum, vom Hauptbahnhof bis zum Odeonsplatz, besteht nur noch aus Trümmern. Ich konnte kaum den Weg zum Englischen Garten finden, so schauerlich entfremdet und entstellt waren die Straßen, in denen ich jedes Haus gekannt. War dies die Heimkehr? Alles fremd, fremd, fremd …
Und doch auch wieder nicht! Fremd und vertraut zugleich … Die ur-vertraute Landschaft wild-fremd geworden; das Wild-Fremde mit Spuren von Ur-Vertrautheit: dies kommt nur in bangen Träumen vor.
Die Stadtmitte ist am ärgsten zugerichtet; weiter draußen, am Isar-Ufer, gibt es noch wohlerhaltene Gebäude und Monumente. Je mehr wir uns der Poschingerstraße näherten, desto heimatlicher wurde die Szenerie. Die Prinzregentenstraße wo die Wedekinds ihre Wohnung hatten – auch Tante Lülchen selig hauste ja dort –, ist ramponiert, aber läßt sich doch noch erkennen. Sieh da, die Friedenssäule, dekorativ und schlank, vom Kriege unberührt! Der goldene Engel auf der Spitze trägt noch den dunklen Camouflage-Kittel, soll aber darunter in tadelloser Form geblieben sein. Die Anlagen am Fluß – unser täglicher Spaziergang und Spielplatz in mythisch fernen Kindheitstagen – wirken gleichfalls konserviert. Und die Max-Joseph-Brücke – auch noch da! Sie scheint kleiner geworden, was aber nichts mit den Bombardements zu tun hat. Die Dinge schrumpfen mit der Zeit – oder vergrößern sich in unserer Erinnerung und erscheinen deshalb vergleichsweise winzig, wenn wir sie nach Jahren wiedersehen? Wie dem auch sei: die Max-Joseph-Brücke, einst so stattlich, hat sich in unserer Abwesenheit, hinter unserem Rücken, spielzeughaft verniedlicht und verringert. Auch der Fluß ist reduziert, ein schmales Rinnsal: unser »jeep« hopste nur so hinüber.
Nun nach links, in die Föhringer Allee eingebogen, ur-vertraute, wildfremde Perspektive! Hier scheint einiges an Format zugenommen zu haben; Bäume und Gebüsch sind jetzt viel üppiger als in unseren Tagen, verwahrlost wuchernd, von irgendwie bedrohlicher Dynamik. Eine dunkle, verwilderte Allee, erstaunlich kurz übrigens: unser Kriegswagen legte sie im Nu zurück! Da war schon das Hallgartensche Haus – Rickis Haus: es steht noch! Und das unsere?
Ja, auch unseres steht. Zunächst hielt ich es für unbeschädigt. Auf den ersten Blick nimmt sich das alte Ding gar nicht so übel aus. Der reine Bluff! – wie ich bei näherem Hinschauen alsbald konstatieren mußte. Das Gerüst hat standgehalten, aber nur als Attrappe und hohle Form. Drinnen ist alles wüst und ausgebrannt, wie in Hitlers »Berghof«.
Über zerborstene Stufen kletterte ich zum Portal und schlüpfte durch ein Ruß-geschwärztes Loch – wohin? Wo befand ich mich? Doch nicht in unserer Diele? Die war größer gewesen, mindestens doppelt so groß, und überhaupt ganz anders. Durch Schutt und Asche tastete ich mich weiter ins Haus hinein. Fremd, fremd, fremd – und doch auch wieder nicht! Hier, dieser Fensterbogen schien urvertraut, auch der Kamin hatte die alte Form. Es war also doch die Diele? Aber dann läge Mieleins Salon zur rechten Hand und dort drüben, links, müßte das Eßzimmer sein. Statt dessen gab es dort durchaus unbekannte Räumlichkeiten.
Hier stimmte etwas nicht. Man hatte neue Wände eingebaut: aus vier großen Räumen waren sechs kleinere geworden. Das Schrumpfungs-Phänomen beruhte diesmal nicht auf Täuschung, sondern war objektiv vorhanden.
Ob es auch in den oberen Stockwerken geschrumpfte Zimmer gab? Ich hätte gern nachgeschaut, mußte aber mangels einer Treppe darauf verzichten.
Nachdem wir uns noch ein wenig in den öden Parterre-Stuben umgetan, riskierten wir eine Expedition in den halb-verschütteten Keller und fanden von dort aus schließlich den Weg zurück ins Freie, Tewksbury, der fleißig Interieur-Aufnahmen gemacht hatte, wollte nun die Front des Hauses – diese scheinbar solide Bluff-Fassade – von der Straße her photographieren.
Während mein Begleiter mit der Kamera beschäftigt war, schlenderte ich durch den Garten, wo Unkraut und Blütenbüsche sich ebenso provokant-hypertrophisch entwickelt hatten wie draußen in der Föhringer Allee. Mir war seltsam zumute, wunderlich und verwunschen. Verwilderter, wildfremder Garten mit zugewachsenen Pfaden und zerstörter Mauer! Und doch war dies die vertraute Hecke, der immer-gekannte, nie-vergessene Kastanienbaum, der Fliederstrauch traumferner Frühlingsnächte …
Das Haus, vom Garten her gesehen, wollte wieder recht schmuck und gediegen scheinen, mit Efeu-umrankter Terrasse, grünen Fensterläden und dem hübsch-geschwungenen Balkon vor Mieleins Schlafzimmer im ersten Stock. Alles Lug und Trug! Foppende Kulisse, hinter der es nichts gibt, nicht einmal eine Treppe, auf der man in die oberen Stockwerke gelangen könnte!
Im zweiten Stock liegt mein Zimmer, gleichfalls mit Balkon – Du erinnerst Dich? Auch dieser Balkon ist wohlerhalten. Ich spähte hinauf – nicht ganz ohne Wehmut. Es wäre doch nett gewesen, das Zimmer wiederzusehen, mochte es gleich geschrumpft sein. Wie schade, daß es keine Treppe gab!
Da entdeckte ich das fremde Mädchen.
Das fremde Mädchen stand auf dem Balkon vor meinem Zimmer, bewegungslos, ein wenig geduckt hinter der Ballustrade. Wahrscheinlich hatte sie sich schon die ganze Zeit dort aufgehalten und meiner träumerischen Promenade zugeschaut. Ich winkte ihr zu, aber sie reagierte nicht, sondern blieb völlig starr, als glaubte sie sich noch immer unbemerkt. Hatte sie Angst vor mir? Freilich, ich trug die Uniform des Feindes …
»Was machen denn Sie da oben?«
Keine Antwort.
Da ich meine Frage wiederholte, zuckte sie die Achseln: »Ich wohne hier. Haben Sie was dagegen?«
Hatte ich was dagegen? Kaum. Nicht eigentlich. Ich war nur überrascht. Wo wohnte sie? In meinem alten Zimmer?
Dies verneinte sie; das Zimmer sei kaputt. »Auf dem Balkon hab ich mich eing'richt. Solang's nicht regnet, ist es soweit ganz gemütlich hier.«
Aber wie kam sie hinauf? Es gab doch keine Treppe.
»Helfen muß man sich können!« schrie sie mir zu, immer noch mit mißtrauisch verkniffener Miene. Sie hatte etwas konstruiert, eine Art von Leiter an der Rückseite des Hauses. »Nicht sehr bequem«, wie sie mit einem gewissen Nachdruck konstatierte, wahrscheinlich, um mich von einem Besuch abzuschrecken. »Aber für mich tut's es. Ich bin nämlich Alpinistin, wissen's? Eine Bergsteigerin bin ich.«
Nun lächelte sie sogar ein bißchen; indessen wurde ihr Gesicht gleich wieder böse und verkniffen, als ich erklärte, daß ich zu ihr wolle – trotz der Unbequemlichkeit. »Es wird Ihnen nichts geschehen«, fügte ich begütigend hinzu. »Sie sollen nicht von Ihrem gemütlichen Balkon vertrieben werden. Zeigen Sie mir die Leiter!«
Es war eine halsbrecherische Kletterpartie; aber ich schaffte es, dank den kundigen Ratschlägen und Anweisungen, die mir das Mädchen – hilfreich, bei aller Mürrischkeit – durch die Dachluke zurief. Schließlich standen wir uns gegenüber.
»No, jetzt sehen Sie's ja selber, daß hier nix zum requirieren gibt!« So begrüßte sie mich, wobei sie mit nachlässig-verächtlicher Gebärde zur Decke wies, durch deren weite Löcher und Risse der Nachmittagshimmel leuchtete. »Kaputt!« Sie wiederholte das Wort, in der Annahme wohl, daß ich des Deutschen nicht recht mächtig sei. »Alles kaputt! Nix gut! Understand?«
Sie war wohl kaum älter als fünf- oder sechsundzwanzig, aber schon irgendwie verblüht, mit unreiner, fahler Haut und einer verdrossen eigensinnigen Stirn unter dem straffen Scheitel. Ohne zu lächeln, mit feindlich verschlossener Miene geleitete sie mich durch eine Flucht von Dachkammern, die in unseren Speicher eingebaut worden sind und auf deren lamentablen Zustand meine Führerin mich immer wieder hinweisen zu müssen glaubte. »Kaputt! Nix gut!« Sie blieb dabei. Auch in »meinem« Zimmer – wild-wildfremd: mit makabren Resten von Urvertrautheit – deutete sie, nicht ohne Schadenfreude, zum zerrissenen Plafond: »Nix gut! Understand?«
Draußen auf dem Balkon aber sah es in der Tat fast »gemütlich« aus. Das Matratzenlager, mit Kissen und Decken reichlich ausstaffiert, wirkte recht komfortabel; auf dem niedrigen Tisch daneben gab es sogar Blumen und ein Buch; auch Weckeruhr, Stuhl und Waschgeschirr waren vorhanden.
Ich lobte das Arrangement, gab aber meiner Befürchtung Ausdruck, daß es nachts, unter freiem Himmel, doch wohl um diese Jahreszeit noch etwas frostig sei. Das Mädchen, durch Lob und Anteilnahme zutraulicher gemacht, verteidigte ihren Balkon und das Münchener Wetter. Das bißchen Kälte! Eine Alpinistin war Schlimmeres gewohnt. Und überhaupt, wer wollte wählerisch sein, heutzutage! Sie sei dreimal ausgebombt worden; zuletzt im Hause einer Schwägerin, die ihrerseits nicht mehr lebe: »Verbrannt – vor meinen Aug'n!« Die Stimme des Mädchens bebte bei diesen Worten, klang aber gleich wieder ruhig und gelassen, etwas trotzig vielleicht, aber nicht eigentlich bitter oder schmerzbewegt. Mit monotoner Sachlichkeit zählte sie ihre Verluste auf: Die Eltern tot, vom Herzschlag hingerafft, aus Gram über das Bombardement der Wohnung; der Bräutigam, in russischer Gefangenschaft verschollen; ein Bruder, kriegsverletzt – »beide Beine hin«; der andere gefallen – vor Stalingrad. Und nun die Schwägerin!
