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Achtes Kapitel.
Die Schrift an der Wand

1930–1932

»Das ist ein furchtbarer Verlust …«

Man besprach die Nachricht vom Tode Gustav Stresemanns. Bruno Frank sagte: »Es ist der Anfang vom Ende!« wobei er drohend nickte. Ich sehe noch dies ominöse Nicken. Seine Stimme, bei aller Betrübtheit, behielt den markig warmen Ton, den man so an ihr mochte.

Wir wußten, er hatte recht. Ohne Frage, ein Abschnitt deutscher und europäischer Geschichte näherte sich seinem Ende. Ein Zwischenspiel trügerischen Wohlstandes, wohlgemeinter, aber insuffizienter Bemühungen, naiver Illusionen. Was nun kommen sollte, voraussagen ließ es sich nicht, versprach aber, eher katastrophal zu werden.

Unsere Welt war bedroht. Von wem? Wie lautete der Name dieser Gefahr? Wir weigerten uns noch immer zuzugeben, daß irgendeine politische Partei, eine Bande von Abenteurern und Fanatikern, die sich prahlerisch als »Nationalsozialisten« bezeichneten, dazu imstande sein sollten, den gesamten Bestand abendländischer Werte und Traditionen in Frage zu stellen. In unserer Bedrängnis und Ungewißheit durchsuchten wir die Geschichte nach Analogien, mit deren Hilfe die eigene Situation sich leichter verstehen und ertragen ließ. Bruno Frank gehörte zu den ersten, die es unternahmen, die noch halb latente Krise erzählerisch zu deuten, ihren noch undeutlichen Sinn auf eine knappe künstlerische Formel zu bringen. In seiner »Politischen Novelle« finden wir die ungeheure Problematik einer Zeitenwende zur dramatisch-didaktischen Parabel simplifiziert. Zwei Staatsmänner sind es hier – ein französischer, ein deutscher –, die zu Repräsentanten der europäischen Tragödie werden. Wir sind Zeuge ihrer Begegnung, irgendwo am Mittelländischen Meer; wir lauschen ihrem Dialog, hinter dessen gelassener Diktion die Sorge um einen Kontinent, eine Zivilisation erschütternd spürbar wird. Der eine der beiden Unterhändler – der deutsche – ist schon vom Schicksal gezeichnet: wir sehen ihn schwanken, stürzen. Wird der Überlebende – Aristide Briand – stark und tapfer genug sein, dem Feind allein zu begegnen? Wird er das ihm anvertraute Erbe – das Erbe Griechenlands und des Christentums – verteidigen gegen den ewigen Widersacher unserer Gesittung, den andrängenden Barbaren, den Perser? – Der Begriff der »Perser«, im Zusammenhang dieser geistvoll-beziehungsreichen Geschichte, steht für alles, was mit unserer Konzeption der Menschenwürde essentiell unvereinbar – alles, was dieser Konzeption aggressiv konträr ist. Die Werte und Gegensätze, um die bei Salamis gefochten wurde – es sind die gleichen, um die es in dieser »Politischen Novelle« geht. Die Perser kommen … Der Angst- und Kampfesruf der Hellenen hat nichts von seiner schicksalhaften Aktualität verloren.

Aber Geschichte ist Variation und Entwicklung des mythischen Modells – nicht seine Wiederholung. Die Bedrohung, der die griechischen Staaten sich ausgesetzt fanden, erscheint beinahe harmlos im Vergleich mit jener, die wir nun zu ermessen und bestehen hatten. Denn diesmal war es kein äußerer Feind, der den Sturm auf die Akropolis wagte: die Gefahr kam von innen, in unserer Mitte wuchs die teuflische Saat. Wir standen entsetzt, gelähmt, angesichts dieses unheilvollen Wucherns; ja, manche von uns erniedrigten sich – geflissentlich oder nicht – zu Handlangern und Antreibern der zerstörerischen Kräfte. Selbstgerechtigkeit und Schwäche, Streitsucht und Dummheit in unseren Reihen wurden zum mächtigen Bundesgenossen des Feindes.

Das Gift kulturfeindlicher Reaktion korrumpierte nicht nur das politische Leben, sondern begann auch schon, auf die Gesinnungen und Ideen der sogenannten »liberalen« Intelligenz zersetzend einzuwirken. Der Blut-und-Boden-Kult, die bösartige Akzentuierung biologischer Werte auf Kosten der geistigen, die Überschätzung des Instinktes und der Intuition samt der dazugehörigen Unterschätzung der Kritik, all diese Symptome der fascistischen Infektion ließen sich nicht nur in der rechts-radikalen, nationalistischen Presse konstatieren, sondern auch im anspruchsvollen Jargon modischer Philosophen und Literaten. Alles, was sich auf den »Zeitgeist« verstand und sich mit ihm gut zu stellen wünschte, sah im Nationalsozialismus »das Kommende«, the Wave of the Future, wie eine amerikanische Fascistin den Hitler-Skandal später nennen sollte. Es war peinlich, das masochistische Schmunzeln zu sehen, mit dem jüdische Kritiker die Bekenntnisse nationalistischer Finsterlinge als »wertvolle Zeitdokumente« priesen. Die Autobiographie des Rathenau-Mörders Ernst von Salomon, zum Beispiel, machte Sensation im Feuilleton nicht-arischer Gazetten. Die »Frankfurter Zeitung«, die der selige Hitler als »jüdische Hure« zu bezeichnen pflegte, lobte das Mordbuch über den grünen Klee; auch Ernst Jünger wurde dort bewundert (welche Dynamik! Was für Intuitionen!), während man Bruno Franks schöne und wichtige Briand-Novelle gelangweilt abtat. So sägten die links-gerichteten Intellektuellen mit selbstgefälligem Kichern den dünnen Zweig ab, auf dem sie gerade noch sitzen durften. Wer sich ins Fäustchen lachte, war der Doktor Goebbels.

Ich war kein Moralist, noch empfing ich Bestechungsgelder von einer Republik, die ihre Kasse für ostelbische Großgrundbesitzer, rheinische Industrielle und das liebe Militär reservierte; aber diese immer ärger werdende Begriffsverwirrung im eigenen Lager fing doch nachgerade an, mich erheblich zu irritieren. Die ordinäre Hast, mit der so viele meiner Kollegen den Anschluß ans »Kommende«, nämlich an die kommende Barbarei, suchten und fanden, erschien mir unschicklich bis zum Degoutanten. So benahm man sich nicht, wenn man sich dem Geist verpflichtet fühlte, wenn man Schriftsteller war. Ein französischer Literat, Julien Benda, hatte für diese skandalöse Perversion der Intellektuellen die Bezeichnung la Trahison des Clercs geprägt; im vorhitlerschen, hitlerreifen Deutschland wäre eine so treffende Formulierung niemandem eingefallen. Ja, es ist schlimm und traurig genug, wenn der Böse die Laien, das unwissende Volk verführt; aber unendlich widriger ist der obszöne Flirt zwischen Erzfeind und Priester. Eben dies war es, was im Deutschland jener finalen Phase vor Ausbruch des Dritten Reiches leider nur zu häufig geschah. Die Priester, das heißt die Intellektuellen (nicht alle, aber die meisten!) biederten sich beim Antichrist an: nämlich beim Widersacher des Geistes, der Freiheit, der Gesittung.

Einer von ihnen, den ich besonders verehrte, der Dichter Gottfried Benn, ging so weit, die Idee des Fortschritts als »die größte Vulgarität der menschlichen Geschichte« zu diffamieren. Eine kuriose Äußerung, angesichts des triumphalen Anmarsches von Mächten, die zwar zuverlässig fortschrittsfeindlich, dabei aber doch nicht ohne eine gewisse Vulgarität erschienen. Benn ist ein großer Poet: einige seiner dunkel suggestiven, tragisch kühnen Verse haben sich mir für immer eingeprägt, ihr Rhythmus bleibt mir im Blut wie das Echo früh-gehörter, früh-geliebter Zaubersprüche. Auch persönlich stand ich damals auf herzlichem Fuße mit dem äußerlich so korrekten und konventionellen Visionär, der es nicht unter seiner Dichterwürde fand, neben- oder hauptberuflich als Spezialist für Haut- und Geschlechtskrankheiten in einem Berliner Arbeiterviertel tätig zu sein. Dort besuchte ich ihn zuweilen. Der inspirierte Doktor (sein Blick war schläfrig und verhangen unter sehr schweren Lidern) bewirtete mich, nach gutbürgerlichem Brauch, mit Kaffee und Streuselkuchen. Wir plauderten über Dichter. Manchmal verschwand er auf ein paar Minuten ins Nebenzimmer, wo es Patienten gab. »Dumme Geschichte«, bemerkte er wohl nachher. »Verschleppter Tripper. Warum kommt sie nicht rechtzeitig, die hirnlose Person?« Dann wurde wieder über Literatur gesprochen. Wir verstanden uns, in literarischen Fragen. Er liebte Nietzsche (den er verhängnisvollerweise wörtlich nahm), Hölderlin, Rimbaud. Er liebte Heinrich Mann, dessen sechzigsten Geburtstag er mit einer schönen Festrede beging. Aber die Übereinstimmung oder Gleichgestimmtheit hörte auf, sowie es um politische Probleme ging, die wir allerdings nur selten in unserer Unterhaltung berührten. Benn trieb die Flaubertsche Verachtung bourgeoiser Bildungs- und Fortschrittsgläubigkeit auf jene bedenkliche Spitze, wo sie in bösartigen Nihilismus umschlägt. Wer das »Tragische« und das »Heroische« als die höchsten, ja als die einzig gültigen Werte akzeptiert und glorifiziert, wird für die Ideale und Aspirationen der Demokratie nur eine höhnische Grimasse haben. Dr. Benn grimassierte, wenn er an die gerechte Verteilung der irdischen Güter, die Organisation des internationalen Friedens, die Mission des Völkerbundes dachte. All dies galt ihm als schales »Neunzehntes Jahrhundert«, öde Humanitätsduselei, völlig untragisch und unheroisch. Der Nationalsozialismus hingegen, das war etwas anderes! Nicht ganz sympathisch vielleicht, aber dynamisch, interessant, voll grausig-attraktiver Möglichkeiten! Der Nietzsche-trunkene Dermatologe war angenehm berührt von dem antihumanistischen, antichristlichen Radikalismus, der irrationalen Vehemenz der Hitler-Bewegung. Mit dem »Irrationalen« hatte er es überhaupt. Auch ich war einst verliebt gewesen in diesen Terminus, dessen Inhalt übrigens ebenso fließend und unbestimmt bleibt, wie eben die Sphäre der naturhaft-amoralischen Impulse es im Gegensatz zur Sphäre des kritisch-moralischen Geistes ist. Aber wenn das »Irrationale« mir in seinen zärtlich-träumerischen, erotisch verbindenden Erscheinungsformen behagt hatte, so erschreckte es mich in seinen aggressiv brutalen Manifestationen, besonders wo diese den Charakter zerstörerischer Massenhysterie anzunehmen drohten. Das heimliche oder sogar lächelnd zugegebene Wohlgefallen, mit dem ein mir sonst verwandter und bewunderungswürdiger Geist wie Benn dies gräßliche Phänomen beobachtete und akzeptierte, konnte nicht umhin, mir auf die Nerven zu gehen. Ich fand mich genötigt, öffentlich gegen ihn Stellung zu nehmen, obwohl wir damals noch befreundet waren und ich noch nicht wissen – aber vielleicht doch schon ahnen – konnte, wie weit er seine zynisch-naive, unverantwortlich paradoxale trahison später, nach dem Umsturz von 1933, treiben würde.

Zu Polemiken kam es auch sonst. Der September des Jahres 1930 brachte den Triumph der Hitler-Partei bei den Reichstagswahlen; die Situation spitzte sich zu, aus der latenten Krise wurde die offene. Aber selbst angesichts so eklatanter Gefahr hörten die Intellektuellen, diese verräterischen Priester, nicht auf, dem Übel Vorschub zu leisten. In literarischen Salons diskutierte man mit frivoler Animiertheit den unvermeidlichen Sieg der »nationalen Revolution«, von der man sich die günstigste Wirkung auf dem Buchmarkt zu versprechen schien.

