Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel.
Exil

1933–1936

Das Exil begann in München. Preußen und andere Teile des Reichs standen schon unter dem Nazi-Terror; aber Bayern trotzte noch, freilich nicht mehr lange … Immerhin, es bleibt bemerkenswert, daß der süddeutsche Katholizismus die totale »Gleichschaltung« ein wenig verzögerte. Im Februar 1933 – kurz vor dem Reichstagsbrand und besonders nach diesem Ereignis – gab es manchen politisch oder rassisch Kompromittierten, der vorsichtshalber seinen Wohnsitz von den Ufern der Spree nach der Isarstadt verlegte. Leute, die man in Berlin schon eingesperrt und mißhandelt hätte, erfreuten sich in München noch vollkommener Freiheit: sie durften im Englischen Garten spazierengehen oder sich auf Maskenbällen amüsieren, ja, es blieb ihnen sogar unbenommen, den nazifeindlichen Scherzen der »Pfeffermühle« Beifall zu klatschen.

Die »Pfeffermühle« war Erikas Gründung, ein literarisches Kabarettprogramm mit stark politischem Einschlag; ein anmutig spielerischer, dabei aber bitterernster, leidenschaftlicher Protest gegen die braune Schmach. Die Texte der meisten Nummern – Chansons, Rezitationen, Sketsche – waren von Erika (einige auch von mir); Erika war Conférencier, Direktor, Organisator; Erika sang, agierte, engagierte, inspirierte, kurz, war die Seele des Ganzen.

Nein, die »Pfeffermühle« hatte eine Doppelseele; die andere Hälfte hieß Therese Giehse. Sie gehörte dazu, von Anfang an, und mit welcher Intensität, welch unbedingtem Einsatz! Der gefeierte Star der Münchener Kammerspiele – eine schauspielerische Persönlichkeit von starker Vitalität und großem Können – stellte dem noch unbewährten und übrigens politisch bedenklichen Tingel-Tangel die ganze Fülle ihrer Erfahrung und ihres Talents zur Verfügung. Ohne sie wäre die »Pfeffermühle« nicht das geworden, was sie Jahre lang war: das erfolgreichste und wirkungsvollste theatralische Unternehmen der deutschen Emigration.

Aber wir sind noch in München. Die »Pfeffermühle« hatte ihre erste Vorstellung am 1. Januar 1933 in einem sehr intimen, sehr hübschen kleinen Theater, welches passenderweise »Bonbonnière« hieß. Das Abenteuer (denn ein Abenteuer war es, im Deutschland von 1933 ein solches Kabarett zu eröffnen!) stand unter einem glücklichen Stern. Die Truppe, die sich um Erika und Therese zusammengefunden hatte, bestand fast ausschließlich aus jungen Menschen, sehr begabten darunter. Dem Komponisten und Pianisten Magnus Henning waren Melodien eingefallen, deren Anmut selbst aggressiven Texten die Bitterkeit, das Provokante nahm. Das Publikum war charmiert; sogar die Presse verhielt sich relativ wohlwollend. Die »Pfeffermühle« zog! Die »Pfeffermühle« ging! Man freute sich an ihrer gewagten Schärfe, ihrem kompromißlosen Witz. Das kleine Theater am »Platzl« war jeden Abend ausverkauft.

... Diese letzten Münchener Wochen scheinen in meiner Erinnerung voll einer gewissen verzweifelten Lustigkeit. Man genoß den Fasching oder tat doch so. Man war noch einmal so recht gemütlich beisammen, der alte Kreis, die vertraute Clique: Otto Falckenberg von den Kammerspielen, der bald danach all seine »nicht-arischen« Schauspieler entlassen mußte; unser Freund Fritz Strich, der bedeutende Germanist und Kulturkritiker, der damals schon einen Ruf in die Schweiz angenommen hatte; Bruno Frank mit seiner Frau, unserer lieben Liesl; der baltische Zeichner Rolf von Hörschelmann, ein kleiner, aber munterer Herr von bemerkenswerter geistiger Lebendigkeit; die schöne, wenn auch schon etwas üppige, gastlich-gesprächige, zerstreut-talentierte Christa Hatvany-Winsloe; W. E. Süskind und Bert Fischel, unsere Jugendgespielen: das traf sich alles, nicht ohne beklemmende Vorgefühle, närrisch kostümiert und in animierter Stimmung.

Unvergeßlich bleibt mir der Pfeffermühlenball in unserem Hause, Poschingerstraße 1, eine der letzten karnevalistischen Veranstaltungen, weshalb es denn auch besonders hoch herging. Einige der feinsten Gäste erschienen freilich mit erheblicher Verspätung; man verzieh es ihnen, erstens, weil immer noch Fasching war, zweitens, weil sie eine gute Entschuldigung vorzubringen wußten. Die Herren kamen soeben von einer ausführlichen Konferenz mit dem Prinzen Ruprecht von Wittelsbach, den eine monarchistisch-separatistische Gruppe damals auf den bayerischen Thron zu bringen hoffte. Es wäre ein famoser Streich gewesen, peinlich für Hitler, ergötzlich fürs Bayernvolk. Aber Königliche Hoheit hatten keine Lust zu solchem Wagnis, wie die verspäteten Verschwörer uns auf dem Maskenball zuraunten. In Pfeffermühlenkreisen hörte man es mit Bedauern.

Zwischen einem Tango und einem Walzer erzählte man sich die neuesten Schreckensnachrichten aus Berlin. Wir tanzten im Regina-Palast-Hotel, während in der Hauptstadt das Reichstagsgebäude in Flammen stand. Wir tanzten im Hotel Vier Jahreszeiten, während die Brandstifter Unschuldige des Verbrechens bezichtigten, das sie begangen hatten. Das war am 28. Februar – Faschingsdienstag – und tags darauf war Aschermittwoch. Als der Anarchist Erich Mühsam, der Pazifist Carl von Ossietzky und der Kommunist Ernst Thälmann von der Gestapo verhaftet wurden, kehrte man in München Luftschlangen und Konfetti von den Straßen. Man war verkatert. Der Fasching war vorüber.

»Die Pfeffermühle«, nach einer Pause, die sich aus ihrer erstaunlichen Popularität erklärte, sollte weitermachen. Die zierliche »Bonbonnière« hatte sich als zu klein erwiesen für das erfolgreiche Unternehmen: Erika sah sich nach einem geräumigen Theater um. Sie fand eines in Schwabing; die Wiedereröffnung im größeren Rahmen wurde auf den ersten April anberaumt. So hatte die Frau Direktor einen Monat Zeit, sich zu erholen und ein neues Programm zu dichten. Dabei sollte ich helfen. Zusammen fuhren wir in die Schweiz, nach Lenzerheide, wo wir bei Freunden logierten. Wir verbrachten unsere Tage teils mit Skifahren, teils mit der Herstellung von drollig-polemischen Chansons und Szenen. Wir waren guter Dinge – draußen, in der wunderbar frischen, aromatischen Luft und bei der Arbeit. Aber sowie man das Radio andrehte oder einen Blick in die Zeitung tat, wurde einem flau.