»Man ist halt ganz alleinig«, stellte das Mädchen fest, nicht klagend, eher trotzig. »Ka Verwandten mehr und ka Bräutigam! Ka Geld und ka Wohnung! Durchzwazzeln muß man sich halt; und ein bisserl Glück muß der Mensch haben. Nehmen's den Balkon, zum Beispiel, das ist doch direkt ein Glücksfall!«
Ich wollte wissen, wie sie denn gerade auf dieses Haus gekommen sei – »auf unser Haus«, hätte ich fast gesagt.
»Freunde«, erklärte sie mir, etwas vage. »Ein bekannter Herr hat früher hier gewohnt.«
Es ist fehlerhaft, einen Herr, mit dem man bekannt ist, als »bekannten Herrn« zu bezeichnen; aber auf solche Feinheiten deutscher Grammatik läßt man sich als amerikanischer Soldat nicht ein. Ich fragte also nur: »Können Sie mir vielleicht zufällig sagen, wem das Haus gehört?«
Nein, das konnte sie nicht: »leider Gottes«, wie sie spitz betonte. »Leider Gottes bin ich da nicht so genau orientiert.«
Immerhin wußte sie zu berichten, daß die Villa »durch viele Hände« gegangen sei; zuletzt hätten fünf oder sechs Familien – »sehr feine Leute wirklich« – sich in die drei Etagen geteilt. »Wegen dem ist ja hier alles umgebaut worden« sagte sie verständig. »Wegen der Wohnungsnot. Vor dem Krieg hat's hier große Räumlichkeiten gegeben – das Studierzimmer im Parterre hätten's sehen sollen! Direkt luxuriös!«
Sie war stolz auf die vergangene Pracht des Studierzimmers im Parterre, wo sie mit dem »bekannten Herrn« heitere Stunden verlebt haben mochte. Ganz ursprünglich aber – auch dies fiel ihr noch ein – war das Luxus-Studio von einem Schriftsteller benutzt worden, der dann außer Landes gegangen war und dort, nach Ansicht des Mädchens, längst eines elenden Todes gestorben sein dürfte. »Wahrscheinlich ein Nicht-Arier«, vermutete sie achselzuckend. »Oder sogar Volljude. Auf alle Fälle hat er sich mit unserer Regierung nicht vertragen.« Woraufhin sie noch einmal bemerkte, daß sie eben »leider Gottes nicht genau orientiert« sei.
»Das Haus gehört also einem Schriftsteller, der sich mit der Regierung nicht vertragen konnte?«
Meine direkte Frage war ihr nicht angenehm; sie wich aus: »Wie man's nimmt. Wenn der Schriftsteller ein Jud war oder 's hat sonst was nicht gestimmt mit ihm, dann ist sein Eigentum natürlich konfisziert worden, das Haus auch.« Nach kurzem Sinnen kam sie zu dem Schluß: »Das Haus gehört dem Staat. Sonst hätt's doch keinen Lebensborn hier gegeben!«
Keinen »Lebensborn«? Das klang interessant. Ich bat das Mädchen, sich deutlicher zu erklären.
»Ja, wissen Sie denn wirklich nicht, was das heißt?« Sie schüttelte mißbilligend den Kopf, setzte mir dann aber aufs geduldigste auseinander, was für eine Bewandtnis es mit dem »Lebensborn« in unserem Hause hatte. »Stramme Burschen von der SS waren hier einquartiert, sehr feine Leute wirklich: die reinsten Bullen. No, und als Bullen oder Hengste sind's dann auch benützt worden, zwegen der Rasse, verstehen's. So ein Lebensborn – mir ham ja viele g'habt, überall im Land – war für die rassischen Belange da, für die Züchtung nordischen Geblütes, für den deutschen Nachwuchs. Die Mädeln ham natürlich rassisch auch einwandfrei sein müssen, der Schädel, das Becken: alles is ausg'messen worden mit'n Zentimetermaß. Wenn's g'stimmt hat und nix war zu lang oder zu kurz oder zu dick oder zu mager, dann sind's begattet worden dahier und ham bleiben dürfen bis nach'm Kindbett. Der Lebensborn war nicht nur Züchtungsstelle, sondern auch Mütterheim.« – Den letzten Satz, wie übrigens alles, was die Funktionen des »Lebensborn« quasi gelehrt bezeichnete, sprach sie sehr »hochdeutsch«, mit einer gewissen leiernden Andacht, wie ein Sprüchlein aus dem Katechismus.
Ich hätte gern noch einiges erfahren, nicht nur über den Lebensborn im allgemeinen, sondern auch über die besonderen Zusammenhänge, die es zwischen dieser pikanten Institution und meinem auffallend gut-informierten Balkon-Fräulein vielleicht einst gegeben hatte. Leider wurde unsere Konversation unterbrochen, als sie gerade nett zu werden versprach: Tewksbury, in übrigens nicht unverständlicher Unruhe oder Ungeduld, rief nach mir aus dem Garten. Ich erklärte dem Mädchen, daß ich nun leider schleunigst gehen müsse, was sie zu enttäuschen und sogar ein wenig zu verletzen schien. – »Bitte sehr!« Dies war wieder ihr pikierter Ton. Aber ihr Lächeln wurde beinahe rührend, da sie mit weicherer Stimme hinzufügte: »Ich hätt Sie gern noch da behalten, die ganze Nacht, eventuell. So gemütlich wie's hier ist! Beinah wie daheim …«
Tewksbury kam heraufgeklettert und knipste. Dann fuhren er und ich noch eine Weile im Herzogspark herum. Die meisten Häuser in dieser Gegend sind unverletzt: wir haben ganz besonderes Pech gehabt. Übrigens suchte ich vergeblich nach einem bekannten Namen an irgendeiner dieser intakten Villen. Alle haben den Besitzer gewechselt. Von unseren Freunden scheint keiner mehr da.
Wohin mit uns? Es wurde spät; wir hatten keine Lust, nach Rosenheim zum »US Press Camp« zu fahren. Vor einem besonders feinen Haus, nicht weit von unserem, in der Mauerkircher Straße, ließ ich halten. Kräftig angeklopft! Noch einmal, und kräftiger! Endlich läßt eine erschreckte Stimme sich hinter der Haustür hören: »Sie wünschen?« Meine Antwort ist kurz und bündig: »Betten!« – Klingt es amerikanisch? Mit noch stärkerem Akzent, zugleich mühsam und autoritativ, wiederholte ich: »Betten für zwei Soldaten! Aufgemacht! Sofort! Wir wollen Betten!«
Dies wirkt. Ein dicker Mann im Schlafrock läßt uns ein, dienernd und schwatzend: »Aber natürlich … bitte sehr … mit Vergnügen … Wenn die Herren vorliebnehmen wollen … Alles sehr bescheiden – nicht so bequem, selbstverständlich, wie bei Ihnen in Amerika …«
Es war ein großes, elegantes Zimmer, das uns der Dicke zur Verfügung stellte. Auch einen Imbiß offerierte er in seiner Angst, aber wir zogen unsere Rationen vor. »Natürlich«, jammerte der Wohlbeleibte. »Amerikanische Rationen! Die sind freilich besser! Unsereins hat nichts zu bieten, man schämt sich ja, nicht einmal ein Bier, so ein Elend, gerade die Unschuldigen trifft's immer, kein Stückerl Wurst im Haus, dabei war ich immer dagegen, immer schon gegen den Hitler, konsequent, unerbittlich …«
Er erging sich in weiteren Beteuerungen, seine politische Integrität betreffend: »Ich bin Demokrat – durch und durch! Schon wegen meiner Frau, mit ihrer nicht-arischen Schwägerin. Sowieso sind wir alle sehr international eingestellt, die ganze Familie; englisch hab ich auch sprechen können, als junger Mann.«
Wir baten ihn, uns dies jetzt nicht vorzuführen, da wir müde seien. So zog er sich zurück. Wir schliefen ausgezeichnet.
Am nächsten Morgen fand ich im Bücherschrank ein schön-gebundenes Exemplar von »Mein Kampf«, nebst mehreren Bänden Rosenberg und Goebbels, alles diskret beiseitegerückt, aber doch noch auf dem Ehrenplatz mit Schillers Gesammelten Werken. Ich nahm die ganze Schmutz- und Schundliteratur vom Simse und schichtete sie fein säuberlich zu einem Haufen, mit dem ich den runden Tisch in der Mitte des Zimmers schmückte. Dazu legte ich einen Zettel mit der Aufschrift » Garstig Nazi-Zeug! Pfui, weg damit!« Ich kann nur hoffen, daß unserem fetten Gastfreund, der immer schon gegen Hitler war, bei diesem ominösen Gruß etwas unbehaglich zumute wurde. Wir verließen das feine Haus, ohne den Herrn nochmals gesehen zu haben.
... Dieser Brief wird unanständig lang – ich muß um Entschuldigung bitten. Gerade jetzt, so kurz vor Deinem Ehrentag, hast Du gewiß ohnedies mehr Post zu lesen, als Dir bekömmlich und erwünscht sein kann. Um so tadelnswerter meine Verschwatztheit! Aber es ist ja bekannt, daß bei vollem Herzen der Mund zum Übergehen neigt. Mein Herz ist voll. Es gibt viel zu erzählen. Trotzdem will ich mich nun kurz fassen und bald zum Ende kommen. Sollten dabei interessante Details unter den Tisch fallen, so mögt Ihr sie später in den Artikeln nachlesen, die ich von hier aus an die »Stars and Stripes« depeschiere und von denen Euch, nach Abschluß meiner Reise, eine Kollektion zugehen wird.
