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Siebentes Kapitel.
Auf der Suche nach einem Weg

1928–1930

Immer noch keine Richtung? Immer noch kein Programm? Nach so vielen Fahrten immer noch kein Ziel?

Doch: ich versuchte, meiner Sehnsucht einen Namen zu geben, mein Erbe und meine Verpflichtung zu benennen. Europa! Diese drei Silben wurden mir zum Inbegriff des Schönen, Erstrebenswerten, zum inspirierenden Antrieb, zum politischen Glaubensbekenntnis und moralisch-geistigen Postulat.

Was ist Europa? Ein unbedeutender Ausläufer der asiatischen Landmasse, eine Halbinsel von komplizierter Struktur, nach einer phönizischen Prinzessin benannt. Sie wurde vom Zeus geraubt, der, um ihr zu gefallen, in der Gestalt eines Stiers erschien. Was für ein magischer Funke war es, den sie mit sich trugen – das göttliche Tier und seine entzückte Braut, auf ihrer wonnevollen Hochzeitsreise zur Insel Kreta? Der Same des olympischen Ungeheuers ging auf im Schoße der Königstochter; in geweihter Erde, der Erde Griechenlands, vervielfältigte sich die Frucht. Aus heiligem Boden erstand das Wunder: die Geburt des Abendlandes.

Dies war es, was geschah an den Ufern des Ägäischen Meeres: Eine kleine Schar von Athleten und Philosophen trotzte der Unermeßlichkeit Asiens und Afrikas. So kühn und stolz waren diese Männer, daß sie ihren Lebensstil als den einzig menschenwürdigen, einzig menschlichen proklamierten: die nicht-hellenische Welt galt ihnen als das Chaos. Außerhalb Griechenlands war nichts als Barbarei, die Dunkelheit, die Stagnation, das Schweigen. Draußen: das tote Land, das Kaktusland, reglos und verdörrt unter der grausamen Sonne; draußen: Dumpfheit und Brutalität, der Tyrannenkult, der tödliche Hauch der Wüste. In Asien und Afrika – die magischen Riten und stummen Ängste, das Menschenopfer, die Majestät des Grabes. Aber in Hellas – der élan vital, die schöpferische Nervosität, die Geburt der Persönlichkeit.

In Hellas der Beginn von Epos und Tragödie, die Errichtung der Polis auf dem agonistischen Prinzip und dem pädagogischen Eros; in Hellas der Traum vom vollkommenen Menschen (nicht nur sein Geist sei edel, sondern auch sein Körper, seine Geste!); in Hellas der Traum von der Freiheit, der Wille zur Erkenntnis, die Freude an der Diskussion, an Widersprüchen, Gelächtern, der heiter-sinnliche Kontakt zwischen Mensch und Mensch, zwischen Menschen und Göttern.

Die barbarische Welt verharrt in starrer Monotonie; aber das Abendland wandelt sich, wechselt und wächst, absorbiert immer neue Rhythmen und Ideen, verjüngt seine Substanz in unendlichen Metamorphosen und Abenteuern. Hellas verbindet sich mit Rom; das neue Gebild, das solcherart entsteht, der römische Weltstaat griechischer Kultur, empfängt und trägt die Offenbarung des Christentums. Aus dieser Vermählung – hellenisches Freiheits- und Schönheits-Pathos, gestärkt durch römischen Ordnungssinn, erhellt durch die frohe Botschaft christlicher Nächstenliebe – ergibt sich das ewiggültige Gesetz, das Fundament okzidentaler Gesittung.

Wenn Europa liebenswert und groß gewesen ist, diesem zweifachen Erbe dankt es seinen Glanz. Golgatha und die Akropolis sind die Garanten europäischer Zivilisation, europäischen Lebens. Der Kontinent setzt seine Würde, ja seine Existenz aufs Spiel, sobald er diese doppelte Basis und Verpflichtung – Hellas plus Christentum – verleugnet und vergißt.

Hat der europäische Mensch nicht seine Mission recht oft verleugnet und vergessen? Er, der als Künder der Freiheit und der Karitas hätte kommen sollen, machte sich zur Geißel fremder Rassen, zum Ausbeuter der Nationen, zum Joch der Welt. Die Liste seiner Verbrechen ist erschreckend lang; daheim wie in fernen Zonen wurde der weiße Mann zum Ausnutzer und Verführer; zum Fronvogt und Feinde derer, die da mühselig und beladen sind.

Und dennoch und trotz allem, die Geschichte europäischer Missetaten – blutstarrende Chronik der Kriege und Eroberungen, des Massenmords, der Gier, der Heuchelei – ist doch zugleich auch, paradoxerweise, die Geschichte von der Entfaltung, vom Triumphzug des europäischen Genies. Dasselbe Europa, das Qual und Frevel über die Meere trug, brachte doch auch seinen heilig-kreativen Funken – Anreger schönster Taten, Quelle unendlicher Hoffnung, ewigen Versprechens. Wenn der europäische Geist mit seinem rastlos-unstillbaren Ehrgeiz fünf Kontinente beunruhigte und korrumpierte, so erwies die gleiche Kraft sich doch immer als erfinderisch genug, um gleichzeitig das Gegengift und Heilmittel hervorzubringen.

Das europäische Drama vollzieht sich in dialektischer Form: jede Energie und Tendenz provoziert die eigene Opposition, auf jede These folgt die Antithese, und sogar die scheinbare Synthese der Gegensätze ist nichts als ein neues Experiment, eine vorübergehende Konjunktion im Spiel der rivalisierenden Kräfte. Die endlosen Spannungen und Explosionen innerhalb des europäischen Mikrokosmos haben den Fortschritt der Zivilisation oft gehemmt und zeitweise paralysiert; aber mit zäher Vitalität erhebt sich der Kontinent, Phönix-gleich, immer wieder aus Schutt und Asche fast tödlicher Katastrophen. Die Fäulnis oder Ermattung eines der Elemente, aus denen sich das Wesen Europas zusammensetzt, konnte stets korrigiert oder kompensiert werden. Wenn Rom seine Sendung verrät – dort steht ein Martin Luther! Ist das ancien régime zum unerträglichen Skandal geworden? Hier sind die Cromwells und die Robespierres! Ein Bonaparte erscheint, wenn die Revolution ihren Sinn erfüllt hat. Das Ringen zwischen Papst und Kaiser während des Mittelalters, der Kampf zwischen Protestantismus und Katholizismus im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, die großen Rivalitäten zwischen den Nationalstaaten des achtzehnten, neunzehnten und zwanzigsten, dieser ständige Strom von Spannung und Versöhnung, dies dialektische Spiel der miteinander konkurrierenden, sich ergänzenden Energie ist die eigentliche Quelle europäischer Kraft und Widerstandsfähigkeit.

Das Machtzentrum des Kontinents war niemals lang stabil: es blieb in Bewegung, verschob, verlagerte sich vom Süden nach dem Norden, von Ost nach West, von einer Rasse, einer Nation zur anderen. Die Etablierung einer neuen politischen Hegemonie – der spanischen etwa oder der französischen – bedeutete immer auch den (zeitweiligen) Triumph eines bestimmten nationalen Lebensstils, einer Sprache, einer Philosophie. So hatte jede Schattierung im europäischen Kaleidoskop einmal ihre historisch bedingte Chance, die Färbung des gesamten Systems zu bestimmen, und sei es auch für die Dauer von ein paar Jahrzehnten. Übrigens war solch vorübergehende Vorherrschaft einer bestimmten europäischen Komponente niemals von absoluter, unbedingter Art: die anderen Elemente ließen sich keineswegs völlig ausschalten, sondern blieben unter der Oberfläche aktiv und einflußreich, immer bereit, jede neue Schwankung im Gleichgewicht der Kräfte wahrzunehmen und ihrerseits wieder führend zu werden.

Wehe dem Erdteil, wehe der europäischen Kultur, wenn eine ihrer Komponenten sich jemals auf die Dauer die unbedingte Hegemonie über alle anderen anmaßen sollte! Die permanente Vorherrschaft eines Bestandteils wäre gleichbedeutend mit dem Zerfall, der Auflösung des Ganzen. Die Harmonie Europas beruht auf Dissonanzen. Das Gesetz, welches der Struktur, dem Wesen des europäischen Genies immanent ist, verbietet die totale Uniformierung, die »Gleichschaltung« des Kontinents. Europa auf einen Nenner bringen – sei er deutsch, russisch oder amerikanisch –, Europa »gleichschalten« heißt Europa töten.

Dies ist das doppelte Postulat, welches Europa erfüllen muß, um nicht zugrundezugehen: Das Bewußtsein europäischer Einheit ist zu bewahren und zu vertiefen (Europa ist ein unteilbares Ganzes); gleichzeitig aber ist die Mannigfaltigkeit europäischer Stile und Traditionen lebendig zu erhalten. (Europa, der kostbar-schwierige Akkord, in dem die Dissonanzen zueinander finden, ohne sich je zu lösen.)

 

Wie winzig und verwundbar es sich ausnimmt, unser liebes altes Europa von Kansas oder von Korea aus betrachtet! Die gerührte Zärtlichkeit, mit der ich unterwegs an die ferne Heimat dachte, war nicht frei von Sorge. Solange ich Europa nicht verlassen hatte (die nordafrikanische Reise zählt nicht in diesem Zusammenhang: Tunis und Marokko sind europäisches Randgebiet), blieb mein Denken auf rein europäische Begriffe und Vorstellungen beschränkt. Die Begegnung mit den enormen Weiten Amerikas und Asiens brachte mir zum Bewußtsein, daß Europa nicht die Welt ist und daß Europa seine Stellung in der Welt verlieren muß, wenn es fortfährt, sich in selbstmörderischem Bruderzwist zu erschöpfen und zu zerfleischen.

Die Eindrücke, die eine Weltreise mit sich bringt, sind danach angetan, selbst den borniertesten, selbstgefälligsten Europäer von seinen Illusionen endgültig zu kurieren. Der Reisende kann nicht umhin zu bemerken, daß seine Heimat – der europäische Kontinent – nur ein Kulturzentrum unter anderen ist. Gerade indem es eine universale Zivilisation erschuf, das Universum zu regieren. Die Unsicherheit der europäischen Position wird offenbar in einer Welt, die genug von Europa gelernt hat, um sich nun von ihrem alten Erzieher und Ausbeuter unabhängig zu machen.

Fast alles, was ich während der nächsten zwei oder drei Jahre schrieb, handelt, mehr oder weniger direkt, von der Problematik Europas in seiner Beziehung zu den anderen Kontinenten. Ich versuchte, diesen heiklen und komplexen Gegenstand von verschiedenen Gesichtspunkten anzupacken; was mich aber vor allem intrigierte und stimulierte, war der Kontrast – und die Affinität – zwischen der amerikanischen Nachkriegsjugend und meiner eigenen europäischen Generation. Aus diesem Thema ergaben sich mir sentimentale, psychologische, intellektuelle Konflikte, die nicht nur zu theoretischer Betrachtung reizten, sondern auch dramatisch und erzählerisch dargestellt sein wollten. Worauf es mir immer ankam, das war, den Amerikaner als Personifizierung robuster Naivität zu zeigen – kraftstrotzend, lebenstüchtig, von fast anstößiger Unkompliziertheit –, während sein transatlantischer Gegenspieler stets als der von des Gedankens Blässe Angekränkelte, als der Leidvoll-Erfahrene, in mancherlei trübe und fragwürdige Geheimnisse Eingeweihte erscheint. Nach dem Gesetz erotischer Dialektik ziehen die zwei unvermeidlicherweise einander an, der strahlend gesunde Athlet und der introvertierte Intellektuelle –: »les extrêmes se touchent«, oder sie sehnen sich doch nach Berührung. Meistens freilich wird der problematische Flirt mit einem Fiasko enden, der auf beiden Seiten Bitterkeit, ja beinah Haß erzeugt: auf dergleichen jedenfalls läuft es in meiner »amerikanischen« Komödie »Gegenüber von China« hinaus. Das Stück spielt in einem kalifornischen College, wo eine geistvoll-attraktive Europäerin als Austauschstudentin ihr Wesen treibt. Das Mädchen von der anderen Seite des Ozeans liebt einen jener prachtvoll unbekümmerten »boys« des amerikanischen Westens, verzichtet aber zum Schluß auf ihn, teils aus Großmut (eine süße, dumme kleine Amerikanerin fliegt gleichfalls auf den schönen Fußballspieler), teils aus melancholischer Arroganz: »Wir gehören nicht zueinander, was weiß er von mir? Ach, was für Welten trennen mich von seiner Unschuld …«

Ich fürchte, »Gegenüber von China« taugte nicht gar zuviel. Die Handlung war ungeschickt konstruiert, das Sentimentale zu dick aufgetragen. Trotzdem wurde das Stück an einem der führenden deutschen Provinztheater mit ziemlich großem Aufwand herausgebracht. Erika und ich fuhren zur Premiere, begleitet von Ricki, der inzwischen nach Europa zurückgekehrt war. Wir amüsierten uns. Warum auch nicht? Wir waren ja zusammen; wenn wir zusammen waren, lachten wir. Nicht so das Publikum: es verzog keine Miene. Meine Komödie befremdete, mißfiel. Es war ein Durchfall.

Mein schwaches Stück verdiente es nicht anders. Gewiß, das Thema, mit dem ich mich dramatisch auseinanderzusetzen suchte – die prekär ambivalente Beziehung zwischen europäischer Geistigkeit und amerikanischer Kraft – war von vitaler Aktualität (eine Tatsache, die meinem provinziellen Publikum und der bornierten Presse zu entgehen schien); aber war ich dem Problem gewachsen? Wußte ich genug über die großen Fakten und Tendenzen der amerikanischen Wirklichkeit?

Ich hatte ein paar amerikanische Landschaften gesehen (mindestens eine von ihnen, die New Yorker Landschaft, hatte mich tief berührt), ich war mit ein paar Amerikanern befreundet, ich hatte ein paar amerikanische Bücher gelesen. Ich liebte Whitman. Ich schrieb drei oder vier Artikel über amerikanische Literatur. Ich schrieb über die Musik von George Gershwin, über das Genie der Negerschauspieler, über die Architektur der Wolkenkratzer. Eine Novelle, die ich zusammen mit zwei anderen in einem kleinen Band – »Abenteuer« – bei Reclam herausbrachte, schilderte das Leben der armen Statisten in Hollywood. Ich hielt mich wohl für etwas wie einen »Sachverständigen« in amerikanischen Dingen. Aber meine große Liebe und wahre Herzensangelegenheit, meine Passion, mein Problem blieb Europa. Ich haßte den Nationalismus (vornehmlich den deutschen: dem französischen gegenüber verhielt ich mich schon toleranter) und war doch selber ein Nationalist: ein europäischer nämlich.

Eine Zeitlang war ich stark beeindruckt und beeinflußt von dem zugleich logisch klaren und innig gläubigen Appell des Grafen Coudenhove-Kalergi. Der Gründer und Führer der paneuropäischen Bewegung überzeugte nicht nur durch seine Eloquenz und seine Argumente, sondern auch durch den ritterlichen Charme seiner Persönlichkeit. Der kosmopolitische Edelmann – halb japanischer, halb gemischt europäischer Abstammung – machte mit seinem schönen Gesicht und seinen exquisiten Manieren für die Idee der Rassenmischung Reklame. Solche Artigkeit der Haltung und Erscheinung kann nicht umhin zu bestechen. Zumal, wenn sie sich mit rhetorisch-journalistischem Talent verbindet.

Es war ein etwas begrenztes oder fragmentarisches Paneuropa, welches der sanftstimmige, mandeläugige Aristokrat mit so viel Eifer und Geschicklichkeit propagierte: weder für die britischen Inseln noch für die Sowjetunion gab es Platz in seinem kontinentalen System. Was England betrifft, so hielt der Coudenhove-Kalergi jener frühen Epoche es zwar nicht für eigentlich »europäisch«, aber doch im übrigen für durchaus achtenswert. Der Graf war für enge Zusammenarbeit zwischen diesen beiden unabhängigen, doch befreundeten Mächten – »Great Britain« und Paneuropa; ja, seine eigene Philosophie war weitgehend von englischen Idealen und Traditionen bestimmt. Charakteristischerweise ist es der Typ des vollkommenen Gentleman – manly, dabei gentle: zugleich urban und heroisch –, den wir, in Coudenhove-Kalergis Schriften, immer wieder als den Träger und Garanten einer europäischen Renaissance gepriesen finden.