Was war los in Deutschland? Hatten die »Eingeweihten«, die »Realisten« uns nicht immer wieder versichert, daß Kanzler Hitler nicht eigentlich »an der Macht sei«, sondern vielmehr von Schwerindustrie und Generalstab dirigiert werde? Sie irren sich oft, diese »Realisten«, was sie aber nicht hindert, ihre Ansichten mit imposanter Bestimmtheit vorzutragen. »Immer mit der Ruhe!« rieten sie uns und fügten wohl hinzu, es werde nicht so heiß gegessen, wie gekocht. Schicklgruber sei nicht ernst zu nehmen, ein Strohmann, eine Puppe. Ernst zu nehmen seien vielmehr die I. G. Farben, das Haus Krupp, das Haus Thyssen, Geheimrat Hugenberg, Männer und Institutionen, die für Ruhe und Ordnung sorgen würden. Antisemitische Exzesse (besonders, wenn sie auch reiche Juden betrafen), SA-Terror, Brechung der Zinsknechtschaft, Massenhysterie, all dies war gar nicht im Sinn der Industriellen; auch von Papen mochte es im Grund nicht, und so würde es unterbleiben. Schließlich gab es ja auch immer noch den »alten Herrn«! Wenn den »Realisten« sonst gar nichts mehr einfiel, beriefen sie sich auf Hindenburg. »Eine Diktatur? Ausgeschlossen! Der alte Herr würde Hitler nie berufen haben, wenn er nicht gewisse Garantien hätte …«

Glaubten wir den »Realisten«? Nach den März-Wahlen war dies kaum noch möglich. Wir wußten, mußten wissen, daß nun alles verloren war, auch in Bayern, wo eine dickschädelige klerikale Regierung bisher das Äußerste verhindert hatte. Nun würde es auch in Bayern keine Opposition mehr geben, und also auch keine »Pfeffermühle«. Trotzdem fuhren wir zurück, sei es aus einer gewissen desperaten Neugier, sei es, weil wir uns immer noch Illusionen machten …

Am gleichen Tage, an dem wir in München eintrafen, wurde auch Hitlers »Gauleiter« dort empfangen, ein gewisser Ritter von Epp. Er hatte sich schon früher im Dienste des Fascismus hervorgetan. Die bayerische Regierung ließ ihn nicht an der Grenze verhaften; es war vielleicht ursprünglich ihre Absicht gewesen, kam aber nicht dazu. Vielmehr war es der Ministerpräsident Held, der bald verhaftet wurde; dem Ritter von Epp aber huldigte eine begeisterte Bevölkerung. München war besiegt, war gleichgeschaltet, wir spürten es, rochen es, sowie wir am Hauptbahnhof aus unserem Schweizer Zug stiegen.

Hans, der Familien-Chauffeur, erwartete uns wie gewöhnlich am Bahnhofsplatz mit dem Familien-Buick. Aber seine Haltung, sein Ausdruck war sonderbar verändert. Er sah blaß und verstört aus, ein großer, starker Bursche, und nun zitterte er! Ja, es war eine ganz auffallend zittrige Hand, mit der er uns den Wagenschlag öffnete; auch seine Stimme bebte. »Seien's vorsichtig!« flüsterte er bewegt. »Alle zwei, aber besonders Sie, Fräulein Erika! Sie sind hinter Ihnen her, vom Braunen Haus die, Sie wissen schon! Gehen's nicht auf die Straße, Fräulein Erika! Lassen Sie's keinen wissen, daß Sie in der Stadt sind, Herr Klaus! Wenn die Sie erwischen …« Seine Gebärde ließ keinen Zweifel darüber, was uns in diesem Fall geschehen würde.

Erst später sollten wir erfahren, warum unser treuer Hans an jenem Tag so nervös war und woher er so viel wußte. Er war ein doppelter Verräter mit doppelt schlechtem Gewissen, der stämmige Biedermann mit seinem blonden Schopf und dem sinnigen blauen Blick. Seit mehreren Jahren schon arbeitete er als Spitzel für das Braune Haus, wo er über alles, was bei uns geschah, regelmäßig Bericht erstattete. Diesmal aber, im entscheidenden Augenblick, hatte er seine Pflicht vergessen und uns gewarnt, aus Gründen der Menschlichkeit, wie anzunehmen ist. Wir taten ihm wohl leid. Er wußte ja, was »die« uns antun würden, wenn sie uns erwischten …

Es waren Stunden voll von Bangigkeit und hektischem Betrieb, diese letzten Stunden in der Poschingerstraße, in München, in Deutschland. Eingedenk der Warnung des schurkischen, aber doch auch wieder barmherzigen Chauffeurs, hielten wir uns in unseren Zimmern versteckt, nicht einmal die Köchin und das Stubenmädchen sollten von unserer Ankunft erfahren. Aber das Telephon funktionierte, und so meldeten wir zunächst einmal ein Ferngespräch nach Arosa an, wo der Zauberer und Mielein sich von den Anstrengungen einer Vortragstournée erholten. In Brüssel, Amsterdam, Paris und anderen Städten hatte der Vater sich über »Leiden und Größe Richard Wagners« hören lassen, woran sich programmgemäß der Ferienaufenthalt in den Schweizer Bergen schloß. Nun wollte er, wiederum programmgemäß, nach Hause kommen; wir hielten es für geraten, ihn von diesem Vorsatz abzubringen.

Hierbei empfahl sich eine diskrete Ausdrucksweise: es war möglich oder sogar wahrscheinlich, daß unsere Telephongespräche abgehört wurden. Wir hüteten uns also, auf die politische Lage direkt anzuspielen, sondern sprachen vom Wetter. Dieses sei miserabel in München und Umgebung, behaupteten wir; die Eltern würden klug daran tun, noch eine Weile fernzubleiben. Leider zeigte unser Vater sich abgeneigt, auf diese Art der Argumentation einzugehen. So schlimm werde es wohl nicht sein mit den Frühlingsstürmen, meinte er, und übrigens sähe es auch in Arosa nach Regen aus. Ein Hinweis auf die Zustände in unserem Hause (»Es wird gestöbert! Scheußliches Durcheinander!«) schien ebensowenig Eindruck auf ihn zu machen. Er blieb störrisch, wollte nicht verstehen: »Die Unordnung stört mich nicht. Ich will nach Haus. Wir reisen übermorgen.« »Es geht nicht, du darfst nicht kommen.« Schließlich sprachen wir es aus, mit verzweifelter Direktheit. »Bleibe in der Schweiz! Du wärst hier nicht sicher.« Da hatte er verstanden.