Ich habe über Dachau geschrieben – wie schon andere vor mir; aber man kann es nicht oft genug tun. Zur Zeit meiner Visite, am 11. Mai, war das Schreckenslager nicht mehr ganz in seinem infernalischen Urzustand, aber noch immer von bemerkenswerter Gräßlichkeit. Durch die kräftigen Gerüche der Desinfektionsmittel hindurch erkannte man, nicht ohne Schaudern und leichte Übelkeit, jenes andere Aroma, das süßlich-faulige, mit dem die Toten sich in Erinnerung zu bringen lieben. Folterkammern, Öfen und Galgen wurden als makabre Sehenswürdigkeiten inspiziert, wie die Eiserne Jungfrau und das Rad im Museum. Dieser ganze Mordapparat, wenngleich hochmodern in seiner technischen Ausführung, machte irgendwie den Eindruck des Unwirklichen, Phantastischen oder doch Historisch-Distanzierten. Gibt es dergleichen in unseren Tagen, die wir für gesittet halten wollten? Dergleichen gibt es. Von den Unseligen, Verfluchten, die noch vor einem Monat an jenen atavistisch-obszönen Greueln teilgenommen haben, ist gleichfalls eine Anzahl in Dachau zu besichtigen. Nicht weit von der museumhaft erhaltenen Prügelstube sitzen sie hinter Stacheldraht, die Folterknechte der Neuen Ordnung, die Stützen der Hitlerschen Gesellschaft, Stolz und Elite einer verblendeten Nation. Unter diesen SS-Verbrechern gab es vielleicht diesen oder jenen, der sich einst bei den Züchtungs-Orgien in unserem Hause mannhaft hervorgetan …
Der gleiche Tag, an dem ich das Dachauer Konzentrationslager besuchte und dort ein paar hundert relativ harmloser oder doch unwichtiger Lumpen wie Raubtiere im Käfig hocken sah, brachte mir auch die Begegnung mit einem der großen Schuldigen und Oberschurken – Hermann Göring. Wie Dir aus den Journalen bekannt, durfte er nur einmal interviewt werden – an diesem Tage eben: dem 11. März –, um dann, zusammen mit den übrigen Hauptkriminellen, unter alliierter Obhut bis auf weiteres zu verschwinden. Schauplatz der kuriosen Veranstaltung war eine abgelegene Villa in Augsburg oder vielmehr der dazugehörige Garten, auf dessen soigniertem Rasen zwanzig bis dreißig amerikanische, französische und englische Reporter nebst einigen hohen Offizieren sich neugierig um den berühmten oder doch sensationell berüchtigten Gefangenen drängten. Göring saß – recht unbequem, aber doch dekorativ, auf einem kleinen, harten Stuhl im Schatten einer Linde. (Oder war es ein Kastanienbaum?) Die taubengraue Uniform, in der er sich präsentierte, übrigens ohne Orden und Epauletten, war sicher eine seiner unscheinbarsten, aber doch sehr hübsch. Enttäuschenderweise fand ich ihn viel weniger unförmig als erwartet, ein knapp mittelgroßer Mann mit Bauch und Doppelkinn, aber ganz ohne monströse Züge. Man kann nicht einmal sagen, daß er besonders unsympathisch wirkt, eher im Gegenteil. Eine gewisse Brutalität ist seiner Miene freilich anzumerken; auch hat der Blick oft ein recht böses Glitzern. Aber die Stimme klingt beinahe angenehm, markig und hell, wenngleich ein wenig fett, und das Gesicht erscheint nicht schlecht geschnitten. Die Gesamterscheinung läßt an den Typ des Condottiere denken, dem es bei aller Grausamkeit doch nicht ganz an Bonhommie gebricht.
Übrigens war es Göring sichtlich darum zu tun, einen guten Eindruck zu machen. Hofft er auf Vergebung? Rechnet er mit der Langmut und Ignoranz der Sieger? Absurde Illusion! Und doch vielleicht nicht so durchaus absurd, wenn man bedenkt, mit welch unpassender Höflichkeit der alte Halunke von unseren militärischen Würdenträgern zunächst behandelt worden ist. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung hat man sich freilich eines Besseren besonnen. Der Göring, den die Journalisten zu Augsburg hechelten, war kein Selbstgewisser, kein Verwöhnter mehr. Aber wenn er seine Arroganz zu cachieren wußte, auch nach Zerknirschung sah er wenig aus. Vielmehr glich er einem großen Herrn, der Pech gehabt hat und nun versucht, sich mit Charme und Schlauheit irgendwie aus der Affäre zu ziehen.
Dem großen Herrn war etwas unbehaglich; sein Lachen klang forciert, auch fiel auf, daß er das Schnupftuch oft zur Stirne führte. Er schwitzte, obwohl er doch im Schatten saß. Schwitzend bat er den Interpreten, uns darauf hinzuweisen, daß er – der Reichsmarschall – mit dem Führer schon seit geraumer Weile total verkracht gewesen sei. »Völlig auseinander!« betonte er mit erhobenem Zeigefinger. »Ich bitte, dies zu unterstreichen! Es ist wichtig!« – Während die Botschaft auf englisch und französisch ausgerichtet wurde, beobachtete der Reichsmarschall besorgten Blickes unsere Reaktion.
Die Konzentrationslager? Er hatte nie geahnt, was dort vor sich ging. Alles Himmlers Schuld! »Wären solche Abscheulichkeiten mir bekannt gewesen, ich hätte protestiert, hätte durchgegriffen!« Wobei er sich nervös die Stirne tupfte.
Der Reichstagsbrand? Hier wurde er fast schelmisch. »Ich hatte nichts damit zu tun!« Dazu ein Grinsen – »spitzbübisch«, sozusagen.
»Ist Hitler tot?«
Ich war es, der diese Frage an ihn richtete, auf deutsch natürlich, was ihn etwas zusammenfahren ließ. Indessen kam die Antwort mit größter Promptheit und besonderem Nachdruck: »Ja! Hitler ist tot. Unbedingt! Kein Zweifel!«
Dies also war das Göring-Interview im Frühlingsgarten. Kurios, nicht wahr? Wenn ich nichts Drolliges zu berichten hätte, der Umfang dieser Epistel wäre ja in der Tat durchaus unverzeihlich.
Eines anderen Gespräches von erstaunlicher Drolligkeit möchte ich schließlich noch Erwähnung tun. Gestern war ich bei Richard Strauß in Garmisch, mit Curt Rieß zusammen, der hier als ein »US Correspondent« tätig ist. Wir ließen uns als zwei amerikanische Reporter melden; der Meister empfing uns mit großer Herzlichkeit, ohne mich zu erkennen natürlich, und ohne daß ich ihm irgendwelche Aufschlüsse über meine Identität gegeben hätte. Auch diese Unterhaltung fand vor einer Villa im blühenden Garten statt, freilich in sehr viel intimerer Form als die Entrevue mit dem Reichsmarschall. Bei Strauß gab es kein militärisches Zeremoniell, keinen Massenandrang internationaler Berichterstatter; vielmehr waren Curt und ich die einzigen, oder doch die ersten journalistischen Besucher, nicht nur an diesem Tage, sondern überhaupt, seit dem Ende des Krieges. Sonderbarerweise war noch nicht einer von unseren sonst so findigen Kollegen auf die Idee verfallen, den Komponisten der »Salomé« und des »Rosenkavalier« zu interviewen. Um so größer seine Mitteilsamkeit, die durch keinerlei Scham oder Takt gehemmt erscheint.
Scham und Takt sind seine Sache nicht. Die Naivität, mit der er sich zu einem völlig ruchlosen, völlig amoralischen Egoismus bekennt, könnte entwaffnend, fast erheiternd sein, wenn sie nicht als Symptom sittlich-geistigen Tiefstandes so erschreckend wäre. Erschreckend ist das Wort. Ein Künstler von solcher Sensivität – und dabei stumpf wie der Letzte, wenn es um Fragen der Gesinnung, des Gewissens geht! Ein Talent von solcher Originalität und Kraft, ein Genie beinah – und weiß nicht, wozu seine Gaben ihn verpflichten! Ein großer Mann – so völlig ohne Größe! Ich kann nicht umhin, dies Phänomen erschreckend und auch ein wenig degoutant zu finden.
Sein hohes Alter ist keine Entschuldigung, kaum ein mildernder Umstand. Zwar erklärte er uns, daß er keine »künstlerischen Pläne« mehr habe. (»Fünfzehn Opern, dazu die Lieder, die symphonischen Stücke und andere Kleinigkeiten: es genügt: Mein Oeuvre ist abgeschlossen.«) Aber für einen Mann von einundachtzig ist er in ungewöhnlich guter Form; die rosige Miene hat nichts Greisenhaftes, ebensowenig wie der sichere Gang und die süddeutsch weiche, sanft-sonore Stimme.
Mit sanft-sonorer Stimme teilte er uns mit, daß die Nazi-Diktatur auch für ihn in mancher Beziehung lästig gewesen sei. Da war zum Beispiel, kürzlich erst, der höchst ärgerliche Zwischenfall mit den Ausgebombten, die in seinem – des Meisters – Haus einquartiert werden sollten. Ihm schwoll die Zornesader, wenn er nur daran dachte. »Man stelle sich das vor!« rief er, sehr aufgebracht. »Fremde – hier, in meinem Heim!« Mit einer Hand, die etwas zitterte, nicht von Altersschwäche, sondern vor Wut, wies er auf das Haus: ein ländlich-eleganter Bau von stattlichen Dimensionen.
»Beruhige dich doch, Papa!« Des Meisters Schwiegertochter, die mit uns im Garten saß, redete dem cholerischen Alten zärtlich-vernünftig zu. »Es war eine scheußliche Idee, ein Affront, äußerst ungehörig; aber Gott sei Dank ist es doch bei der Idee geblieben. Man hat dir keine Ausgebombten zugemutet, nicht wahr, Papa?«
»Gewiß! Weil der Krieg zu Ende ging!« Der Alte grollte immer noch, nur halb besänftigt. »Aber was wäre sonst passiert? Mein Appell an Hitler hatte keine Wirkung. Er bestand darauf, daß auch ich Opfer bringen müsse. Einquartierung! Eine Unverschämtheit!«
Und sonst gab es nichts, was er Hitler übelnahm?
Doch, noch das und dies, noch mancherlei! Der musikalische Geschmack des Führers war, nach Straußens Ansicht, denn doch etwas einseitig und speziell gewesen. Richard Wagner in allen Ehren, aber schließlich waren auch noch andere da. »Meine letzte Oper, ›Die Liebe der Danaë‹, ist einfach ignoriert worden«, stellte der Komponist beleidigt fest. »Und Sie wissen ja, was für Schwierigkeiten ich wegen des Librettos von Stefan Zweig hatte. Dabei ist ›Die schweigsame Frau‹ wirklich ein sehr geschickt gemachter Text – und übrigens konnte ich ja 1933 nicht ahnen, daß die Rassengesetze kommen würden.«
Ob er jemals daran gedacht habe, Nazi-Deutschland zu verlassen?