Bei manchen war – wie bei Benn – diabolische Sympathie im Spiele; andere setzten ihren Stolz darein, auch noch dem Todfeind gegenüber »objektiv«, »verständnisvoll«, »gerecht« zu bleiben. Stefan Zweig gehörte zu diesem Typus. Ich mochte ihn, schätzte ihn als Schriftsteller und Freund, war ihm dankbar für die ermutigende Anteilnahme, die er meiner Arbeit entgegenbrachte. Es gefiel mir an ihm, daß er so aufgeschlossen, so sensibel und tolerant, so »eminent pazifistisch« war (um mich eines Ausdruckes zu bedienen, den er einmal im Gespräch mit wienerisch nasaler, sammetweicher Stimme auf sich selber anwandte). Aber auch aus Konzilianz und Gerechtigkeitsliebe kann man gefährlich irren, wie Stefan Zweig es tat, als er die Katastrophe der September-Wahlen in eine begrüßenswerte »Revolte der Jugend« umzudeuten suchte. Diese denn doch gar zu »eminent pazifistische« Auffassung reizte mich derart, daß ich ihr entgegentreten zu müssen glaubte. Es scheint mir nicht ohne ein gewisses Interesse, hier einige Stellen aus dem Offenen Brief wiederzugeben, den ich damals 1930, unter dem Titel »Jugend und Radikalismus« an Stefan Zweig richtete und den ich später in meinem Essayband »Auf der Suche nach einem Weg« erscheinen ließ:

»Es gibt auch ein Alles-Verstehen-Können, eine Bereitwilligkeit der Jugend gegenüber, die zu weit geht. Nicht alles, was Jugend tut, weist in die Zukunft. Ich spreche das aus, und ich bin selber jung. Ein großer Teil meiner Altersgenossen – und der noch Jüngeren – hat sich mit einem Elan, der dem ›Vorwärts‹ vorbehalten sein sollte, für das ›Rückwärts‹ entschieden. Das dürfen wir unter keinen Umständen gutheißen. Unter gar keinen Umständen!

Sie tun es, wenn Sie den grauenerregenden Ausgang der deutschen Reichstagswahlen eine ›vielleicht unkluge, aber im Innersten natürliche und durchaus zu bejahende Revolte der Jugend gegen die hohe Politik‹ nennen. Ihre schöne Sympathie für das Jugendliche an sich läßt Sie, fürchte ich, übersehen, worin diese Revolte besteht. Was wollen die Nationalsozialisten? (Denn um sie handelt es sich in dieser Stunde, keineswegs um die Kommunisten!) Nach welcher Richtung radikalisieren sie sich? Darauf schließlich käme es doch an. Radikalismus allein ist noch nichts Positives, und nun gar, wenn er sich so wenig hinreißend, sondern so rowdyhaft und phantasielos manifestiert wie bei unseren Rittern vom Hakenkreuz … Es ist also so, Stefan Zweig, daß ich meine eigene Generation vor Ihnen preisgebe, oder wenigstens den Teil der Generation, den Sie gerade entschuldigen. Zwischen uns und denen ist keine Verbindung möglich; übrigens sind jene die ersten, die irgendeine Verbindung mit Gummiknütteln ablehnen würden. Mit Psychologie kann man alles verstehen, sogar Gummiknüttel. Ich wende sie aber nicht an, diese Psychologie. Ich will jene nicht verstehen, ich lehne sie ab. Ich zwinge mich zu der Behauptung, obwohl sie gegen meine Ehre als Schriftsteller geht, daß das Phänomen des hysterischen Neonationalismus mich nicht einmal interessiere. Ich halte es für nichts als gefährlich. Darin besteht mein Radikalismus.

Der Jahrgang 1902 konnte sagen: ›La guerre – ce sont nos parents‹. Wie, wenn der Jahrgang 1910 sagen müßte: ›La guerre – ce sont nos frères …‹? Dann wäre die Stunde da, wo wir uns bis ins Innerste zu schämen hätten, einer Generation angehört zu haben, deren Aktivitätsdrang, deren Radikalismus also, sich auf so schauerliche Weise verkehrt und ins Negative verwandelt hätte.«

 

So weit, so gut. Fraglich bleibt, ob ich meinerseits berechtigt war, mich als politischen Experten und Repräsentanten der »guten Sache« aufzuspielen. Was tat ich selber zur Besserung und zum Schutze unserer so sehr schutz- und besserungsbedürftigen Demokratie? Wo war mein eigener Beitrag zur Rettung der gefährdeten Republik? Welcher kämpferischen Tat oder sozialen Leistung konnte ich mich rühmen?

Unbestreitbar, ich war gegen Hitler – von Anfang an, unbedingt, ohne irgendwelche Vorbehalte psychologisch-pazifistischer oder diabolisch-paradoxer Art. Selbst meinem wachsamsten Todfeind würde es nicht gelingen, in all meinem Geschreibsel eine einzige Passage zu entdecken, die der Nazi-Philosophie, dem Nazi-Geschmack in irgendeinem Sinn entspräche oder Konzessionen machte. Die ganze Richtung paßte mir nicht, war mir ein Greuel und Ekel, durchaus verhaßt und wider die Natur. Das ist immerhin etwas, ein Argument, welches sich denn doch für meinen moralischen Instinkt und meine politische Urteilsfähigkeit ins Feld führen läßt. Aber es ist nicht genug.

Ja, vielleicht verhält es sich sogar so, daß dieser völlige Mangel an Kontakt mit der Nazi-Mentalität es mir zunächst schwer oder unmöglich machte, eben diese Mentalität wirkungsvoll zu bekämpfen. Unser Haß wird wohl nur dort aktiv und militant, wo wir eine gewisse Affinität zum Gegner spüren. Man bekämpft nicht – oder doch nicht mit vollem Einsatz –, was man durchaus verachtet. Lohnt es sich, den offenbaren Unsinn und frechen Aberwitz logisch zu widerlegen? Man begnügt sich mit einem angewiderten Achselzucken.

Diese Nazis – ich verstand sie nicht. Ihre Journale – »Stürmer«, »Angriff«, »Völkischer Beobachter« oder wie der Unflat sonst noch heißen mochte – hätten ebensogut in chinesischer Sprache erscheinen können: ich kapierte kein Wort. Wovon war denn die Rede in den seltsamen Liedern, die der braune Pöbel auf den Gassen hören ließ? Worum handelte es sich in ihren kuriosen Pamphleten und Manifesten? Irgend etwas mußte sich doch verbergen hinter all diesem absurden Gerede über Juden, Zinsknechtschaft und Versailler Diktat – irgendein geheimer Sinn, zugängig allein dem Eingeweihten. Dieser begriff vielleicht, was gemeint war, wenn mit wunderlicher Insistenz behauptet wurde, die Israeliten wollten Deutschland zerstören, ein Verdacht, dessen Unhaltbarkeit sich für jeden Vernünftigen von selbst verstand. Aber vielleicht wurde in die Mysterien der Nazi-Seele und des Nazi-Jargons nur eingeweiht, wer die Vernunft in sich überwunden, endgültig auf sie verzichtet hatte? War man noch nicht so weit, so konnte einem wohl etwas beklommen zumute werden angesichts von so viel Dummheit und Lüge.

Mir war beklommen zumute, aber nicht beklommen genug – eben weil ich nicht verstehen wollte, daß die Mehrzahl meiner Mitbürger das »sacrificium intellectus« längst gebracht und die störende Vernunft in sich ertötet hatte. Dergleichen hält man möglichst lang für ein Ding der Unmöglichkeit. So lange nämlich, bis es sich leider doch als möglich erweisen wird. Mir wollte es nicht in den Kopf, daß die Deutschen Hitlern allen Ernstes für einen großen Mann, ja für den Messias halten könnten. Der und groß? Man brauchte ihn doch nur anzusehen!

Ich hatte wiederholt Gelegenheit, diese Physiognomie zu studieren. Einmal aus nächster Nähe, etwa eine halbe Stunde lang. Das war 1932, ungefähr ein Jahr vor der »Machtergreifung«. Die Carlton-Teestube in München war damals eines seiner Stammlokale, eine Tatsache, von der ich übrigens keinerlei Kenntnis hatte, als ich dort eines Nachmittag eintrat, um mir eine Tasse Kaffee zu genehmigen. Ich entschied mich für dieses Lokal, weil das Café Luitpold – gerade gegenüber, auf der anderen Seite der Brienner-Straße – neuerdings zum Treffpunkt der SA und SS geworden war: ein anständiger Mensch verkehrte dort nicht mehr. Der Führer, wie sich nun herausstellte, teilte meine Aversion gegen seine tapferen Mannen; auch er bevorzugte die Intimität des distinguierten »Tea-Room«.

Da saß er, umgeben von ein paar bevorzugten Spießgesellen, und ließ sich sein Erdbeertörtchen schmecken. Ich nahm am Nebentisch Platz, kaum einen Meter entfernt. Er verschmauste noch ein Erdbeertörtchen mit Schlagrahm (die Kuchen waren gut im »Carlton«); dann ein drittes – wenn es nicht schon das vierte war. Ich esse selbst recht gerne süßes Zeug; aber der Anblick seiner halb infantilen, halb raubtierhaften Gefräßigkeit verschlug mir den Appetit. Übrigens wollte ich, da der Zufall mich nun einmal herbeigeführt hatte, meine ganze Aufmerksamkeit auf das Schleckermäulchen am Nebentisch konzentrieren, was mir kaum möglich gewesen wäre, hätte ich selbst geschleckt.

Zwei Fragen waren es vor allem, die mich beschäftigten, während dieser dreißig Minuten unheimlicher Nachbarschaft: Erstens, worin lag das Geheimnis seiner Wirkung, seiner Faszination? Und, zweitens, an wen erinnerte er mich, wem sah er ähnlich? Ohne Frage, er glich einem Mann, den ich nicht persönlich kannte, aber dessen Porträt ich oft gesehen hatte. Wer war es nur? Nicht Charlie Chaplin. Beileibe nicht! Chaplin hat das Schnurrbärtchen, aber doch nicht die Nase, die fleischige, gemeine, ja obszöne Nase, die mich sofort als das garstigste und am meisten charakteristische Detail der Hitlerschen Physiognomie beeindruckt hatte. Chaplin hat Charme, Anmut, Geist, Intensität – Eigenschaften, von denen bei meinem schlagrahmschmatzenden Nachbarn durchaus nichts zu bemerken war. Dieser erschien vielmehr von höchst unedler Substanz und Beschaffenheit, ein bösartiger Spießer mit hysterisch getrübtem Blick in der bleich gedunsenen Visage. Nichts, was auf Größe oder auch nur auf Begabung schließen lassen konnte!

Es war gewiß kein erfreuliches Gefühl, in der Nähe einer solchen Kreatur zu sitzen; und doch konnte ich mich nicht satt sehen an der widrigen Fresse. Besonders attraktiv hatte ich ihn zwar nie gefunden, weder im Bilde, noch auf der illuminierten Tribüne; aber die Häßlichkeit, der ich mich nun gegenüber fand, übertraf doch all meine Erwartungen. Die Vulgarität seiner Züge beruhigte mich, tat mir wohl. Ich sah ihn an und dachte: ›Du wirst nicht siegen, Schicklgruber, und wenn du dir die Seele aus dem Leibe brüllst. Du willst Deutschland beherrschen? Diktator willst du sein – mit der Nase? Daß ich nicht kichere! Du bist derartig mies, daß du einem beinah leidtun könntest – wenn deine Miesigkeit nicht eben von so besonders abstoßender Natur wäre … Laß dir nur noch ein Erdbeertörtchen kommen, Schicklgruber – es ist wohl das fünfte? –: in ein paar Jahren kannst du dir's nicht mehr leisten; ein Bettler, ein Vergessener wirst du sein, in ein paar kurzen Jährlein. Du kommst nie zur Macht!‹

Gab es keine blutige Gloriole um sein Haupt, mich zu warnen? Keine Schrift an der Wand der Carlton-Teestube? Nichts Beunruhigendes ließ sich bemerken. Nur rosig diskretes Licht, gedämpfte Musik, gehäufte Bäckereien und, inmitten dieses schlagrahmsüßen Idylls, ein unsympathischer, aber gewiß harmloser kleiner Mann mit komischem Schnurrbärtchen und eigensinniger Stirn, der im Kreise gleichfalls unbedeutender Kumpane seine Tasse Schokolade schlürfte. Ich fing Brocken ihrer Unterhaltung auf. Sie diskutierten die Besetzung eines musikalischen Schwankes, der am selben Abend in den Münchener Kammerspielen zum erstenmal in Szene gehen sollte. Eine unserer nächsten Freundinnen, die bedeutende Charakterspielerin Therese Giehse, hatte die tragende Rolle. Der Führer erklärte, daß er sich auf die Vorstellung freue. Erstens, weil Operetten überhaupt etwas Nettes seien (»... gesunder Humor … man lacht sich mal gründlich aus …«); zweitens, und im besonderen, der Giehse wegen, die er, der Führer, »einfach prima« fand. »Eine völkische Künstlerin, wie man sie nur in Deutschland findet«, stellte er herausfordernd fest und verdüsterte sich, da einer der Genossen – es war doch nicht etwa Streicher? – schonend darauf hinwies, daß die Dame, seines Wissens, nicht rein »arisch« sei. »Irgendein Webfehler … rassisch nicht ganz einwandfrei …«, murmelte der taktlose Spießgeselle – woraufhin das Schnurrbärtchen, welches bisher mit etwas forcierter Behutsamkeit gesprochen hatte, bedrohlich die Stimme hob. »Bösartiger Klatsch!« entschied er stirnerunzelnd. »Als ob ich nicht den Unterschied sähe zwischen einem germanischen Naturtalent und semitischer Mache!«

Ich hatte Mühe, nicht herauszuplatzen. Daß die Giehse nicht da war, um dies mitanzuhören!