Was freilich Rußland betrifft, so zeigte der Paneuropäer sich sehr viel weniger konziliant. Rußland war »asiatisch«, was dem halbjapanischen Coudenhove natürlich auf die Nerven gehen mußte. Oder war es eher der Kommunismus, von dem der Enkel internationaler Feudalherren sich so irritiert und abgestoßen fand? Nicht, als ob er seinerseits gegen sozialen Fortschritt gewesen wäre! Aber sein Idealismus hielt nicht viel von ökonomischen Reformen; ihm war es ums Moralische zu tun. Wozu die Sozialisierung der Produktionsmittel? Wenn Arbeitnehmer und Arbeitgeber sich nur wie »gentlemen« benehmen wollten, dann war es aus mit dem Klassenkampf!

Die paneuropäische Bewegung – trotz gewissen Mängeln und Unklarheiten, die ihr eigen sein mochten – fand zunächst viel Anklang bei der intellektuellen Jugend. Erst später, als die Bankiers, Kardinäle und Industriellen den Grafen zu ihrem Schutzpatron machten, fingen seine liberalen Freunde an, mißtrauisch zu werden und sich allmählich von ihm zurückzuziehen. Worauf hatte er es abgesehen? Auf die Einigung des Kontinents oder auf den Kreuzzug gegen Sowjetrußland? Wir konnten bald nicht mehr umhin, uns diese Frage zu stellen. Wollten wir ein Paneuropa unter der Herrschaft des Vatikans, des Monsieur Schneider-Creuzot und der I. G. Farben?

Aber um das Jahr 1929 waren diese ominösen Implikationen der Coudenhoveschen Lehre wohl noch relativ unauffällig. Oder doch nicht auffällig genug für einen politisch so ungeschulten Kopf wie den meinen. Ich war gegen den Nationalismus – wie hätte ich nicht für Paneuropa sein sollen? Das Schema, das von Coudenhove-Kalergi präsentiert und verfochten wurde, leuchtete mir durchaus ein. Hatte er nicht recht, Rußland, den halb-mongolischen Koloß, aus seinem europäischen Zukunftsstaat zu verweisen. Und was England betraf, so war seine insulare Mentalität den »guten Europäern« deutscher Zunge immer fremd und peinlich geblieben. Man denke an die furchtbare Schärfe, mit der Nietzsche alles Britische beurteilte und verwarf, oder an Heines beißende Sarkasmen! Was meinten diese beiden erlauchten Geister, wenn sie »Europa« sagten? Deutschland und Frankreich. Nur auf sie kam es an! Das europäische Problem war gelöst – wir glaubten es, mit Heine –, wenn die zwei großen Völker Europas sich endlich verständigten, endlich einigten. Die Avantgarde des deutschen Liberalismus, zu der ich mich damals gern gerechnet hätte, wünschte, propagierte, forderte das deutsch-französische »rapprochement« als Basis und Garantie einer neuen übernationalen Ordnung.

So unbedingt, so naiv war mein Glaube an die Wünschbarkeit und Notwendigkeit dieser Verständigung, daß ich sogar den Besuch eines Pierre Laval »im Interesse des Friedens« begrüßte. Was wußte ich von Laval? Nur, daß er aus Paris kam, was schon genug war, um ihn mir sympathisch zu machen. Übrigens reiste der »Premier« in Begleitung seines Außenministers Aristide Briand. Galt dieser nicht als der vornehmste und wichtigste Repräsentant des europäischen Gedankens? Also sollte man auch seinem Chef vertrauen dürfen … Das Ereignis ist mir in Erinnerung geblieben, die Staatsvisite des gerissenen, zynischen Politikers und des schon etwas abgekämpften, schon fast besiegten, halb desillusionierten Idealisten. Denn es traf sich so, daß ich am gleichen Tage die Bekanntschaft eines anderen, weniger offiziellen französischen Besuchers machte. Der sozialistische Schriftsteller Henri Barbusse war gleichfalls für die Freundschaft zwischen unseren beiden Ländern, aber für Laval war er nicht. Sein Gesicht erstarrte, als er in einem Buch, das ich ihm überreichte, die Widmung las: »Für Henri Barbusse, Autor des größten Romans gegen den Krieg – an dem Tage, an dem seine beiden Landsleute, Briand und Laval, in Berlin der Sache des Friedens dienen.« Was nutzte es mir, daß ich dem perplexen, angewiderten Dichter auseinanderzusetzen suchte, es sei nicht meine Absicht gewesen, die Person des Herrn Laval zu preisen, die für mich nichts bedeute als ein Symbol der großen französischen Nation? Laval – ein Symbol des französischen Volkes! Der brutale Reaktionär und korrupte Schieber als Vorkämpfer internationaler Verständigung! Barbusse konnte nur bitter lachen, wobei er auch noch die Hände über dem Kopf zusammenschlug. »Wissen Sie denn nicht, wer das ist, dieser Pierre Laval?« fragte er mich. Ich mußte meine Ignoranz zugeben, woraufhin der Autor von »Le Feu« seufzend die Achseln zuckte: »So seid ihr, ihr Liberalen und Idealisten! Immer die schönen Gefühle, immer die schönen Worte! Aber die Wirklichkeit interessiert euch nicht …«

So waren wir; oder vielmehr, da es mir nicht ansteht, andere anzuklagen, so war meine eigene Haltung. Ich war verantwortungslos; ich war oberflächlich. Theoretisch begriff und betonte ich wohl die politische Verpflichtung des Literaten. Wer sich berufen glaubt, die Summe menschlicher Erfahrung durch das Wort auszudrücken, darf nicht die dringlichsten menschlichen Probleme – die Organisation des Friedens, die Verteilung irdischer Güter – vernachlässigen oder gar ignorieren: dies wußte ich wohl und sprach es gerne aus. Statt mich aber mit den großen politischen und sozialen Fragen auf gründliche und nüchterne Art auseinanderzusetzen, begnügte ich mich, in meinen Reden und Manifesten, mit Anklagen und Forderungen recht unverbindlich-allgemeiner Art: »Nieder mit dem bösen Militarismus, dem garstigen Nationalismus, der häßlichen Herrschaft des Geldes! Der gute Europäer ist für die soziale Demokratie, in der alle sich vertragen, alle gedeihen, alle glücklich sind.«

Wenn einer meiner Zuhörer oder Leser es sich einfallen ließ, mich mit lästigen Fragen zu quälen – ich hatte die Antwort bereit. »Mein lieber Freund«, sagte ich, leicht irritiert, dabei nicht ohne ein gewisses weinerliches Pathos, »diese nebensächlichen technischen Angelegenheiten sind wirklich nicht meine Sache. Schließlich bin ich kein Politiker, sondern ein Dichter, was besagen will, daß ich mich in erster Linie für die geheimnisvollen Tiefen des Lebens interessiere, erst in zweiter für seine praktische Organisation.«

Ich hatte mir mein Sprüchlein recht säuberlich und überzeugend ausgearbeitet. Auf der einen Seite – so stellte ich gerne fest – haben wir die großen Mysterien des irdischen Daseins: Lust, Tod, Rausch, Einsamkeit, die unstillbaren Sehnsüchte, die schöpferischen Instuitionen … Auf der anderen Seite (und nun mußt du dein Gesicht in ernste Falten legen!) haben wir unsere sozial-politische Verantwortung – eine verdrießliche Sache, aber nun einmal nicht aus der Welt zu schaffen. Solange wir uns mit diesem öden Zeug beschäftigen (man kommt nicht immer darum herum), laßt uns also denn recht brav und nüchtern sein! Wenn das leidige soziale Pensum erledigt ist, werden wir uns wieder mit unseren Ekstasen amüsieren dürfen.

Aber so geht es nicht. Das Leben ist unteilbar, es läßt sich nicht in verschiedene »Branchen« mit beschränkter Verantwortung spalten. Was immer man tut, womit man sich auch beschäftigt – es ist der volle Einsatz, der gefordert wird. Der Preis, den man für jeden gültigen Gedanken, jede schöpferische Tat zu zahlen hat, ist unabänderlich derselbe: Leiden, Geduld, Arbeit, Konzentration, das zähe, passionierte Ringen um Erkenntnis; eine Erkenntnis, die, wenn man sie endlich findet, ihrerseits vertieftes Leiden bringt.

Ein Schriftsteller, der politische Gegenstände in sein künstlerisches Schaffen einbeziehen will, muß an der Politik gelitten haben, ebenso tief und bitter wie er an der Liebe gelitten haben muß, um über sie zu schreiben. Er muß furchtbar gelitten haben: dies ist der Preis, billiger kommt er nicht weg.

Mein Irrtum war, daß ich mich an diese schicksalshaften Fragen – die politischen – wagte, ohne daß sie mir wirklich auf den Nägeln brannten, mir wirklich zum Teil des eigenen Lebens, des persönlichen Dramas wurden. Ich hätte mir ein Beispiel an meinem Onkel nehmen sollen: Heinrich Manns politisches Denken hat die Intensität, das echte Pathos, das aus dem Blute, aus dem Herzen kommt. Ich aber glaubte lange – bis zum Jahre 1933, um genau zu sein –, daß das Politische sich gleichsam mit der linken Hand erledigen ließe, wie eine »Fleißaufgabe«. Eher aus einem naiven Pflichtgefühl heraus als aus Ehrgeiz widmete ich meine »Freizeit« den entscheidenden Problemen der Epoche. Wie sollte mein Beitrag überzeugend und wirkungsvoll sein? Er war nicht mit Leiden bezahlt.

 

Sonderbarerweise hat die Zeit von 1928 bis 1930 in meiner Erinnerung wenig mit Massenelend und politischer Spannung zu tun. Eher mit Wohlstand und kulturellem Hochbetrieb. Natürlich wußte ich, daß die Zahl der Arbeitslosen erschreckend stieg – waren es drei Millionen? Waren es schon fünf? Man konnte nur hoffen, daß die Regierung bald Abhilfe schaffen werde … Übrigens schienen die Geschäfte nicht ganz schlecht zu gehen, trotz der »Krise«, von der man so viel in der Zeitung las. Auf kulturellem Gebiet jedenfalls wurde gut verdient; erfolgreiche deutsche Autoren, Schauspieler, Maler, Regisseure, Musiker schwammen geradezu im Gelde. Offenbar gab es doch noch einen starken Sektor des angeblich ruinierten Mittelstandes, der willens und fähig blieb, beträchtliche Summen für Theaterkarten, Bücher, Bilder, Zeitschriften und Grammophonplatten auszugeben.

Ein Gangster namens Frick regierte irgendwo in der mitteldeutschen Provinz, aber in Berlin ging alles seinen gewohnten Gang. Der »Strich« auf der Tauentzienstraße florierte (nicht mehr ganz so hektisch wie in den Tagen der Inflation, aber doch noch recht flott), im »Haus Vaterland« gab es künstliche Gewitter und Sonnenuntergänge, die Nachtlokale waren überfüllt (wir frequentierten damals ein neues, »Jockey« genannt, das unser grauhaariger, niedlicher Freund Freddy Kaufmann aus München eröffnet hatte), die Galerie Alfred Flechtheim verkaufte kubistische Picassos und die reizenden Tierstatuetten der Renée Sintenis, Fritzi Massary feierte Triumphe in der neuesten Lehár-Reprise, in den Salons am Kurfürstendamm, im Grunewald und im Tiergartenviertel schwärmte man vom neuesten René-Clair-Film, von der letzten Max-Reinhardt-Inszenierung und vom letzten Furtwängler-Konzert, bei Frau Stresemann gab es große Empfänge, über die in der »Eleganten Welt« unter der Überschrift »Sprechen Sie noch …?« berichtet wurde.

Der Bürgerkrieg schien sich vorzubereiten, beide Parteien musterten ihre formidable Macht – der nationalistische »Stahlhelm« gegen das sozialdemokratische Reichsbanner, die Nazis gegen die Kommunisten. Die Reichswehr inzwischen intrigierte und foppte das Publikum mit ihrer sphinxisch »neutralen«, »unpolitischen« Haltung, während sie in Wahrheit die anti-republikanischen Kräfte heimlich stützte und ermutigte. Aber die Republik, mit unerschütterlichem Optimismus, vertraute auf Gott, den alten Hindenburg und die schlauen Manöver des Dr. Hjalmar Schacht.

Während verbrecherische Elemente in der politischen Sphäre sich immer dreister bemerkbar machten, war ein Stück namens »Verbrecher« (von Ferdinand Bruckner) ein sensationeller Erfolg im Deutschen Theater. Die große Attraktion der Vorstellung war Gustaf Gründgens in der Rolle eines morbiden Homosexuellen. Der Hamburger Star war schließlich von den Kennern der Metropole entdeckt worden: Berlin war hingerissen von seiner »aasigen« Verworfenheit, dem hysterisch beschwingten Gang, dem vieldeutigen Lächeln, den Juwelenblicken. Erika, übrigens, hatte sich mittlerweile von ihm scheiden lassen.

Es war die große Zeit der Entdeckungen. Die Schwerindustrie entdeckte die »aufbauenden Kräfte« im Nationalsozialismus. Erich Maria Remarque entdeckte die enorme Attraktion des Unbekannten Soldaten. Die völkischen Rowdies entdeckten Stinkbomben und weiße Mäuse als Argumente gegen einen pazifistischen oder doch nicht hinlänglich kriegsbegeisterten Film. Der findige Dichter Bertolt Brecht entdeckte die alte englische »Beggar's Opera«, die in seiner Adaption als »Dreigroschenoper« volle Häuser machte; »tout Berlin« trällerte und pfiff die schönen Balladen von der »Seeräuber-Jenny« und vom Macky Messer, dem man nichts beweisen kann. Die mächtige UFA übertraf, wie gewöhnlich, alle Konkurrenten und entdeckte mit unfehlbarem Instinkt die Beine der Marlene Dietrich, die in einem Film namens »Der Blaue Engel« sensationell zur Geltung kamen. (Bei der gleichen Gelegenheit hätte die reaktionäre, phantasielose deutsche Filmindustrie entdecken können, daß sogar aus guten Romanen zugkräftige Filme gemacht werden können: dem »Blauen Engel« lag ein Meisterwerk von Heinrich Mann, »Professor Unrat«, zugrunde.)

Eine Gruppe von schwedischen Professoren und Kritikern entdeckte die »Buddenbrooks«.