Einige unserer Freunde waren schon verhaftet, wie man uns in vorsichtig gewählten Ausdrücken wissen ließ; andere hatten sich aus dem Staube gemacht. Auch wir fühlten uns kaum geneigt, einen Zusammenstoß mit den neuen Herren zu riskieren. Lange würde der Spuk ja wohl nicht dauern, so versicherten wir einander ohne rechte Überzeugung. Ein paar Wochen, ein paar Monate vielleicht, dann mußten die Deutschen zur Besinnung kommen und sich des schmachvollen Regimes entledigen. Aber bis dahin und für den Augenblick war man wohl im Ausland besser aufgehoben. »Ich nehme nur einen Handkoffer mit«, entschied Erika. Auch ich packte nur das Nötigste, zwei Anzüge, etwas Wäsche, ein paar Bücher und Manuskripte.

Erika reiste noch am Abend unseres Ankunftstages in die Schweiz zurück, wo sie sich mit den erschreckten Eltern treffen wollte. Ich fuhr vierundzwanzig Stunden später, nach Paris.

Vierundzwanzig Stunden allein im leeren Haus, allein in der schon fremd, schon feindlich gewordenen Stadt! Ich war sehr traurig, viel trauriger, meinte ich damals, als es dem Anlaß entsprach. Das Haus – unser »Kinderhaus« – wurde mir beängstigend, bedrückend. Was hatte ich hier noch zu suchen? Jeden Augenblick konnten die Häscher kommen. Wäre es nur endlich Zeit zur Abfahrt! Aber die Minuten schlichen, die Stunden wollten kein Ende nehmen. Rastlos wanderte ich durch die öden Stuben. Wie still es war! So still hatte ich das Haus nie gekannt. Die vertrauten Dinge, Bilder, Schränke, lange Bücherreihen, der blinde Homer, die Lübecker Kandelaber, starrten mich schweigend an.

Die Einsamkeit wurde unerträglich, ich rief nach dem Chauffeur; zusammen tranken wir mehrere Gläser von Zauberers bestem französischem Cognac. Dergleichen war noch nie vorgekommen; aber sowohl Hans als auch ich fanden, daß es nicht mehr drauf ankam. Wir stießen an, wobei sein Blick feucht wurde; auch das Zittern der Hand ließ sich wieder bemerken. Mit bebender, dabei markiger Stimme wünschte er mir gute Reise und »eine glückliche Zukunft im Ausland«. Es gab wiederholtes Händeschütteln, erst im Hause, dann auf dem Bahnhofsplatz, schließlich durch das offene Fenster meines Schlafwagenabteils. Ich fühlte mich nicht mehr so traurig, weil eine Stimme da war, die zu mir sprach, und eine Hand, die ich schütteln durfte.

Der letzte Mensch, den ich in der Heimat sah, der letzte, der mich tröstete, war ein gutmütiger Lump und blauäugiger Doppelverräter.

Ich verließ Deutschland am 13. März 1933.

Zwei Zwischenfälle sind es vor allem, die mir aus diesen ersten Wochen der Verbannung im Gedächtnis bleiben, beide scheinbar zufällig und unbedeutend, aber doch lehrreich und charakteristisch.

Der erste Zwischenfall geschah in einem Pariser Restaurant, wo ich mit deutschen Freunden – Emigranten natürlich – bei der Mahlzeit saß. Einer aus unserem Kreise hatte die erste Nummer einer neuen Zeitschrift mitgebracht, eine jener gutgemeinten, aber etwas billig-sensationell aufgemachten Publikationen, mittels derer exilierte deutsche Intellektuelle damals den Hitler-Staat vom Ausland her zu »entlarven« hofften. Die Revue, an der wir uns gerade ergötzten, zeigte ein enormes Hakenkreuz auf der Titelseite, wahrscheinlich troff es von Blut und hatte als Mittelstück eine grinsende Teufelsfratze. Aber diese Details entgingen der Aufmerksamkeit einer amerikanischen Dame, die am Nebentisch Platz genommen hatte; auch bemerkte sie nicht, daß mehrere meiner Begleiter von ausgesprochen »nicht-arischem« Typus waren. Sie sah nur das Hakenkreuz und hörte, daß wir deutsch miteinander sprachen. So erhob sie sich denn, eine stattlich wohlerhaltene Person mittleren Alters mit Zwicker und Federhütchen, schritt auf uns zu und durchbohrte uns mit furchtbarem Blick. »You should be ashamed of yourselves«, sprach die Dame. Und, auf deutsch, mit rührend schlechtem Akzent: »Schämen sollten Sie sich! Dies hier ist Ihre Schmach! Ihre Schande!« Wobei sie mit erzürnter Gebärde auf das Hakenkreuz wies. Wandte sich und ging ab, nicht aber, ohne vorher vor uns ausgespuckt zu haben. Es war das erste und übrigens bis jetzt das letzte Mal in meinem Leben, daß ich eine »lady« mit dem Aplomb und der geübten Technik eines zornigen Müllkutschers spucken sah.

Da saßen wir nun, offenen Mundes. Keiner von uns hatte die Geistesgegenwart oder den Mut gehabt, die ergrimmte Dame aufzuklären, ihren absurden Vorwurf zurückzuweisen. Sollten wir in Zukunft unseren Emigranten-Status durch das Tragen von besonderen Insignien betonen? Vielleicht empfehlen sich Armbinden mit der Aufschrift: »Ich bin gegen Hitler!« oder: »Ich habe mit dem Dritten Reich nichts zu tun!« Aber wir ließen die Idee bald fallen. Die Armbinden hätten uns in der Welt unmöglich gemacht.

Denn die ehrbare Matrone von der anderen Seite des Atlantischen Ozeans war eine Ausnahme, wie wir nur zu bald herausbekommen sollten. Die meisten Leute schauten uns schief an, nicht weil wir Deutsche waren, sondern weil wir Deutschland verlassen hatten. So etwas tut man nicht, nach Ansicht der meisten Leute. Ein anständiger Mensch hält zu seinem Vaterland, gleichgültig wer dort regiert. Wer sich gegen die legitime Macht stellt, wird suspekt, ein Querulant, wenn nicht gar ein Rebell. Und repräsentierte Hitler nicht die legitime Macht? Er tat es, nach Ansicht der meisten.

Und dies war der zweite lehrreiche Schock, dessen ich mich erinnere, kein »Zwischenfall« eigentlich, keine dramatische Szene; nur ein ziviles Gespräch auf einer Café-Terrasse.