›Du kommst nie zur Macht, dummer Schicklgruber!‹ dachte ich wieder, jetzt in bester Laune. Während ich die Kellnerin rief, um meine Konsumtion zu bezahlen, fiel mir plötzlich ein, an wen der Kerl mich erinnerte. Haarmann, selbstverständlich. Wieso war ich darauf nicht schon längst gekommen? Freilich doch, er sah aus wie der Knabenmörder von Hannover, dessen Prozeß unlängst Sensation gemacht hatte. Ob er, der österreichische Operettenhabitué am Nebentisch, ebenso tüchtig war wie sein norddeutscher Doppelgänger? Dieser homosexuelle Blaubart hatte es fertiggebracht, dreißig bis vierzig junge Buben in seine gastliche Stube zu locken, wo er ihnen im Liebesakt die Kehle durchbiß und aus den Leichen schmackhafte Wurstware machte. Eine stupende Leistung, besonders, wenn man bedenkt, daß der emsige Kinderfreund in einem engen Mietshaus zwischen wachsamen Nachbarn logierte! Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg: mit zäher Zielstrebigkeit setzt man noch das scheinbar Unmögliche durch … Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Tatmenschen frappierte mich. Schnurrbart und Locke, der verhangene Blick, der zugleich wehleidige und rohe Mund, die sture Stirn, ja sogar die anstößige Nase. Es war alles dasselbe!

›So was kommt nie zur Macht!‹ Ich war meiner Sache ganz sicher, da ich mich nun dem Ausgang zubewegte. ›Du bist eine Niete, Schicklgruber. Bei dir langt es höchstens zum Lustmord.‹

Kein blutiger Schein? Keine Schrift? Kein warnendes Zeichen?

Eine Nation, die sich sonst viel auf ihre Dichter und Denker zugute getan hatte, akzeptierte eine Wanze als »Mann des Schicksals«. Wie konnte es so weit kommen? Diese Deutschen, ich verstand sie nicht.

Aber war ich nicht selber einer? Doch, ich war es wohl. Nicht nur der Sprache nach. Deutsche Kultur hatte mein Weltbild, mein geistiges Wesen geformt oder doch entscheidend beeinflußt. Ein Elternhaus wie das meine – und was daraus hervorgegangen ist, wüßte nichts vom Deutschtum? Eine Kindheit im Zeichen deutscher Lieder und Märchen, eine Jugend mit Novalis, Nietzsche, Hölderlin, George – und man wäre deutschem Geiste fremd?

Vielleicht fühlte man sich ihm zu verwandt, zu nah verbunden, diesem großen und schönen Geist, um seine Verfälschung und Entwürdigung mitmachen oder auch nur mitansehen zu können; vielleicht war man so innig beheimatet in der Sphäre europäisch-universalen Deutschtums, daß man zum Heimatlosen werden mußte in dem Lande, wo der universale Gedanke nur noch als Welteroberungstraum lebendig blieb.

Ja, der gerade erst Erwachsene wußte schon, was Heimatlosigkeit ist und lebte doch noch im Lande seiner Geburt. Deutschland war mir fremd, ich war ein Fremder in Deutschland, noch ehe ich mich endgültig von ihm trennte. Bei aller Bewunderung für die großen Taten des deutschen Genius, bei aller Sympathie für gewisse Züge und Möglichkeiten des deutschen Charakters: ich brachte keine Begeisterung auf für die Nation, wie sie sich nun einmal entwickelt hatte und allem Anschein nach weiter entwickeln würde. Ich fühlte mich der Nation nicht zugehörig. Schon deshalb nicht, weil ich den Begriff des Nationalstaates überhaupt als überholt empfand und an die Notwendigkeit übernationalen Zusammenschlusses glaubte. Kein anderer Nationalismus aber erschien mir so unselig und dabei so lächerlich wie eben der deutsche, mit seiner »Meistersinger«-Biederkeit und seiner »Tristan«-Schwüle, seinem säbelrasselnden Draufgängertum und seiner schluchzenden Sentimentalität, seinem ewig-unbefriedigten Anspruch, seinem überkompensierten Inferioritätskomplex, seiner primitiven Tücke und gerissenen Naivität, seinem Dünkel, seinem Verfolgungswahn, seiner ganzen quälenden, sterilen Problematik.

Hatten die Repräsentanten dieses Nationalismus – die Nazis und ihre Freunde – nicht recht, wenn sie Existenzen meiner Art »entwurzelt« nannten? Ich hatte keine Wurzeln, wollte keine haben, in dem Boden, den jene, charakteristischerweise, so gerne in Zusammenhang mit Blut brachten: dem Blute nämlich, mit dem sie ihren geliebten Boden tränken wollten. Die heimatliche Scholle hielt mich nicht; meistens zog ich den Asphalt fremder Großstädte vor oder den hellen Sand einer südlichen Küste. Wie sollte ich die Tiefe der deutschen Problematik – und die Größe der deutschen Gefahr – so recht verstehen lernen, wenn ich mich den größten Teil des Jahres im Ausland herumtrieb? »Ausland«, oder doch ausländisch infiziert, war übrigens auch, vom völkischen Gesichtspunkt, unser Milieu in München und Berlin. Der Kreis im Elternhaus – mit einigen Ausnahmen, wie der durchaus bodenständige Joseph Ponten und der scharf patriotische, um nicht zu sagen chauvinistische Ernst Bertram –, Erikas und meine Freunde: lauter internationales Pack, Intelligenzbestien, Kulturbolschewisten, Entwurzelte, volksfremde Elemente!

Freilich beschränkte sich mein Verkehr keineswegs auf die intellektuelle oder mondäne Sphäre; im Gegenteil, der mehr populäre Typ hat immer große Attraktion für mich gehabt – wenn auch nicht gerade aus Gründen vaterländischer Überzeugung und schollengebundener Tugend. Unter den jungen Freunden von schlichter Herkunft, die ich damals in Deutschland hatte, gab es wohl manchen, der sich später als »Perser« entpuppen und am Morde der Kultur aktiven Anteil nehmen sollte. Merkte ich nichts? Ward mir nicht bang in ihrer scheinbar so harmlos munteren Nähe? Erkannte ich nicht das Zeichen künftiger Schuld auf ihrer glatten, hübschen, noch unschuldigen Stirn?

Ohne Frage, ein Bursche wie mein Freund Hans P. war ein potentieller »Perser«, ungeachtet seiner angenehmen Manieren und seiner erquickenden Lustigkeit. Ich mochte ihn gut leiden, meinen Freund P. Ebensogut wie meinen Freund Willy X. oder meinen Freund Otto Y: vielleicht sogar noch etwas besser. Er war, wie sie alle waren: faul, gefräßig, gutmütig, humorvoll, von einer sinnlichen Vitalität, die zunächst noch ohne brutale Züge schien. Dumm war er nicht, der Hans P., keineswegs ohne Mutterwitz; aber seine Unbildung schrie zum Himmel. Manchmal amüsierte ich mich damit, ihm tückische Fragen zu stellen, wie zum Beispiel: »Du weißt doch, daß Johann Wolfgang von Goethe der tapfere General war, der uns im Jahre 1870 zum Siege gegen die Chinesen führte?« Dann grinste mein Hans wohl: »Klar, Mensch!«

Er wußte schlechterdings gar nichts, außer dem Gewicht der internationalen Boxer und den Gagen der Filmstars. Er kam aus jener Schicht des deutschen Kleinbürgertums, die durch die Inflation proletarisiert worden war; er hatte keinen Beruf, kein Heim, keine Ambition, keine Überzeugung. Man konnte ihn alles glauben machen, da er an gar nichts glaubte. Er war ein Nihilist, der alle philosophischen Systeme und moralischen Postulate verwarf, ohne sie zu kennen. Begriffe wie »Kultur«, »Friede«, »Freiheit«, »Menschenwürde« waren ohne jede Bedeutung, jeden Inhalt für ihn. Er lebte in den Tag hinein. Um die eigene Zukunft schien er sich ebensowenig Sorgen zu machen, wie um die Zukunft der Nation und der Menschheit.

War er glücklich? Kaum. Irgendwo – und sei es auch in unbewußter Schicht – verlangte es ihn doch wohl nach einem Gesetz, einem Glauben, der seinem Dasein Ziel und Inhalt geben würde. Warum machte ich nicht den Versuch, diesen gefährdeten, aber noch nicht verlorenen Bruder auf den rechten Weg zu bringen? Warum bemühte ich mich nicht um diese haltlose und richtungslose, aber doch gewiß nicht wertlose Seele? Ach, wieviel hat man versäumt! Wie viel Unterlassungssünden gibt es zu beichten, zu bereuen! … Da sich dem Jungen keine echte Führung bot, ging er dem großen Schwindler auf den Leim.

Ich war betrübt – aber nicht eigentlich überrascht –, ihn eines Tages in der kleidsam strammen Uniform der Hitlerschen Privatarmee anzutreffen. Mein Gelächter mag etwas forciert geklungen haben, als ich ihn fragte: »Was ist los mit dir? Wohl total übergeschnappt?« Er zuckte mürrisch die Achseln: »Na, man muß doch leben.« – »Stimmt«, sagte ich. »Aber warum in dieser Maskerade?«

Woraufhin Hans P., zu meiner Verblüffung, beinah feierlich wurde: »Laß man, du! Ist vielleicht ganz gut so. Die Nazi haben was weg. Wollen Deutschland raushelfen aus der Scheiße. Und überhaupt, wir werden die Herren sein – vastehste?«

»Das werdet ihr nicht«, versicherte ich ihm, nun meinerseits ernst. Und, nach einer Pause: » Glaubst du denn an all den Quatsch, Hans?«

Statt einer Antwort wiederholte er nur, zugleich ausweichend und drohend: »Die Herren werden wir sein. Wirste schon sehen!«

Ja, nun sah ich es: er ließ mich fallen, war mir schon verloren, mir und meiner Welt. Er haßte sie, diese Welt, die Welt der Gesittung und der Menschenwürde, die Welt der »Demokratie«, die ihm alles schuldig geblieben war. Herr zu werden, wo man ihn so lange zurückgesetzt und übersehen hatte! Und als »Herr« zerstören zu dürfen, was ihm so fremd und feindlich scheinen mußte – die Zivilisation!

»Dann ist also Schluß zwischen uns, Hans«, sagte ich. (Ich hätte ihn retten können. Vielleicht … Hätte ich's doch versucht! Ach, über die Versäumnisse! Über die Trägheit des Herzens!) »Mach's gut.«

Und er – wobei er meinen Blick vermied –: »Mach's selber gut, Klaus! Und wenn du mal einen einflußreichen Freund brauchst in der Partei – na, du kennst ja meine Adresse!«

... War er unter den Rowdies, die den Saal stürmten, in dem Erika ein Anti-Kriegsgedicht rezitierte? Ein Gedicht für Frieden und Versöhnung … Der unangenehme Zwischenfall ereignete sich während einer Versammlung, die von einer pazifistischen Frauenorganisation einberufen worden war. Erika trat als Schauspielerin auf, nicht als politische Rednerin. Die Hauptattraktion des Abends war eine Delegierte aus Paris; sie überbrachte mit warmer Eloquenz den Gruß der französischen Frauen, die ihren Gatten, Brüdern und Söhnen nie wieder erlauben wollten, gegen das deutsche Volk in den Krieg zu ziehen. Sie sprach französisch. Die über den ganzen Saal verteilten Nationalsozialisten verstanden sie nicht und wußten nicht, wo »einhaken«.