Seit mehreren Jahren hatte die Presse uns mit Nobelpreis-Gerüchten zum besten gehabt: »Thomas Mann sollte … dürfte nächstes Jahr … ist, wie von unterrichteter Seite verlautet, schon aus Stockholm benachrichtigt worden …« Es gab verfrühte Ankündigungen, peinliche Gratulationen. Als das längst vorausgesagte Ereignis dann endlich eintraf, hob der Vater nur die Augenbrauen: »Ist es diesmal ernst?«

Es waren festlich animierte Tage. Die Journalisten stürmten unser Haus, auf allen Tischen häuften sich die Telegramme. Mielein stöhnte, weil so viele Leute kamen und das Telephon nicht einen Augenblick Ruhe gab. Ach, und all die überflüssigen Sachen, die sie sich für die Reise nach Stockholm kaufen mußte! »Ich weiß gar nicht, was ich bei Hofe tragen soll«, jammerte die Vielgeplagte. »Ob ich mir etwas mit großem Decolleté machen lassen muß, wie es früher beim Kaiser vorgeschrieben war? Wer hätte gedacht, daß der Nobelpreis so viele Probleme mit sich bringen würde!«

Er brachte auch viel Vergnügen. Erika und ich bekamen ein Nobelpreis-Geschenk: all unsere Schulden wurden bezahlt, einschließlich jener, die wir auf unserem abenteuerlichen Bummel »rundherum« in Amerika und Japan gemacht hatten. Wir hatten zwar nichts davon, aber es erhöhte doch unsere Stimmung. Und wie unterhaltend es war, all die Briefe und Depeschen zu studieren, die aus aller Herren Länder einliefen! Ich sehe noch das Telegramm vor mir, in dem André Gide seine Glückwünsche aussprach: »nicht zum Nobelpreis, sondern zur Vollendung des ›Zauberberg‹, mit dem Sie sich diese Ehrung verdient haben«. (Der schwedische Preis war meinem Vater ausdrücklich als dem Verfasser der »Buddenbrooks« zuerkannt worden, was man als eine leichte Spitze gegen den »Zauberberg« auffassen konnte.) Mieleins launiger Zwilling, unser Onkel Klaus, kabelte aus Tokio, wo er neuerdings als musikalischer Leiter der Uëno-Akademie tätig war: »Ist doch eine nette kleine Auszeichnung!« Eine andere Botschaft lautete einfach: »Große Freude Ihres René Schickele.« (Die drollig-schlichte Formulierung hat sich mir eingeprägt.) Andere Kollegen wiederum ergingen sich in etwas säuerlichen, zweideutig gewundenen Gratulationen. Viel zitiert in unserem Familienkreise wurde der »Glückwunsch« des notorisch eifersüchtigen, notorisch taktlosen Joseph Ponten, der sich damals gerade auf einer Studienreise in den Vereinigten Staaten befand. »Unterschätzen Sie doch bitte ja nicht die Bedeutung des Nobelpreises, lieber Freund!« schrieb dieser biedere Schriftsteller. »Ich bin letzthin ziemlich häufig von Amerikanern gefragt worden: ›Wer ist eigentlich dieser Thomas Mann?‹«

Die Eltern fuhren nach Stockholm, um den Preis in Empfang zu nehmen und an der königlichen Tafel von Gold zu speisen (so jedenfalls stellten wir uns das vor); wir blieben in München und lauschten am Radio dem dramatischen Bericht des deutschen Korrespondenten, der, hinter einer Säule versteckt, der Zeremonie beiwohnen durfte. »Der große Augenblick ist da!« raunte uns der Radio-Reporter aus der nordischen Hauptstadt zu. Mit heiser gedämpfter Stimme, atemlos vor respektvoller Erregung, beschrieb er den solemnen Vorgang: »Thomas Manns frackgewohnte Erscheinung bewegt sich auf den König zu … Seine Majestät streckt die Hand aus …«

»Frackgewohnte Erscheinung« war zu schön! Wir hörten den Rest der Reportage nicht, so sehr mußten wir lachen.

Die »nette kleine Auszeichnung« bedeutete für meinen Vater nicht nur einen direkten finanziellen Gewinn, sondern brachte ihm auch erhebliche indirekte Vorteile. Sein Welt-Prestige wuchs, die internationale Popularität seiner Werke nahm rapide zu; in Amerika wurde »The Magic Mountain« zum »bestseller«, während in Deutschland die neue Volksausgabe der »Buddenbrooks« einen fast beispiellosen Erfolg hatte: in kurzer Zeit verkaufte der S. Fischer-Verlag über eine Million Exemplare! Mielein, die Verwalterin der Finanzen, hatte plötzlich keine Sorgen mehr.

Nicht, als ob der Stil unseres häuslichen Lebens sich wesentlich verändert hätte; er blieb bestimmt von den besonderen Bedürfnissen und Gewohnheiten des Zauberers. Wenn dieser sich zur Zeit der mageren Jahre mit eigensinnig-stolzer Zerstreutheit geweigert hatte, Mangel und Dürftigkeit zur Kenntnis zu nehmen, so schien er nun von seinem relativen Wohlstand kaum beeindruckt. Sein natürlicher Sinn für Maß und Diskretion sowie auch sein empfindlicher Magen hinderten ihn daran, sich irgendwelchen kulinarischen oder geselligen Exzessen hinzugeben; Champagner-Gelage, üppige Gastereien kamen bei uns nicht in Frage. Der einzige Luxus, den der plötzlich fast reiche Vater sich gönnte, war ein schönes Grammophon mit reichassortierter Platten-Sammlung, zwei starke Automobile (ein offener Buik und eine Horch-Limousine) und ein Landhaus von sehr bescheidenem Format.

Das neue Sommerheim – sehr viel weniger geräumig und repräsentativ als das Tölzhaus, welches es ersetzte – war unpraktisch weit von unserem Münchener Zentrum, im litauischen Memelgebiet, gerade jenseits der deutschen Grenze gelegen. Der Ort, in den meine Eltern sich verliebt hatten und wo sie sich nun für die Sommermonate niederließen, hieß Nidden, ein idyllisches Ostsee-Dorf, berühmt für die wüstenhafte Weite seiner Dünenlandschaft und für eine besondere Art von Elchen, die mit ihren glatten, massiven Leibern dem Spaziergänger und Autofahrer die sandige Straße versperrten. Hatten sie wirklich nur ein Horn, diese sanft-störrischen, anmutig-schweren Geschöpfe? In meiner Erinnerung nehmen sie sich wie Fabeltiere aus … Verwunschene Gestalten einer mythischen Menagerie, mit Augen von goldener Traurigkeit unter der blanken, breiten, zugleich demütig und drohend gesenkten Stirn.

Eine andere Kuriosität der Gegend war das große Lager – einige Kilometer von Nidden entfernt, schon auf deutschem Gebiet –, wo junge Leute sich einem gründlichen und professionellen Training in allerlei halb militärischen Sportsarten, besonders im Segelflug unterzogen. Bei gutem Wetter hörten wir die rauhen Kommandoschreie und lustigen Gesänge der jungen Stimmen aus dem Vaterland zu uns herüberschallen. Manchmal sahen wir wohl auch einige der Segelflieger – es müssen ihrer Hunderte gewesen sein – an unserem stillen Strand spazierengehen. Ihre Hemden und Sweater waren mit Hakenkreuzen geschmückt. Wir beobachteten ihre ungeschlachten, etwas tollpatschig-wilden Spiele in den Dünen, in den Meereswellen. Auch ihre Badehosen zeigten an prominenter Stelle das völkische Emblem.

Das war Nidden – primitiv und pittoresk, nicht ohne einen gewissen düster-traulichen Reiz. Ich hielt mich nur einmal ein paar Wochen lang dort auf. Es gab so viele andere Orte, die verlockend schienen. Europa war so klein und dabei doch so abwechslungsreich, eine intime Landschaft voll bunter Überraschung.

 

Ich schrieb ein Gedicht für den »Querschnitt«, die Revue, in der ich heute noch den Geist dieser besonderen Epoche und meines besonderen Kreises am reinsten und intensivsten festgehalten finde. Das Gedicht hieß »Dank an das hundertste Hotelzimmer«. Waren es ihrer wirklich nur hundert? Mir schweben unzählige vor, verstreut über den ganzen Kontinent, von Spitzbergen bis Sevilla, von Palermo bis Brügge und Scheveningen. Ich brachte mein Leben in Hotelzimmern zu. »Daheim« – das bedeutete für mich die Gastfreundschaft meiner Eltern oder eine Stube irgendwo, in einem armseligen Wirtshaus oder in einem »Palace« mit allem Komfort der Neuzeit.

Mein Leben war nicht ohne eine gewisse Regelmäßigkeit, fast monoton, trotz aller schweifenden Unrast. Beinah nie unterbrach ich meine literarische Arbeit; das Schreiben war mir eine natürliche Funktion wie Essen, Schlafen, Verdauen. Ich schrieb Reisebriefe, Buchbesprechungen, Kurzgeschichten, Interviews, politische Glossen; meine Aufsätze, zunächst in Zeitungen und Zeitschriften publiziert, erschienen später als Sammelband unter dem Titel »Auf der Suche nach einem Weg«. Ich schrieb einen neuen Roman – »Alexander, Roman der Utopie« –, die Geschichte des mazedonischen Helden. Mein Gepäck war belastet mit den Schriften des Homer, des Xenophon, des Aristoteles. Sobald ich irgendwo eintraf – in Prag, in Zürich, in Juan-les-Pins –, gleich wurde das Schreibmaterial, die kleine Handbibliothek ausgepackt und mit nervöser Pedanterie geordnet. »Alexander« machte mir mehr Mühe und mehr Freude als irgendeines meiner früheren literarischen Unternehmen. Was mich an meinem neuen Heros reizte, war die beinah frevelhafte Ungenügsamkeit seines Traumes, die enormen Dimensionen seines Abenteuers. Seit meiner Weltreise liebte ich es, in planetaren Maßstäben zu denken. Der Mazedonier wollte die Welt nicht nur erobern: ihm ging es darum, sie zu einen und unter seinem Szepter glücklich zu machen. War es nicht das Goldene Zeitalter, ja das Paradies, was er zu bringen dachte? Welch kindlich kühne, welch göttlich inspirierte Utopie! Aber kaum minder naiv und keck war mein eigenes Wagnis – den Roman einer solchen Utopie zu schreiben, noch dazu auf Reisen. Ich studierte babylonische Mythen im Grand Hotel zu Stockholm, persische Chroniken in einer Villa zu Fiesole bei Florenz. Das Hotel »Welcome« in Villefranche-sur-mer, einer meiner Lieblingsaufenthalte, belebte sich mir mit den Schatten antiker Krieger, Philosophen und Hetären: ich lebte mit Alexander; sein Schmerz um Kleitos, den spröden Freund, war auch der meine; ich mischte mich in sein Gespräch mit Aristoteles.

So gab es stets Gesellschaft, auch wenn ich mich alleine unterwegs befand. Übrigens reiste ich oft mit Freunden. Mit meiner lieben Gert etwa (der dicken Gert aus der Bergschule Hochwaldhausen: jetzt schon abgemagert, schon der Droge verfallen) oder mit Mopsa Sternheim oder mit Ricki oder mit Hans Feist, der seit Jahren zu unserem engsten Kreis, gleichsam zur »Familie« gehörte. (Seine Mutter, Hermine Feist, bekannt als Porzellansammlerin großen Stils und, mehr noch, als exzentrisches Original, war eine Freundin meiner Großmutter Offi gewesen.) Feist, ursprünglich Arzt seines Zeichens, fing damals an, sich als Übersetzer hervorzutun. Seine Nachdichtungen italienischer und englischer Poesie sind später berühmt geworden. Zunächst übersetzte er vor allem für das Theater Werke von Pirandello, Jules Romains, Giraudoux. Wir waren zusammen in London, in Italien, in Paris.

Immer wieder war Paris das Ziel meiner ziellosen Wanderung. Die Stadt an der Seine blieb das pulsierende Herz, das wahre Zentrum Europas – trotz all ihrer frivolen Blasiertheit, ihrer zynischen Korruption. Die skandalösen Affären der Financiers und Politiker, die Wühlarbeit der reaktionären Cliquen, das üble Treiben der Lavals, der Flandins, der Tardieus, was hatte all dies zu tun mit dem Paris, das ich kannte und liebte? Freilich, »meine« Sphäre – die literarische also – berührte sich wohl zuweilen mit jener mondänen Unterwelt: es gab intellektuelle Salons, wo man diesem oder jenem der offiziellen Gangster (mit weißer Krawatte und der großen Rosette der Légion d'Honneur) begegnen konnte. Gewisse Schriftsteller – André Maurois, zum Beispiel, und der nicht minder ehrgeizige Jules Romains – taten sich auf ihre Beziehungen zur Macht viel zugute; andere wieder – Claudel, Giraudoux, Morand, um nur diese zu nennen – gehörten als Diplomaten berufsmäßig zu den Kreisen, die man in der Boulevardpresse als »les milieux officiels« bezeichnet findet. Aber im ganzen gab es doch wenig Kontakt zwischen dem geistig-künstlerischen Paris und jener fragwürdig-glanzvollen Welt der Börsenspekulationen und der politischen Ränke.

Die jungen Leute, mit denen ich in Paris Umgang hatte, unterschieden sich nicht wesentlich von meinen Freunden in Berlin und München. Ob man sich nun im »Select«, Montparnasse, traf oder im Romanischen Café an der Gedächtniskirche, im gastlichen Hause der Madame Jacques Bousquet zu Paris oder im Wiener Heim der Hofrätin Berta Zuckerkandl, die Gesichter und die Gespräche blieben immer ungefähr dieselben. Man verstand sich, ob man nun das Französische mit deutschem Akzent sprach oder in einem etwas holprigen Englisch miteinander plauderte; man konnte beim anderen stets gewisse Erfahrungen und Kenntnisse voraussetzen, die einem selber wesentlich waren; man liebte die gleichen Dichter, die gleichen Maler und Komponisten, die gleichen Landschaften, Rhythmen, Spiele und Gebärden. Solche übernationale Gleichgestimmtheit unter den Repräsentanten einer bestimmten Generation und Klasse hat es wohl immer gegeben: das Phänomen ist älter als der technische Apparat, durch den es erst recht natürlich und unvermeidlich wird. Im achtzehnten Jahrhundert reagierten die Jünglinge von fünf Kontinenten mit einem Enthusiasmus, der überall gleich maßlos, gleich hysterisch war, auf gewisse empfindsame Clichés, wofür die universale »Werther«-Epidemie das berühmteste Beispiel bleibt. Im neunzehnten gab es dann das Nietzsche-Fieber, den Richard-Wagner-Bazillus, die Baudelaire-Neurose. Mit dem gleichen Überschwang ließ ein internationaler Sektor meiner Generation sich von gewissen Ideen, Stimmungen und Slogans kaptivieren. Es war diese sympathetische Affinität, auf die Jean Cocteau anspielte, als er mich, in seinem Vorwort zur französischen Ausgabe meines Alexander-Romans, als »un de mes compatriots« anredete – »je veux dire, d'un jeune homme qui habite mal sur la terre et qui parle sans niaiserie le dialecte du cœur«.

Er selbst, Jean Cocteau, gehörte zu den Mythen unserer übernationalen Brüderschaft; sein Name – wie der des André Gide, des Kafka, des Picasso – war eines der Losungsworte, an denen die jungen Schöngeister von Cambridge bis Kairo, von Salzburg bis San Francisco sich erkannten. Ein paar Jahre später begann sein Stern etwas von seinem Glanz, seiner schillernden Attraktion zu verlieren: nun waren es die Aktivisten, die Dynamiker, die literarischen Barden der Tat, des Opfers und des Abenteuers – Geister wie Malraux, Hemingway, Saint-Exupéry –, zu denen die Jugend sich am meisten hingezogen fühlte; aber damals – 1928, 1929, 1930 – stand der Dichter des »Orphée«, der »Enfants Terribles«, der »Machine Infernale« im Zenit seines Ruhmes. Wir waren fasziniert von der kühnen Bravour seines Virtuosentums, von der radikalen Unbedingtheit seines Ästhetizismus; eines Ästhetizismus, der den entscheidenden Schritt über Oscar Wilde hinaus, den Schritt zur äußersten Konzentration und Stilisierung, zur quasi-asketischen Härte, zum Unsentimental-Tragischen wagte.