Mein Gesprächspartner war ein Schweizer Freund, der mich in Paris besuchte. Ein angenehmer, kultivierter Mensch; ich freute mich seiner Gesellschaft. Aber mit der Harmonie zwischen uns war es zu Ende, sowie auf Politisches die Rede kam. Mein Gast fand, daß ich von den Nazis zuviel Wesens machte. »Eine Regierung wie eine andere auch«, bemerkte er mit einem Achselzucken. Und dann lachte er. Hatte ich etwas Komisches gesagt? »Es ist keine Regierung wie eine andre auch, mein Lieber, es ist Teufelsdreck, der größte Skandal der Epoche!« Dies waren meine Worte gewesen: dem Eidgenossen kamen sie drollig vor. Seine Heiterkeit wuchs noch, als ich hinzufügte: »Keinen Fuß setze ich in dies Land, solange die Nazis dort herrschen.«

»Das kann doch dein Ernst nicht sein!« rief der gutgelaunte junge Mann aus der freien Schweiz, immer noch amüsiert, dabei aber nicht ohne wirkliche Besorgtheit. »Man gibt doch nicht seine Heimat auf, Karriere, Freunde, Häuslichkeit und alles, nur weil einem die Nase eines gewissen Hitler nicht gefällt! Also, ich muß schon sagen, ich finde das einfach dumm!«

Ich kann sein Gelächter nicht vergessen; auch nicht den halb belustigten, halb mißbilligenden und selbst empörten Ausdruck, mit dem er wiederholte: »So etwas Dummes! »Wie kann man nur etwas so Dummes tun!«

Er verstand nicht, worum es ging. Er hatte keine Ahnung.

Auch von den in Deutschland verbliebenen Freunden erschienen viele seltsam ahnungslos. Die Briefe, die man unsereinem damals noch aus der Heimat zu schreiben wagte, klangen teils zänkisch, teils erstaunt und vorwurfsvoll. Manche ließen es nicht bei privater Botschaft sein Bewenden haben, sondern kanzelten uns öffentlich ab, Gottfried Benn zum Beispiel: Die zürnende Epistel, die er an mich richtete, ward in der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« abgedruckt und dann auch noch am Rundfunk vorgetragen. Der inspirierte Lyriker, der intellektuelle Nihilist und Fortschrittsfeind fand schöne Worte zum Lobe des »Neuen Staates«; für mich aber und alle anderen »Verräter« setzte es rhetorische Hiebe von der schärfsten Art. Ein kurioses Dokument!

W. E. Süskind drückte sich höflicher aus, nicht so gesteilt und apodiktisch. Auch war er taktvoll genug, seinen Brief nicht einrücken zu lassen; unter vier Augen gleichsam, in zierlich klarer Handschrift redete er mir ins Gewissen. Hatte ich all meine Neugier, meine Aufgeschlossenheit, meinen Humor verloren? So fragte der Jugendfreund. Seit wann war ich ein politischer Doktrinär, ein starrer Apostel republikanischer Tugend, ein Cato? »Komm zurück!« Es war der Jugendfreund, der mich rief. Er lockte: »Es ist interessant jetzt bei uns, interessanter als je zuvor! Man diskutiert, experimentiert, es gibt Bewegung, es ist etwas los, warum schließt Du Dich aus? Komm zurück! Dir wird nichts zuleid geschehen. Wäre es hier so arg, wie Du glaubst, würde ich bleiben? Riete ich Dir zu kommen? Du solltest mehr Vertrauen zu mir haben. Wenn ich Dich zur Rückkehr auffordere, so muß Dir das zu denken geben. Sei nicht eigensinnig! Komm!«

Er verstand nicht, worum es ging. Keine Ahnung!

Ich antwortete ihm mit ein paar kurzen Zeilen: »Danke für Deinen Rat, den ich leider nicht befolgen kann. Ich komme nicht zurück, solange Hitler da ist. Du magst es für Eigensinn halten …«

Sollte ich ihm erklären, warum der Gedanke an Rückkehr sich für mich verbot? Es wäre zu schwierig gewesen – oder zu einfach. Angst spielte wohl nur eine sekundäre Rolle in dem Gefühlskomplex, der meine Position bestimmte. Zu den »rassisch Verfolgten« konnte ich mich nicht rechnen, ganz abgesehen davon, daß der organisierte Antisemitismus um diese Zeit noch nicht in voller Stärke eingesetzt hatte. Selbst die sogenannten »Nürnberger Gesetze«, die mehr als drei Jahre später erfunden wurden, hätten mir, wenn ich nicht irre, den Status eines »aufnordungspflichtigen Mischlings« oder »Ariers zweiter Klasse« zuerkannt. Meine »rassische Erbmasse« war zwar keineswegs einwandfrei, aber doch nicht verderbt genug, um mich im Dritten Reich völlig unmöglich zu machen.

Und meine politische Vergangenheit? Das hätte sich richten lassen. Man konnte bereuen, Abbitte tun, zu Kreuze kriechen, dergleichen ist vorgekommen. Die Nazis waren nicht unversöhnlich. Sie übten Großmut – wo es vorteilhaft für sie schien. K. M., nicht ganz unbekannter Sprößling des bekannten Th. M., als Renegat! Das hätte unserem Goebbels so gepaßt. Noch lieber wäre ihm eine »Konversion« der ganzen Familie gewesen. Mit welch breitem Grinsen würde der diabolische Reklamechef uns empfangen haben!

Waren wir also »freiwillige« Emigranten?

Doch nicht ganz. Wir konnten nicht zurück. Der Ekel hätte uns getötet, der Ekel an der eigenen Erbärmlichkeit und an dem widrigen Treiben um uns herum. Die Luft im Dritten Reich war für gewisse Lungen nicht zu atmen. In der Heimat drohte Erstickungstod. Ein guter, ein wahrhaft zwingender Grund, sich fernzuhalten!

Hitler verbreitete Gestank, war Gestank. Wo er sich aufhielt, wallten üble Dünste; wo er regierte, wurde der Staat zur Kloake. Hitler – ein Schicksal? Hitler – ein Problem? Eine Pest war er, die man meidet. Freilich auch eine Gefahr, die man bekämpft.

Hätte ich, hätten wir ihn wirkungsvoller bekämpft, wenn wir daheim geblieben oder in die Heimat zurückgekehrt wären? Diese Frage stellten wir uns wohl selbst, gleich zu Anfang und dann immer wieder. Später sollte sie uns auch von anderen vorgelegt werden, von jenen nämlich, die den großen Übelgeruch an Ort und Stelle mitgemacht. Unter ihnen gab es echte Kämpfer; gerade mit diesen suchten wir Emigranten den Kontakt zu wahren, auch helfen konnten wir ihnen wohl zuweilen. Andere behaupteten nachher, gekämpft zu haben; sie zählten sich zur »inneren Emigration«, zu einer diskreten Widerstandsbewegung. Die Frage bleibt, ob unsere Gegenwart, unser Beistand ihnen in den Jahren des Gestankes nützlich und willkommen gewesen wäre. (Ich sage, »wir«, und meine nicht nur die Mitglieder meines Hauses, sondern auch viele nicht-jüdische Schicksalsgenossen, die sich damals mit uns fragen mußten, wohin sie gehörten. Ganz abgesehen davon, daß wir von Temperamentes wegen nicht ganz zu den »Stillen« paßten, unser schlechter Ruf hätte die heimliche »résistance« kompromittiert. Zu exponiert, um in der Masse zu verschwinden; politisch zu sehr abgestempelt, um feine Indifferenzen vorzutäuschen, hätten wir in Nazi-Deutschland nur zwischen sinnlosem Martyrium und opportunistischem Verrat die Wahl gehabt. Das Konzentrationslager oder die Gleichschaltung, keine dritte Möglichkeit schien sich uns »drinnen« zu bieten. »Draußen« gab es einiges zu tun, auch im Dienst und Interesse jenes »besseren Deutschland«, an das wir den Glauben nicht verlieren wollten.