Erst bei Erikas Auftritt machte die Nazi-Bande sich bemerkbar. Sie stand auf dem Podium. Schmal, aufrecht, die schöne Flamme im Blick. Zunächst schien sie die heiseren Zurufe gar nicht zu hören, vermittels derer die Eindringlinge sie aus dem Konzept zu bringen hofften. Aber wie konnte ihre dunkle Stimme sich behaupten gegen den Urwaldschrei der Barbaren? »Schluß!« brüllte der Urwald. »Hochverrat! Schmach und Schande! Wir protestieren im Namen der Nation!«

Das Publikum, das für seine Plätze bezahlt hatte, protestierte seinerseits – ohne Erfolg, wie sich denken läßt. Die heroischen Angreifer – nicht im Braunhemd übrigens, sondern als Zivilisten verkleidet – drangen, Gummiknüttel schwingend, gegen die pazifistischen Damen vor. Ein paar sozialistische Studenten suchten die Nazis aufzuhalten. Es gab ein wildes, blutiges Handgemenge mit panischer Massenflucht zum Ausgang, zerbrochenem Mobiliar, Weinkrämpfen und allem Zubehör. Mir ward etwas bange angesichts der violenten Szene, nicht so sehr um mich selbst (sonderbarerweise kam mir die Idee nicht, daß die Mordbuben mir persönlich etwas anhaben könnten), als vielmehr um Erika, die offenbar durchaus nicht begriff, daß sie sich in akuter Gefahr befand. Anstatt sich vom Podium zurückzuziehen, wie die Vorsicht es geboten hätte, trat sie nach vorn, an die Rampe, um den Aufruhr zu ihren Füßen mit grimmig-amüsierter Neugier zu betrachten. Ich weiß weder noch stelle ich mir's gerne vor, was ihr geschehen wäre, wenn die patriotischen Totschläger das Podium erreicht hätten, ehe die Polizei eingriff. Glücklicherweise erschienen im letzten Augenblick einige Schutzleute auf dem Plan, woraufhin die tapferen Antipazifisten sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit aus dem Staube machten.

Nicht ohne Verwunderung las ich am nächsten Morgen die folgende Schlagzeile im »Völkischen Beobachter«: »Terroristische Polizei mißhandelt deutsche Jungen, die das ›Verbrechen‹ begehen, einer öffentlichen Versammlung beizuwohnen.« So also wird das gemacht! Früher begnügte man sich wohl damit, die Wahrheit ein wenig zu färben, zu retouchieren, sie im Interesse der eigenen Sache zurechtzubiegen; jetzt aber kehrt man sie einfach um, stellt sie glatt auf den Kopf, behauptet das Gegenteil von dem, was richtig ist. Es ist gar nicht schwer, nur Frechheit gehört dazu. »Jüdischer Hausierer beißt deutschen Schäferhund!« Warum sollte diese vielzitierte Pointe nicht wirklich aus einem Goebbels-Blatt stammen? Die Geschichte von der »terroristischen Polizei« war ebenso phantastisch.

Der Artikel, den der »Beobachter« unter einer so frappanten Überschrift präsentierte, strotzte von Beleidigungen gegen Erika, die als »plattfüßige Friedenshyäne« bezeichnet wurde. Das war zwar drollig, aber nicht ganz ungefährlich, wie sich nur zu bald erweisen sollte. Eine junge Schauspielerin, die sich im Deutschland des Jahres 1931 bei den Nazis unbeliebt machte, war beruflich geschädigt, beinah ruiniert. Der Intendant eines Provinztheaters, der Erika für einige Rollen im Rahmen einer sommerlichen Festspielsaison verpflichtet hatte, ließ telegraphisch wissen, daß er den Vertrag zu seinem Bedauern annullieren müsse: »Friedenshyänen« seien auf seiner Bühne unerwünscht. Dies war nur die erste Reaktion; weitere ließen nicht auf sich warten. Das Bayerische Staatstheater, der Münchener Rundfunk, die Filmgesellschaft »Emelka«, alle zeigten sich plötzlich abgeneigt, Erika weiterhin zu beschäftigen. Es war der Boykott; die politisch Kompromittierte wurde fallengelassen.

»Wer hätte das gedacht?« Sie sagte es kopfschüttelnd, verwundert mehr als empört. »Da rezitiert man so ein harmloses Gedicht, und plötzlich ist man in der Patsche! Ich hatte ja keine Ahnung, worauf ich mich da einließ … Na, mir soll's recht sein! Wenn das Pack Streit will, ich bin dabei. Eine Friedenshyäne mag ich immerhin sein; aber doch kein Feigling!«

Der Nazismus erklärte unserem Haus den Krieg: die Familie Mann war ihm ein Dorn im Auge. Erika ging ihm besonders auf die Nerven: Sie leistete es sich, den »Beobachter« wegen Beleidigung zu verklagen. Fräulein Mann habe keinen Kopf, hatte das Blatt behauptet. Nur »ein kopfähnliches Gebilde«. Der Gerichtshof, dem sie eine Anzahl von Bildern eingeschickt hatte (sie war nicht in München damals und galt als entschuldigt), fand an ihrem Kopf nichts auszusetzen. Das Hitlerblatt mußte sich entschuldigen und auch noch Strafe zahlen, was als unverzeihlicher Skandal empfunden wurde.

Was mich betrifft, so war ich beim Erwachenden Deutschland auch nicht eben gut angeschrieben. Gewiß, es war nicht viel, war beschämend wenig, was ich gegen die Nazis tat; aber die Sticheleien, die ich gelegentlich in Vorträgen, Artikeln, Interviews anzubringen wußte, genügten doch, um jene in Harnisch zu bringen. »Warte nur, Bürschchen!« drohte man mir in der braunen Presse. »Es kommt der Tag, da du uns büßen wirst!«

Heinrich Mann war ein Gegner, den man ernst zu nehmen hatte. Seine Stimme ließ sich nicht überhören: ihr eignete die Überzeugungskraft, die aus echter Passion, dem ganzen Einsatz des Gefühls, des Herzens kommt. Die Nazis hatte er, der Autor des »Untertan«, durchschaut, dargestellt und abgetan, ehe sie sich noch als »Bewegung« konsolidierten. Der deutschen Republik war er der eifervollste Vorkämpfer und Verteidiger, aber auch der schärfste Kritiker gewesen. Nun mußte er sie an eben jenen Irrtümern scheitern sehen, die er ihr immer wieder warnend vorgehalten. War der Zusammenbruch unvermeidlich? Nicht, wenn die Kräfte des Widerstands sich einigten! Eben dies forderte der politische Schriftsteller Heinrich Mann: den Zusammenschluß der antifascistischen Parteien, das Ende des Bruderzwistes zwischen Sozialdemokraten, die Volksfront gegen Hitler. Die Appelle zur Rettung der Demokratie, die er in diesen Jahren – den letzten also vor der Katastrophe – an die verblendete Nation ergehen ließ, atmen ein Pathos, das um so tiefer rührt, da über seinem Glanz doch schon die Schatten der Wehmut, des Verzichtes liegen.

Aber selbst wenn er im Grunde wüßte oder ahnte, daß es vergeblich ist, ein Kämpfer wie Heinrich Mann hörte nicht auf zu streiten und zu hoffen. Bis zum letzten Augenblick, mit kühnem Eigensinn und zähem Enthusiasmus, wird er sich den Haß verdienen, mit dem ihn der verhaßte Gegner ehrt.

Wenn es einen gab, den sie noch mehr haßten als Heinrich Mann, den konsequenten Republikaner, so war es sein Bruder, dem sie »Inkonsequenz« zum Vorwurf machten und der ihnen als Verräter galt. Seine politische Karriere hatte begonnen mit anti-politischen Betrachtungen über Kultur, Musik, Protestantismus, Schopenhauer und die »Sympathie mit dem Tode«, weshalb nun von ihm gefordert wurde, daß er sich weiterhin zum deutschen Nationalismus bekenne. Tat er es nicht, so war er ein Renegat, ein käuflicher Opportunist.

Ja, er war »opportunistisch« genug, zweimal innerhalb von zwei Jahrzehnten die intellektuelle und politische Mode, die herrschende Weltanschauung herauszufordern. Denn der »Zivilisationsliterat«, gegen den er im Jahre 1918 seine desperate Polemik richtete, war ja gerade damals der moralische Sieger, der tonangebende Typ. Und was war der »letzte Schrei« um 1930? Eben jene aggressive »Blut-und-Boden«-Mystik, jenes anti-humane »Übermenschentum«, welches der Autor der »Betrachtungen« nun zum Gegenstand seiner Anklagen und Attacken machte. Was hatte er denn von dieser quälenden Fehde? Sicherlich keinen Dank von seiten der Republik. Diese verhielt sich vollkommen gleichgültig gegenüber den Bemühungen ihrer literarischen Repräsentanten. Kein Schriftsteller konnte hoffen, Gold oder Ruhm zu ernten, indem er sich für die verkrachende deutsche Demokratie einsetzte. Es war ein undankbares Geschäft, ganz abgesehen von den Gefahren, die es mit sich brachte. Ein »Schädling« und Feind der nationalen Sache, wie Thomas Mann, wurde nicht nur mit Invektiven überhäuft, sondern auch mit Drohungen. Patriotisch überhitzte Jünglinge machten ihn brieflich oder telephonisch darauf aufmerksam, daß sie ihn umzulegen gedächten, falls man noch einen Muckser gegen die Nationale Erhebung von ihm zu hören bekommen sollte. Leider bestand kein Grund, solche Hinweise auf die leichte Achsel zu nehmen. Die Zahl der Opfer war schon erschreckend groß. Trotzdem mußte weitergekämpft werden.

Die »Deutsche Ansprache«, die mein Vater im Beethovensaal zu Berlin hielt, am 17. Oktober 1930, fast genau einen Monat nach den verhängnisvollen Reichstagswahlen, bedeutete einen dramatischen Höhepunkt dieses langen und bitteren Kampfes. Der Aufruhr im Saal brach los, als der Redner das deutsche Bürgertum mit dringlichem Ernst ermahnte, Frieden zu machen mit der organisierten Arbeiterschaft und die Idee der sozialistischen Demokratie endlich zu akzeptieren, auf daß die Schmach und Katastrophe des Dritten Reiches verhütet werde. An dieser Stelle erhob sich die gekränkte deutsche Ehre von ihrem Sitz und ließ bellende Töne hören. Die deutsche Ehre trug eine blaue Brille (wie der selige General Ludendorff, als er nach verlorenem Krieg über die Grenze floh); aber man konnte doch gleich sehen, daß es Bronnen war. Erinnert man sich seiner? Arnolt Bronnen, ein kesser Junge, der sich zunächst als Autor expressionistisch gesteilter Pornographie einen Namen machte. In seiner »Septembernovelle« ging es hoch her, eine Schnurre voll inspirierter Geilheit, dabei nicht einmal ganz talentlos. Mit dem Talent hörte es dann bald auf, woraufhin der Wicht prompt seine nationale Gesinnung entdeckte.

Dies waren unsere Feinde, der Abschaum. Dies waren die künftigen Herren.

Konnten wir uns irgendwelche Illusionen machen über den Ausgang des Kampfes, dem wir nun unwiderruflich verschworen waren? Man wollte das Äußerste – die Etablierung der Hitler-Diktatur – nicht für möglich halten; man klammerte sich an ermutigende Zeichen, wobei man schon bescheiden genug geworden war, so fragwürdige »Erfolge« wie die Wiederwahl des senilen Hindenburg, Frühling 1932, als »ermutigend« zu empfinden. Aber im ganzen war es doch eine Stimmung bitterer Bereitschaft und militanter Resignation, die in unserem Kreise und in unserem Hause herrschte. Meine Mutter, die während des Krieges auffallend klarsichtig gewesen war, bewies wieder ihren gesunden Realismus. Sehr deutlich erinnere ich mich der Gespräche, in denen wir die Härten und Abenteuer des Exils halb scherzhaft, halb mit bangem Schauder antizipierten. Wird es sehr schlimm sein? fragten wir einander. Und dann mochte wohl einer von uns hastig hinzufügen, als ob es gelte, irgendeinen möglichen Einwand im voraus zurückzuweisen: »Denn wir würden doch natürlich nicht in Deutschland bleiben, wenn … ich meine, falls …« Wir verstanden alle.

Mein Tagebuch bestätigt, was mir in der Erinnerung so gegenwärtig bleibt: die ahnungsvoll gedrückte Stimmung jener Tage. Um nur zwei Beispiele anzuführen: »25. Mai 1931. Ernste Unterhaltung über die Notwendigkeit, Deutschland zu verlassen. Entsetzlicher Triumph des Wahnsinns.« – Und, unter dem Datum des folgenden Tages: »Wieder langes Gespräch mit Mielein, unser künftiges Exil betreffend. Ist es in der Tat unvermeidlich?«

Das gleiche Gefühl der Beängstigung und Beklemmung findet sich auch in meinen literarischen Arbeiten aus dieser Zeit, den letzten also, die ich in Deutschland vollenden und publizieren sollte. Es sind nicht meine politischen Polemiken und Glossen, an die ich vor allem denke. Sie haben oft den forciert zuversichtlichen oder salbungsvoll rhetorischen Ton, der mir jetzt peinlich ist; vielmehr spreche ich von Dingen, in denen sich mein Kummer in künstlerischer Verwandlung – will sagen: gültiger und echter – auszudrücken suchte. Ein Roman und ein Theaterstück, die ich damals (1930/32) schrieb, scheinen den Schmerz der Heimatlosigkeit poetisch zu antizipieren. Was immer die literarischen Meriten und Schwächen dieser Experimente sein mögen, sie geben jedenfalls einen Begriff von der furchtbaren Einsamkeit, zu der ein europäisch-liberal-gesinnter deutscher Intellektueller sich im Deutschland der sterbenden Republik verurteilt fand. Ein Entwurzelter? Niemals war ich es so sehr wie damals, in einem schon fremd-gewordenen Vaterland, dessen vergiftete Atmosphäre meine Stimme erstickte, ihr jede Resonanz und Wirkung nahm.