Ich lernte ihn im Jahre 1926 kennen. Sein Freund Raymond Radiguet, der junge Romancier, dessen frühreifes Genie der Ältere liebend entdeckt und gefördert hatte, war etwa ein Jahr vorher gestorben. Jean hatte mehrere Nervenzusammenbrüche hinter sich, auch eine Entziehungskur (er enthielt sich vorübergehend des Opiumgenusses) und seine sensationelle, wenngleich nicht sehr gründliche Konversion zum Katholizismus. Er logierte damals im Appartement seiner Mutter, Rue d'Anjou, wo ich bei meiner ersten Visite von einem fleischigen, brünetten jungen Mann in schwarzem Priestergewand empfangen wurde. Cocteau ließ auf sich warten; der fleischige Seminarist – sein Name war Maurice Sachs – vertrieb mir die Zeit mit innig schwärmerischen, dabei geistreich pointierten Reden. »Jean est adorable!« Dies war der Refrain, der immer wieder kam. »Quelle finesse! Et au même temps – quelle simplicité! Je l'adore …« (Später, in seinem Erinnerungsbuch »Le Sabbat« – 1947 – sollte Sachs ein sehr anderes Bild von Cocteau entwerfen. Die Gehässigkeit, mit der er in diesem Buch den ehemaligen Freund und Meister anklagt und karikiert, ist ebenso maßlos, ebenso hysterisch wie damals, zur Zeit unseres ersten Gesprächs, seine Bewunderung und Schwärmerei es waren). Der Dichter, als er sich schließlich zu uns gesellte, sprach seinerseits viel von simplicité. Es war in dieser Saison sein Lieblingswort. » La vie simple!« rief er immer wieder. »Voila la seule Solution …«

Seither habe ich ihn in vielen verschiedenen Behausungen aufgesucht, aber es blieb immer dieselbe. Nur die »Lieblingsjünger« und die Lieblingsworte wechselten. Übrigens zog dieser Ruhelose zwar von Hotel zu Hotel, von einer Wohnung zur anderen, hielt aber dabei einem bestimmten Stadtviertel die Treue: Es ist die Gegend zwischen der Madeleine und dem Palais Royal – ein Stück altes Paris also, aber nicht das älteste –, wo er sich zu Hause fühlt. Man könnte ihn sich nicht in einer der hellen, eleganten Straßen von Passy oder Auteuil vorstellen. Ebensowenig wie in den düster-pittoresken Gassen um die Bastille oder in einem Atelier am Boulevard Montparnasse.

Aber wo er sich auch niederlassen mag – in einem dubiosen kleinen Hotel am Hafen von Toulon oder in der Biarritz-Villa eines seiner mondänen Gönner –, es gelingt ihm immer, sich seine eigene Welt, seine unwechselbar persönliche Atmosphäre zu schaffen. Der magisch-kapriziöse Apparat, mit dem er sich umgibt, gehört zu ihm, ist ein integraler Teil seines Wesens, seines Künstlertums. Die Skizzen von Picasso und die schönen alten Schiffsmodelle, die antiken Büsten zwischen purpurnen Draperien, die chinesischen Opiumpfeifen und vergilbten Theaterprogramme, die Gipsabgüsse von männlichen Füßen und weiblichen Händen (letztere mit roten Gummihandschuhen bekleidet), die Stiche von Paul Gustave Doré, die Gemälde von Marie Laurencin, Giorgio de Chirico und Salvador Dali (Arbeiten des frühen Chirico und des frühen Dali, wie man wohl, angesichts der jetzigen Verkommenheit dieser beiden Künstler, ausdrücklich betonen sollte!), die photographischen Bildnisse der Sarah Bernhardt, Nijinskys, Radiguets, die Skelette, Spiegel, Taucherglocken, unbeantwortete Briefe, Masken, Medizinflaschen, Zirkusplakate, Zeitungsausschnitte und verhüllten Lampen – dies ganze Durcheinander von Souvenirs, Fetischen und Trophäen scheint aus Jeans schmalen, langfingrigen, nervös beweglichen Händen zu wachsen wie die schaurig phosphoreszierende Protoplasma-Substanz aus dem Mund, dem Bauch, den Achselhöhlen des Mediums.

Niemals habe ich mir Cocteau in natürlicher oder konventioneller Umgebung vorzustellen vermocht: in einer Waldlandschaft wäre er ebenso fehl am Platze wie in einer bürgerlichen Stube. Er gehört in sein Kuriositätenkabinett. Mit welch beschwingter Agilität er sich inmitten seines verhexten Hausrats tummelt! Und wie seltsam besänftigt und konzentriert das magere, alterslose Gesicht erscheint, wenn er sich, auf dem Lager ausgestreckt, mit geübten Fingern sein Pfeifchen stopft! Ohne Hast, mit andächtig-zeremonieller Gebärde führt er das Instrument zum Mund wie eine Flöte; er saugt, nicht lächelnd, auch nicht gierig, sondern mit einem Ernst, der seine Züge zugleich verklärt und härtet; die Augen weit geöffnet, den Widerschein der kleinen Lampe auf der gesenkten Stirn, inhaliert er das aromatische Narkotikum, den süßen Rauch des Mohnpräparates, von dem Pablo Picasso gesagt haben soll, sein Geruch sei »moins stupide«, weniger töricht als irgendein anderes Parfüm der Welt. »Der Alkohol ruft Paroxysmen der Narretei hervor«, heißt es bei Cocteau. »Das Opium Paroxysmen der Weisheit.«

Ist Cocteau weise? Der Weise strebt nach Vollkommenheit, und eben darum, um vollkommene Selbsterfüllung, Selbstgestaltung, ist es diesem wunderlichen Einsiedler zu tun. Man hat ihm Charakterlosigkeit vorgeworfen, hat ihn einen opportunistischen Snob und eitlen Clown genannt. Aber um ihm gerecht zu werden, muß man ihn wohl zunächst und vor allem als ästhetisches Phänomen begreifen und bewerten, als ein Phänomen also, das sich moralischer Kritik ebenso entzieht wie das Rad des Pfauen, die holde Gaukelei des Regenbogens. Lügt der Pfau, wenn er sich exhibitionistisch spreizt? Was für Prinzipien verrät der Regenbogen, der seine Farben schillernd spielen läßt? Für Pfau und Regenbogen gilt nur ein Prinzip: zu gleißen, zu verführen, schön zu sein.

Cocteau ist weder Moralist noch Zyniker, sondern absoluter Ästhet, Fanatiker der Form, des Scheins, des Ausdrucks, der Gebärde. Es gibt für ihn nur eine unverzeihliche Sünde: Stillosigkeit, Dilettantismus. Dieser unvergleichliche Virtuos unter den Poeten, dieser echte Poet unter den Virtuosen ist dem berüchtigten Elfenbeinturm ebenso fern wie der politischen Arena. Sein Abenteuer spielt sich in einer Höhe ab, die nicht weihevoll-olympisch ist, sondern eher an die Entrückung des Akrobaten denken läßt, der, weit über den Häuptern der entzückten Menge, am schwebenden Trapez oder auf straffem Seil seine prekäre Arbeit verrichtet.

Immer wieder der gewagte Sprung, der Grand Écart bei verstummtem Orchester. Man darf keine Nerven haben, ja, es empfiehlt sich vielleicht, herzlos und seelenlos zu sein, wenn man dies Äußerste Abend für Abend, Jahr für Jahr mit gleicher Kaltblütigkeit, gleicher Bravour bestehen soll. Immer wieder, Abend für Abend, Jahr für Jahr, die gleiche unbarmherzige Alternative: das vollkommene Gelingen oder der Todessturz! Schafft man es? Geht es schief? Cocteau schafft es.

Alles ist ihm geglückt (abgesehen nur von ein paar etwas matten Leistungen der allerletzten Zeit), welcher Kunstform er sich auch bedienen mochte. Seine Karikaturen und graphischen Phantasien sind ebenso gekonnt und original wie seine Verse (tatsächlich ist Cocteau vielleicht der einzige Dichter von Rang, der sein Werk selbst illustrieren kann, ohne die eigene Vision zu trüben oder zu verzerren); seine Romane und Kurzgeschichten nehmen es an struktureller Präzision und emotioneller Intensität mit seinen Dramen auf. Cocteau ist ein Meister des lyrisch-kritischen Aphorismus: einige seiner Versuche auf dem Gebiet der critique indirecte, zum Beispiel die außerordentliche Studie über Chirico, gehören zum Reizvollsten, was er geschrieben hat. Die Songs, mit denen er die »Vedettes« der Music-Hall beschenkt (Yvonne Georges und Marianne Oswald hatten ihre größten Erfolge mit Cocteauschen Liedern) sind ebenso wirkungsvoll wie seine berühmten Librettos für Ballett und Oper. Ich hatte Gelegenheit, ihn bei der Arbeit im Filmatelier zu beobachten (es war sein erster und schönster Film, »Le Sang d'un Poète«, den er damals inszenierte): er zeigte als Regisseur dieselbe fanatische Konzentration, den gleichen disziplinierten Elan, den er bei der Herstellung einer Zeichnung, eines Gedichtes oder Artikels hat.

Es ist dieser generöse, unbedingte Einsatz des ganzen Talents und Könnens bei jeglicher Verrichtung, in jedem Augenblick, durch den Jean Cocteau als Mensch verführt und fasziniert. Er spart nicht mit sich, wird sich selbst nie untreu: all seine Akzente und Gesten, seine Bonmots und Grimassen haben den konsequent durchgehaltenen, bewußt pointierten Stil des großen Virtuosen, dessen Ehrgeiz und »raison d'être« eben darin besteht, seine Virtuosität ständig zu bewähren, ständig zu wirken, zu frappieren, zu entzücken. Als Meister des Gespräches hat er heute nicht seinesgleichen; mit so fulminanter Verve, so leidenschaftlich sich verschwendendem Esprit ist wohl seit Oscar Wilde nicht geplaudert worden.

Die Stunden, die ich mit ihm verbringen durfte, haben in meiner Erinnerung die hoch-stilisierte Lustigkeit von Commedia-dell'-arte-Szenen, mit einem Einschlag von magischem Ritus und bizarrer Hexenküche. Jean – immer mit der Pfeife in der Hand, immer wieder hingekauert beim Schein des ewigen Lämpchens – ist der Komödiant und Zauberer, der Hohepriester des heiter-makabren Kultes. Er hat die Augen eines Hypnotiseurs, die Hände eines Taschendiebes. Das spröd-sensible Pergament seiner beweglichen Miene, das starre schwarze Haar, die schmalen Lippen, die gewandten Finger, seine ganze Physis scheint ausgedörrt, versengt, fast entmaterialisiert vom bösen Anhauch giftig heißer Winde. Ist es derselbe teuflische Schirokko, der ihn jetzt vor unseren bewundernden, entsetzten Blicken durch die Stube wirbelt und ihn zu immer neuen Kapriolen reizt? Er imitiert Filmstars, Boxer, Vögel, Greisinnen, Paranoiker, wobei er sich mit Federn, Masken, bunten Tüchern schmückt. Er glitzert, kichert, tänzelt, verwickelt sich in seine Schleppe. Gleich wird er sich mit dem seidenen Schal erwürgen wie Isidora Duncan, wie die Königin Jokaste in Cocteaus Drama »La Machine Infernale«! Er wiegt sich, flattert, schwebt, steigt auf, wird schwerelos. Hält er sich für Nijinsky, der sich seinerseits in klinischer Ekstase erst für ein Pferd, dann für eine Schwalbe und schließlich gar für eine Wolke hielt? Nein, der beschwingte Jean wird sich weder erdrosseln noch den Verstand verlieren. Er bleibt geistvoll, noch in der narkotischen Trance. Was ihm von den Lippen kommt, ist nicht lallende Offenbarung. Es sind geschliffene Aperçus, druckreife Pointen, kaustische Bonmots. Sein Esprit ist stärker als die geliebte Droge; nicht einmal im Rausch läßt er sich so weit gehen, daß er die Wahrheit sagte. Oder sagt er sie eben, indem er mit Paradoxen um sich wirft? Ist das Spiel, die Maske, die Verstellung seine Wahrheit? »Je suis un mensonge qui dit toujours la vérité …« Der große Lügner, der große Wahr-Sager hat dies Wort als Motto für seine Autobiographie gewählt.

Zuweilen will Cocteau uns glauben machen, daß hinter seinen Tricks und Posen ein Geheimnis verborgen liege. Aber vielleicht gibt es gar kein Geheimnis? Vielleicht ist die Maskerade hier nicht Umweg oder Mittel, sondern Selbstzweck? Cocteau, der sich oft in der Rolle der Sphinx gefällt (die Rezitation des Sphinx-Monologs aus dem Ödipus-Drama ist eine seiner Glanznummern: auf Grammophonplatten aufgenommen!) – was hat er denn zu verbergen? Die echte Sphinx benimmt sich wohl weniger auffällig; sie ist von diskreter Dämonie.

Es war Jean Cocteau, der feststellte, daß »das Geheimnis erst beginnt, wenn alle Geständnisse abgelegt sind«, ein Ausspruch, der ebensoviel Wahrheit enthält wie alle seine Lügen. Hätte André Gide den gleichen Satz geprägt, so wäre er wahrlich wahr.

 

Cocteau ist, bei aller Eitelkeit, ein guter Kamerad. Teilnahmsvoll, hilfsbereit, nicht ohne echte Sympathie und Wärme: Eigenschaften, die gerade bei einem scheinbar so koboldhaft detachierten Wesen besonders rührend und gewinnend wirken. Dieser Gefallsüchtige ist nicht empfindlich; Rachsucht, nachträgerische Kleinlichkeit liegen seinem Wesen fern. Ich habe ihm einmal, in einer ernsten Sache, Unrecht getan, ihn irrtümlich oder doch mit übertriebener Schärfe beschuldigt und verurteilt. Jeder andere wäre mir bitter gram; nicht Cocteau. Er verzeiht, sei es aus Großmut, sei es aus Zerstreutheit (die aber ihrerseits vielleicht nur eine besonders elegante Form der Großmut ist). Ich bin ihm dankbar dafür. Ich bin ihm für vieles dankbar; der Kontakt mit ihm hat meiner Jugend viel bedeutet. Seine katzenhaft geschmeidige anmutig groteske Figur wurde mir zum Symbol, zur Inkarnation artistischer Besessenheit, halb Warnung, halb Modell für kunstbeflissene, der Kunst verfallene und verschworene Knaben auf der Suche nach dem rechten Weg.

Aber wieviel Belehrung und Amüsement ich diesem inspirierten Jongleur auch schulden mag – es ist ein anderer Zeitgenosse, ein anderer Franzose, dem ich mich am tiefsten verpflichtet fühle: André Gide.

Ich habe in anderem Zusammenhang, im Rahmen einer Gide-Monographie versucht, der Bedeutung dieses Geistes gerecht zu werden, den Reiz dieser Persönlichkeit zu schildern und zu analysieren. Hier ist nicht der Ort, auf die mannigfachen Aspekte und Implikationen des Gideschen Oeuvre, die widerspruchsvoll gemischten Züge und Möglichkeiten des Gideschen Charakters nochmals einzugehen. Ich würde aber die Geschichte meiner eigenen Entwicklung verfälschen oder gar zu fragmentarisch lassen, wenn ich nicht auch an dieser Stelle des großen Schriftstellers gedächte, dessen Gestalt und Botschaft so entscheidend auf mich gewirkt haben.

In einem früheren Kapitel dieses Buches war von den Stimmen die Rede, deren erweckender Appell mein knabenhaftes Lebensgefühl zuerst formte und prägte: Sokrates, Nietzsche, Whitman und Novalis, Rimbaud und Stefan George, Rilke, Herman Bang, Wedekind, mein Vater und Heinrich Mann (um nur die mir Nächsten, Wichtigsten noch einmal aufzuzählen). Andere Einflüsse kamen im Lauf der Jahre hinzu. André Gide war der stärkste. Die Begegnung mit ihm – nicht mit dem Menschen, sondern mit dem Werk, in welchem diese reiche, komplexe Menschlichkeit sich offenbart – hat mir mehr als irgendeine andere geholfen, meinen Weg, den Weg zu mir selbst zu finden.

Wenn ich betone, daß die Begegnung mit den Schriften Gides mir bedeutsamer gewesen ist als die mit dem Menschen, so soll damit nicht gesagt oder auch nur angedeutet sein, er habe mich als Persönlichkeit enttäuscht: im Gegenteil, ich zähle die Bekanntschaft mit ihm zu den kostbarsten und erfreulichsten meines Lebens. Aber ich wünsche nicht, den Eindruck zu erwecken, als wäre ich ein intimer Freund des großen Mannes oder als hätte dieser jemals ein besonderes pädagogisches Interesse für mich an den Tag gelegt. Das Interesse war einseitig. Ich bewunderte ihn. Er ließ es sich gefallen.