Die Frage, ob unser Platz im Dritten Reich gewesen wäre … Ich habe sie mir gestellt und ich habe sie mir beantwortet. Die Antwort lautet: Nein.

Man hat oft geirrt im Leben, man hat mancherlei zu bereuen. Dies eine hat man richtig gemacht, aus Instinkt mehr denn aus »Überzeugung«: Warum sollte man nicht dafür dankbar sein?

Die Emigration war nicht gut. Das Dritte Reich war schlimmer.

 

Die Emigration war nicht gut. In dieser Welt der Nationalstaaten und des Nationalismus ist ein Mann ohne Nation, ein Staatenloser übel dran. Er hat Unannehmlichkeiten; die Behörden des Gastlandes behandeln ihn mit Mißtrauen; er wird schikaniert. Auch Verdienstmöglichkeiten bieten sich nicht leicht. Wer sollte sich des Verbannten annehmen? Welche Instanz verteidigte sein Recht? Er hat »nichts hinter sich«, keine Organisation, keine Macht, keine Gruppe. Wer zu keiner Gemeinschaft gehört, ist allein.

Oder bildete unsere Emigration so etwas wie eine Gemeinschaft? Doch wohl kaum. Denn unter den Exilierten gab es ja nur relativ wenige, die aus Gründen der Gesinnung oder des »Instinktes« Deutschland verlassen hatten: nur wenige also, die wir eigentlich als unsere Schicksals- und Kampfgenossen betrachten durften. Bei der Mehrzahl handelte es sich um völlig unpolitische (oder politisch doch ganz unaktive) Opfer des Hitlerschen Rassenwahns: jüdische Geschäftsleute, Anwälte, Ärzte, Gelehrte, Journalisten, die ohne Frage recht gern in Deutschland geblieben wären, wenn die Verhältnisse es gestattet hätten. Diese Feststellung hat nichts Herabsetzendes, enthält keinen Vorwurf. Gewiß, es gab unter den deutschen Juden ebenso viele militante Antifascisten wie unter den sogenannten »Ariern«. Ja, der kämpferische Typ mag sogar im »nicht-arischen« Lager prozentual häufiger gewesen sein. Aber die Majorität des deutschen Judentums, und also auch die Majorität »unserer« Emigration, bestand eben doch aus braven Bürgern, die sich in erster Linie als »gute Deutsche«, erst in zweiter als Juden und zu allerletzt, oder überhaupt nicht, als Antifascisten empfanden. Gegen Mussolini hatten sie nichts gehabt. Emil Ludwig und Theodor Wolff sprachen für viele ihrer Stammesbrüder, als sie dem »Duce« publizistisch Weihrauch streuten. Mussolini war nicht antisemitisch. Hitler war es.

Dieser Punkt ist relevant und wichtig, da es hier darum geht, den Charakter der Emigration zu beschreiben, einer Emigration, die keine Gemeinschaft war. Sie konnte keine sein: es fehlte ihr an gemeinsamen Zielen, an einem Programm, an Repräsentation.

Freilich gab es unter den Emigranten eine politisch aktive und organisierte Minorität, nicht nur eine, sondern mehrere. Die Vertreter der geschlagenen deutschen Parteien – weit davon entfernt, sich wenigstens jetzt zur Einheitsfront gegen Hitler zusammenzuschließen – befehdeten einander im Exil mit noch größerer Erbitterung als zuvor. Besonders der alte Hader zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten setzte sich munter fort, während die Monarchisten ihre eigenen Intrigen spannen und die Katholiken weise Zurückhaltung übten. Schließlich gab es ein Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und der derzeitigen deutschen Regierung. Übrigens blieben die professionellen Politiker auch darin der Tradition von Weimar treu, daß sie den Kontakt mit unabhängigen Intellektuellen mieden oder jedenfalls nicht suchten. Die Beziehungen zwischen Schriftstellern und Parteifunktionären blieben in der Verbannung so kühl, wie sie es daheim gewesen waren.

Die deutschen Schriftsteller – es darf mit Genugtuung konstatiert werden – haben sich im Jahre 1933 besser bewährt als irgendeine andere Berufsklasse. Während der letzten Jahre vor Ausbruch des Dritten Reiches hatte es wohl den Anschein, als wären manche unter ihnen bereit, sich mit dem Abscheulichen abzufinden oder dieses gar zu begünstigen, und in der Tat hat es ja an Abtrünnigen nicht ganz gefehlt. Einige glaubten vielleicht allen Ernstes, im Nationalsozialismus das Neue, Revolutionäre zu erkennen und bewundern zu müssen (wie der verblendete Gottfried Benn es tat); andere versuchten, sich dem neuen Regime durch feige Kompromisse akzeptabel zu machen. Aber die Zahl derer, die sich düpieren oder korrumpieren ließen, ist doch vergleichsweise gering, verglichen nämlich mit der erschreckend umfangreichen Liste gleichgeschalteter Philosophen, Historiker, Juristen, Ärzte, Musiker, Schauspieler, Maler, Pädagogen. Die weitaus meisten Autoren von literarischem Rang stellten sich sofort und aufs entschiedenste gegen die Diktatur, an deren zutiefst geistfeindlichem Charakter für keinen Klarsichtigen der geringste Zweifel bestehen konnte. Ein Massen-Exodus der Dichter setzte ein; noch nie zuvor in der Geschichte hat eine Nation innerhalb weniger Monate so viele ihrer literarischen Repräsentanten eingebüßt. Nicht allein die »rassisch Kompromittierten« suchten das Weite; mit ihnen entfernten sich viele von einwandfrei nicht-jüdischem Blut: Fritz von Unruh und Leonhard Frank, Bertolt Brecht und Oskar Maria Graf, René Schickele und Annette Kolb, Werner Hegemann und Georg Kaiser, Erich-Maria Remarque und Johannes R. Becher, Irmgard Keun und Gustav Regler, Hans-Henny Jahnn und Bodo Uhse, Heinrich und Thomas Mann: um nur diese zu nennen.

Die literarische Emigration konnte sich sehen lassen; in ihren Reihen gab es Ruhm, Talent, kämpferischen Elan. Während die Parteifunktionäre sich zankten, hielten die Schriftsteller zusammen, auch wenn ihre politischen Ansichten voneinander abwichen. Besonders während der ersten Jahre des Exils, von 1933 bis 1936, war dies Gefühl der Zusammengehörigkeit stark und echt. Ja, die verbannten Literaten bildeten wohl so etwas wie eine homogene Elite, eine wirkliche Gemeinschaft innerhalb der diffusen und amorphen Gesamtemigration.