Mit äußerem Erfolg oder Mißerfolg hat dies wenig zu tun. Es ist wahr, mein letztes dramatisches Unternehmen – »Geschwister«, nach dem schönen Roman »Les Enfants Terribles« von Jean Cocteau – war ein geräuschvoller Durchfall: Erika, die bei der Münchener Uraufführung die Hauptrolle spielte, mußte ihre ganze Energie und Autorität einsetzen, um den Ausbruch eines wilden Theaterskandals zu verhindern. Die Presse meiner lieben Geburtsstadt erging sich in den üblichen Schimpftiraden. Nicht viel freundlicher klang, was die Kritiker in München, Berlin und anderen deutschen Kulturzentren über meinen Roman »Treffpunkt im Unendlichen« (1932) zu sagen hatten. Aber dieser Mangel an populärer Anerkennung wäre an sich doch wohl kaum genug gewesen, mich zu überraschen oder gar zu entmutigen. War ich es nicht gewohnt? Die beiden Produkte, die ich da einer politisch stark abgelenkten deutschen Öffentlichkeit vorlegte – meine dramatische Version einer höchst subtilen französischen Prosadichtung und mein Versuch, die komplexe Problematik einer Gruppe von internationalen Bohémiens erzählerisch zu gestalten – konnten wohl in der Tat nur für einen engen Kreis von Reiz oder Interesse sein. Außerhalb dieses Kreises erregten sie ein Befremden, welches – wie die Dinge nun einmal lagen – beinah selbstverständlicherweise häßlich-gehässige Formen annehmen mußte. Als ob es mir etwas Neues gewesen wäre! Aber diesmal erschreckte es mich. Warum?

Die Gehässigkeit – ich mußte es wohl bemerken – hatte sich vertieft, war böser, kälter, feindlicher geworden. Eine Gehässigkeit, die vernichten will. Erst quälen und dann töten. Eine mörderische Gehässigkeit, ein Nazi-Haß: das war es nun, was mir aus den Spalten der Presse, der Miene des Theaterpublikums entgegengrinste. Dies war nicht mehr von der komischen Seite zu nehmen, wie die Skandale meiner frühen Zeit. Es wurde Ernst.

Nicht, als ob man schon in einer »verzweifelten Situation«, völlig auf dem Hund gewesen wäre! Im Gegenteil, es gab immer noch genug Betrieb, die Einnahmen ließen nichts zu wünschen übrig, sogar nach Erfolg sah es zuweilen aus. Man schrieb für die großen Revuen »Uhu«, »Dame«, »Querschnitt«, »Velhagen und Klasings Monatshefte« –; wohl auch gelegentlich für eins der linksgerichteten Wochenblätter, »Weltbühne« und »Tagebuch«, oder für die literarisch ambitiöse Tagespresse: »Vossische Zeitung«, »Berliner Tageblatt«, »Acht-Uhr-Abendblatt«. Man plauderte am Radio, las in einem Konzertsaal oder einer Bücherstube aus Ungedrucktem vor, eine Filmidee wurde verkauft … Aber bei all diesen finanziell lohnenden und übrigens nicht unamüsanten Aktivitäten blieb das Gefühl der Hohlheit, der Vergeblichkeit. Inmitten der allgemeinen Auflösung wurde die eigene Betriebsamkeit zur makabren Farce. Man schwatzte, scherzte, warnte, predigte – und es gab keine Antwort.

Oder gab es doch eine? Hinter der immer noch intakten Fassade unserer unheimlich leerlaufenden Existenz erschien das drohende Zeichen. Blutrote Hieroglyphe am verfinsterten Horizont:

Mene, mene, tekel, upharsim …

Wer begreift die Mahnung des verhüllten Gottes?

Überhörst du sie oder mißverstehst ihren Sinn, so wirst du fallen. Und fallen wirst du, wenn du den Spruch verstehst, hast aber nicht die Kraft, ihm zu folgen. Nur wer versteht und hat die Kraft zu folgen, nur der bleibt verschont.

Verschont? Er wird leben müssen. Das Teil, das er gewählt hat, ist das schwerste.

 

Ich habe mehr Freunde durch Selbstmord verloren (womit hier auch die indirekten Formen der Selbstzerstörung gemeint sein mögen) als durch Krankheit, Verbrechen oder Unglücksfälle. In meinem engsten Kreise kam es mehrere Male zu Selbstmord-Epidemien. Die erste ereignete sich während der Jahre unmittelbar vor Ausbruch des Dritten Reiches.

Ich weiß nicht, will es auch nicht untersuchen, was die schaurige Übung in Mode brachte. War es das Beispiel des Pariser Malers Pascin, den so viele von uns gekannt hatten? Er machte es gründlich, im kraß-pittoresken Stil, indem er sich nämlich die Pulsadern aufschnitt und sich dann auch noch an der Türklinke erdrosselte: nicht aber, ohne vorher mit seinem Blute einen letzten Gruß an die Wand gemalt zu haben. »Ne m'oublie pas, ma chérie! Je t'adore!«

Die Schrift! Die blutige Schrift an der Wand …

Es muß ein tödlicher Bazillus in der Luft gewesen sein.

Zu den Mythen unserer Kindheit gehörte die schöne, hysterische Tante, Schauspielerin Carla Mann, angeblich vom Herzschlag dahingerafft; aber man weiß ja, daß sie im Hause der Mann die Säure trank und in Todesqualen gurgeln mußte. Nun folgte Tante Lula, älter als die verstorbene Schwester, aber jünger als die überlebenden Brüder, Heinrich und Thomas: sie erhängte sich. Sie war stets sehr bürgerlich und fein gewesen, von zimperlich-gezierter Art, mit matten Augen und gespitztem Mündchen, dabei aber heimlich ausschweifend, mit einem melancholischen Penchant für Narkotika und gut-aussehende Herren des gehobenen Mittelstandes. Einerseits die forcierte Feinheit, andererseits die Gier nach Morphium und Umarmung. Das war zuviel, sie unterlag, griff zum erlösenden Stricke. Die Nachricht von ihrem Tod ließ mich damals ziemlich unberührt; ich hatte mir nie viel aus dieser Tante gemacht. Seither aber sind meine Gedanken oft voll Mitleid bei ihr gewesen.

Von Klerikern und Spiritisten wird behauptet, daß Selbstmörder im Jenseits nichts zu lachen haben: nach weitverbreiteter Ansicht steht ihnen drüben Gräßliches bevor. Dies scheint ungerecht, da doch schon ihr Erdenleben nicht völlig heiter war. Gar nicht zu reden von der Bitterkeit des vorzeitig herbeigezwungenen letzten Stündleins. Tante Lülchen starb gewiß keines leichten Todes. Möge sie die Qual, die sie sich hienieden auferlegt, nicht auch noch anderweitig büßen müssen. Könnte ich beten, ich betete für diese arme Seele.

Auch Tante Olga wünsche ich das Beste. Sie war einem Bruder meiner Mutter anvermählt, russischen Ursprungs, Malerin ihres Zeichens, übrigens sehr begabt, auch nicht ohne Charme und Drolligkeit, aber unselig heftigen Temperaments und schwierigen Charakters. Es ging schief mit ihr, sie sprang aus dem Fenster. Dies geschah zu Berlin, nicht lang vor der »Machtergreifung«.

Die Tochter des Wiener Dichters Arthur Schnitzler tat es in Österreich – oder war es in Venedig? Die Einzelheiten sind mir entfallen, ich weiß nur noch, daß sie wie aus einer Novelle des berühmten Vaters waren. Kam nicht ein italienischer Offizier vor und ein Strand, an dem geliebt und gestritten wurde? Dann fiel ein Schuß, ganz wie bei Schnitzler. Aber er, der dergleichen so oft und so brillant beschrieben hatte, schüttelte nun den Kopf: »Mein Kind, mein Kind … Dies ist das erstemal, daß ich dir etwas wirklich übelnehme.«

Es ist nicht leicht, das Kind eines Genies zu sein. Hugo von Hofmannsthals ältester Sohn, »der Franzl«, schoß sich eine Kugel vor den Kopf. Nicht lange vorher hatte der Vater einen Angsttraum, den er den Seinen beim Frühstück erzählte, ohne daß ihnen das zutiefst Entsetzliche der geträumten Situation so recht klar zu machen gewesen wäre. Es handelte sich da um einen Hut, – Hofmannsthals »täglichen« Spazier- und Ausgeh-Hut, der harmlos und wie immer an seinem Haken hing. Als aber der Dichter ihn herunternehmen wollte, entzog das vertraute Stück sich seinem Zugriff. Nicht, daß der Hut nun höher hing, oder der sich verzweifelt Mühende der Erde zugeschrumpft wäre. Nur erreichen ließ die Kopfbedeckung sich nicht. Wie der tödlich Geängstigte auch sprang und hopste und die Arme reckte, – der Hut entzog sich ihm. Es war ein schlimmer Traum.

Am Morgen der Beerdigung, als der Dichter sich anschickte, dem Sarge seines Sohnes zu folgen, geschah es, daß er nach seinem Zylinder griff und außerstande war, ihn zu fassen. Er reckte die Arme, – der Hut entzog sich ihm. Er stöhnte, taumelte, brach zusammen, starb. Ein Schlaganfall? Eine Tragödie im großen Stil der Antike. Hugo von Hofmannsthal ward getötet von seinem Traume und seinem Gram. Vielleicht starb er, weil er hinter dem evasiven Hut etwas gesehen hatte. Ein Wahrzeichen, eine Schrift an der geträumten Wand …

Mene, mene, tekel …

In Paris, an einem grauen Winternachmittag, trat ein junger Mann zu mir ins Zimmer. Ein Fremder, ich hatte ihn nie zuvor gesehen. Er erzählte mir, auf zugleich stockend befangene und naiv zutrauliche Art, daß er ein Maler sei, in der Schweiz gebürtig; er kenne wenig Menschen in Paris. Ob ich etwas dagegen hätte, wenn er ein halbes Stündchen bei mir bliebe?

Wir sprachen von Büchern und Bildern, und es erwies sich, daß wir mancherlei gemeinsam hatten – künstlerische Vorlieben und Aversionen. Mir ist erinnerlich, daß unter den literarischen Novitäten, die er auf meinem Tische fand, eine seine besondere Aufmerksamkeit erregte – »J'adore«, das Erstlingswerk des jungen Jean Desbordes, den Cocteau damals »entdeckt« hatte und mit dem ich auch persönlich gut bekannt war. Der fremde Gast fragte mich nach dem Inhalt des Buches. Der Inhalt? Es handelte sich um Nichts, um Alles, um das Leben, welches hier in seinen sämtlichen Erscheinungsformen mit zarter Inbrunst und delikater Ekstase gepriesen wurde. »Jean Desbordes ist glücklich«, sagte ich. »Er betet das Leben an.«

»Ja, es kann anbetungswürdig sein, das Leben«, gab mein Besucher zu. »Vraiment adorable …« Und mit seltsam entgleitendem Blick und einem scheuen, fast verschämten Lächeln: »Solange man die Kraft hat, es zu ertragen.«

Er sah nicht aus, als ob es ihm an Kraft fehle. Er war hochgewachsen, schön, mit hellem Haar und schöner, heller Stirn. War er ein guter Maler? Ich hätte es gern gewußt. Er versprach, mir bei unserem nächsten Zusammentreffen einige seiner Arbeiten zu zeigen.

Ich erschien pünktlich zum Rendezvous, ein paar Tage später, im Café du Dôme; aber er kam nicht. Das fand ich doch verdrießlich. Mir erst die Bude einzulaufen, und mich dann zu versetzen! Ein unzivilisierter Geselle offenbar, ein Bohémien ohne Disziplin und Manieren. Wahrscheinlich hatte er sich in eine weiße Statue im Luxembourg-Garten verliebt oder in eine schwarze Prostituierte am Boulevard Clichy. »Tant pis pour lui, ou tant mieux …«

»Tant pis pour lui, ou tant mieux«: er war tot. Am Tage nach seiner Visite bei mir hatte er sich erschossen. Am Tage, nachdem er zu mir gesagt hatte, daß das Leben »adorable« sein könne, solange man die Kraft habe, es zu ertragen.