Unsere Beziehung ist alten Datums: ich stellte mich im Frühsommer des Jahres 1925 zum erstenmal bei ihm vor, mit einem Empfehlungsschreiben von Ernst Robert Curtius. Ich hatte damals noch nicht viel von Gide gelesen, aber war doch schon unter seinem Bann: eine schmale Prosadichtung – »Die Rückkehr des verlorenen Sohnes« in der meisterhaften Übertragung von Rainer Maria Rilke – hatte genügt, um mir von der beziehungsreichen Fülle dieses Geistes, von der sublimen Diskretion dieser Kunst den ersten erregenden Begriff zu geben.

Gide war reizend zu mir. Er lud mich zum Frühstück ein; wir aßen in einer kleinen »brasserie« nahe dem Jardin du Luxembourg, es war ein heiter-gesprächiges Beisammensein, ich genoß es frohen, dankbaren Herzens. Gide war damals im Begriff, mit seinem Freund Marc Allegret eine Expedition ins Innere Afrikas anzutreten; bald nach seiner Rückkehr sah ich ihn wieder; seine Telephonnummer war meist die erste, mit der ich mich gleich nach der Ankunft in Paris verbinden ließ; manchmal war er verreist, aber wenn ich ihn zu Hause fand, gab es immer einen freundlichen Empfang; man traf sich in einem Lokal am Boulevard St. Germain oder in Gides kleiner Wohnung, Rue Vaneau. Einmal aßen wir auch zusammen am Tisch meiner Eltern in München; Gide hielt sich ein paar Tage dort auf, wir unternahmen eine Autofahrt zum Starnberger See mit ihm, am Abend des gleichen Tages wohnte er einer Vorlesung meines Vaters in der Universität bei. Er ließ sich auch von mir einige Kuriositäten des Münchener Nachtlebens zeigen, von denen freilich in seinem »Journal« nichts vorkommt. Indessen findet sich dort eine ziemlich ausführliche Eintragung über den Besuch in unserem Hause, den Vortrag in der Universität und die Autofahrt. Dabei ist nicht nur von meinem Vater die Rede (für dessen Werk, etwa vom »Zauberberg« an, Gide ein ständig wachsendes Interesse zeigte), sondern auch – sehr freundlich – von meiner Mutter, von Freunden, mit denen er durch uns bekannt geworden war (zum Beispiel von Bruno Frank) und von meinen jüngsten Geschwistern, Elisabeth und Michael, an denen er besonderes Wohlgefallen fand. Auch ich werde erwähnt, aber auf eine Weise, die mich damals schmerzen und wohl auch ein wenig überraschen mußte: Hinter meinem Namen stehen die Worte: »... que je ne connais encore qu' à peine«. Die Tagebuchnotiz ist vom 1. Juli 1931. Ich war mit Gide damals seit sechs Jahren in persönlichem Kontakt. Naiverweise, töricht-eitlerweise hatte ich geglaubt, daß eine Beziehung, die mir so viel bedeutete, auch im Bewußtsein des Partners etwas anderes sein müsse als nur eine flüchtige, vielleicht sogar lästige Bekanntschaft.

Es mag sein, daß seine Stellung zu mir sich im Lauf der Jahre etwas geändert hat: Briefe, die ich von ihm besitze, lassen wohl darauf schließen. Als ich ihm, kurz nach Ausbruch des zweiten Weltkrieges, einen Artikel über sein »Journal, 1889–1939« schickte, den ich in einer Schweizer Revue hatte erscheinen lassen, fand er in seinem Antwortschreiben Worte des Dankes und der Anerkennung, deren Generosität mich rührte und beschämte. Im gleichen Brief sprach er die Absicht aus, mir eines seiner Bücher zu widmen. (»Vous me donnez désir d'écrire des Retouches à mon Journal, comme j'ai fait pour mon Retour de l' USSR, et, si je mène à bien ce projet, j'aurai plaisir à vous le dédier, car c'est vous qui m'en avez donné l'idée.«)

Aber ob er mich nun ignorierte oder ob er meine kritischen Huldigungen mit Wohlwollen, vielleicht sogar mit etwas Vergnügen und Gewinn zur Kenntnis nahm – mein Ehrgeiz war es nicht, von ihm gekannt oder geschätzt zu werden, sondern von ihm zu lernen, das heißt: mich von ihm zu mir selbst führen zu lassen. Wohin sonst hätte er mich führen sollen? Kein Schüler nimmt von außen in sich auf, was er nicht ohnedies schon in sich hätte, sei es auch nur latent, im Unbewußten. Während er den Meister zu kopieren meint, erkennt und entwickelt er die eigenen Kräfte. Gide, der sich mit dem Einfluß-Problem viel beschäftigt hat, weiß dies am besten; bei ihm lesen wir:

»Es mag eine recht gewagte Behauptung sein, daß man gewisse Ideen gehabt hätte, auch ohne die Autoren zu kennen, von denen diese Ideen zu stammen scheinen. Und doch bin ich geneigt, zu glauben, daß mein Weltbild ungefähr das wäre, was es heute ist, selbst wenn ich weder Dostojewski noch Freud, weder Nietzsche noch X oder Y jemals gelesen hätte. Was ich von diesen empfing, war wohl eher eine Bestätigung als ein Weckruf (plutôt une autorisation qu'un éveil). Vor allem lehrten sie mich, nicht mehr an mir selbst zu zweifeln, mich nicht mehr vor dem eigenen Gedanken zu fürchten, sondern mich seiner Führung anzuvertrauen, da sich ja nun herausstellte, daß sie mich in dieselbe Richtung führten.«

So tat Gide für mich, was Freud, Nietzsche und Dostojewski, »X und Y«, seiner eigenen Aussage nach, einst für ihn getan hatten: er machte mir Mut zu mir selber. Vom Erotischen ist dabei nicht die Rede, wie ich, um jedem Mißverständnis vorzubeugen, denn doch eigens betonen will; gerade auf diesem Gebiet bedurfte ich kaum der Ermutigung … Was er mir zu bieten hatte, was mich zu ihm zog, war eine »autorisation« moralischer, intellektueller Art: die geistige Legitimation und künstlerische Objektivierung meiner subjektiven Unrast und Ungewißheit. Seine inquiétude – ich spürte es – war auch die meine; aber was in mir nur dunkle Beunruhigung und Bedrängnis war, nahm in seinen Büchern Gestalt an, wurde zugleich transparent und plastisch: beherrscht, geformt, geordnet von einem schöpferisch souveränen Willen.

Sein Beispiel zeigte mir, daß es möglich ist, eine stupende Vielfalt widerspruchsvoller Impulse und Traditionen in sich zu vereinen, ohne deshalb in Anarchie abzugleiten; daß es eine Harmonie gibt, in der die Dissonanzen zueinander finden, ohne sich je zu lösen oder aufzuheben. Diese immer wieder gefährdete, immer wieder neu erkämpfte Harmonie, die ich an Gide bewunderte – entsprach sie nicht dem prekären Equilibrium europäischer Geistigkeit, wie es sich durch die Jahrhunderte entwickelt und, trotz allen Bedrohungen, allen Krisen, immer wieder bewährt und behauptet hat? Ja, der Dichter der »Nourritures Terrestres«, der »Caves du Vatican« und der »Faux-Monnayeurs« galt mir als der gute Europäer par excellence, als der vornehmste Repräsentant und Gestalter europäischen Schicksals. Die Spannung zwischen Hellas und Christentum, zwischen romantischem Gefühl und klassischer Form, zwischen Vernunft und Glauben, Individualismus und sozialer Verpflichtung, Freiheit und Disziplin: alle großen Antithesen des Abendlandes waren Teil seines persönlichen Dramas, waren von ihm zutiefst erlebt und durchlitten worden. Die Werte und Probleme, auf denen unsere Zivilisation beruht, bildeten das Thema der Auseinandersetzung, unter deren Zeichen sein ganzes Schaffen stand und die in seinem Inneren nie zur Ruhe kam.

Wußte er eine Antwort auf meine Fragen? Offerierte er ein Programm? Nein, es war immer nur sein Beispiel, was er zu bieten hatte, das Beispiel seiner geistigen Integrität und Tapferkeit, seiner Neugier und Wahrheitsliebe, seiner Geduld, seines Stolzes, seiner Leidenschaft, seines sittlichen Ernstes. Durch ihn erfuhr ich, daß Erkenntnis und Glaube, Wissen und Liebe einander nicht ausschließen; denn er war erfahren in allen Abgründen der menschlichen Seele (das Phänomen des Bösen hat seinen psychologischen Spürsinn immer wieder gereizt und beschäftigt), ohne aber darum seinen Glauben an das Gute im Menschen, an die Verbesserungsfähigkeit unserer Natur jemals aufzugeben: Je tiefer dieser unerschrockene Geist eindrang in die düsteren Geheimnisse der Menschenseele, desto stärker und stetiger brannte das Licht seiner Sympathie, seiner wissenden Liebe.

Sein Exempel bewies mir, daß man Verwalter und Repräsentant des großen kulturellen Erbes sein kann und gleichzeitig Liebhaber der Zukunft, Künder und Kamerad noch ungeborener Geschlechter. Kein Schriftsteller unserer Epoche hat mehr Überlieferung, mehr vergangenes Kulturgut in sich aufgenommen als Gide, der sich von allen Genien des Okzidents inspirieren und beschenken ließ: Die helle Gabe Griechenlands war ihm ebenso willkommen wie die dunkle Mitgift, die er von puritanisch sittenstrengen Ahnen übernahm; der nahrhaft gesunde Beitrag des Montaigne wurde mit ebensolcher Bereitschaft akzeptiert wie das problematische Vermächtnis eines Nietzsche, eines Dostojewski; bei Dante, Shakespeare, Goethe ließ sich ebensoviel lernen wie bei den Meistern des eigenen Landes – Racine, Stendhal, Balzac, Baudelaire … Aber was für einen Wert hätte das Erbe, wenn es nicht in sich den Keim der Zukunft trüge? Gides kultureller Konservatismus war niemals Selbstzweck; die Beschäftigung mit dem Gestern hatte bei ihm stets den Bezug zum Heute und zum Morgen. Das, was war – er hat es oft gesagt – bedeutete ihm weniger als das, was ist; das Seiende aber faszinierte ihn nicht so sehr wie das Werdende: das, was sein könnte und also eines Tages sein wird.

Er prägte mir ein, daß jedem von uns sein eigenes individuelles Gesetz mitgegeben ist, welches immer wieder aufs neue befragt und ergründet, immer wieder befolgt sein will, ohne Rücksicht auf Mode und Vorurteil, ohne Kompromiß. Sich selber treu sein, darauf kommt alles an. Wer sich selbst verrät, der wird auch der Gemeinschaft, dem sozialen Ganzen nicht dienen können. Je unabhängiger und konsequenter die Persönlichkeit, desto größer der Beitrag, den sie zum allgemeinen Wohle leisten wird! Individualismus serviable; es war im Zusammenhang mit Goethe, daß Gide diese Formel zum erstenmal gebrauchte. Bei seinem deutschen Meister fand dieser Weltbürger französischer Nation die vollkommene Vereinigung von Freiheit und Pflichtgefühl, eben jenen Individualismus, der sich einordnet aber nicht unterordnet, der gerade durch seine konzessionslose Unbedingtheit zum gewaltig nützlichen Faktor im Dienste der Gesellschaft werden kann.

Das Beispiel Goethes. Gut, das war immer da. Aber man hatte es uns gar zu häufig vorgehalten: ihm fehlte der Reiz des Neuen. Goethe war mir zu entrückt, zu marmorn, zu olympisch. Gide war zugleich fremder und vertrauter – ein Zeitgenosse, fast ein älterer Bruder, und doch so reich an schillerndem Geheimnis. Besaß er nicht die Tugenden, die er an Goethe rühmte? Über den individualisme serviable gab es bei diesem »älteren Bruder« mancherlei zu lernen, wozu noch andere Attraktionen kamen.

Gide schien mir als Vorbild um so akzeptabler, als er es offenbar nicht darauf abgesehen hatte, vorbildlich zu wirken. Die Pose des Magisters lag ihm fern; bei aller Größe blieb er problematisch, immer der Unbefriedigte, immer der Suchende. Aber gerade indem er sich nie festlegte, fand er sich; indem er sich wandelte, erfüllte er das eigene Gesetz.

In Augenblicken eines unreif-unbedachten Ehrgeizes mag ich mir wohl gewünscht haben, dieser echten, unwiederholbaren Persönlichkeit – André Gide – möglichst ähnlich zu werden. Aber je mehr ich von ihm lernte, desto deutlicher wurde mir die Eitelkeit solcher Aspiration. Einem anderen gleichen? Nicht dies ist es, wozu er uns anhält. Vielmehr gilt für jeden von uns der Rat, den er, in den »Nouvelles Nourritures«, seinem fiktiven Freund und Jünger zuruft:

»Vertraue niemandem, außer der Stimme des eigenen Gewissens! Sei aufrichtig, vor allem gegen dich selbst! Erforsche dein eigenes Wesen! Geh deinen eigenen Weg! Werde, der du bist!«

 

Es ist nicht immer der gerade Weg, der zu uns selbst, zur Selbst-Erkenntnis und zur Selbst-Erfüllung führt; der krummste Pfad mag oft der nächste sein. Wer das Dunkel gar zu ängstlich meidet, wird das Licht vielleicht nie finden dürfen. Auf unsicherem Grund – und wer von uns hätte festen Boden unter den Füßen? – kommt man leicht zu Falle: es sei denn, man paßt das eigene Equilibrium der allgemeinen Schaukelbewegung an.

Das Penchant fürs Bizarre und Exzessive, das ich mit so vielen meiner Altersgenossen teilte, ist gewiß nicht nur auf Snobismus und Originalitätssucht zurückzuführen. Was einer älteren Generation in der Kunst als obskur oder verzerrt erscheinen mochte, war unserem Geschmack und Lebensgefühl durchaus gemäß: es entsprach unseren Erfahrungen. Den schon gemachten und den anderen, die noch kommen sollten. Was wußte die Kunst des neunzehnten Jahrhunderts, was wußten diese idyllischen Romantiker, Realisten und Impressionisten von der erstaunlichen Wirklichkeit, die wir kannten oder die sich doch schon vor unseren Augen vorbereitete? In den fruchtbaren Gesichten und Konstruktionen eines Picasso, eines Rouault, eines Chirico fand sie ihren adäquaten Ausdruck.

Ich liebte es, mich in den Ateliers der großen Pariser Maler aufzuhalten und den Meistern bei der Arbeit zuzuschauen. Ein Besuch bei Marc Chagall etwa war wie ein Ausflug in Sphären, die man bisher nur im Traume kennengelernt hatte: nicht ohne heiteres Staunen erging man sich in dieser bezaubernd verzauberten Landschaft. Die purpurnen Kühe auf dem Dach des russischen Bauernhauses, der sanfte Flug der violetten Lämmer, die ekstatischen Handelsjuden mit flatterndem Bart und Kaftan, das benommene Lächeln der Liebenden, die in der Tiefe eines phosphoreszierenden Himmels einander selig in den Armen liegen – man hatte stets geahnt, daß es dergleichen gab. Der Hausherr – übrigens meist zu beschäftigt, um sich auf lange Gespräche einzulassen – brauchte nichts zu erklären: Man fühlte sich zu Hause in seiner Welt der fliegenden Köpfe, schillernden Monde und explodierenden Blumen. Freilich, das Schwerkraftgesetz der empirischen Realität war hier ausgeschaltet; statt dessen aber gab es ein poetisches Equilibrium, eine magische Logik, eine Traum-Balance, deren Gültigkeit sich – für uns – von selbst verstand. Bei Marc Chagall war nichts fragwürdig, spielerisch oder exzentrisch: alles stimmte, hatte seine Richtigkeit. Wenn er Blüten aus der stählernen Struktur des Eiffelturmes sprießen ließ, so handelte es sich nicht um eine liebenswürdige Caprice, sondern um eine interessante Entdeckung: ja, es gab Rosen dort, wie seltsam, daß man sie bisher übersehen hatte! Zwischen den Blüten schwebten, durchaus logischer Weise, die losgelösten Häupter von Claire und Iwan Goll: das lyrisch gestimmte Ehepaar nahm sich auf der bekränzten Spitze des »Tour d'Eiffel« viel wahrscheinlicher, ja viel richtiger aus, als in irgendeinem der Studios zwischen Auteuils und der Ile St. Louis, wo sie damals ihre literarischen Empfänge gaben.