Man wußte, was man wollte; die Forderung des Tages erschien klar vorgezeichnet. Der deutsche Schriftsteller im Exil sah seine Funktion als eine doppelte: Einerseits ging es darum, die Welt vor dem Dritten Reich zu warnen und über den wahren Charakter des Regimes aufzuklären, gleichzeitig aber mit dem »anderen«, »besseren« Deutschland, dem illegalen, heimlich opponierenden also, in Kontakt zu bleiben und die Widerstandsbewegung in der Heimat mit literarischem Material zu versehen; andererseits galt es, die große Tradition des deutschen Geistes und der deutschen Sprache, eine Tradition, für die es im Lande ihrer Herkunft keinen Platz mehr gab, in der Fremde lebendig zu erhalten und durch den eigenen schöpferischen Beitrag weiter zu entwickeln.

Es war nicht leicht, diese beiden Verpflichtungen – die politische und die kulturelle – miteinander zu vereinigen. Eine ungewöhnliche, geistig gewagte, in jedem Sinn extreme Situation forderte die ungewöhnliche Anstrengung, den extremen Einsatz der Kräfte. Die Literaturgeschichte der Zukunft (wenn uns eine Zukunft beschieden ist, die sich noch für dergleichen interessiert!) wird feststellen, daß die exilierten deutschen Schriftsteller Bedeutendes geleistet haben. Fast allen gelang es, ihr Niveau zu halten; manche wuchsen über sich selbst hinaus und gaben gerade jetzt, in der Verbannung, ihr Bestes. Die Emigrationsverlage, die sich damals in Amsterdam, Paris, Prag und anderen europäischen Zentren etablierten, haben eine Produktion von imposanter Fülle und Qualität aufzuweisen. Die literarische Ernte des Exils wurde durch ihren Reichtum zum eindrucksvollsten Protest gegen das Barbaren-Regime, das so viel Talent und Fleiß aus dem Lande getrieben hatte.

Nicht weniger notwendig und wesentlich als dieser indirekte Protest erschien vielen von uns der direkte, das politische Manifest, die enthüllende Analyse, der satirische oder informative Kommentar zum deutschen Drama, das immer wieder neu zu variierende, neu zu begründende J'accuse gegen den Hitler-Staat. Deutsche Antifascisten im Ausland durften nicht müde werden, den noch freien, noch nicht gleichgeschalteten oder angeschlossenen Nationen immer wieder zu versichern: »Ihr seid in Gefahr. Hitler ist gefährlich. Hitler ist der Krieg. Glaubt nicht an seine angebliche Friedensliebe! Er lügt. Schließt keine Verträge mit ihm! Er wird sie nicht halten. Laßt euch nicht von ihm einschüchtern! Er ist nicht so stark wie er tut, noch nicht! Erlaubt ihm nicht, stärker zu werden! Jetzt würde eine Geste, ein starkes Wort von eurer Seite genügen, um ihn zu stürzen. In ein paar Jahren wird der Preis höher sein, schließlich müßt ihr es euch Millionen Menschenleben kosten lassen. Worauf wartet ihr? Stürzt ihn jetzt, solange es billig ist! Brecht die diplomatischen Beziehungen mit ihm ab! Boykottiert ihn! Isoliert ihn! Erledigt ihn!«

Fehlte es unserem Ruf an Überzeugungskraft? Er überzeugte nicht, er verhallte. Die noch freien, noch unabhängigen Nationen, bei denen wir Emigranten zunächst Unterschlupf fanden, nahmen unsere Kassandra-Schreie mit »realistischer« Skepsis auf. Gewisse Vorkommnisse im Dritten Reich, Bücherverbrennungen, antisemitische Demonstrationen, das Massaker vom 30. Juni 1934, mochten etwas peinlich berühren; indessen waren das nur kleine Schönheitsfehler, die man einer sonst erfolgreichen und in vieler Hinsicht sympathischen Regierung gern verzieh. Hitler war gegen den Kommunismus, was genügte, ihn in feinsten europäischen Kreisen beliebt zu machen. Wenn er Eroberungspläne hatte, so waren sie doch wohl ausschließlich gegen den Osten gerichtet, will sagen, gegen die Sowjetunion. Um so besser! Den feinsten Kreisen konnte das nur recht sein. Für die Warnungen einiger fortgelaufener Literaten hatte man ein mokantes Lächeln oder ein ungeduldiges Achselzucken.

Natürlich gab es in unseren Gastländern Menschen von klarem Verstand und sauberer Gesinnung, die unser Grauen vor der Nazi-Pest durchaus teilten. Aber diese Redlichen waren meist selbst ohne Einfluß und übrigens, gerade aus ihrer Redlichkeit und Rechtlichkeit heraus, oft geneigt, den eigenen Standpunkt und die eigene Argumentation durch gewisse moralische Vorbehalte zu schwächen. Nicht, als ob sie Hitlers Schandtaten hätten verteidigen oder beschönigen wollen! Aber sie hielten es doch für angebracht, uns an Versailles zu erinnern, den ungerechten Frieden, der das deutsche Volk angeblich in die Verzweiflung und damit in die Arme des Demagogen trieb. Ohne Versailles kein Hitler! Und so schlimm dieser auch sein mochte, empfahl es sich nicht trotzdem, in Frieden mit ihm zu leben? Die Redlichen waren Pazifisten. Auch die meisten der emigrierten Schriftsteller, von denen hier die Rede ist, durften diesen Namen für sich in Anspruch nehmen. Um so tiefer ihr Abscheu vor den deutschen Gewaltherren und Gewaltanbetern.

Die kompromißlose Haltung dieser Schriftsteller befremdete, stieß vielfach ab. Man warf ihnen Einseitigkeit, Übertreibung vor; der Haß – so hieß es wohl – mache sie blind; die Schärfe ihres Urteils wurde als typisches Symptom der »Emigrationspsychose« erklärt und abgetan. Wäre das deutsche Regime wirklich so völlig schlecht, wie wir es schilderten, könnte es sich dann halten? So fragten die Realisten, um alsbald zu dem Schluß zu kommen: Die Tatsache, daß das Regime sich hält und sogar floriert, widerlegt die Greuelpropaganda der Exilierten. Das deutsche Volk stöhnt nicht unter dem Hitler-Terror; im Gegenteil, die meisten Leute dort scheinen recht vergnügt, es herrscht Wohlstand, die Arbeitslosigkeit hat aufgehört. Ob die Emigranten es nun zugeben oder nicht, die Diktatur ist populär bei den Massen, das deutsche Volk steht hinter seinem Führer.

Wir gaben es nicht zu. »Hitler ist nicht Deutschland!« Die Exilierten bestanden darauf, wiederholten es immer wieder. Hitler ist nicht Deutschland! Das »eigentliche« Deutschland, das »bessere« war gegen den Tyrannen, wie wir der Welt eigensinnig versicherten. Die deutsche Opposition nahm in unseren Artikeln und Manifesten gewaltige Dimensionen an: es waren Millionen (wir bestanden darauf), die im Kampf gegen das verhaßte System Leben und Freiheit riskierten. Wir flunkerten nicht: wir glaubten. Unser echter, wenngleich naiver Glaube an die Stärke und den Heroismus der inner-deutschen Widerstandsbewegung gab uns den moralischen Halt, den Auftrieb, dessen wir in unserer Isoliertheit und Hilflosigkeit so dringend bedurften.