Meine Frage überraschte ihn; er musterte mich unter hochgezogenen Augenbrauen. Warum hätte er wohl Deutschland verlassen sollen? »Ich habe doch meine Einkünfte hier, ziemlich große sogar.« Die Schwiegertochter, eine nicht sehr »arisch« wirkende Dame, nickte eifrig, während der rosige Alte nicht ohne Stolz konstatierte: »Schließlich gibt es bei uns mindestens achtzig Opernhäuser.«
»Es gab!« Ich konnte diesen Einwand nicht unterdrücken. »Sie wollen wohl sagen, daß es in Deutschland einmal achtzig Opernhäuser gegeben hat.«
Er verstand mich nicht. Vollauf beschäftigt mit seinen eigenen Affären, hatte er wohl noch keine Zeit gehabt, eine Bagatelle wie die Zerstörung deutscher Städte (und deutscher Opernhäuser) auch nur zur Kenntnis zu nehmen.
»Mindestens achtzig«, insistierte er streng, um dann mit leicht besorgtem Kopf schütteln fortzufahren: »Natürlich, wenn die Lebensmittelversorgung hier noch schlechter werden sollte, würde ich vielleicht doch noch auswandern müssen, in die Schweiz etwa. Aber bis jetzt hat man sich ja immer noch irgendwie durchgewurschtelt.«
Ja, so einer »wurschtelt« sich durch, ganz gleich, unter welchem Regime. Haben die Nazis einen sinnlosen und mörderischen Krieg verschuldet? Sind Millionen Unschuldiger in Gaskammern zugrundegegangen? Liegt Deutschland in Schutt und Asche? Was kümmert es Richard Strauß?!
Richard Strauß sagt: »Auswandern? Ja, wenn das Essen schlecht wird! Im Dritten Reich gab es sehr gut zu essen, besonders wenn man Tantiemen aus mindestens achtzig Opernhäusern scheffelte. Von ein paar dummen Zwischenfällen abgesehen, hatte ich nicht zu klagen.«
Manche der Nazi-Häuptlinge – sagt Richard Strauß – waren famose Menschen: Hans Frank, zum Beispiel, der Fronherr des Polenlandes (»Sehr fein! Sehr kultiviert! Er schätzt meine Opern!«) und Baldur von Schirach, der über die »Ostmark« (sonst Österreich genannt) zu gebieten hatte. Dank seiner Protektion genoß die Familie Strauß in Wien eine Vorzugsstellung – und dies, obwohl der Sohn des Komponisten eine rassisch nicht einwandfreie Gattin hat! »Ich darf wohl behaupten, daß meine Schwiegertochter die einzige freie Jüdin in Großdeutschland war.«
»Frei? Nicht doch, Papa! Oder doch nicht so ganz!« Es war Frau Strauß »junior«, geborene Grab, die kokett-wehleidig protestierte. »Meine Freiheit ließ zu wünschen übrig. Du vergißt, was ich auszustehen hatte. Durfte ich etwa jagen gehen? Nein! Sogar das Reiten war mir zeitweise verboten …«
Ich schwöre es, dies waren ihre Worte! Die Nürnberger Gesetze sind gewesen; Auschwitz ist gewesen; eine Massaker ohne Beispiel hat stattgehabt; das infamste Regierungssystem der Weltgeschichte hat die Juden zum Freiwild degradiert. All dies ist bekannt. Und die Schwiegertochter des Komponisten Richard Strauß beklagt sich, weil sie nicht jagen durfte. Zeitweise war ihr sogar das Reiten untersagt …
Ich fand es an der Zeit, das empörende Gespräch zu beenden.
»Sie gehen schon?« Der Meister und die geborene Grab hätten uns gern zum Essen dabehalten. Ich lehnte ab. Curt erklärte, gleichfalls eine Verabredung in der Stadt zu haben, konnte aber doch nicht umhin, Herrn Strauß um eine signierte Photographie zu bitten. »Gewiß doch! Mit Vergnügen!« Der Alte strahlte. Und zu mir gewendet: »«Wünschen auch Sie ein Bild?«
»Danke. Ich sammle nicht.«
Meine Antwort muß ziemlich eisig geklungen haben. Die weißen Augenbrauen stiegen höher denn je, mehr verblüfft als gekränkt. Dann kam ein Achselzucken, ein überlegenes Lächeln. Diese Amerikaner! Man weiß ja, wie ungebildet und vulgär sie sind. Ein Autogramm des Meisters zu verschmähen! So ein blöder »Yank« kennt eben nichts als Boxer und »movie stars« …
... Und nun wirklich Schluß! Ich adressiere diesen unförmig angeschwollenen Brief nach New York, wo Ihr ja – laut Mieleins letztem Bericht – den Geburtstag feiert. Du wirst die Güte haben, Frau Mutter und Frau Schwester von mir zu umarmen; natürlich sind die hier aufnotierten Schnurren für diese beiden Lieben mitbestimmt. Ob Bruno und Liesl mit Euch sind? Die alten Freunde sollten nicht fehlen, bei so hoch-solenner Gelegenheit. Sind sie aber in California geblieben, so telephoniert Ihr gewiß mit ihnen. Richte bitte meine Grüße aus! Übrigens habe ich vor, auch ihnen bald einen ausführlichen »Deutschland-Report« zukommen zu lassen. Wobei mir einfällt, daß mein nächster Brief wahrscheinlich gar nicht aus Deutschland sein wird, sondern aus der Tschechoslowakei. Ich fahre morgen nach Prag, nur eine kleine Spritztour.
An Mrs. Liesl Frank, Beverly Hills (Calif.)
Paris, den 30. VI. 1945
Du hast mein Kabel bekommen. So kann ich nur wiederholen, was ich neulich, im ersten Schrecken und im ersten Schmerz, schon zu sagen versuchte: daß Brunos Tod mir einen bitteren Verlust bedeutet. Ich habe ihn sehr gern gehabt, das weißt Du. Er wird mir fehlen, uns allen wird er fehlen, wir sind alle ärmer geworden. Diese warme, reiche Menschlichkeit, diese intellektuelle honnêteté, diese Treue, diese Generosität, dies urbane Lächeln bei solchem Wissen um die dunkelsten und schwersten Dinge – wo finden wir es wieder? Dergleichen wird immer seltener. Die schönen Eigenschaften, die sich in Brunos prekär-komplexer und doch so liebenswürdig balancierter Natur begegneten, sie scheinen einem gröberen Geschlecht, das nun heranwächst, kaum noch dem Namen nach bekannt zu sein …
Gerade die Vornehmsten und Besten scheinen jetzt geneigt, sich von uns zurückzuziehen – oder werden sie abberufen von einer Instanz, die uns nicht wohlgesinnt sein kann?
Ich weiß, für Dich gibt es jetzt keinen »Trost«. Hat nicht aber doch – selbst und gerade für Dich – der Gedanke etwas Versöhnendes, daß seine letzte Stunde frei von Qualen war? Im Schlaf zu sterben, mit entspannten Zügen, ohne Kampf und Krampf, so paßte es sich wohl für diese gesittete, vom Glück trotz allem begünstigte Individualität. Daß Leid vorausgegangen war und mit zivilisierter Tapferkeit ertragen wurde – wir wissen es oder vermögen es doch zu ahnen. Doch die heiter entspannte Miene am Schluß bleibt charakteristisch.
Bitte empfiehl mich Deiner lieben Mutter Fritzi. Und nimm die ganze fühlende und mitfühlende Freundschaft
Deines
An Miß Eva Herrmann, Santa Monica (Calif.)
Paris, den 1. VII. 1945
Ich weiß nicht genau, wie nahe Bruno Frank Dir gestanden hat und ob Du ihn in diesen letzten Wochen oder gar Tagen noch gesehen. Wenn Du kannst, so schreib ein Wort. Die Meinen sind im Osten; ich erfuhr nur das Dürftigste und mag die arme Liesl nicht mit Fragen quälen. Wer hat an seinem Grabe gesprochen? Plant Ihr eine Trauerfeier? Kann ich von hier aus irgend helfen, ein paar Seiten schicken, die man verläse?
Unsere Freunde gehen, einer nach dem anderen, und es ist des Abschiednehmens kein Ende.
Annemarie, zum Beispiel, das liebe »Schweizerkind« … Du weißt ja, daß auch sie sich zurückgezogen hat: leider nicht ohne Krampf und Qual. Es war ein Radunfall, wie man mir jetzt berichtet. Ja, ein ordinäres Fahrrad ging mit ihr durch wie ein wildes Pferd. Im Engadin gibt es sehr steile Straßen mit vielen Kurven – so geschah es denn. Das ungebärdige Vehikel schleuderte unser Schweizerkind gegen einen Schweizerbaum, daran ihr Kopf – ihr schöner, lieber Kopf: »son beau visage d'ange inconsolable« – gräßlich zu Schaden kam. Sie war nicht gleich tot, sondern lebte noch wochenlang in reduziertem Zustand. Makaber-ausgefallenes Martyrium, verhängt von schaurig unergründlicher Instanz! Als ob es auf den Schlachtfeldern, in den Vernichtungslagern und Folterkellern nicht genug der grausam langwierigen Agonie gegeben hätte!
Beinah jeder Tag, den ich in diesem geschundenen und zerrissenen Nachkriegs-Europa verbringe, überrascht mich mit einer neuen Schreckensnachricht. Oder ist das Schreckliche so an der Tagesordnung, daß man es nicht mehr überraschend nennen darf? Aus Amsterdam etwa erfahre ich, daß mein Freund Walter Landauer, der Verleger, dort den Deutschen in die Hände gefallen und zu Tode gequält worden ist. Auch er hat zu den Guten und Vornehmen gehört. Und so verarmen wir und werden immer ärmer.
Vornehm und gut auf seine verschmitzte Art war auch der Holländer Emanuel Querido, ein dynamischer alter Knabe mit blitzblauen Kapitänsaugen und breitem Grinsen. Den haben sie, samt der Gattin, nach Polen deportiert. Das greise Paar – beide schon über Siebzig – ist dort zugrunde gegangen: fragen wir nicht, wie …
Einem Mädchen, mit dem ich in der Odenwaldschule befreundet war, haben sie den Kopf abgeschlagen. Oda Schottmüller hieß sie, eine Malerin und Zeichnerin von barock eigenwilliger Phantasie. Vom »rassischen« Standpunkt war sie einwandfrei, aber sonst verdächtig. Sie haßte das Regime und bekämpfte es, in Deutschland selbst; auch das ist vorgekommen. Deswegen schlug man ihr den Kopf ab – mit dem Beil. Meine Freundin Oda ist von den Nationalsozialisten enthauptet worden.