Die Golls, poetische Kosmopoliten deutsch-französischer Zunge, arrangierten und dirigierten meine ersten Ausflüge in die Pariser »milieux littéraires«. Dank ihrer heiter-geselligen Mittlerschaft kam ich in herzlichen Kontakt mit allerlei pittoresken Figuren, mit Maurice Rostand, zum Beispiel, dem etwas gar zu zierlich-empfindsamen, aber herzensguten Sohn des populären Edmond Rostand, und mit geistvollen Männern wie Léon Pierre-Quint, dem Kritiker und Biographen, der mich mit pikanten und instruktiven, wenngleich leicht schaurigen, Anekdoten aus der »vie intime« Marcel Prousts unterhielt.

Von den französischen Schriftstellern dieser Epoche waren es, neben Gide, Cocteau und René Crevel, vor allem zwei, zu denen ich mich hingezogen fühlte und an deren Freundschaft mir gelegen war: Jean Giraudoux und Julien Green. Giraudoux hatte es mir gleich mit seinen beiden frühen Romanen angetan: »Bella« und »Eglantine« scheinen mir noch heute von tieferem, originellerem Reiz als die hübschen Theaterstücke, mit denen Giraudoux später seine großen internationalen Erfolge hatte. Das erste dieser anmutig-nachdenklichen Piecen – »Siegfried« war damals gerade in Paris herausgekommen; auch in Deutschland sollte es demnächst gespielt werden. Mein Freund Hans Feist hatte die Übersetzung besorgt. Es war das deutsche Problem, mit dem der Dichter-Diplomat sich in seinem ersten dramatischen Versuch auseinandersetzte; die Spannungen und Affinitäten zwischen den zwei großen europäischen Völkern haben nie aufgehört, diesen sensiblen, ehrlich bemühten Geist zu beunruhigen und schöpferisch anzuregen. Giraudoux, Autor der »Undine«, hatte ein ausgesprochenes Penchant für die germanische Seele, ein Penchant freilich, in das sich oft eine gewisse Beklommenheit mischte. Das teutonisch-romantische Dunkel reizte den hochzivilisierten, durchaus intellektuellen Lateiner, der übrigens in seiner Erscheinung selbst durchaus nordisch wirkte. Giraudoux war hochgewachsen, helläugig, blond, von sportlich-nonchalanter Eleganz. So sieht ein schwedischer Tennis-Champion aus, der von seiner Mutter etwas gallisches Blut mitbekommen hat (daher das skeptische Lächeln, der mühelos brillante Redefluß), der in Oxford oder Cambridge zum perfect gentleman erzogen worden ist (daher die gelockert selbstgewisse Haltung, die zugleich urbanen und hochmütig unverbindlichen Manieren) und dem ein rassisch einwandfreies germanisches Fabelwesen – eine Ostsee-Nixe oder ein norddeutsches Fräulein mit Seele und goldenem Haar – für immer den Kopf verdreht hat (wodurch sich die träumerische Zerstreutheit seines hellen Blicks erklären dürfte).

Wenn das zwielichtig-romantische Element im anmutig hellen Wesen Jean Giraudouxs durchaus als paradoxe Zutat und pikante Nuance wirkt, so überwiegt es, wird zum bestimmenden Zug im Oeuvre und Charakter Julien Greens. Er hatte einige seiner schönsten Bücher schon geschrieben, als ich ihm zuerst in Paris begegnete: »Adrienne Mesurat« und »Léviathan« – zwei Meisterromane von unheimlich düsterer Färbung – hatten seinen Namen schon berühmt gemacht. Ich kannte diese Bücher; ich liebte sie, weil sie so traurig waren. Trauriger noch, oder doch von einer strengeren, kälteren Traurigkeit als die geliebten Bücher meines Herman Bang. Wie vertraut mußte dieser französische Schriftsteller amerikanischer Abkunft, Julien Green, mit den Abgründen des Schmerzes sein! Er hatte kein anderes Thema – nur den Schmerz, die Trauer: die große, schwere, durchaus hoffnungslose Trauer der unerlösten, unerlösbaren Kreatur, in die all unser Gefühl mündet als in die Heimat; und alles Gefühl ist nur ihr Vorspiel, ihre Einleitung, so daß es von einer Frau, die vorübergehend aufgebracht oder rachsüchtig oder vielleicht beinah glücklich war, mit furchtbarer Selbstverständlichkeit heißt: »Und die Trauer strömte wieder in ihr Herz, wie das Meer wieder den Strand bedeckt.«

Wie stellt man sich den Dichter vor, der solche Sätze schreibt? Ich dachte ihn mir als schon bejahrten Mann, vielleicht weißbärtig, mit gebeugtem Rücken, gebeugt von dem »ungleichen Kampf, der sich abspielt zwischen ihm und einer geheimnisvollen, unbestimmten Macht«. Das Milieu, in dem seine Bücher spielten – die französische Provinz mit ihrer erstickenden Enge, ihrer albtraumhaften Monotonie – war gewiß auch das seine: In dem verödeten Restaurant, das wir im »Léviathan« geschildert finden, hatte er wohl jahrelang seine Mahlzeiten eingenommen; das Heim, aus dem er kam und das seine Züge geprägt hatte, mußte der kleinbürgerlichen Hölle gleichen, in der Adrienne Mesurat leidet und verdirbt.

Den schlanken und adretten jungen Herrn, der mich eines Tages im Hotel Jacob, Rue Jacob, besuchte (ich weiß nicht mehr, wer das Zusammentreffen arrangiert hatte), hielt ich zunächst für einen Sohn des tragischen Alten, dessen Werke ich bewunderte. Aber nein, er war es selbst: dieser glatte, schlanke Jüngling von diskret kosmopolitischer Eleganz hatte die Romane der Verzweiflung geschrieben, hatte unseren Ur-Schmerz, unsere Ur-Angst episch beschworen und zum gültigen Kunstwerk geformt. Er war kaum älter als ich, vier oder fünf Jahre vielleicht. Seine Miene schien unberührt von den Heimsuchungen und Abenteuern, die er schon bestanden und gestaltet hatte. Oder verriet sich die Leidenserfahrung nicht doch im sanft zerstreuten Lächeln, im verhangenen Blick? Ohne Frage, der Blick war ungewöhnlich. Von samtener Schwermut, dabei nicht ohne eine gewisse düstere Intensität und Schärfe. Indessen genügten selbst die verschleierten, dabei eindringlichen Augen nicht, um mir das Phänomen dieser ahnungsvollen Dichter-Eingeweihtheit verständlich oder auch nur akzeptabel zu machen. Mir wurde bang in der Gegenwart des korrekten, weltmännisch heiteren Gastes, der – wie mir aus seinen Schriften nur zu wohl bekannt in den infernalischen Labyrinthen dunkelster Triebe und geheimster Qualen so erschreckend zu Hause war. Woher kam ihm dies Wissen? Diese schlimme Vertrautheit mit der Unterwelt – was für einem Segen oder Fluch mochte er sie verdanken?

Später einmal, als ich ihn besser kannte, fragte ich ihn ohne Umschweife: »Wie kommen Sie zu Ihren Stoffen? Einer Adrienne Mesurat begegnet man doch kaum in unseren Kreisen. Und wo finden Sie Figuren wie den fürchterlichen Guéret, die arme kleine Angèle, die jammervolle Madame Grosgeorge, die Sie im ›Léviathan‹ porträtiert haben?«

Nie vergesse ich das etwas spöttisch amüsierte Lächeln, den entgleitenden Blick, mit dem er mir antwortete: »Aber mein lieber Freund! Ich bin es doch nicht, der meine Romane schreibt! Ein anderer führt meine Hand. Ein Fremder …«

Offenbar, er meinte es ganz wörtlich. Und er sprach die Wahrheit.

 

Das Spaltungs-Erlebnis, die schizophrene Inspiration, zu der Julien Green sich mit so zivilisierter Nonchalance bekannte, wurde bei den Surrealisten zum lärmenden Programm, zum aufdringlich plakatierten Slogan. Diese Gruppe – die einzige, die von den mannigfachen Avantgarde-Bewegungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre übriggeblieben war – stand damals auf dem Höhepunkt ihrer Karriere: es waren einige der begabtesten jungen Maler, Dichter und Literaten, die sich um André Breton, Initiator und Führer des Surrealismus, scharten, René Crevel gehörte zu ihrem Kreis. Durch ihn lernte ich die Surrealisten kennen.

Was freilich den »Meister« selbst – André Breton – betrifft, so blieb mein Verhältnis zu ihm ein kühles und distanziertes. »Führernaturen« stoßen mich eher ab, und Breton ist wohl eine, wenngleich er nur in geistiger Sphäre führen und verführen darf. Seine intellektuellen Kapricen und Intuitionen gelten der ihm ergebenen Clique als Offenbarung, oberstes Gesetz. Wer nur Anbeter um sich duldet, wird sich gerade den besten Köpfen unter seinen Freunden bald entfremdet finden. Und wirklich ist es eigentlich nur einer von der alten Surrealisten-Garde – Max Ernst, der Maler –, der heute noch dem tyrannisch launenhaften Breton die Treue hält. Die anderen die gegen Ende der zwanziger Jahre zu den Säulen der »Bewegung« zählten und mit denen ich damals gelegentlich [zusammentraf], sind alle abgefallen: der Dichter Paul Éluard, der in meiner Erinnerung die strenge, schöne Stirn, den kühn begeisterten Blick eines jungen Kreuzritters hat; Louis Aragon – in jener Zeit eine »literarische Hoffnung«, um die man nur in eingeweihten Zirkeln wußte (wie siegesgewiß trug er den kleinen, leichten, edel geformten Kopf! Und seine Gebärden – wie jung er damals war! – hatten die mörderische Eleganz, die wir an Stierkämpfern bewundern …); der Romancier und Kritiker Philippe Soupault, mit dem ich auf besonders freundlichem Fuße stand – sein Enthusiasmus konnte hinreißend sein: wenn er etwa von Guillaume Apollinaire erzählte oder irgendeine halb-vergessene literarische Kostbarkeit, eine Geschichte des Achim von Arnim oder ein Trauerspiel der elisabethanischen Epoche, mit intelligentem Überschwang pries. Der kindlich dringliche Tonfall ist mir noch im Ohr, mit dem er mich – man dinierte in einem überfüllten, rauchigen, charmanten alten Lokal am Boulevard St. Michel – auf ein Werk von Marlowe oder Fletscher aufmerksam machte. »Was, das kennen Sie nicht?« rief er in seinem etwas mühsamen Deutsch. »Aber das müssen Sie lesen! Das ist wunder'übsch! Noch viel 'übscher als Shakespeare!«

Auch Salvador Dali – heute in Amerika hoch bezahlt und von jedem orthodoxen Surrealisten zutiefst verachtet – gehörte damals noch zur munter-aggressiven Schar um Meister André. Dieser hatte höchstpersönlich das Talent des katalanischen Malers entdeckt und dem internationalen Publikum vorgestellt – ein Talent, das sich zu wirklichem Künstlertum hätte entwickeln können, dessen Substanz aber von einem zynisch eitlen Charakter bald korrumpiert und vergeudet werden sollte. Heute ist Dali halb gerissener Geschäftemacher, halb verspielter blagueur. In jener Zeit, die längst vergangen ist, hatten seine skurrilen Visionen noch zwingende Echtheit. Freilich konnte ich schon damals nicht umhin, ein wenig den Kopf zu schütteln, wenn surrealistische Kritiker ihren Dali neben – oder sogar über – Picasso stellten. Mit besonderem Nachdruck setzte sich Crevel für den brillanten Katalanen ein, dessen Werk er in einer ausführlichen Studie – »Dali, ou l'Anti-Obscurantisme« – preisend analysierte.

War es gut für René, daß er den Bretonschen Einfluß mit so eifervoller Gläubigkeit akzeptierte, sich ihm so unbedingt unterwarf? Wer ihn liebte – und ich liebte ihn –, mußte sich um ihn sorgen. Gewiß, der Surrealismus als ästhetisch-psychologische Doktrin und die Surrealisten als kämpferisch verschworene Brüderschaft mochten mancherlei zu bieten haben: Witz, Anregung, artistische Reize unverbrauchter Art, einen lyrisch-pseudowissenschaftlichen Jargon, den es in dieser Form, mit so provokanten Akzenten noch nicht gegeben hatte. Der Marquis de Sade und die Apokalypse, Marx und Rimbaud, Lenin und Freud, Paranoia und Rummelplatz – wer so inkongruente Elemente in einen Topf wirft und zum Cocktail mixt, hat wohl mit was Pikantem aufzuwarten. Der Trank wirkt vielleicht stimulierend. Aber löscht er den Durst innig bemühter, beunruhigter und aufgewühlter Jugend? Mein Freund René Crevel, auf der Suche nach einem Weg, vertraute sich der Führung eines koboldhaft paradoxen, selbstherrlich frechen Geistes an. Ein junger Mensch von wunderbaren Gaben in unserer stumpfsinnig vulgären, der Jugend und dem Geiste feindlich entfremdeten Zeit – so isoliert fühlte er sich, so ratlos und bedrängt, daß er sich an irgendein Programm, ein Dogma klammern mußte. War es ein Programm der Konfusion und des Nihilismus, ein zum Dogma erstarrter Studentenjux? Die surrealistischen Bilderstürmer, deren lustigem Fähnlein er sich anschloß, waren sie sich klar über Richtung und Ziel? Sie vergnügten sich damit, die ethischen und ästhetischen Normen vergangener Epochen bübisch zu verulken. Zum Teufel mit der Moral des Christentums, der Aufklärung, der Französischen Revolution! Weg mit dem öden Schönheitskult der Antike und der Renaissance! Die Venus von Milo gehört in den Kehricht! Statt ihrer beten wir nun eine neue Göttin an, eine Venus mit Fischschwanz, die Augen voller Läuse, und statt des Busens hat sie ein Klavier. Und so hat man denn alle Clichés der Vergangenheit mit großer revolutionärer Geste über Bord geworfen, um schließlich auf ein neues Cliché hereinzufallen, das sich von den früheren nur durch seine Garstigkeit unterscheidet …

Armer René! Erwartete er sich Trost und Führung von Anarchisten, die sich so leicht von einer neuen Orthodoxie düpieren ließen, von Ikonoklasten, die schon wieder vor neuen Götzenbildern in die Knie sanken? Aber vielleicht war es gerade dieser Kult der Neurose, die provokante Glorifizierung der Narretei, von der mein Freund sich angezogen fühlte. Indem er sich zu einer Philosophie des Widersinns und Wahnsinns bekannte, meinte er wohl, den wirklichen Wahnsinn zu bekämpfen, den Wahnsinn um uns herum, wie auch den, von dem er sich selbst, den eigenen Geist, die eigene Vernunft bedroht glaubte.

Denn er hatte Angst. Angst vor den zerstörerischen, katastrophalen Potentialitäten einer entgötterten, desorientierten Gesellschaft; Angst vor dem eigenen Ich, der gefährdeten Identität, die er von den verhaßten Eltern mitbekommen hatte. Der Schatten des bourgeoisen Papa, der sich unpassenderweise in der guten Stube erhängt hatte, verfolgte, quälte, mahnte den rebellischen Sohn. War sein Grauen vor der allgemeinen Infamie und Verderbtheit ein Zeichen klinischer Übersensitivität, ein Symptom ihm vorbestimmten, unabwendbaren geistigen Verfalles? Die Sinnlosigkeit menschlicher Geschäftigkeit, menschlicher Gier erfüllte ihn mit Entsetzen; ließ dies darauf schließen, daß er seinerseits von Sinnen war? War er verrückt oder waren es seine Mitmenschen und Zeitgenossen, war es unsere Welt, unsere Epoche?