 

»Leicht zerstörbar sind die Zärtlichen …«

Mein Freund Wolfgang Hellmert wählte dies Hölderlin-Wort als Motto für seine Novelle »Fall Vehme Holzdorf«, die einzige größere Arbeit übrigens, die er je zum Abschluß brachte. Er war nicht eben ehrgeizig, mein Freund Wolfgang, nicht sehr darauf bedacht, sich in dieser Welt durchzusetzen. Wozu auch? Eher stand ihm wohl der Sinn danach, sich möglichst bald aus dem Staub zu machen.

Unter denen, die mir am nächsten waren, kam diese Neigung nur zu häufig vor. Meine zwei liebsten Freunde, René und Ricki – die sich übrigens nie begegnet sind – liebten den Tod und fürchteten das Leben. Beide waren von der Angst besessen, wahnsinnig zu werden, wenn sie leben blieben. Gleichzeitig freilich schienen sie durchaus bereit und fähig, die Süße dieses Lebens zu genießen – mit größerer Hingabe und Dankbarkeit als manch ein gesunder, im Diesseits solid verwurzelter Erdenbürger.

Ricki, der von sich selber sagte, daß er nicht nur »bisexuell«, sondern »hysterisch-panerotisch« sei, war bezaubert von einer Schöpfung, in der er sich nicht zu Hause fühlte. Blumen, Berge, Bücher, Kinder, Tiere, Segelschiffe, der Schnee, das Meer, Musik, Bilder, Frauen, der Zirkus, das Theater, Wolkenkratzer, alles entzückte, faszinierte ihn. Trotzdem sprach er vom Selbstmord, manchmal wie von einer etwas anrüchigen Lustbarkeit, die er sich irgendwann einmal doch wohl gönnen werde; manchmal wie von einer fatalen Pflicht, welche sich leider nicht umgehen läßt. »Zu dumm, daß es sein muß!« sagte er wohl mit einem etwas schaurig zerstreuten Lächeln. »Gerade jetzt, wo ich das Häuschen und den Wolfram habe.«

Wolfram war ein langhaariger Terrier von niedriger Statur und langem Rücken, ein seidiges Geschöpf, sehr liebenswert, mit innig klugem Goldblick. Um den Hals trug er ein silbern Glöckchen, das mit artigem Geläut auf sein Kommen vorbereitete. Hinter ihm kam Ricki.

Etwa jeden zweiten Tag fuhr er vom Ammersee, wo er das Häuschen hatte, nach München, um dort mit Freunden zu plaudern, eine Ausstellung, ein Kino zu besuchen, oder sich sonst zu zerstreuen. Er verschwendete viel Zeit auf diese Weise, aber das ließ sich nun einmal nicht ändern: er behauptete, daß er einerseits auf dem Lande leben müsse, es aber andererseits dort nicht aushielte. Jedenfalls nicht ohne gelegentliche Unterbrechung. Nach einiger Zeit – so gestand er uns – werde die Einsamkeit, deren er doch bedürfe, ihm völlig unerträglich. Es hielt ihn nicht bei der Arbeit, im ländlichen Atelier. Er brauchte Ermutigung. »Sag mir, daß ich ein guter Maler bin!« forderte er mit scherzhafter Gier. »Von Rembrandt-Rang?« Und er lamentierte: »Ach, du glaubst es nicht!«

Aus Stolz und Diskretion stilisierte er gerade das ins Groteske, was ihn am tiefsten quälte: die Angst vorm Wahnsinn, die Zweifel am eigenen Talent. Er litt an den Frauen und riß Witze über seinen »Masochismus«. Das Milieu, dem er entstammte – die hochkultivierte jüdische Bourgeoisie –, war ihm verhaßt: weshalb er sich selbst mit grimmiger Heiterkeit als »jüdisches Herrschaftskind« charakterisierte. Manchmal jammerte er vorm Spiegel: »Heute sehe ich wieder genau wie meine Frankfurter Vettern aus! Merkt ihr's nicht, Kinder? Ach, natürlich merkt ihr's ganz genau! Scheußlich, was? Sagt's ihm nur ins Gesicht, eurem Masoch, daß er scheußlich ist!« Woraufhin er dazu überging, uns mit boshaft inspirierten Imitationen seiner gesamten Verwandtschaft zu amüsieren, von der Großmutter bis zum neugeborenen Leipziger Vetter, der schon in der Wiege sächsisch sprach. »Und ich bin einer von ihnen!« sagte er wohl am Schluß, erschöpft von seinen unheimlichen Kapriolen. Er lachte mit uns, aber seine schönen, dunklen Augen waren voll Bitterkeit.

Für Politik hatte er nie viel Interesse gehabt; aber in diesen letzten Jahren mochte es vorkommen, daß irgendeine besonders widrige oder beängstigende Zeitungsnachricht plötzlich einen Sturm verzweifelter Beredsamkeit bei ihm auslöste. »Es ist aus!« klagte er dann wohl, und warf die Arme mit der Geste alttestamentarischen Jammers. »Was machen wir uns denn noch vor? Wir haben verloren, es ist aus mit uns! Aus, aus, aus, mit euch und mit mir, mit uns allen, mit Offi und Ofey und dem sächsisch-sprechenden Baby und Hindenburg und Kardinal Faulhaber und W. E. Süskind und den Gewerkschaften! Die Nazis werden kommen und meinen kleinen Hund Wolfram schlachten und Erikas Wagen kaputtmachen und deine Bücher, Klaus, und meine Bilder auch!« Dann kopierte er Hitlern – noch komischer als vorher die Großmama und den Leipziger Säugling –, bis wir alle vor Lachen weinten, statt vor Kummer und Angst. Er stimmte mit ein in unsere Heiterkeit und bemerkte am Schluß wohl noch: »Dieser Trottel! Und weil so etwas Erfolg hat, sollte man Schluß machen? Eigentlich eine verrückte Idee!«

Wir wollten nicht, daß er Schluß mache. Er war unser liebster Freund, unser Bruder. Sein Verlust wäre der bitterste Verlust für uns gewesen, der unersetzlichste. Aus Egoismus und Liebe taten wir unser Bestes, ihn zu halten, ihn abzuhalten von jener anrüchigen Lustbarkeit und fatalen Pflicht, die er sich – oder die sich ihm – so hartnäckig in den Kopf gesetzt hatte.

Die Persien-Reise, die wir damals planten, war nur eine unserer Listen, dazu bestimmt, den Ricki von seiner Todespuschel abzulenken. Es sollte eine Expedition in zwei Automobilen werden, durch den Balkan und Kleinasien zum weitentfernten, lockend exotischen und kolossalen Perserland. Annemarie S., das »Schweizerkind«, würde mit von der Partie sein, als vierte, neben Erika, Ricki und mir. Es war eine großartige Idee, nicht wahr? Neue Eindrücke! Abenteuer! Weg vom deutschen Mief, der europäischen Enge!

Wir stürzten uns in Reisevorbereitungen. Tausend Dinge waren zu bedenken, zu erledigen: Visa, finanzielle Regelungen, Zeitungskontrakte, die Ausrüstung der Wagen. Ricki dachte an alles. Er kaufte Zeltbahnen und Thermosflaschen, Tropenhüte, wasserdichte Overalls, Landkarten, Sonnenbrillen, Verbandzeug (»Falls der Klaus einmal chauffiert und es ein Unglück gibt …«), sogar eine persische Grammatik. Besonders stolz war er auf ein Paar Schuhe, das er erhandelt hatte – sehr feste, dabei schmucke braune Stiefel, die angeblich fünfzehn Jahre halten sollten. Er kaufte alle einschlägigen Baedecker-Bände, dicke wollene Socken, Tierkohle (»Man verdirbt sich dort leicht den Magen …«) und sogar einen Revolver, zum Schutz gegen die persischen Räuber.

Er schien durchaus bei der Sache, umsichtig, einfallsreich, enthusiastisch. Manchmal freilich – nicht sehr oft – geschah es, daß er sich inmitten all der Betriebsamkeit plötzlich verdüsterte. Sein Gesichtsausdruck in solchen Momenten war nicht so sehr traurig als böse und vertrotzt, ein feindlicher Ausdruck, als haßte er uns alle. Dergleichen war mir neu an dieser vertrauten Miene. Neu war auch das kurze Funkeln, zugleich grell und verstohlen, das es nun bisweilen in seinen Augen gab und das seinen schönen Blick beinah tückisch machte. Nicht ganz frei von Tücke schienen übrigens auch gewisse scheinbar ganz sinnlose oder doch irrelevante Fragen und Vorschläge, die er gelegentlich mit gespielter Nonchalance in die Debatte warf. So erkundigte er sich einmal – wobei sein schlimmer Glitzerblick mich gehässig von der Seite streifte –, ob es mir Vergnügen machen würde, unvermutet eine größere Summe Geldes einzuheimsen: »Zehntausend oder fünfzehntausend Mark, einfach so, mir nichts dir nichts, aus blauem Himmel, ganz ohne Gegenleistung deinerseits! Das würde dir wohl passen, alter Perser, was?«

Mir war bei all dem nicht recht wohl zumute. Auch wußten wir nicht recht, was für Gesichter machen, als er abrupt proponierte, daß wir die Reise ohne ihn beginnen sollten: »Ihr zwei fahrt los mit eurem Schweizerkind, und ich komme nach, so ungefähr in zehn Tagen. Man trifft sich in Prag oder in Bukarest. Einverstanden? Das gäbe mir Zeit, noch geschwind nach Frankfurt zu flitzen und meine Affären dort in Ordnung zu bringen.« Aber da wir seinen Vorschlag überraschend und nicht recht akzeptabel fanden, ließ er ihn gleich wieder fallen. »Eine dumme Idee, habt ganz recht!« pflichtete er uns hastig bei. »Auf so was Idiotisches kann nur der Masoch kommen! Ich nehme alles zurück und behaupte das Gegenteil. Was ist übrigens deine Schuhnummer, Klaus?«

Was meine Schuhnummer denn zur Sache tue, erkundigte ich mich, aufs neue seltsam berührt.

Er kicherte: »Nur so! Ich hoffe, deine Füße sind nicht größer als meine. Sonst drücken dich meine neuen Prachtstiefeletten, fünfzehn Jahre lang, stell dir doch vor!«

Unsere Abreise war auf den 5. Mai 1932 festgesetzt. Am Tag vorher fuhren wir zu den Studios der »Emelka«-Filmgesellschaft, wo wir für die Wochenschau aufgenommen werden sollten. Wir trugen unsere neuen Overalls, mit Tropenhut, Sonnenbrille und allem Zubehör; unsere zwei Ford-Wagen, frisch lackiert, stahlgrau mit viel Nickel, blitzten in der Sonne. Es war ein herrlicher Tag.

Ricki war bester Laune, in brillanter Form. Während die Kameraleute uns warten ließen, spendierte er Bier für die Arbeiter und das herumlungernde Statistenvolk. Alles amüsierte sich über seine Hanswurstereien, war bezaubert von seinem Charme.

Es dauerte etwa eine Stunde, bis der Regisseur zur Aufnahme bereit war. Er placierte Annemarie und Erika auf den Führersitzen der beiden Fords, während Ricki und ich uns auf den Boden unter einen der Wagen zu legen hatten, scheinbar damit beschäftigt, einen Schaden am Rad mit geübter Hand zu reparieren. Die technischen Vorbereitungen zogen sich hin; Beleuchtungsapparate und Kameras waren einzustellen; Ricki indessen hörte nicht auf zu jökeln und zu dalbern. Wie mir erinnerlich, ließ er sich die Gelegenheit nicht entgehen, mich mit meiner manuellen Ungeschicklichkeit aufzuziehen, ein stehender Scherz zwischen uns beiden. »Na, das kann ja nett werden!« grinste er mir zu, neben mir platt auf dem Bauche liegend. »Ehe du ein Rad reparierst, verdursten wir in der persischen Wüste!«

In diesem Augenblick wurde das Zeichen zur Aufnahme gegeben, woraufhin seine Miene sich plötzlich aufs erschreckendste veränderte. Eben hatte sie noch gelacht, und nun erstarrte sie zu einer Grimasse von Gram und Grauen. Selbst das Haar, dessen dunkle Locke ihm in die seltsam niedrige Stirne hing, schien nun von böser, feindlicher Substanz, schaurig gekräuselter Putz, Schlangenhaar über dem nächtigen Blick. Der Blick – angstvoll geweitet, aufgerissen, blind – ging ins Leere. Es war, als habe er auf eine furchtbare Sekunde die Maske fallen lassen, auf daß der Photograph festhalte und aufbewahre, was er vor uns aus Stolz und Trotz verbarg – sein wahres Antlitz, das gezeichnete.

Als sei diese mimische Demonstration nicht genug des Schreckens, begleitete er sie auch noch mit einer akustischen. Ausgestreckt an seiner Seite, mußte ich leider hören, daß er mit den Zähnen knirschte. Das Geräusch, das solcherart zustande kam, war leise, aber penetrant, ein höchst gräßlicher kleiner Lärm, schlimmer als jeder Aufschrei.