Gleichfalls hingerichtet: meine Freundin Christa Hatvany-Winsloe (Du kanntest sie doch auch?); diese von der französischen »résistance«. In ihrem Riviera-Haus sollen deutsche Offiziere versteckt gewesen sein. So wurde ihr denn der Prozeß gemacht, ein sehr kurzer Prozeß, der mit standrechtlicher Erschießung endete. War dies ungerecht? Vielleicht; denn für die Nazis hatte unsere Christa gewiß nichts übrig. Aber sie war wohl gar zu großzügig und unbedenklich, gar zu tolerant, tolerant bis zur Schlampigkeit. Wenn man nichts für die Nazis übrig hat, tut man gut daran, den Umgang mit Nazi-Offizieren zu meiden, besonders in einem noch besetzten, fast schon befreiten Land. Die Unterdrückten verstehen keinen Spaß, wenn ihre Stunde kommt. Trotzdem tut es mir leid um unsere Christa, braves altes Stück. Es tut mir ganz entschieden leid um sie.
Noch schlimmer als die übertrieben zahlreichen Todesnachrichten sind die Begegnungen mit gewissen Überlebenden, die eigentlich nicht mehr ganz am Leben sind. Wer aus der Hölle kommt, der trägt ein Mal. Wer das Mal trägt, der nimmt sich gespenstisch aus in unserer Mitte.
Erinnerst Du Dich an Tante Mimi, Onkel Heinrichs geschiedene Frau? Eine Pragerin – Du weißt schon noch, so eine Dicke, Bunte, Muntere. Nun, ich habe sie wiedergesehen, vor vierzehn Tagen etwa, in einer böhmischen Ortschaft namens Theresienstadt. Dort hatte Tante Mimi zeitweilig logiert, mehrere Jahre lang; nicht ganz aus freien Stücken übrigens. Die böhmische Ortschaft namens Theresienstadt war ein Konzentrationslager, und Tante Mimi ist Jüdin. Zu ihrem Glück (das Wort klingt paradox und zynisch, in solchem Zusammenhang!) hatte sie ein »halb-arisches« Töchterlein aufzuweisen, Kind des politisch suspekten, aber nicht-jüdischen Heinrich Mann, weshalb Auschwitz und die Gaskammer ihr erspart geblieben sind. Theresienstadt galt als »Vorzugslager«.
Ich habe es mir also angeschaut, dies vergleichsweise privilegierte Ghetto. Es ist die Hölle. Der heuchlerische Anstrich von »Ordnung« und »Korrektheit« (keine Galgen! – oder doch nicht sichtbar …) macht das Inferno erst recht mesquin, erst recht infernalisch.
Ich habe mir die Tante Mimi angeschaut. Wie sieht sie aus, nach fünf Jahren »Vorzugslager«? Nicht mehr dick und bunt, auch nicht mehr munter! Ein Schatten ihrer selbst ist Tante Mimi, vom Fleisch gefallen, halb gelähmt, gebückt, verhutzelt, eingeschnurrt, mit dünnem weißem Haar, zittrigen Krallenfingern, die fahle Miene grimassenhaft verzerrt mit schiefem Mund und starrem Leidensblick.
Eine Gerettete? Nein, ein Gespenst. Sie trägt das Zeichen.
Indessen sind mir auch Menschen vorgekommen, Charaktere von besonderer Vitalität und Zähigkeit, die das Furchtbare in guter Form überstanden haben. In der Tschechoslowakei, auch in Deutschland und Österreich sitzen viele frühere Häftlinge jetzt in hohen Ämtern; manche, wie der Regierungspräsident von Thüringen, Hermann Louis Brill, mit dem ich in Weimar eine ausführliche Unterhaltung hatte, sind sieben, acht, ja zehn Jahre lang durch die Schrecken von Dachau, Buchenwald, Oranienburg gegangen.
Das Phänomen einer solchen Widerstandskraft wirkt am erstaunlichsten, wenn wir ihm bei einem sehr nahen Freund begegnen, bei einem Menschen also, den wir nicht nur mit seinem imposanten und attraktiven Zügen, sondern auch mit seinen Schwächen kennen.
Gestern traf ich hier meine sehr liebe, sehr alte Freundin Mopsa Sternheim. Woher kam sie? Aus Ravensbrück, dem Frauenlager. Achtzehn Monate lang ist sie dort gewesen, nach fürchterlichen Tagen im Folterkeller der Pariser Gestapo. Sie hatte es mit der französischen »résistance« gehalten, weshalb ihr von den Deutschen sämtliche Zähne ausgeschlagen wurden. Aber lachen kann sie immer noch – oder schon wieder –: vorläufig ohne Zähne. So stark ist sie! Und hat doch ihre Schwächen, die ich kenne. Ihre Kräfte aber hatte ich wohl nicht ganz richtig eingeschätzt. Achtzehn Monate im Höllischen! Wem würde da das Lachen nicht vergehen? Mir ist's schon fast vergangen, obwohl ich nie in Ravensbrück gewesen …
Dabei ist es keineswegs nur Arges, was ich so mitmache. Laß Dir etwa erzählen, wie festlich-aufgeregt es zuging im befreiten Prag und von meinem Gespräch mit Benesch. Am 19. Mai war ich bei ihm, mit einem Kollegen von den Pariser »Stars und Stripes«, zwei Tage nach seiner triumphalen Heimkehr. Wie rührend, ihm wiederzubegegnen, ebenso wohlerhalten und unverändert wie sein schönes Arbeitszimmer im Hradschin, wo ich ihn vor acht Jahren zuletzt gesehen. Seither ist ihm manches widerfahren; erst Bitteres, zuletzt auch Schönes. Nach der Verbannung und dem langen Kampf empfängt er nun die Huldigung, den tief-bewegten, tief-bewegenden Dank seines freien und stolzen Volkes. Nicht einmal der Gründer der Republik, Thomas G. Masaryk, ist, wie man mir versichert, mit solchem Überschwang empfangen worden.
Kein Wunder, daß Benesch strahlt. Sein Optimismus hat recht behalten – bis auf weiteres … Mit charakteristischer, innig-gefühlter Zuversicht sprach er uns von der »Einigkeit« der tschechoslowakischen Nation. »Und die Slowaken, sind die auch loyal?« Meine Frage berührte ihn wohl nicht ganz angenehm; indessen gab er mir nach kurzem Zögern zu, daß in der Slowakei »gewisse Widerstände« festzustellen seien. »Das wird sich geben!« Er lächelte schon wieder. »Wir brauchen Zeit. Erst muß das Land sich wirtschaftlich erholen …«
Damit ging er zu ökonomischen Problemen über, wobei auch der geplanten Sozialisierung der Schwerindustrie ausführlich gedacht wurde: »eine teilweise Sozialisierung!« wie der Präsident betonte. »Nichts soll übereilt werden. Die notwendigen Maßnahmen sind allmählich, mit Behutsamkeit und Vorsicht durchzuführen. Der eindeutig und unbedingt demokratische Charakter unseres Staatswesens bleibt jedenfalls erhalten.«
Demokratie – er spricht das Wort nicht aus, ohne dabei feierlich zu werden. »Jedermann in diesem Lande weiß«, erklärte Benesch, »daß die Demokratie Basis und Voraussetzung unserer nationalen Unabhängigkeit, unserer nationalen Würde, ja unserer nationalen Existenz ist und bleiben muß!«
Auch vom Verhältnis der Tschechoslowakei zur Sowjetunion war die Rede; der Präsident äußerte sich mit Respekt und Wärme über seinen »großen Freund Stalin«, pries die Leistungen der Roten Armee und lobte mit besonderem Nachdruck die »unbedingte Korrektheit« der russischen Militär- und Zivilbehörden. »Der Kreml hält, was er verspricht« Benesch kam mehrere Male auf diesen Punkt zurück. »Ich bitte zu beachten«, sagte er, »daß die Sowjets in ihrer Beziehung zur Tschechoslowakei bisher von außerordentlicher Zuverlässigkeit gewesen sind: jede Vereinbarung ist aufs gewissenhafteste respektiert worden. Ich habe keinen Grund, am guten Willen meiner russischen Freunde zu zweifeln.«
Von entscheidender, primärer Wichtigkeit sei das Weiterbestehen und die Konsolidierung der angelsächsisch-russischen Allianz. Diese Bemerkung, von Benesch mit großem Ernst vorgebracht, bildete den Abschluß unserer langen Unterhaltung. »Davon hängt alles ab – für unser Land, für unseren Kontinent, für die Menschheit. Ohne die Zusammenarbeit zwischen Ost und West gibt es keinen Frieden, nicht für die Tschechoslowakei, nicht für die Welt. Davon hängt alles ab!« Er wiederholte es, mit warnend erhobenem Zeigefinger.
Warum ich so viel erzähle? Vielleicht, weil derjenigen, die zuhören, immer weniger werden.
Was Deutschland angeht, so interessieren Dich vermutlich vor allem die Überlebenden unter den alten Bekannten. Gerade von ihnen jedoch halte ich mich im ganzen fern. Um so willkommener muß mir – schon aus journalistischen Gründen – der Kontakt mit möglichst vielen Fremden sein. Die Gesichter und Stimmen wechseln; die Worte aber scheinen stets dieselben. Alle Deutschen bestehen darauf, »nichts gewußt« zu haben (was sich auf die Gaskammern bezieht); alle sagen, daß sie »von Anfang an dagegen« waren, gegen Hitler nämlich. Und wenn er nun den Krieg gewonnen hätte? Aber lassen wir diese Fragen. Da er doch nun einmal verloren hat, »verspielt«, wie man hier sagt, will niemand sein Freund gewesen sein. Dies muß nicht so bleiben: schon in ein paar Jahren vielleicht ist Hitlers Name wieder hochgeehrt. Auch halte ich für gar nicht ausgeschlossen, daß es selbst heute Deutsche gibt, die ihrem Führer im stillen Kämmerlein die Treue halten oder ihn sogar im vertrauten Kreise rühmen. Öffentlich aber hält man sich noch zurück, besonders in amerikanischer Gesellschaft …
Nazis, so stellt sich jetzt heraus, hat es in Deutschland nie gegeben; selbst Hermann Göring war im Grunde keiner. Lauter »Innere Emigration«! Plötzlich entdecken alle ihre demokratische Vergangenheit und, wenn irgend möglich, ihre »nicht-arische« Großmama. Jüdische Ahnen sind enorm gefragt. Die feinsten Leute – Emil Jannings zum Beispiel – haben sich über Nacht ein wenig semitisches Blut zugelegt.