Ja, wir waren tief davon überzeugt, daß wir im Namen aller »besseren Deutschen« sprachen, eben jener Märtyrer und Helden, die der Terror in der Heimat zum Schweigen brachte. Der Jammerlaut, der in den Konzentrationslagern erstickte, die geflüsterte Kritik, der unterdrückte Schrei, die Angst, die Frage, die wachsende Beklommenheit des besseren deutschen Menschen, all dies suchten wir zu artikulieren und zur Kenntnis einer lethargisch-ignoranten Welt zu bringen. Erwarteten wir ein Echo? Es wurde uns gewährt, in Form von wüster Schmähung. Die Goebbels-Presse schleuderte ihre übrigens recht phantasielosen Flüche und Invektiven gegen das »Emigrantenpack«, was immerhin eine Art von Resonanz bedeutete. Offenbar, unsere Bemühungen waren nicht ganz vergeblich. Wir irritierten die Herren, man bemerkte uns; die Tatsache, daß es irgendwo in der Welt noch Deutsche gab, die den Mund aufzumachen wagten, wurde vom Berliner Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda als unerträglichen Skandal empfunden. Wie stellte man ihn ab? Man konnte unsere Zeitschriften und Bücher, unsere Vorträge und Theaterstücke »draußen« nicht verbieten. Aber man konnte uns die Bürgerrechte nehmen, uns ausstoßen aus der Volksgemeinschaft. Waren wir erst keine Deutschen mehr, wurde unser Protest etwas weniger skandalös. So verfiel man auf die drollige »Ausbürgerungs«-Idee. Männer und Frauen, die ihrer Geburt nach Deutsche waren, auch bis vor kurzem in Deutschland gelebt und sich dort nützlich gemacht hatten, verloren durch einen Federstrich ihre Nationalität.

Der Verlust ließ sich tragen, zumal da man ihn nur für vorläufig hielt. Mit Nazi-Deutschland wollte man ohnedies nichts zu tun haben; nach dem Sturz des Regimes aber hatte das lächerliche Hitler-Dekret keinerlei Geltung mehr. Man kehrte zurück, war Bürger, »ausgebürgert« oder nicht. Dieser Stunde hofften wir entgegen; glaubten wohl auch, sie stünde nahe bevor. Der Aufstand des Volkes gegen die Unterdrücker, die deutsche Revolution, lange konnte sie doch nicht mehr auf sich warten lassen. Und selbst wenn sie durch den Gestapo-Terror eine Weile verzögert würde, schließlich brach sie doch los; wir rechneten fest damit. »Es kommt der Tag!« Einer unserer geistigen Führer hatte es uns versprochen – Heinrich Mann.

Sein Name erschien auf der ersten Ausbürgerungsliste, eine verdiente Ehre! Er hatte der deutschen Reaktion schon seit langem viel zu schaffen gemacht; jetzt aber tat er sich durch besondere Kampflust hervor. Noch nie war sein polemischer Stil so brillant gewesen: er bewährte im Zorn, im Abscheu solche Leidenschaft, daß aus der aktuellen Glosse, dem politischen Pamphlet beinah etwas wie Dichtung wurde. In den Aufsätzen, die unter dem Titel »Der Haß« schon 1933 als Buch erschienen, gibt es Akzente, die über das Journalistisch-Agitatorische hinaus ins Lyrisch-Inspirierte, fast ins Magisch-Seherische gehen. Kein Wunder, daß die feinfühligen Nazis einen Gegner von solchem Rang zu schätzen wußten und ihn als einen der ersten in ihre »Légion d'Honneur« aufnahmen.

Unsere Familie wurde überhaupt ausgezeichnet: auf jeder der ersten vier Ausbürgerungslisten war das Haus Mann vertreten. Nach dem berühmten Ohm kam ich an die Reihe. Am 6. November 1934 erfuhr ich durch die Presse, daß ich kein Deutscher mehr war, was mich kaum überraschen konnte. Eine Reihe von anderen nicht ganz unbekannten Kompatrioten wurden zusammen mit mir in Acht und Bann getan. Ich erinnere mich, daß der Dichter Leonhard Frank, der Regisseur Erwin Piscator und der politische Schriftsteller Otto Strasser darunter waren. Besonders machte man uns zum Vorwurf, daß wir einen Aufruf unterzeichnet hatten, in dem der Bevölkerung des Saargebietes geraten wurde, bei dem damals bevorstehenden Plebiszit gegen Hitler-Deutschland zu stimmen. Das war »Hochverrat«, wozu in den meisten Fällen noch andere »staatsfeindliche« Aktionen kamen.

Was mich betrifft, so gab ich mir redlich Mühe, den Herren des Dritten Reiches auf die Nerven zu gehen. Nicht genug damit, daß meine ketzerischen Verlautbarungen in der gesamten Emigrantenpresse und in anderen freiheitlich gesinnten europäischen Blättern erschienen, ich gründete auch noch meine eigene Zeitschrift, eine literarische (aber doch nicht rein literarische!) Revue namens »Die Sammlung«, die ab September 1933 beim Querido-Verlag zu Amsterdam monatlich herauskam. André Gide, Aldus Huxley und Heinrich Mann übernahmen das Patronat; zu den Mitarbeitern gehörten fast alle exilierten deutschen Dichter und Literaten, außerdem aber auch eine ziemlich stattliche Reihe nicht-deutscher Autoren von internationalem Prestige: Romain Rolland, Jean-Richard Bloch und Philippe Soupault, René Crevel und Jean Cocteau, Carlo Sforza, Benedetto Croce und Ignazio Silone, Wickham Steed, Stephen Spender und Christopher Isherwood, Ernest Hemingway und Schalom Asch, Ilja Ehrenburg und Boris Pasternak, der Schwede Pär Lagerkvist und der Holländer Menno ter Braak. Mein Ehrgeiz war, die Talente der Emigration beim europäischen Publikum einzuführen, gleichzeitig aber die Emigranten mit den geistigen Strömungen in ihren Gastländern vertraut zu machen. Dazu kam, als essentielles Element meines redaktionellen Programms, das Politisch-Polemische. »Die Sammlung« war schöngeistig, dabei aber militant – eine Publikation von Niveau, aber nicht ohne Tendenz. Die Tendenz war gegen die Nazis. Diese ärgerten sich denn auch und sannen auf Rache. Die Strafe, auf die sie in ihrer Unbeholfenheit verfielen – die Ausbürgerung eben –, tat nicht weh. Im Gegenteil, ich fühlte mich geschmeichelt.