Gleich danach lachte er wieder. Der Zwischenfall, eine echte Ricki-Kaprice, war bald vergessen.

Wir verbrachten den Rest des Tages zusammen; besonders nett war der Abend, in der Regina-Bar. Es war nach Mitternacht, als wir uns trennten. Ricki mußte noch zum Ammersee fahren, um sein Gepäck zu holen. Es war verabredet, daß wir uns am nächsten Nachmittag gegen drei Uhr mit ihm treffen würden.

Am folgenden Morgen, während wir unsere Koffer packten, rief er zweimal aus Utting an: zuerst, um Erika zu raten, daß sie eine bestimmte Sorte Benzin tanken möge, die, wie er mit seltsamer Insistenz behauptete, unvergleichlich besser sei, als die sonst von uns bevorzugte; dann, kurz nach elf Uhr, um ein unwichtiges Detail, die Route nach Prag betreffend, mit etwas hektischem Eifer zu erörtern.

Zum Mittagessen hatten wir Gäste, unsere Freundin Annemarie S. und unsere Freundin Eva Herrmann, die deutsch-amerikanische Karikaturistin mit dem lieblichen Gemmengesicht, der Ricki während der letzten Jahre eng verbunden gewesen war. Es war ein Sonntag und übrigens unser Abschiedsmahl, weshalb es denn auch besonders fein zu essen gab. Man speiste mit Behagen. Gegenstand des animierten Tischgesprächs war natürlich die Reise, die wir noch am gleichen Tage anzutreten dachten. Mir ist erinnerlich, daß Mielein mich mehrfach ermahnte, doch bitte ja nicht unvorsichtig zu fahren. »Laß den Ricki ans Steuer, sowie du anfängst, müde zu werden, oder wenn die Straße nicht gut ist«, sagte sie. »Du bist nun einmal kein sehr begabter Chauffeur. Der Ricki kann's viel besser!«

Nach Tische saß man, wie üblich, in der Diele beisammen, jeder mit seiner Zigarette (Mielein ist die einzige von uns, die nicht raucht), dem Likörgläschen und dem schwarzen Kaffee. Das Telephon läutete im Nebenzimmer. Mielein und ich standen gleichzeitig auf, um an den Apparat zu gehen; es gab einen kleinen Wettlauf, ich hätte gewonnen, ließ ihr aber höflich den Vortritt. Sie nahm den Hörer ab. Ich stand neben ihr.

»Hallo!« sagte sie, noch etwas atemlos vom Lauf und noch lachend. »Hallo … Ja, hier Frau Mann … persönlich, ja, gewiß doch … Wer spricht? … Ich kann Ihren Namen nicht verstehen, sprechen Sie doch lauter! … Wer? … Die Polizei? … Polizeiwache Utting am Ammersee …?«

Als wäre es gestern gewesen, und ich kann's nicht vergessen … Das Gesicht meiner Mutter war plötzlich sehr ernst geworden, ein graues Gesicht, als wäre ein Aschenregen darauf gefallen. Ich höre ihre Stimme – es muß gestern gewesen sein – ein heiseres Flüstern, dabei respektvoll und korrekt, wie es sich gehört bei fernmündlichem Verkehr mit der Obrigkeit. »Ja, Herr Wachtmeister … ja, jetzt verstehe ich Sie … Der Arzt hat festgestellt … Ja, gewiß … Keine Briefe … ja … Dann muß ich es wohl der Mutter mitteilen … Alle nötigen Schritte … Unkosten … natürlich … ich verstehe … Danke, Herr Wachtmeister … Guten Tag.«

Er hatte sich gegen zwölf Uhr mittags eine Kugel ins Herz geschossen. Ehe er es tat, hatte er die Zugehfrau in den Garten geschickt, um dort etwas zu erledigen, eine schlaue Maßnahme; denn er wollte sie in der Nähe haben, falls er, verwundet, aber nicht tot, ihrer Hilfe bedürfte; andererseits sollte sie weit genug entfernt sein, um ihn nicht an der Erfüllung seiner fatalen Lustbarkeits-Pflicht durch tollpatschiges Dazwischentreten verhindern zu können. Als einzigen Abschiedsgruß hinterließ er einen Zettel, auf den er in seiner barock verschnörkelten Schrift die folgenden Worte gemalt hatte:

»Sehr geehrter Herr Wachtmeister! Habe mich soeben erschossen. Bitte Frau Thomas Mann in München zu benachrichtigen. Ergebenst – R. H.«

... Die Gesellschaft in der Diele hatte sich inzwischen in zwei plaudernde Gruppen geteilt: die eine saß am niedrigen Kaffeetisch, während die andere um das Grammophon herum stand, aus dem jetzt Fülle des Wohllauts kam: der »Rosenkavalier«-Walzer. Meine Mutter und ich mußten unser furchtbares Geheimnis noch einige Sekunden lang für uns behalten, bis jemand das Grammophon abstellte und es uns endlich gelang, die Aufmerksamkeit der ahnungslos Schwatzenden zu gewinnen. Aber wer kennte die schickliche Art, eine so unsagbare Nachricht mitzuteilen? Da bleibt nichts übrig, als stammelnd zu gestikulieren und die anderen erraten zu lassen, was man selbst nicht auszusprechen wagt. »Etwas Furchtbares ist geschehen … Der Ricki …«

Dies genügte. Jemand schrie auf: »Ist er tot?«

Albtraumhafte Szene! Es gibt Gesten und Reaktionen, die man als Clichés belächeln mag, wenn man sie im konventionellen Stil des sentimentalen Romans benannt und beschrieben findet: »Sie wurde weiß wie die Wand … Einer Ohnmacht nah, sank sie in einen Stuhl … Sie brach in Tränen aus …« Aber wie neu und unerhört, wie erschütternd wird diese traditionelle Pantomime des jammervollen Schocks, wenn sie sich in Wahrheit vor unseren Augen begibt, ausgeführt von Menschen, die wir lieben und deren schockhaftes Weh übrigens auch das unsere ist. Ja, Annemaries Gesicht – »son beau visage d'ange inconsolable« – wurde weiß wie die Wand; Eva sank in einen der großen Sessel am Kamin, halb ohnmächtig, wie es schien; und Erika, ach, mit welch herzzerbrechender Vehemenz die Tränen aus ihr brachen!

»Was für ein Wahnsinn!« wimmerte sie und immer wieder: »Was für ein Wahnsinn! Wahnsinn!« Ich sehe meinen Vater – gestern war es –, wie er, über die Kauernde geneigt, ihr plötzlich verwildertes, zerzaustes Haar liebkoste und ihr die Tränen trocknete mit seinem großen, nach Eau-de-Cologne duftenden Taschentuch. »Komm, komm, komm«, sagte der Vater. »Du hast immer noch viele Freunde, und sie alle lieben dich!« Aber sie hörte nicht auf zu wimmern: »Was für ein Wahnsinn!« Sie sah so jung aus, wie sie da schluchzend hockte, kleines Mädchen, vom Schmerz geschüttelt, mit widerspenstiger Mähne über dem tränennassen, roten, hilflos verzerrten, zuckenden Gesicht.

Ich stürzte nach oben, ziellos, selbst dem Wahnsinn nah. Aber meine Stube im zweiten Stockwerk war leer, nur die halbgepackten Koffer, kein Ricki. Hatte er mir gar nichts mehr zu sagen? Ich lauschte. Nichts … Auch in der Diele, wo ich alsbald wieder ankam, war es inzwischen sehr still geworden. Niemand schien sich hier gerührt zu haben, während ich oben war; alle standen oder saßen noch in eben der Pose, in der ich sie verlassen, paralysiert, versteinert vom Schmerzensschock. Als einziger Laut blieb, gedämpfter jetzt, Erikas haltloses Weinen.

Die Starre hielt nicht an, sondern wich bald einer makabren Geschäftigkeit. Ach, wie emsig-gemütlich es zuging, während der nächsten Stunden und Tage! Der schwarze Kaffee, die Seufzer, die Zigaretten, die geselligen Tränen, der wehmütige Erinnerungsklatsch! Wie wir zusammensteckten, einander wärmend, tröstend, bemitleidend, hatten wir ihn nicht alle liebgehabt? Waren wir nicht alle Beraubte? Ja, es tat wohl oder linderte doch das Weh, in traulicher Kummergemeinschaft alles durchzusprechen, wie es gekommen war, und hatte wohl auch gar nicht anders kommen können. So manche seiner rätselhaften Gesten und Äußerungen aus der letzten Zeit wurden jetzt erst verständlich. Als er uns zum Beispiel den Vorschlag machte, die Reise ohne ihn zu beginnen, was hatte er denn da im Sinn gehabt? Doch nicht etwa das Zusammentreffen in Prag oder Bukarest, von dem er schwatzte! Sein schlaues Plänchen war vielmehr gewesen, uns erst einmal loszuwerden und sich dann in Muße umzubringen, wobei er sich vielleicht noch eingeredet hatte, daß wir, erst einmal unterwegs, die Expedition wohl auch ohne seine Begleitung fortsetzen würden. Da diese List nicht glückte, entschloß er sich, uns bis zum bitteren Ende an der Nase herumzuführen.

Aber warum? Wer zwang ihn zu dieser Reise? Was bewog ihn dazu, eine Reiselust vorzutäuschen, die er nicht empfand? Oder hatte er, mit einem Teil seines Wesens, wirklich Lust auf Persien gehabt? War der Enthusiasmus, mit dem er die Vorbereitungen betrieb, am Ende doch mehr als nur ein Täuschungsmanöver? Es waren wohl zwei verschiedene Fahrten, die ihn gleichzeitig lockten und für die er sich gleichzeitig in Bereitschaft hielt. Die eine, die nach Teheran gehen sollte, hätte er mit uns, uns zuliebe, aus Liebe zu uns gemacht; auf die andere aber begibt man sich allein, in einem Panzer von Einsamkeit, den keine Liebe mehr durchdringen kann.

Die Qual der Gespaltenheit, er erlebte sie wohl in seinen letzten Tagen und Wochen. Seine Freude an den schönen braunen Schuhen war gewiß nicht gespielt. Fünfzehn Jahre sollten die Dinger halten … Aber wozu dann die Frage nach meiner Schuhnummer? Jetzt begriff ich sie. Auch das Gerede über die zehntausend Mark, die mir »aus blauem Himmel« in den Schoß fallen sollten, enthüllte nun seinen ominösen Sinn. Ja, wenn Rickis kleines Vermögen an die sechs nächsten Freunde ging – wie sein Testament es bestimmte –, so betrug mein Anteil ungefähr zehntausend Mark …

Am folgenden Tage fuhren Erika und ich nach Utting am Ammersee. Begleitung hatten wir uns verbeten; jeder vierte, sogar Eva oder Annemarie, hätte Ricki und uns gestört. Der Morgen war schön; die vertraute Landschaft mit ihren bewaldeten Hügeln, sanften Wiesen, alten Bauernhäusern atmete einen Frieden, an dessen Vollkommenheit ich nicht denken kann, ohne den Stich der Sehnsucht, ja des Heimwehs dabei zu verspüren. Man ist ein Entwurzelter und hat sie doch geliebt, diese bayerische Landschaft. Bauernhäuser, Hügel, Wiesen, Herden, das Kruzifix am Weg, Brunnen und Apfelbaum; dahinter im Silberdunst, die majestätisch zarte Silhouette des Hochgebirgs –, an diesem Vormittag erschien es liebenswerter denn je. Einer, dem solche Schönheit teuer gewesen war, hatte sie verloren: man liebte sie für ihn mit, liebte ihn in ihr und übrigens wußte man wohl auch oder ahnte doch, daß man selber dies gesegnete Land bald verlieren würde.

Da war der See; wir hielten vor Rickis Haus. Hier schien die Stille geisterhaft zu werden. Im unteren Teil des Gartens, nah dem Wasser, gediehen fahle Sumpfblüten und fettes Schilf. Der Grund war weich, morastig. Es roch nach Sumpfigem. Die kleine Villa, etwas erhöht gelegen, machte sich niedlich mit efeubewachsener Fassade, grünen Fensterläden, roten Geranien im Topf. Dies also war die Idylle, zu deren nicht ganz geheurer Abgeschiedenheit er so oft vor uns geflohen war … Da wir näher traten, empfing uns ein silbrig Klingeln: das Glöckchen um Wolframs Hals.

Auf der Schwelle zögerten wir. Ein Raunen wies uns den Weg: »Nur hinauf! Keine Angst, junge Dame! Es sieht ganz ordentlich oben aus. In der Schlafkammer liegt er, aufgebahrt, wie sich's gehört!«

Wir hatten sie erst nicht bemerkt, zwei massive, dunkle Gestalten, die zu beiden Seiten der Treppe standen. Es waren die Leichenwäscherinnen. Sie nickten und murmelten, wobei sie die Hände in frömmlerisch selbstgefälliger Pose über dem gewölbten Bauch gefaltet hielten.