Jannings übrigens gehört zu den sehr wenigen alten Bekannten, denen ich bisher meine Aufwartung gemacht, nicht aus purer Freundschaft wohlgemerkt, sondern aus beruflichem Interesse. Von Salzburg aus fuhr ich eines Tages zum Wolfgang-See, wo ich in seinem schönen, reichen Haus alles wie früher fand: Chow-Hund und Papagei, Frau Gussy, Fräulein Ruth und Emil selber, dick und jovial, ein Biedermann mit falschen, kleinen Augen und schweren, hängenden, dabei beweglichen und expressiven Zügen. – »Ich – ein Nazi?« Die Idee schien ihm belustigend, aber zugleich empörend. »Ha ha, mein Junge! Da kennst du aber deinen Emil nicht!« Woraufhin er ernst, fast innig wurde. »Nun laß dir mal erzählen …« Den Arm auf meiner Schulter, die großflächige und ausdrucksstarke Mimen-Physiognomie sehr nah an mich herangerückt ließ er mich seine tragische Geschichte wissen. Ein Verfolgter war er gewesen! Ein Märtyrer – Goebbels hatte ihn gehaßt – vor allem wegen der schlechtrassigen Großmama, aber auch, weil unser Emil die demokratischen Ideale nicht verleugnen wollte. »Du weißt ja, wie ich bin!« Sein Gesicht, gar zu nah dem meinen, war von einer Redlichkeit, wie man sie höchstens bei sehr alten Hunden findet. »Ich kann den Mund nicht halten.« Jetzt auch noch feuchte Augen! Offenbar, er hatte nichts verlernt, war schauspielerisch in großer Form geblieben. Man sähe gerne seine neuen Filme, den »Ohm Krüger« etwa …
Ohm Krüger? Er wehrte ab, wollte nichts davon hören. »Ein schlechter Film!« rief er aus, wobei er täppisch-brav durchs Zimmer stapfte. »Ein Scheißfilm!« rief er markig. »So ein Nazi-Dreck! Hätte ich mich doch nie drauf eingelassen! Aber was sollt ich tun? Ich bin gezwungen worden! Nicht, als ob meine eigene Freiheit, mein eigenes Leben mir so wichtig wären! Aber man ist Familienvater, hat Weib und Kind … Sollte ich meine Auguste darben lassen?« (In dramatisch bewegten oder rührseligen Augenblicken wird aus der mondänen Gussy eine matronenhaft schlichte, gleichsam altdeutsch-holzgeschnitzte »Auguste«.) »Und mein Kind hier, meine kleine Ruth?« Seine Gebärde und der nasse Blick schienen einem sehr jungen, höchst gebrechlichen Geschöpf zu gelten, während Fräulein Ruth doch eher stämmig und übrigens schon an die Vierzig ist. »Was wäre aus ihr geworden?«
So hatte er also, Weib und Kind zuliebe, die Hauptrolle im Nazi-Film akzeptiert, mitsamt der fetten Gage. Aber ein Nazi? Nein! »Von Anfang an dagegen …«
Unter den vielen Menschen, mit denen ich mich in Deutschland unterhalten habe, gab es nur einen, der den Mut oder die immerhin eindrucksvolle Frechheit hatte, für Hitler einzutreten. Diese originelle Persönlichkeit war eine Frau, und übrigens keine Deutsche. Winifred Wagner, geborene Williams, Adoptivtochter des Musikers Klingworth, ist englischer Herkunft. Ich besuchte die Dame in ihrem Landhaus bei Bayreuth. Wir sprachen über Hitler. »Ob wir befreundet waren? Aber gewiß doch! Certainly! And how!« Sie schien auch noch stolz darauf! Hocherhobenen Hauptes, üppig und blond saß sie mir gegenüber, eine Walküre von imposantem Format und imposanter Unverfrorenheit. »Er war reizend«, sagte sie aggressiv. »Von Politik verstehe ich nicht viel, aber von Männern eine ganze Menge. Hitler war charmant. Ein echter Österreicher, wissen Sie! Gemütvoll und gemütlich! Und sein Humor war einfach wundervoll …« Auch eine Charakterisierung!
War aber doch erfrischend, die Begegnung mit der unverschämt unverlogenen Schwiegertochter des deutschen Genius.
Genug und mehr als genug!
Sei sehr gegrüßt und – bitte, wo irgend möglich – beantworte mir meine Fragen.
An Miss Erika Mann, US War Correspondent, München (Germany, US Zone)
Rom, den 27. VII. 1945
So haben wir uns also verfehlt! Du bist nun, wo ich noch vor kurzem war, und ich bin wieder hier, ein emsiger »Staff-Writer« bei meinen lieben ( wirklich sehr lieben!) »Stars and Stripes«. Ich schreibe Artikel über die Japaner, die rätselhafterweise noch immer kämpfen; über den General Franco, den es rätselhafterweise noch immer gibt; auch über Deutschland, das mir noch immer in vieler Hinsicht rätselhaft erscheint. Gerade habe ich ein ziemlich langes Stück mit dem Titel Are all Germans Nazis? für unsere Sonntagsbeilage abgeschlossen. Meine Antwort: Nein, nicht alle Deutschen sind Nazis oder waren es. Das Regime hatte Feinde: sie sollten heute unsere Freunde sein. Sind sie es nicht, so liegt die Schuld bei uns. Dies darf ich schreiben, in einem militärisch-offiziellen Blatt! Ich darf schreiben: »German anti-Nazis – the real, reliable ones – could be very useful to us, if we only wanted to use them. But we don't. We just tell them that they have no right to demand anything. But can Nazism be eliminated in Germany, once and for all, without the help of the German Anti-Nazis?«
Und: »Die bittersten Klagen in unserer Besatzungszone kommen heute von jenen Deutschen, die früher zu liberalen oder linksgerichteten politischen Parteien gehört haben. Charakteristisch ist der Fall eines gewissen Dr. Brisch, einziger Sozialdemokrat im Kölner Stadtrat, der, laut Reuter-Meldung, kürzlich von seinem Amt als Personalchef zurücktrat, ›da alle seine Vorschläge, die Anstellung oder Entlassung von Beamten betreffend, von der katholischen Majorität sabotiert wurden‹. Zahlreiche ›linke‹ oder doch liberale Regierungsangestellte in Weimar, Frankfurt, München und anderen Städten haben erklärt, daß sie sich genötigt sehen werden, dem Beispiel ihres Kölner Kollegen zu folgen. ›Unsere Dienste scheinen überflüssig oder selbst unerwünscht‹, stellen diese Männer mit Erbitterung fest. ›Frühere Nazis bekommen die verantwortungsvollsten Posten im Stadtrat und in der Landesverwaltung; uns aber wird nicht einmal gestattet, die wahrhaft demokratischen Elemente der Bevölkerung politisch zu organisieren.‹ Freilich, wir sollten uns hüten, die Stärke und den Einfluß dieser ›wahrhaft demokratischen Elemente‹ im deutschen Volk zu überschätzen. Indessen empfiehlt es sich doch, eben diese Elemente – hat man ihre Zuverlässigkeit erst einmal festgestellt – auf jede Art zu ermutigen und sie zur Mitarbeit heranzuziehen. Ohne den guten Willen, ohne die Hilfe freiheitlich gesinnter Deutscher dürfte es schwierig, ja unmöglich sein, aus dem Trümmerfeld, das Deutschland heute ist, wieder ein zivilisiertes Land und endlich eine Demokratie zu machen.«
Damit schließt mein Artikel, der übrigens auch in anderen Passagen gewisse Maßnahmen und Tendenzen unseres »Military Government« in recht scharfer Form kritisiert. Daß ich dergleichen in den »Stars and Stripes« aussprechen darf, ist an sich erfreulich bis zum Überraschenden. Aber die Situation, mit der ich mich in meinem Aufsatz befasse, bleibt trotzdem unerfreulich oder doch konfus und problematisch. Was wollen wir in Deutschland? Oder – um die Frage präziser zu formulieren –: Wie wollen wir Deutschland? Ist überhaupt ein Programm da, nach dem das geschlagene, zerschlagene Reich wiederaufzubauen, physisch und moralisch zu erneuern wäre? Manchmal sieht es in der Tat so aus, als ob ein solcher Plan schlechthin nicht existierte. Welche Erklärung gäbe es wohl sonst für den widerspruchsvollen, launisch paradoxen Charakter unserer Politik? Kein Wunder, daß die Deutschen diese merkwürdige Unentschlossenheit oder Richtungslosigkeit der westlichen Alliierten auf ihre Art deuten und zu den erstaunlichsten Konklusionen kommen. Immer wieder bin ich in Deutschland gefragt worden, ob es denn wahr sei, daß die »Anglo-Amerikaner« demnächst der Sowjetunion den Krieg erklären würden, eine Entwicklung, die das ruinierte Herrenvolk mit düsterem Schmunzeln zu antizipieren scheint. Einige besonders Eingeweihte verrieten mir sogar, daß deutsche Kriegsgefangene in den Vereinigten Staaten schon jetzt zum »Kreuzzug« gegen Moskau trainiert werden. Jeder deutsche Landser – so wurde mir zugeflüstert –, der unter General Eisenhowers Führung nach Rußland zu marschieren wünsche, erwerbe sich damit das Recht auf »US citizenship« … Was Eisenhower zu solchen Phantasien sagen mag? Ich war dabei, als er sich am 10. Juni im I. G.-Farben-Gebäude zu Frankfurt vom Sowjet-Marschall Zhukow einen hohen Orden um den Hals hängen ließ. Auch Montgomery wurde von den Russen ausgezeichnet. Nachher gab es mehrere Tischreden, wobei Ambassador Murphy, oberster politischer Berater unserer Militärregierung, und Herr Wischinsky sich durch besondere Herzlichkeit, auch durch besonderen Witz hervortaten …
Laß mich Deine Eindrücke wissen! Man sollte sich sehen, es gibt so viel zu sprechen. Kommst Du nach Rom? Es ist reizend hier. Oder man trifft sich in Deutschland. Wohl möglich, daß ich von meinem Blatt noch einmal hingeschickt werde.
Der überwältigende »Labour«-Sieg in England macht doch Spaß! Das erste wirklich lustige Ereignis seit Hitlers Selbstmord. Und so wollen wir denn der Zukunft ebenso getrost ins Auge blicken, wie Freund Benesch es immer tut. Wünsche beste Nerven.
An Mrs. Thomas Mann, Pacific Palisades (Calif.)