René schaute um sich mit seinem schönen, wilden, kindlich aufgerissenen Sternenblick. »Étes-vous fous?« fragte er die Mitmenschen und Zeitgenossen, fragte er die Welt. Und da, keine Antwort kam, mit größerer Dringlichkeit, mit wachsender Erbitterung: »Seid ihr toll?« Schließlich klang es fast wie ein verzweifelter Schrei.

Der junge Romancier wählte diese hartnäckig gestellte, zornig angstvolle Frage als Titel für eines seiner Bücher (»Étes-vous fous?« von René« Crevel, 1929). Es war eigentlich kein Roman im strengen Sinn des Wortes, eher ein polemischer Fiebertraum, eine groteske Halluzination, Wutausbruch und Protest in episch-satirischer Form. Der Held der wunderlichen Chronik, Vagualame (ein Selbstporträt des Autors), irrt ziellos durch eine Welt, die wir halb als Bordell, halb als Irrenhaus geschildert finden. Angewidert und doch auch wieder belustigt von der Hohlheit und Heuchelei modernen Lebens zieht dieser verwundbare, streitbare »Candide« von einem »Kulturzentrum« zum anderen, und wohin er auch kommt, erschreckt er die Menschen mit seiner erschreckten Frage: »Étes-vous fous? Si non …« Wissenschaftler und Gesellschaftsdamen, Priester und Politiker, die Ausbeuter und die Ausgebeuteten, alle werden solcherart examiniert und mit einem desperaten Achselzucken stehengelassen. Der wütende Witz des Vagualame-Crevel richtet sich gegen den Papst und gegen Frau Cosima Wagner, gegen die französische Grammatik, D'Annunzio, den Grafen Coudenhove-Kalergi und seine Paneuropäische Bewegung, die Schweizer Sanatorien, Hollywood, den katholischen Schriftsteller Mauriac und den tschechischen Industriellen Bata. Weder die relativ harmlose Innung der Lesbierinnen noch der ehrwürdige alte Kaiser Franz Joseph finden Gnade vor diesem unbarmherzig strahlenden, reinen und harten Blick. Vagualame – Spaßmacher, Wahrheitssucher, Richter – verhöhnt das House of Lords in London, die Académie Française in Paris und das Institut für Sexualwissenschaft in Berlin. Der Gründer und Chef besagten Institutes, Professor Magnus Hirschfeld – mir seit Jahren als solider Forscher und wackerer, hilfsbereiter Mann bekannt – trat in Renés phantastischer Satire als ein greulicher Charlatan namens Dr. Optimus Cerf-Mayer auf.

»Wie kann man so etwas tun?« fragte ich den Spötter mit den Engelsaugen. »Meinen alten Freund Magnus Hirschfeld als eine Art von Moloch hinzustellen, der jeden Tag mindestens einen Hermaphroditen oder Transvestiten verschlingt! Das ist doch wirklich eine Ungerechtigkeit. Und gewiß nicht die einzige, die du dir hast zuschulden kommen lassen! Wenn die Leute wirklich so aussähen, wie du sie in deinem Buch beschreibst, nun, dann gäbe es ja nur Idioten und Kriminelle in dieser Welt!«

»Nur Idioten und Kriminelle«, bestätigte der hellsichtige Vagualame mit böser Lustigkeit. »Ist's etwa nicht so?«

»Ich weiß doch nicht«, lachte ich, leicht pikiert. »Einige Ausnahmen sollten sich immerhin finden lassen.«

Und Vagualame, mit plötzlich besänftigter, zärtlich gedämpfter Stimme: »Eine Ausnahme freilich gibt es. Es gibt meine kleine Yolande.«

Yolande – der Schutzengel, die Gefährtin, an die Vagualame, der verzweifelte Vagabund, sich klammert in seiner Not; Yolande – die reine Blüte, die inmitten der Fäulnis blüht: sie als einzige, nur sie besteht vor dem dräuenden Sternenblick des satirischen Visionärs. Sie bedrängt er nicht mit seiner rhetorischen und doch so bitter ernstgemeinten Frage; er läßt sie unbehelligt: er nimmt sie, will sie, liebt sie, wie sie ist. Selbst wenn Yolande irren Sinnes wäre – sie hat die Macht, den Liebenden, den armen Vagualame vor dem Gespenst des Irrsinns zu beschützen.

 

Étes-vous fous? Die entsetzte, entsetzliche Frage, Renés Leitmotiv kam von vielen Lippen, beunruhigte viele Herzen; ich hörte sie in mancherlei Zusammenhängen und verschiedenen Sprachen, herausgebrüllt im Zorn, über die Achsel gezischt in schneidender Verachtung, geflüstert, hingehaucht in Kummer und Bedrängnis: »Bist du verrückt? Oder …?«

»Total übergeschnappt!« Dies ist Yolandes Stimme – rauh, aber sonor und voll erfrischender Herzlichkeit. Vagualames holde Gefährtin ist in Wirklichkeit Fräulein Thea Sternheim, meine liebe Freundin Mopsa, Tochter eben jenes dämonischen Dramatikers, der meine Braut zu seiner Gattin machte. Folglich ist Pamela die Stiefmutter der Mopsa, die zwei oder drei Jahre älter ist als sie. Wie aber bin ich mit Mopsas Mama, der prächtigen Madame Stoisy Sternheim verwandt? Sie ist die geschiedene Frau des Mannes, der die Stiefmutter von Renés Schutzengel geheiratet hat. Folglich … Schluß! Ist ja der reine Wahnsinn …

»Das geschieht dir recht!« kichert Mopsa Sternheim, der ich soeben erzählt habe, daß ich ihren Papa in Baden-Baden besuchen wolle: er verbringt dort seine Flitterwochen mit meiner vergangenen Braut. »Der Alte ist völlig meschugge«, stellt das »Dichterkind« nicht ohne Amüsiertheit fest. »Weißt du, was er mir neulich geschrieben hat? Er sei fest entschlossen, auf seine alten Tage mindestens ebenso schön wie der Herr General von Seekt zu werden! Klingt ziemlich bös – was?«

Im Hotel Stephanie zu Baden-Baden empfangen Herr und Frau Sternheim mich im Speisesaal; man hat sich zu Tisch gesetzt, ohne auf mich zu warten; der Dramatiker trägt einen auffallend hohen steifen Kragen zum Smoking, die junge Gattin glitzert im Abendkleid. Ich habe sie beide nicht gesehen, seit ich mich mit Erika zur großen Fahrt »rundherum« aufmachte.

»Du siehst gut aus«, sage ich zu Pamela.

»Nicht annähernd so attraktiv wie Seine Exzellenz dort drüben«, bemerkt Herr Sternheim mit einem tückisch-lüsternen Blick zum Nebentisch. Dort tafelt der ehemalige Chef der Reichswehr – fescher alter Kavalier mit soigniertem weißem Schnurrbart, Monokel und allem Zubehör. »Blendend – was?« kräht der Dramatiker und fügt aggressiv hinzu: »Voilà un homme!« wobei er triumphierend durch die Nase lacht. »Nicht wahr, er gefällt dir, der Herr General?« Die drohende Frage ist an Pamela gerichtet.

Sie spricht in korrekter Haltung: »Herr von Seekt ist mein Typ.« Ihr Gesicht mit der imposanten Nase und den weit geöffneten, blanken Augen bleibt starr über dem starren Spitzenkragen. Sie macht ihre Stimme sanfter, da sie sich dem Gatten über den Tisch hin zuneigt: »Iß deine Suppe, Lieber!«

Aber er, anstatt sich auf seinen Teller zu konzentrieren, fährt fort, die elegante Figur des Generals zu preisen. »Ein Adler!« ruft er mit plötzlicher Gereiztheit, als ob ihm jemand widersprochen hätte. »Seine Exzellenz und ich, wir gehören zum Adlergeschlecht! Aber mit euch von der jungen Generation ist nichts los. Kein Schmiß, kein Schneid, keine Rasse. Lahme Enten seid ihr – alle, wie ihr da sitzt. Lahme Enten – die ganze Jugend von heute!«

Dies geht offenbar nicht nur auf mich, sondern auch auf die junge Madame Sternheim, geborene Wedekind. Diese läßt sich's indessen nicht anfechten, sondern mahnt nur mit gläsern hypnotisierender Stimme: »Die Suppe, Schatz! Du vergißt deine Suppe!« Woraufhin er seinen Teller endgültig beiseite schiebt und streitbar insistiert: »Ein Adler, sag ich dir! Im Gegensatz zu euch lahmen Enten sind Herr von Seekt und ich deutlich als Adler erkennbar!«

Der General, der nicht umhin kann, einige Brocken von Sternheims Gerede aufzufangen, scheint zugleich belustigt und irritiert. Jetzt flüstert er hinter vorgehaltener Serviette seiner Dame etwas zu, wobei er unsere wunderliche Gesellschaft mit kalt amüsiertem Monokel-Blick streift. Ich weiß nur zu gut, was er sagt. »Lach jetzt nicht, Friederike!« raunt seine Exzellenz. »Der Kerl dort drüben hat mich eben einen Adler genannt!«

»Im Ernst?« Die Generalin kichert, trotz seiner Warnung. »Nein, so was! Total übergeschnappt!«

Ich winde mich und schwitze vor Verlegenheit, während der Dramatiker weiter zu unserem arroganten Nachbarn hinüberspäht. Hat er denn nicht recht, der elegante Haudegen, einen Intellektuellen zu verachten, der sich solcherart erniedrigt und blamiert? Carl Sternheim, der beißende Satiriker, »des zynischsten Jahrhunderts krassester Besserwisser«, wie er sich selbst genannt hat, und liegt auf dem Bauch vor einem gezwirbelten Schnurrbart, einer straffen Offiziersfigur!

Darum werden wir den Krieg verlieren, empfinde ich mit einem plötzlichen Schmerz. Was für einen Krieg denn? Nun, den unseren natürlich, den uralten Kampf zwischen Militär und Zivilisation, zwischen den Raubrittern und den honetten Leuten. Auf »unserer« Seite – der Seite der Zivilisation – gibt es zu viel perverse Bewunderung für den schnöden Glanz, die Brutalität der Macht …

Am nächsten Morgen fuhr ich nach Berlin zurück.

Ein paar Tage nach meinem Besuch in Baden-Baden mußte der Dichter Carl Sternheim in ein Irrenhaus übergeführt werden.

 

»Sei pazzo?«

Dies ist Venedig – sein schillerndes Zwielicht, der maurische Zauber seiner Architektur, das sehnsüchtige Lied vom Canale Grande.

Zwei Mädchen und zwei junge Männer liegen ausgestreckt in einer Gondel: Erika und ich, dazu einer meiner Freunde und unser »Schweizerkind«, Annemarie, die exzentrische Erbin eines patrizischen alten Namens. Sie ist ehrgeizig und zart und ernst, mit einer reinen Jünglingsstirn unter dem weichen, aschblonden Haar.

Ist sie schön? Als sie zum erstenmal in München bei uns zu Mittag speiste, sah der Zauberer sie mit einer Mischung aus Besorgnis und Wohlgefallen von der Seite an, um schließlich festzustellen: »Merkwürdig, wenn Sie ein Junge wären, dann müßten Sie doch als ungewöhnlich hübsch gelten.«

Doch, sie ist schön, auch als Mädchen. Der französische Dichter Roger Martin du Gard wußte, wofür er ihr dankte, als er ihr in eines seiner Bücher diese Widmung schrieb: Pour Annemarie – en la remerciant de promener sur cette terre son beau visage d'ange inconsolable …

»Schweizerkind!« ermahne ich sie. »Mach nicht dein untröstliches Engelsgesicht! Was ist los mit dir??«

»Ach, nichts Besonderes«, murrt sie mit ihrem leicht gutturalen Tonfall. »Oder vielmehr, das Verschiedenste. Es gibt so viele traurige Sachen.«

»Zum Beispiel?«

»Die Mama ist wieder mal wütend auf mich.« (Sie betont das Wort »Mama« auf der ersten Silbe, was sonderbar rührend klingt.)

»Na, wenn schon!« Ich versuche es mit einem wegwerfenden Achselzucken.

Eine Weile ist kein Laut zu hören außer dem leisen Plätschern, mit dem die Gondel durch das Wasser gleitet, das ölig stille, übelriechende, verzauberte Wasser des Canale Grande. Schließlich fängt Annemarie wieder zu sprechen an: »Sie war heute früh am Telephon recht aufgeregt, als sie mich anrief aus Zürich. Unser bestes Pferd hat beim Rennen kein Glück gehabt: für so was muß ich dann büßen. Da heißt es dann gleich wieder, ich sei ohne moralischen Halt und voll übler Instinkte. Immer das gleiche Lied.«

Nach einer neuen Stille fügt sie gedämpft hinzu: »Und an den Toscanini hab ich auch denken müssen.«

»Arturo? Hat der dich auch telephonisch zurechtgewiesen?«

Und Annemarie, das »Schweizerkind« – plötzlich aufgerichtet, mit zornig gestraffter Miene und einer dunklen Flamme im Blick: »Ihm ins Gesicht zu schlagen! Dieses Fascisten-Pack! Weil er ihre idiotische Hymne nicht spielen wollte! Und niemand protestiert gegen das Ungeheuerliche! Alles geht weiter in Venedig, in Italien, in Europa, als ob nichts geschehen wäre! Es ist zum Wahnsinnigwerden!«

Der Gondoliere, der nichts versteht, lächelt der grollenden Ausländerin aufmunternd zu. Offenbar, die Signorina fühlt sich nicht ganz wohl. Wenn er lächelt, wird sie sich beruhigen und ein besseres Trinkgeld geben. Aber sie beruhigt sich nicht, wie sehr der Venezianer auch mit Augen und Zähnen funkelt. Anstatt das generöse Lächeln zu erwidern, zeigt die Fremde dem schönen Ruderknecht ein unversöhnlich finsteres Gesicht. »Ihn zu ohrfeigen!« murrt sie noch, mit eigensinniger Verzweiflung. »Den besten Mann, den sie haben! Ihren einzigen großen Mann! Und niemand protestiert …«

»Sei pazzo?« grinst der Gondoliere.

 

»Are you mad?«

... München, Sommer 1929.

Der Schauplatz: ein riesenhaftes Zelt auf der »Theresienwiese am Rand der Isarstadt. Im Zelte drängt sich das Volk – zwanzigtausend, dreißigtausend Menschen. Es ist dunkel; nur die Rednerbühne steht in grellem Licht. Und von dort, von der illuminierten Plattform kommt die Stimme – das ekle Heulen eines tollen Hundes.

»Die Juden!« bellt die fürchterliche Stimme. »Die Saujuden sind schuld. Wer denn sonst?«

Ein junger Bursche ganz in unserer Nähe kreischt plötzlich, wie von der Tarantel gebissen: »An den Galgen mit ihnen! Hängt sie auf! An den Galgen mit dem Judenpack!« Woraufhin die Stimme schleimig-scherzhaft wird: »Nur Geduld, Volksgenosse! Geduld bringt Rosen!«

Die Menge brüllt, wiehert, schüttelt sich in blutrünstiger Heiterkeit.

»Dear me!« flüstert unser englischer Freund, Brian Howard, der so sehr darauf aus war, dieser makabren Veranstaltung beizuwohnen. »He's a paranoiac!«

»Wer beherrscht die sogenannte Republik?« Die Tier-Stimme fragt, vom Chorus kommt die Antwort: »Die Juden-Bagasch! – Wer denn sonst? Die Saujuden! Hängt sie auf!«

»How extraordinary!« flüstert Freund Brian uns zu. »Er ist ausgesprochen wahnsinnig. Merken die Leute es nicht? Oder sind sie selber verrückt?« Er schüttelt ratlos den Kopf.