Anstatt den beiden furchtbaren Alten zu antworten, fingen Erika und ich zu weinen an – unvermittelt und übrigens genau gleichzeitig, wie auf ein heimlich gegebenes Zeichen. Durch einen Schleier von Tränen sah ich, wie Erika sich der Treppe näherte, mit mühsamen kleinen Schritten, als ginge sie auf Nägeln oder auf glühendem Sand. Ich holte sie ein. Hand in Hand, zwei angstvolle Kinder, stiegen wir durch das fahle Zwielicht hinauf zum Schreckenszimmer, wo unser Bruder erschossen lag.

Die beiden Weiber nickten und murmelten hinter uns her, freundlicher jetzt, wie mir schien. Offenbar, sie billigten unsere Tränen, unseren mühsamen Gang. Ein junger Herr und eine junge Dame, die im Automobil von der Stadt gekommen sind, um die Leiche ihres Vetters, Schulfreundes oder Kollegen in Augenschein zu nehmen, betrugen sich – nach Ansicht der Wäscherinnen – anständig-herkömmlicher Weise genau so, wie wir es eben taten. Ich wußte sehr wohl, daß unser Schluchzen auf die zwei Alten einen famosen Eindruck machte, der Gedanke war zugleich peinlich und schmeichelhaft.

Endlich hatten wir den engen Korridor am Ende der Treppe erreicht. Erika öffnete die Tür, und da war es, überraschend hell im Sonnenlicht, nüchtern und schaurig: der Tatort, die Stätte des Verbrechens, die Todeszelle, Schauplatz der Agonie, des brechenden Blicks, des finalen Röcheins.

Aber wer war diese Puppe, dort drüben, auf dem Bett? Sie erschien niedlich, dabei aber auch fürchterlich, eine fremde, kostbare kleine Sache aus wächsern sprödem Stoff. Welcher Hochmut in diesem unbekannten Gesicht, mit den leicht nach oben gezogenen Mundwinkeln! Es lächelte, dies Gesicht – diskret, aber unverkennbar. Welch ein Lächeln! Dies konnte nicht Ricki sein.

Weder Erika noch ich hatten einen Toten gesehen, seit jenem legendären Gang zum Tölzer Friedhof. Jetzt entsannen wir uns der eisig makellosen Stirn des ertrunkenen Bäckergesellen: in Rickis unaussprechlich entfremdeter Miene nahmen wir dieselbe feindliche Verklärung wahr. Die Toten gleichen einander. Aber der Mund des Bäckers war barmherzig mit weißer Binde bedeckt. Es gab kein Lächeln zu sehen …

»Wie klein er ist!« brachte Erika schließlich hervor, mehr überrascht als entsetzt.

Ich nickte. Ja, er war beinah unglaublich klein, geschrumpft, vertrocknet, schon zur Mumie geworden. Und ich begriff, daß sterben einfach austrocknen bedeutet. Der wesentliche Unterschied zwischen dem lebendigen Fleisch und dem toten ist keineswegs der zwischen Bewegung und Stille. Ein lebendiger Mensch kann völlig reglos sein, und warum sollte ein Toter nicht unter besonderen Umständen nicken, wandeln oder sogar hüpfen können? Aber der Tote ist trocken, ganz ohne Saft und Schleim. Kein speichelnder Mund mehr, kein tränenvoller Blick, keine blutende Wunde, kein Samenerguß, keine tropfende Nase: alles hübsch ausgedorrt, entfeuchtet, gereinigt.

»Wie sauber seine Hände sind!« hörte ich Erika neben mir flüstern. »Schau doch, die Fingernägel! So säuberlich hab ich sie nie gesehen.«

Dann stieß sie einen unterdrückten kleinen Schrei aus und deutete auf die Wand hinter dem Bett: »Was ist das …?« – Die Wand war mit Blut bespritzt. Er hatte die letzten Spuren seines feuchten, vergänglichen Lebens wie ein Tapetenmuster auf die kreidige Fläche getupft.

Wir standen nah beisammen, aneinander geklammert, vom Grauen wie gelähmt. Meine eigenen Worte klangen mir sinnlos, fast anstößig und blasphemisch: »Er muß eine Schlagader getroffen haben … das Herz vielleicht … Er hat es wohl nicht mehr gespürt.«

Die Blutschrift an der Wand starrte uns an, eine letzte Botschaft, deren Sinn wir nicht erfassen konnten.

 

Mene, Mene, Tekel …

Worauf bezog sie sich, die geisterhafte Formel? Auf die schmähliche Farce etwa gar, die sich in unserer heruntergekommenen Heimat demnächst abspielen sollte? Der kecke Staatsstreich, den ein gewisser von Papen – Herrenreiter und Intrigant großen Stils – im Sommer 1932 gegen die preußische Regierung unternahm, hatte sein Gutes: er demonstrierte das politische und moralische Fiasko, die Abdankung, den selbstverschuldeten Zusammenbruch der deutschen Linken. Die legale Macht, an deren Spitze Sozialisten standen, ergab sich einem unverschämten Baron und ein paar wortbrüchigen Polizisten. Warum? »Widerstand hätte zu Blutvergießen führen können.« Dies geben die Rausgeschmissenen zu bedenken, Braun und Severing, Totengräber der deutschen Demokratie.

Als Antwort kommt ein Hohngelächter aus entrückter Sphäre. »Was für ein Komiker Sie sind, Herr Severing, mit Ihrer Vorsicht! Und Sie, Herr Braun, wie sehr sehr drollig ist Ihr Zartgefühl! Widerstand hätte zu Blutvergießen führen können? Zugegeben, meine Exzellenzen! Aber nun passen Sie mal auf, wozu erst Ihre vornehme Zurückhaltung führen wird! Ein nettes, fettes Blutbad, Exzellenzen, darauf läuft es hinaus, dank Ihrer exquisiten Politik! In Strömen wird es fließen – das teure Blut, der ganz besondere Saft! Die Chronik kommenden Unheils ist schon aufgeschrieben, an die Wand geschrieben mit blutig roter Tinte. Wer Augen hat, der sehe! Haben Sie keine Augen, Herr Severing? Sind Sie blind, Herr Braun? Kann keiner von Ihnen lesen?«

Der Held von Tannenberg, Heros der deutschen Republik (ja, auch wir hatten seiner Wiederwahl applaudiert!), rühmte sich öffentlich seines Analphabetentums. »Seit meiner Kadettenzeit kein Buch angefaßt«, knurrte der alte Krieger. Wie konnte er für den versteckten Sinn magischer Bluthieroglyphen und Tapetenmuster irgendwelches Verständnis haben? Er war stumpfen Geistes, unser knurriger Feldmarschall, und robusten Gewissens. Mit echt germanischer Nibelungentreue verriet er den frommen Kanzler, dem er seine Macht verdankte: Brüning flog. Gegen seinen Nachfolger, den vergleichsweise liberalen General von Schleicher, setzten alsbald die muntersten Intrigen ein. Herrenreiter von Papen, immer voll witziger Einfälle, und der skrupellose Sohn des Präsidenten, Major seines Zeichens, überzeugten ihren senilen Chef von der Gefährlichkeit des neuen Kanzlers. Er war ein Bolschewist, wenn man den Herren Papen und Hindenburg jr. glauben durfte, darauf aus, den preußischen Großgrundbesitz im allgemeinen und die Familie Hindenburg im besonderen mit Hilfe des sogenannten »Osthilfeskandals« zu ruinieren. Der senile Chef hatte immer noch genug Verstand, um sein schönes Gut Neudeck keinesfalls verlieren zu wollen. »Schleicher fliegt!« Es mußte sein, um der Latifundien willen, so viel hatte der Herr von Gut Neudeck kapiert. Und was nun? Papen hatte seinen Vorschlag bereit: Ein Kabinett der »Nationalen Einheit« – mit Hitler an der Spitze!

Der böhmische Gefreite? Es war etwas starker Tobak für den alten Herrn. Aber von Papen hatte nun einmal sein Ohr, das große, behaarte, ziemlich schwerhörige Ohr des alten Recken. Raunte der Intrigant: »Dero Unterschrift, Exzellenz, es muß wieder mal sein! Dieser Hitler – gewiß, unangenehmer Patron, Plebejer, nicht von Stand, böhmischer Gefreiter … Andererseits, gesunde nationale Grundsätze, große Anhängerschaft, kann kolossal nützlich sein – als Werkzeug! Exzellenz verstehen doch? Eigentliche Macht bleibt bei konservativen Kräften, wie ich Exzellenz ausdrücklich versichern kann. Die Deutschnationalen regieren, der Generalstab, die Industrie. Hitler ist nur Aushängeschild, Fassade. Wollen Exzellenz doch bitte endlich unterschreiben! Eine reine Formalität …«

Da sitzt er nun, der Heros und starrt auf das Dokument, ein weißes Stück Papier, mit schwarzen Zeichen bedeckt »Kann nicht mehr lesen«, murrt der Hochbetagte. »Verdammtes geschriebenes Zeug, hat mich immer geärgert. Ist nichts für Soldatenherz. Böhmischer Gefreiter, scheußliche Sache, das. Aber was täte man nicht fürs Vaterland. Gut Neudeck – hurra! – muß erhalten bleiben. Preußengott wird wohl nichts dagegen haben … obwohl, natürlich, andererseits … Wie heißt der Bursche? Schicklgruber! Schweinerei! Schon gut, ich unterschreibe … Wo ist die Feder, Baron?«

Glücklich die Toten, denen die ruchlose Komödie erspart geblieben! Aus der sicheren Distanz entrückter Sphären betrachtet, mag der ganze Zwischenfall sich komisch ausgenommen haben; dem Augenzeugen und Zeitgenossen verging das Lachen vor solchem Übermaß des Lächerlichen. Wie die Repräsentanten der kapitalistischen Demokratie sich foppen ließen von dem verhinderten Lustmörder aus der österreichischen Provinz! Wie sich das tummelte und spekulierte und Geschäfte mit dem Teufel machen wollte! Vom »Foreign Office« in London bis zur Kanzlei des Heiligen Vaters in Rom, von Detroit bis zur Ruhr, von den ostelbischen »Klitschen« bis zu den aristokratischen Salons des Faubourg St. Germain, überall wird die Etablierung der deutschen Diktatur mit heiterem Wohlwollen aufgenommen. Sogar in Moskau ist man hoffnungsvoll. Was den Sozialdemokraten schadet, muß gut für die Kommunisten sein, und übrigens kann die Weltrevolution am Chaos nur profitieren …

Niemand versteht die apokalyptischen Zeichen; der Kontinent amüsiert sich über die eigene Tragödie, man lacht sich buchstäblich zu Tode. Schwerindustrielle, Kardinäle, Bankiers, Generalstabsoffiziere, Außenminister, Philosophen konservativ-idealistischer und marxistisch-materialistischer Observanz, sie alle halten die gellende Herausforderung des Horst-Wessel-Liedes für einen Ulk, die Schrift an der Wand für ein Witzblatt.

Mene, Mene …? Wie humoristisch!

Tekel …? Comme c'est rigolo!

Upharsin …? How funny!

Schmunzelnd, kichernd, brüllend vor Lachen taumeln sie in den Abgrund.

 

Am 30. Januar 1933 verließ ich Berlin früh am Morgen, wie von böser Ahnung fortgetrieben. Die Straßen waren noch ziemlich menschenleer, als ich zum Anhalter Bahnhof fuhr. Verschlafen und schlecht gelaunt, hatte ich kaum einen Blick für die morgendlich schläfrige Stadt. Es wäre mein letzter Blick auf Berlin gewesen, der Abschied. Ich verließ Berlin, ohne Abschied genommen zu haben.

Mein Ziel war München, aber ich mußte die Fahrt in Leipzig unterbrechen. Dort erwartete mich Erich Ebermayer, mit dem gemeinsam ich damals eine Dramatisierung des Romans »Vol de Nuit« von Saint-Exupéry vorbereitete (eine Arbeit, die, soviel ich weiß, später ohne mich zum Abschluß gebracht wurde).

Erich sah blaß und beunruhigt aus, als er mich am Bahnhof begrüßte. »Was ist los?« fragte ich ihn.

Er schien überrascht. »Weißt du es nicht? Der alte Herr hat ihn ernannt, vor einer Stunde.«

»Der alte Herr? … Wen?«

»Hitler. Er ist Kanzler.«

 

Und dies ist die Bedeutung der Schrift, die da geschrieben steht an der Wand, und steht in Blut geschrieben – Mene, Mene, Tekel, Upharsin:

Gezählt sind die Tage deiner Herrschaft. Du bist gewogen und zu leicht befunden. Dein Reich zerfällt, den Medern und Persern wird dein Reich gegeben.

Die Perser! Die Perser kommen …


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