Rom, den 17. VIII. 1945
So wäre also dieser Krieg vorbei. Vom nächsten ist viel die Rede, weshalb denn zu irgendwelchem Freudentaumel kaum ein Anlaß besteht. Vernunft und Güte sind nicht einflußreich genug, um weiteres Unheil hintanzuhalten. Ob die Angst vor der Atombombe erreichen wird, was guter Wille und Einsicht nie vermochten, die über-fällige Einigung und Befriedung des Planeten? Da wir nun die Macht haben, ihn mittels apokalyptischer »Kettenreaktionen« in die Luft – oder vielmehr in den luftleeren Raum – zu sprengen, werden wir vielleicht doch den common sense aufbringen, uns halbwegs brüderlich-manierlich auf ihm einzurichten …
Was meine eigene kleine Situation betrifft, so rechne ich damit, in einigen Wochen oder wenigen Monaten aus der Army entlassen zu werden. Bin nun lang genug Soldat gewesen, letzthin freilich ein Soldat in sehr bevorzugter, fast zivilistisch komfortabler Stellung. Bei den »Stars and Stripes« ist es mir in der Tat derartig gut gegangen, daß ich mich schämen müßte, hätte ich's nicht vorher zuweilen recht gefährlich und strapaziös gehabt. Aber auch die Strapazen und Gefahren möchte ich nicht versäumt haben; vom »Basic Training« im Staate Arkansas bis zu den riskanten Lautsprecher-Vorträgen an der apenninischen Front: es war alles sehr lohnend, manchmal sogar schön. Merkwürdig, nicht wahr? Ich bin doch gewiß keine militärische oder gar militaristische Natur, eher das Gegenteil: ein alter Individualist und Vagabund, nicht ohne exzentrisch-anarchistische Tendenzen. Und doch hat mir die Army nicht wehgetan; ich war gern dabei. Warum? Weil diese Army einer guten Sache diente – dem Kampfe gegen Hitler – und weil es eine gute Army ist.
Die US Army, die ich gekannt habe und zu der ich mit Stolz gehöre, ist eine gute Armee. Nicht vollkommen, nicht ohne Fehl – keineswegs! Aber doch wohl eine der liberalsten, intelligentesten Armeen, die es je gegeben hat, und die liberalste, intelligenteste, die es jetzt irgendwo gibt. Möge sie so bleiben!
Übrigens will ich versuchen, mich hier, in Italien, »demobilisieren« zu lassen, was manche Vorteile hätte. Erstens bliebe mir der umständliche und quälende Rücktransport erspart; auch in unserer relativ humanen Army ist eine Überseereise für den »enlisted man« keine Lustbarkeit … zweitens könnte ich mich als Zivilist noch etwas gründlicher im lieben alten Europa umschauen: ein längerer Aufenthalt in Paris wäre mir angenehm, auch Holland und die Schweiz würde ich gern besuchen. Ja, und Deutschland, ich will mehr von Deutschland sehen. Nicht, als ob es mich reizte, dort jahrelang zu verweilen; in amerikanischen Diensten etwa, wie viele meiner Freunde und Kriegskameraden dies jetzt tun. Als Privilegierter, als »Sieger«, mit amerikanischen Konserven und Zigaretten unter meinen früheren Landsleuten zu leben, die ihrerseits nicht viel zu essen haben – nein, ich stelle es mir doch peinlich vor! Aber da unsereiner von den deutschen Problemen oder vielmehr: von dem Problem »Deutschland« doch nicht loszukommen vermag, sollte man es an Ort und Stelle so genau wie möglich studieren.
Als mein »Hauptquartier« würde ich zunächst Rom beibehalten, auch wegen dieses Film-Projekts, das ich wohl schon gelegentlich erwähnt habe und um dessentwillen mir besonders daran gelegen ist, hier in Europa aus der Armee entlassen zu werden. Schon seit einiger Zeit ist ja davon die Rede, daß ich an dem Drehbuch der neuen Rosselini-Produktion, »Paisan«, mitarbeiten soll, und gerade gestern hat man mir nun einen Vertrag angeboten; nichts Großartiges nach Hollywood-Begriffen, aber für meine bescheidenen Ansprüche gut genug. Übrigens gibt man sich gern mit einem relativ geringen Honorar zufrieden, wenn es sich um ein Unternehmen von künstlerischem Reiz und Rang handelt. Roberto Rosselini ist ohne Frage ein Regisseur bedeutenden Formats. Ihr werdet seinen glänzenden Film »Rom, Offene Stadt« ja auch in den Staaten bald zu sehen bekommen. Nach diesem Wurf darf man sich von »Paisan« viel versprechen, zumal der Stoff sehr große Möglichkeiten hat. Es sind fünf oder sechs Episoden aus der italienischen Kampagne, von Sizilien bis zur Po-Ebene, die Rosselini zum dramatischen Organismus verbinden will, wobei in jeder Episode ein bestimmter Aspekt des menschlichen Verhältnisses zwischen »Befreiern« und »Befreiten«, zwischen amerikanischem Militär und der italienischen Zivilbevölkerung, aufzuzeigen und zu beleuchten ist. Daraus ließe sich etwas sehr Merkwürdiges, sehr Schönes machen, und ich hätte wohl Lust, bei einem solchen Experiment schriftstellerisch mitzutun.
Auch fände ich es irgendwie pikant und passend, wenn ich mich gerade hier zum erstenmal als Film-Autor versuchte, so weit weg von Hollywood, wo ich so oft und lang gewesen bin, ohne mich jemals um die »movies« zu kümmern. Man sollte sich aber durch die miserablen Hollywood-Filme nicht den Glauben an eine Kunstform nehmen lassen, die immer noch in einer frühen Entwicklungsphase und immer noch voll großer Versprechen ist.
Die Arbeit an »Paisan« könnte für mich eine wichtige Erfahrung sein. So bringt das Leben immer wieder etwas Neues heran, wodurch es uns, auf seine listige Art, zu verstärkter Lebensneugier, auch zur Hoffnung, anhält und verpflichtet.
An Hans Reiser, German Prisoner of War, Camp X, USA
Neapel, den 28. IX. 1945
Es war mir sehr lieb, endlich wieder von Ihnen zu hören und zu erfahren, daß Sie sich wohlbefinden. Sie rechnen also mit Ihrer baldigen Heimkehr? Auch dies ist erfreulich – trotz allem …
Ob ich mich Ihrer noch erinnere? Diese Frage, mit der Sie Ihren Brief an mich beginnen, kann wohl nur rhetorisch gemeint sein. Sie wissen, müssen wissen, daß unsere Begegnung sich mir eingeprägt hat und mir wichtig bleibt. Sie haben mir damals von Ihrem Haß und von Ihrer Hoffnung gesprochen. Von Ihrem Haß auf ein Regime, das um jene Zeit gerade noch an der Macht war; von Ihrer Hoffnung auf ein Volk, das sich nun neu bewähren soll. In Ihren Worten war ein Gefühl – so echt und stark – daß es sich, einem Funken gleich, übertragen konnte. Sie teilten mir etwas mit von dem Glauben, zu dem Sie sich bekannten.
Nein, ich habe Sie nicht vergessen, sondern bin in Gedanken viel bei Ihnen gewesen und habe mir vorzustellen versucht, was für eine Art von Leben Sie wohl führen mochten, als Kriegsgefangener in Amerika. Diese sehr lange Zeit im Lager hätte Ihnen eigentlich erspart bleiben sollen. Ich habe mich ja im Sommer 44, nach unserem Gespräch in Civitavecchia, sehr bemüht, Ihre Entlassung bei den Militärbehörden durchzusetzen und Sie für unsere Front-Propaganda, besonders für unsere deutsche Funkstation, zu reklamieren. Aber wer vermag etwas gegen die Schwerfälligkeit und Widerspenstigkeit eines großen bürokratischen Apparates? Meine Anstrengungen blieben ohne Erfolg.
Vielleicht war es besser so; denn nun schreiben Sie mir, daß Sie »mancherlei gelernt« haben in den letzten vierzehn Monaten. Sie sind gut behandelt worden. (Unsere Flugblätter haben also nicht zu viel versprochen!) Der Status eines »politisch zuverlässigen« Kriegsgefangenen wurde Ihnen zugebilligt und brachte Vorteile. Sie waren in einem »Vorzugslager«. Ich mag das Wort nicht, weil es auch im Nazi-Vokabular eine Rolle spielte; aber das Lager, von dem Sie mir erzählen, mag in der Tat einigermaßen vorzüglich gewesen sein. Es gab dort also Vorträge über das Wesen der Demokratie und Kurse in amerikanischer Geschichte? Gut so! Wichtiger noch waren vielleicht die direkten Kontakte mit amerikanischen Menschen, innerhalb des Lagers und draußen, bei der Arbeit in den Werkstätten und Bauernhöfen. Sie haben ein Stück amerikanischen Lebens gesehen, ein Stück demokratischen Lebens. Es überrascht mich nicht zu hören, daß Sie dabei manches lernen konnten.
Nun kehren Sie nach Deutschland zurück – aus dem freien Amerika, wo Sie allerdings ein Gefangener waren, in die amerikanische Besatzungszone, wo Sie wieder als freier Mann leben sollen: soweit eben Freiheit in einem besiegten und besetzten Lande möglich ist …
Es wird nicht leicht für Sie sein. Sie werden es zuweilen schwierig finden, die demokratischen Ideale, die Ihnen im »Vorzugslager« gepredigt worden sind, in der neu-deutschen Wirklichkeit wiederzuerkennen; ja, selbst Ihr Glaube an diese Ideale könnte erschüttert werden, angesichts einer so düster problematischen Wirklichkeit.
Wann sind Sie zuletzt in München gewesen? Sollten Sie es in seinem jetzigen Zustand noch nicht gesehen haben, so steht Ihnen wohl ein Schock bevor. Die Stadt liegt in Trümmern, unsere schöne Stadt! Leider aber sind es nicht nur Zerstörungen materieller Art, die dort schockieren. Schmerzlicher noch als der Anblick der verwüsteten Straßen ist das Schauspiel sittlichen und geistigen Verfalls. Sie werden mit Ihrem Enthusiasmus, Ihrer Zuversicht, mit Haß und Hoffnung recht allein sein. Nicht ganz allein – das nicht! Kameraden, Gleichgestimmte stellen sich immer ein, sei es auch nur in sehr geringer Zahl, und übrigens wirkt das starke, echte Gefühl ansteckend: es überträgt sich, ich habe es erfahren … Freilich zündet der Funke wohl nur dort, wo Bereitschaft ist und Empfänglichkeit. Daran fehlt es oft. Viele der Menschen, mit denen ich in Deutschland gesprochen habe, scheinen entweder völlig zynisch und opportunistisch, oder aber durchaus verzweifelt, von einer sterilen Verzagtheit, einem Nihilismus, der von konstruktiver Reue ebenso weit entfernt ist, wie die Wollust des Masochisten von der Ekstase des Märtyrers.