Und die Stimme, keuchend jetzt, atemlos, heiser vor Haß: »Wer beherrscht den sogenannten Völkerbund? Die Presse? Die internationalen Kartelle? Den Kreml? Die sogenannte katholische Kirche?« Und jeder Frage folgt dasselbe stereotype Stampfen und Brüllen: »Die Saujuden! An den Galgen mit ihnen!«

»Are they mad? Or what?« Brian stellt die Frage immer wieder, in verschiedenen Sprachen. Schließlich wendet er sich direkt an ein hochbusiges Hitlermädchen in seiner Nachbarschaft: »Sind Sie toll, mein Fräulein?« Es klingt nicht aggressiv – nur höflich interessiert. Glücklicherweise ist das blonde Ding in seinem Erregungszustand nicht fähig, den Anruf zu verstehen. Sie trampelt, röchelt, kichert, stöhnt und quiekt in quasi-sexueller Ekstase. Angesichts so widrig krasser Symptome kann der Beobachter nur die Achseln zucken: »Sie sollten einen guten Psychiater zu Rate ziehen, meine Dame.«

Wie ähnlich ihm das sieht! So ist er, unser Freund Brian – Brian Howard aus London, Schriftsteller seines Zeichens, Mitarbeiter an liberalen Revuen, Vorkämpfer des europäischen Gedankens. Er liebt Deutschland, kommt jeden Sommer nach Bayern, eben jetzt logieren wir zusammen in einem kleinen Hotel am Walchensee. Aber je mehr einem das deutsche Schicksal am Herzen liegt, desto greulicher muß einem diese Stimme sein – die Stimme des Lügners, des Prahlers, des Fanatikers, des Kriminellen. Brian ist nicht der Mann, sich von ihr einschüchtern zu lassen. »Ekelhaft«, murmelt er, ziemlich laut. »Zum Kotzen.«

Es ist gar nicht ungefährlich. Jeden Augenblick kann einer der Braunhemden das anstößige Gemurmel hören und Rache üben. Brian schert sich nicht drum. Mutig bis zur Verwegenheit, bei übrigens zarter körperlicher Konstitution, würde er sich wohl einer ganzen Armee von Rowdies zum Kampfe stellen.

Aber so weit wollen wir's doch nicht kommen lassen. »Wir können ebensogut gehen«, schlage ich mit gedämpfter Stimme vor. »Er ist ein öder Schwätzer, weiter nichts. Es nimmt ihn sowieso niemand ernst.«

Um uns herum wird Murren laut, da wir uns von unseren Sitzen erheben. »Ausländer, wahrscheinlich«, erklärt ein Hitlerjunge verächtlich den Kollegen. Und ein anderer: »Die werden auch noch schaun!«

Während wir uns zum Ausgang durchkämpfen, folgt uns die Tier-Stimme, vom Lautsprecher getragen und verstärkt, durch die Versammlungshalle. »Versailles … Dolchstoß … nationale Schmach«, tobt der manische Clown unter der schwanken Wölbung des Zirkuszeltes. »Ich verspreche euch, deutsche Mütter … Köpfe werden rollen … Ich verspreche euch, deutsche Bauern … Unsere nationale Erhebung … die nordische Rasse … unser herrliches Vaterland … die hohen Milchpreise … Ich verspreche euch, deutsche Handwerker … die Freimaurer … die Zinsknechtschaft … Und wer profitiert daran? Unser Erbfeind, diese Schmarotzer und Schurken, die krummnasige, stinkende Verbrecherbande …«

 

Gibt es kein Entrinnen vor diesem obszönen Gebell? Ist Lappland weit genug? Oder die Hafenstadt Cadiz am südlichen Ende Spaniens?

Erika ist eine vorzügliche Fahrerin. Ihr kleiner Ford sieht zwar ein bißchen klapprig und schäbig aus, hat sich aber als leistungsfähiger erwiesen als manche Luxuslimousine. Wir fahren zusammen kreuz und quer durch Europa, wie auf einer endlosen Flucht. In Petsamo, am Nordende Finnlands, träumen wir von Eskapaden in die Polarzonen. Von Cadiz ist es nur ein Katzensprung nach Marokko. Wird Marokko weit genug sein? Dürfen wir dort etwas zur Ruhe kommen?

Die Stadt Fez ist bezaubernd. Indessen besteht unser arabischer Führer darauf, daß wir den wahren Reiz des Orients gar nicht recht erfassen und ermessen können, wenn wir nicht auch von der orientalischen Droge, dem Zauberkräutlein Haschisch kosten.

Es sieht nicht eben appetitlich aus. Eine Art von grünlich-schwarzem Puder. Der Führer behauptet, es sei von der feinsten Sorte, la qualité des princes, etwas ganz besonders Köstliches.

»Ein Schwindler«, beklagt sich Erika. »Ich spüre überhaupt keine Wirkung. Die Prinzenqualität besteht aus Schokoladenpulver mit Zimt.«

Ich gebe zu, daß es ein Jammer ist, schlage aber doch vor, daß wir noch ein wenig von dem Zeug verschlucken: »nur ein oder zwei Teelöffel voll. Schaden kann es ja keinesfalls, da es sich um Zimtschokolade handelt.«

Wir haben schon etwa dreimal soviel konsumiert, als unser Führer uns empfohlen hatte. Nun genehmigen wir uns noch eine tüchtige Dosis, seiner Warnungen ungeachtet.

Nach einer kleinen Weile fangen wir an, ganz ungewöhnlich heiter zu werden. Alles reizt uns zum Kichern. Die Form der Wasserkaraffe, die Quasten an Erikas Pantoffeln, der Name des Hotels, dessen Mobiliar so sehr sehr drollig ist, der Name der abarischen Stadt, wohin unser höchst lachhafter kleiner Wagen uns gefahren hat. »Fez!« wiederholen wir immer wieder, sinnlos amüsiert. »Was für ein Name! Visitez Fez, la Mystérieuse! Warum besuchen Sie denn um Gottes willen nicht das mysteriöse Fez, wo jedermann einen Fez trägt, einen Fez mit einer Quaste dran, eine Pantoffelmütze von prinzlicher Qualität: sogar unser Führer hat einen, unser spaßhafter kleiner guide, unsere Gazelle, die uns mit der Quaste verführt. Mes princes et mes princesses! Visitez donc – et plus vite que ça! – le mystère de la qualité, les guides Feziens aux principes Hashishaux, le Hashish Marocain aux qualités mystérieuses!«

So treiben wir es etwa eine Stunde lang, mit albernstem Gelächter. Dann schlafen wir plötzlich ein.

Erika liegt auf dem Bett, ich habe mir's in einem Lehnstuhl bequem gemacht. Ihr Aufschrei weckt mich. Sie ist auf den Füßen, stürzt durch den chaotischen Raum. Ich sehe den angstvoll aufgerissenen Blick in ihrem weißen Gesicht; ich höre sie jammern, aber ich verstehe kaum, was sie sagt. Ich bin noch vom Schlaf benommen. Mein Schlaf war tief, wie eine Trance …

»Ich muß sterben!« Nun verstehe ich's doch. »Ich muß sterben«, schreit Erika, wobei sie mit schreckensbleichem Gesicht zwischen Bett und Fenster hin- und herrennt, immer wieder hin und zurück, dieselben drei oder vier Schritte. »Es ist aus mit mir! O mein Gott!«

»Was ist los? Was gibt's?« Wie schwer es meinen Lippen, meiner Zunge fällt, Worte zu artikulieren! Nur ein Lallen gelingt.

»Dieses teuflische Zeug!« bringt sie ächzend hervor. Noch niemals habe ich sie in einem ähnlichen Zustand gesehen. Das Entsetzen in ihrem Blick teilt sich mir mit, um so mehr, da sie nun auch noch die Arme wirft und, den Kopf im Nacken, mit gemarterter Stimme ruft: »Wir sind vergiftet, alle beide! Das Haschisch … Es ist aus mit uns!«

»Mir geht es noch ganz gut«, behaupte ich lallenden Mundes. Da schreit sie mich an: »Mir nicht!« und nimmt ihr furchtbares Rennen wieder auf, vom Fenster zum Bett und zurück …

Etwas Grausiges muß ihr im Schlafe zugestoßen sein, ein fast tödlicher Schock, wie aus ihren mühsam hervorgestoßenen Worten hervorgeht, eine Heimsuchung durchaus unvergleichlicher und unbeschreiblicher Natur. »Ich war zu weit weg … zu tief unten«, versichert sie mir, immer rastlos unterwegs zwischen Bett und Fenster. »Ich bin so tief gefallen! Es gab gar kein Halten mehr! Dieses teuflische Zeug! Wir sind vergiftet, beide … Wir sind hin …«

Ich will einen Arzt kommen lassen, aber Erika entscheidet: »Wir gehen!«

In Schlafrock und Pantoffeln? Ich zögere, aber sie zerrt mich zur Türe, hinaus in die laue Dunkelheit der afrikanischen Nacht.

Wir haben die ganze Breite des Parkes zu durchqueren, um den zentralen Flügel des ausgedehnten Hotels zu erreichen. Die Lichter sind alle aus, nur aus unseren Räumen kommt matter Schimmer und vom entfernten Hauptgebäude her winkt die Lampe des Nachtportiers. Die mannigfachen Parfüms der Pflanzen und Blüten sind beunruhigend stark und süß in der feuchten, samtenen Luft. Erregender, beklemmender noch als die Düfte ist das monotone Konzert der Grillen und Frösche …

»Sag doch was!« fleht Erika mich an, da wir nebeneinander durch das nächtige Labyrinth der Blumenbeete und Gebüsche stolpern. »Wenn du nichts sagst«, flüstert sie mit erstickter Stimme, »dann muß ich wieder fallen. Ins schwarze Loch, in den Strudel, ins Bodenlose … Warum sagst du denn nichts?«

»Mir fällt nichts ein …« Meine eigene Stimme klingt mir weit entfernt, ein hohles, fremdes Summen. »Nur, falls es dich interessiert … Die Sache mit meinem Arm … Mein rechter Arm: er ist weg … einfach abhanden gekommen … Und jetzt auch noch der linke! Ist das nicht sonderbar?«

»Was ist los mit deinen Armen?« Sie packt mich an den Schultern, schüttelt mich. Dazu ihr heiserer Aufschrei: »O das Teufelszeug!«

Niemals werde ich beschreiben können, was mir nun widerfuhr. Es war schaurig über alle Worte. Es war Wahnsinn. Ja, es war die Hölle.

Erst flogen meine Arme davon, dann die Beine; es folgten Hals und Kopf, schließlich der ganze Körper. Ich löste mich auf, explodierte in tausend Stücke. Meine Identität zerbarst: die Fragmente meines Ichs flatterten durch den nachtschwarzen, parfümierten Garten. O meine Nase! Meine Fingerspitzen! Mein Haar! Es ist dahin, verfangen im Dornengebüsch … Ach, und mein entfremdeter, schrecklicher Mund plappert Ungereimtes vom Gipfel der Zypresse! Meine Füße, ziellos und willenlos, laufen durch feuchtes Gras, während mein Herz – ein Klumpen losgelöster, zuckender Nerven und Muskel – irgendwo zwischen Himmel und Erde tanzt.

Die Behauptung, daß meine Identität »zerbarst«, mag übrigens etwas irreführend sein. Ja, diese Formulierung hat etwas unerlaubt Euphemistisches, in Anbetracht der qualvollen Bewußtheit, mit der ich das Abscheuliche erleben mußte. Denn dies war das Schlimmste an dem spukhaften Abenteuer: daß ich mir inmitten der Katastrophe über das Ungeheuerliche des Vorganges durchaus im klaren blieb und den Prozeß meines eigenen Zerfalls mit entsetzter Interessiertheit registrierte. Mein Hirn – isoliert, aber keineswegs verdunkelt oder gelähmt – schwebte in grausamer Wachheit irgendwo über dem schizophrenen Chaos.

»Dies ist ein äußerst ernstes Vorkommnis«, begriff mein einsames Hirn. »Es mag sehr wohl sein, daß meine Arme und Lippen nie wieder zu mir zurückfinden werden. Jedenfalls wird es lange währen, bis ich meinen Organismus wieder beisammen habe – und ganz komme ich wohl nie hinweg über diesen infernalischen Schock.«

Ich hörte Erikas Stimme; überraschenderweise kam sie vom Dache des Hauptgebäudes. »Warum springst du denn so herum?« fragte sie mich. »Hör doch auf zu tanzen!«

Ich antwortete ihr vom Brunnen her: »Ich tanze nicht. Du irrst, du phantasierst. Und wenn ich's täte, so wäre nicht ich es, der's tut! Wie kann ich denn aufhören zu tanzen, da ja nicht ich es wäre, der tanzte, wenn ich tanzte?«

... » Êtes-vous fous?«

Erst war es der verschlafene Nachtportier, der die unvermeidliche Frage an uns richtete; dann der Chauffeur, den man glücklicherweise in irgendeiner Kneipe aufgetrieben hatte. Er war betrunken und hörte während der ganzen Fahrt zum Hospital nicht auf, uns unflätig zu beschimpfen. »Ça, alors! Merde alors! A trois heures du matin! Les fous, alors …«

Der Wagen schwamm durch Wolken, Erika sang, ich tanzte. Der Chauffeur verlangte, daß wir uns schämen sollten. Ich konnte mich nicht schämen. Ich hatte Angst. Ich schrie vor Angst, weil mein Kopf gewagte Sprünge auf den Dächern machte: am Ende ging das gute alte Stück mir noch auf der runden, glatten Kuppel dieser stattlichen Moschee verloren!

»Schrei nicht so blöd!« schimpfte der Chauffeur. »Ich hau dich, wenn du noch einen Laut von dir gibst!«

Erika inzwischen rang die Hände mit solcher Heftigkeit, daß man die Gelenke knacken hören konnte. Sie sang und rang die Hände. Wahrscheinlich, um sich solcherart wach zu halten. Sowie sie einschlief, war ja das schwarze Loch, der Schlund, der Strudel da.

Es wurde schon hell, als der Chauffeur uns endlich am Portal des französischen Hôpital Militaire ablieferte. Die Luft hatte sich plötzlich abgekühlt, oder vielleicht war sie hier immer frischer als drunten in der arabischen Stadt, wo unser Hotel gelegen war.

Die Soldaten fragten und lachten uns aus, während der Chauffeur mit einem älteren Mann in weißer Krankenhaustracht verhandelte. »Aha, zuviel Haschisch geschluckt«, hörte ich den Alten aus unermeßlicher Ferne sagen. »«Was für Kindereien! Nun, man wird ihnen ein Schlafmittel geben … Gut, daß Sie sie hierher gebracht haben … So ein Schock kann ernsthafte Folgen haben, wenn man nicht rechtzeitig eingreift.«

Seine Stimme klang vernünftig und jovial. Ein sympathischer Mann. Seine weiße Tracht hatte gleich einen beruhigenden Eindruck auf mich gemacht.

»Aber ich sage Ihnen doch, wir sind keine Zigeuner!« versicherte Erika den Soldaten, die sich über unsere bunten Roben amüsierten.

»Sie sind halt verrückt«, lachte einer der Burschen. »Des pauvres fous.«

Aber der Alte im weißen Kittel lächelte uns zu. ›Macht euch nichts draus!‹ sagte sein Lächeln, das verständnisvolle, ermutigende Lächeln eines alten Gelehrten und Soldaten, der viele Dinge in vielen Ländern mitangesehen und mitgemacht hat. ›Wenn sie euch närrisch nennen, was tut's? Offenbar seid ihr im Augenblick ein bißchen durcheinander. Dergleichen mag wohl passieren: man verirrt sich zuweilen auf der Suche nach einem Weg. Ihr habt euch weit vorgewagt, bis in die Nähe des Wahnsinns. Aber doch nicht zu weit! Ihr findet den Weg zurück. Und je schlimmer das Abenteuer der Verirrung war, desto mehr genießt ihr dann das Abenteuer der wiederhergestellten Balance, der geretteten Identität.‹


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