Aber Sie werden ja sehen. Die Korruption, das Elend und die Lüge, Bosheit und Heuchelei, das Selbst-Mitleid, das sich oft mit Härte gegen andere verbindet, Sie werden es mit eigenen Augen sehen und bitteren, bitteren Anstoß daran nehmen. Die horrende Dummheit – auch bei den Siegern, die sich zuweilen fast unverzeihlich grobe Schnitzer leisten – könnte entmutigen. Aber Ihr Mut ist jung und zuverlässig. Er besteht die Probe.
In Deutschland also habe ich an Sie gedacht, an Sie und Ihren Mut, der eine so harte Probe wird bestehen müssen. Ich war im Mai und Juni dort, als Berichterstatter der »Stars and Stripes«, und dann noch einmal, im September, ein paar Tage nur. Gleich nach meiner Ankunft in Berlin (noch wüster zugerichtet als München, noch konfuser und apokalyptischer) erreichte mich die Nachricht, daß ich mich am 28. IX. – das ist heute – hier in Neapel beim »Seventh Replacement Depot« zu melden hätte. Zu welchem Zweck? Um mich von der US Army zu verabschieden! Ich komme gerade von dieser Zeremonie – mit meinem »Honorable Discharge« in der Tasche: ein Zivilist, ein freier Bürger – wie auch Sie es bald wieder sein sollen …
Dies also ist für mich ein »großer Tag«, obwohl es in meinem Leben zunächst kaum drastische Veränderungen geben wird. Morgen fahre ich nach Rom zurück, um dort die schon begonnene Arbeit an einem Film-Manuskript fortzusetzen. Für den späteren Teil des Winters sind journalistische Reisen geplant, nicht mehr im Auftrag des Soldatenblattes, sondern unter den Auspizien einer New Yorker Revue: Es läuft auf dasselbe hinaus … (Nur, daß die zivilen Redakteure wahrscheinlich mäkliger und weniger tolerant sein werden als meine Freunde von den »Stars and Stripes«!)
Keine drastischen Veränderungen, sogar die Uniform muß ich bis auf weiteres anbehalten, mangels irgendwelcher Zivilgarderobe. Und trotzdem ist es ein großer Tag, ein Wendepunkt. Erst jetzt, erst heute spüre ich so recht, daß der Krieg zu Ende ist. Nun geht es weiter, nächste Episode! Fragt sich nur, in welcher Richtung es weitergeht. Dies hängt von uns ab; an jedem Wendepunkt hat man die Wahl. Wir können uns für die richtige Richtung entscheiden oder für die falsche. Die falsche wird immer falscher, immer gefährlicher. Von einem Wendepunkt zum nächsten wächst die Gefahr. Noch ein paar Schritte auf den Abgrund zu, und wir stürzen hinein, kopfüber. Dann hätten wir gewählt, ein für allemal. Der finale Wendepunkt wäre erreicht, das episodenreiche Drama abgeschlossen.
So weit sind wir noch nicht. Die Krise, deren universaler und permanenter Charakter immer deutlicher wird, die weltweite Dauerkrise also tritt in eine neue Phase ein. Nirgends steht geschrieben, daß der nun beginnende Abschnitt katastrophal verlaufen oder gar zur total-finalen Katastrophe führen müsse. Im Gegenteil, es ist eine ermutigende Konstellation, in deren Zeichen wir uns jetzt befinden. Das Bündnis zwischen Ost und West, zwischen Sozialismus und Demokratie, noch besteht es und könnte von Dauer sein. Aus der Waffenbrüderschaft, die den zwei großen Rivalen und Anatonisten – Russen und Angelsachsen – von Adolf Hitler aufgezwungen wurde, muß die Zusammenarbeit im Dienst des Friedens werden: und wir sind gerettet! Alle übrigen Probleme, auch das deutsche, wären relativ leicht zu lösen. Einigen sich die westlichen Alliierten mit der Sowjetunion, eine Weltordnung müßte zustandekommen oder würde sich fast von selbst ergeben, in deren Rahmen auch Deutschland, dies hochbegabte, gefährlich-gefährdete Sorgenkind Europas, seinen Platz und seine Würde hätte. Die aufrichtige Verständigung zwischen Ost und West ist die conditio sine qua non: ohne sie geht es nicht. Jeder Schritt, der diese Verständigung näher bringt oder sie konsolidiert, ist ein Schritt in der guten Richtung. Jeder Schritt, der uns von diesem Ziel entfernt, tendiert zum Abgrund.
Die Tendenz entscheidet. Am Wendepunkt bedarf es der Orientierung; ein klarer Kurs tut not. Was wollen wir, die geeinte Welt oder die zerstörte? Sollen in zehn Jahren alle Städte so aussehen, wie jetzt Berlin und München oder besteht die Absicht, Berlin und München wieder aufzubauen als friedliche Zentren eines endlich befriedeten Reiches? Die Absicht entscheidet, besonders die Absichten der Russen und Amerikaner; aber auch Deutschland zählt, wenngleich zunächst nur als passiver Faktor im großen Spiel.
Hofft Deutschland, daß es vom Zerwürfnis der Sieger profitieren könnte? So ist seine Absicht böse. Mag sein, daß eine zunächst ausgeschaltete, zur weltpolitischen Passivität verurteilte Nation auf absehbare Zeit kaum in der Lage ist, das Verhältnis zwischen den großen Mächten zu beeinflussen oder gar zu bestimmen. Aber die Tendenz, die Absicht, davon hängt alles ab! Gerade dem Besiegten – in materieller Sphäre ohne Macht und Responsibilität – geziemt ein gesteigertes moralisches Gefühl, eine besondere Sensitivität und Entschiedenheit in sittlich-geistigen Fragen. Gerade Deutschland, das sich am weitesten vorgewagt hat in der schlimmen Richtung, sollte nun das Beispiel der Umkehr und Einkehr geben. Dies tut es nicht, wenn es die etwa vorhandenen Gegensätze, den potentiellen Konflikt zwischen Moskau und Washington mit düsterem Schmunzeln beobachtet und hämisch schürt. Das Land der Mitte möge seine Funktion und »raison d'être« darin sehen, zu verbinden und zu versöhnen. Entschlösse Deutschland sich zu einer Haltung, die durchaus vom Moralischen her determiniert wäre – es hätte sich auch zu einer klugen Haltung entschlossen. Ein ethisch-räsonables Arrangement der Welt ist dem Besiegten günstig, er profitiert davon, nur davon, nicht vom Streit der Sieger, der ihn zur Schachfigur, zum Spielball, dann zum Landsknecht und schließlich gar zum Opfer degradiert. Sieht man dies ein? So verzichte man endlich auf einen »Machiavellismus«, der längst veraltet, längst untauglich und unpraktisch geworden ist! So lasse man die Schlauheit und die Heuchelei! War Goebbels nicht schlau genug? Und hat ihm doch nichts geholfen! Man versuche es zur Abwechslung mit Ehrlichkeit und Vernunft, mit gutem Willen! Es wäre schicklicher und obendrein gescheiter.
Die Veränderungen, die nach dem Wendepunkt kommen, mögen zunächst nicht sehr drastisch sein, werden es aber im Lauf der Zeit, immer drastischer, von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr: im Guten oder im Bösen. Ich prophezeie, daß wir um 1965 eine Welt haben werden, die sehr viel schlechter sein wird als die heutige – oder entschieden besser. Es gibt nur noch die universale Ordnung oder das universale Chaos, nichts dazwischen. Das Entweder-Oder, zu dem Kierkegaard uns auf religiöser Ebene verpflichtet – nun konfrontiert es uns auch in der politisch-sozialen Sphäre. Wir haben den Punkt erreicht, von dem aus nur noch ein Schritt möglich ist: zum allgemeinen Verderb oder zur allgemeinen Rettung. Jeder von uns ist mit-verantwortlich für die Wahl. Keine Neutralität im Zeichen des Entweder-Oder!
Deshalb schreibe ich diesen Brief an Sie – gerade heute: an einem Tage also, der in meinem Leben nicht ohne feierliche Bedeutung ist. Etwas liegt hinter mir, hinter uns, der Kampf gegen einen Tyrannen. Ich habe im Laufe dieses Kampfes mein Deutschtum aufgegeben und bin Amerikaner geworden, schließlich sogar amerikanischer Soldat. Sie haben Ihre angeborene Nationalität behalten und mußten also in der Armee des Verhaßten dienen, was Sie aber nicht hinderte, ihn weiter zu hassen und weiter zu bekämpfen. Am Ende ließen Sie sich freiwillig gefangennehmen, Ihre letzte Kampfhandlung gegen unseren gemeinsamen Feind.
All dies ist nun Vergangenheit. Mein Gedanke ist auf die Zukunft gerichtet, auf Ihre sowohl wie auf meine. Denn es ist die gleiche.
Der große F. D. Roosevelt hat einmal gesagt, die gegenwärtige Generation von Amerikanern sei zu einem Rendezvous with Destiny ausersehen. Aber das Schicksal bittet nicht mehr bestimmte Rassen oder Völker zum Stelldichein. Der Appell gilt sämtlichen Nationen. Sie, der Deutsche, sind ebenso dringlich aufgerufen wie irgendein Russe, irgendein Amerikaner. Dies Jahrhundert, welches nicht »das deutsche« geworden ist, soll auch nicht »das amerikanische« oder »das russische« werden. Es wird das Jahrhundert der beginnenden Welt-Zivilisation oder es wird das Jahrhundert der beginnenden Welt-Barbarei – wenn nicht gar schon der vollendeten. Der Zusammenbruch käme plötzlich und könnte kompletten, endgültigen Charakter haben. Die positive Entwicklung nimmt sich Zeit und bleibt unvollkommen.
Bewährt sich unsere Generation, so hätten wir noch lange nicht das Paradies auf Erden. Aber der historische Prozeß dürfte weitergehen, mit neuen Krisen, neuen Wendepunkten … Es ginge weiter, und das ist schon viel. Der Kampf, die Ungewißheit, die Angst, der Irrtum, alles würde fortgesetzt. Wir kämen nicht zur Ruhe. Ruhe gibt es nicht, bis zum Schluß.
Und dann? Auch am Schluß steht noch ein Fragezeichen.