Erika kam auf die dritte Liste. Sie hätte es verdient, schon früher dranzukommen; die Nazis waren manchmal launenhaft. Am 1. Oktober 1933 wurde »Die Pfeffermühle« in Zürich wieder eröffnet, gepfefferter denn je, amüsanter denn je, mit der prachtvollen Therese Giehse, dem einfallsreichen Magnus Henning und allem Zubehör. Erika war in großer Form, als Textdichterin, Chansonette und Conférencière. Noch dort, wo sie bitter sein mußte, noch in der Anklage, im Protest gewann sie durch den Reiz ihres Lächelns, der Stimme und Gebärde. Ihr moralisch-politischer Appell wirkte, weil er aus dem Herzen kam und mit künstlerischer Phantasie präsentiert wurde. Dieses ungewöhnliche Kabarettprogramm hatte nicht nur sittlichen Ernst und geistige Aktualität, sondern auch Charme, Rhythmus, Laune: Eigenschaften, ohne die keine Gesinnung, sei sie noch so schön, sich bei einem Theaterpublikum durchsetzt.

»Die Pfeffermühle« setzte sich durch: sie gefiel. Die Züricher zeigten sich noch empfänglicher und dankbarer als ein Jahr vorher die Münchener. Es folgte eine Tournee durch die Schweiz, woran sich Gastspiele in der Tschechoslowakei, Holland, Belgien, Luxemburg schlossen. Im nächsten Herbst: ein neues Programm in Zürich, danach wieder die internationale Tour. So ging das weiter; in der Zeit vom Januar 1933 bis zum Sommer 1936 hatte »Die Pfeffermühle« über tausend Vorstellungen. Und da sollte man sich in Berlin nicht fuchsen!

Das tat man denn auch, nicht zu knapp. Erst wurde die Ausbürgerung verhängt, eine Geste, die in diesem Fall besonders sinnlos schien; denn Erika war, durch ihre Heirat mit dem englischen Dichter W. H. Auden, Untertanin Seiner Britischen Majestät.

Störender als der nichtige Bannfluch waren die »spontanen Demonstrationen«, die von den Nazis und ihren Schweizer Freunden, den »Fronten«, gegen »Die Pfeffermühle« inszeniert wurden. Im Züricher »Kursaal«, wo die Truppe damals gastierte, kam es zu einem Skandal, mit dem verglichen die Zwischenfälle anläßlich von Erikas Victor-Hugo-Rezitation, Zauberers »Deutscher Ansprache« und meiner »Geschwister«-Premiere heiteres Kinderspiel waren. Die Schweizer Fascisten, von ihren deutschen Meistern abgerichtet und ausgerüstet, begnügten sich nicht mit den üblichen Stinkbomben und Trillerpfeifen; es wurde mit scharfer Munition geschossen; auch hieß es, eine Zeitbombe sei irgendwo unter der Bühne versteckt. Bis zum Ende des Gastspiels gab es jeden Abend ein Polizeiaufgebot zur Protektion der »Pfeffermühle«. Denn die Vorstellungen gingen weiter. Nicht nur Erika legte Wert darauf, sondern auch die Schweizer Behörden. Aus Prestigegründen war man abgeneigt, den Radaumachern nachzugeben, ohne diese andererseits gar zu sehr provozieren zu wollen. Wie verhielt man sich in einem solchen Dilemma? Der Stadtrat und andere Instanzen befaßten sich mit dem Fall, der in der Presse plötzlich aus dem Feuilleton in den politischen Teil aufgerückt war. »Die Pfeffermühle« war eine cause celèbre, was aber nichts half: Sie bekam in Zürich keine Spielerlaubnis mehr, und auch in anderen Schweizer Städten gab es bald Schwierigkeiten. –

Während Heinrich Mann, Erika und ich längst offiziell geächtet und verstoßen waren, blieb die Situation meines Vaters noch für eine Weile unentschieden, jedenfalls im technisch-legalen Sinn. Er hatte sich, seit der »Machtübernahme«, noch nicht öffentlich über das deutsche Regime geäußert; aber man wußte, daß es ihm greulich war. Er rechnete sich zunächst noch nicht unbedingt zu den Emigranten, dachte aber nicht daran, nach Nazi-Deutschland zurückzukehren. (Nach ein paar Monaten im Tessin und einem längeren Aufenthalt in Südfrankreich ließ er sich im Herbst 1933 in Küsnacht am Zürichsee nieder.) Seine Bücher waren in Deutschland noch nicht offiziell verboten; aber schon im Jahre 1933 hätte niemand es sich einfallen lassen, in einem deutschen Buchladen mit nicht-gesenkter Stimme nach einem Werk von Thomas Mann zu verlangen. Ein unerwünschter, verdächtiger Autor, wenn auch noch nicht völlig diffamiert!

Er war noch nicht ausgebürgert, aber sein abgelaufener deutscher Reisepaß wurde ihm nicht verlängert. Er könne einen neuen Paß bekommen – so lautete der amtliche Bescheid – in Deutschland nämlich! So versuchte man, ihn zurückzulocken. Gleichzeitig aber konfiszierte man sein Hab und Gut, die Bankguthaben, das Münchener Haus mit Bibliothek, Mobiliar, Automobilen, und was es sonst noch zu klauen gab; die gleichgeschaltete Presse machte ihn fast täglich zum Objekt absurder Verleumdungen und Gehässigkeiten; die »Repräsentanten deutscher Geistigkeit«, vom Komponisten Richard Strauß bis zum Karikaturisten Olaf Gulbransson, taten sich zusammen, um den Vortrag »Leiden und Größe Richard Wagners«, den die meisten der Herren zugegebenermaßen nicht gelesen hatten, als eine »Verunglimpfung des germanischen Genies« anzuklagen.

Zurückkehren, in eine solche Heimat? Er konnte es nicht erwägen. Aber die Trennung war bitter, viel bitterer für ihn, den in deutscher Art und Tradition so tief Verwurzelten, als für seine international akklimatisierten Kinder. Die Vorstellung, von seinem deutschen Publikum endgültig, oder doch bis auf weiteres, abgeschnitten zu sein, quälte und kränkte ihn; er versuchte, das Unvermeidliche so lange wie irgend möglich hinauszuzögern. Erika und ich drängten, ein Fehler wahrscheinlich; das bedächtige Tempo gehört wohl essentiell zu seiner geistig-moralischen Persönlichkeit.

Er mußte sich Zeit lassen, ein Jahr, zwei Jahre; schließlich war er so weit. Im Feuilleton einer Schweizer Zeitung wurde die Emigrantenliteratur herabgesetzt, wobei der Kritiker feststellte, daß Thomas Mann dieser Kategorie nicht zuzurechnen sei. Thomas Mann reagierte mit einem unzweideutigen Bekenntnis zur Emigration. Die Nazis zogen die Konsequenz: der Autor der »Buddenbrooks« war, laut Hitlerscher Verfügung, kein Deutscher mehr. Mit ihm wurden sein Eheweib, Katharina Mann, geborene Pringsheim, und seine vier jüngeren Kinder – Angelus Gottfried Thomas (»Golo«), Monika, Elisabeth und Michael Thomas – der deutschen Staatsbürgerschaft verlustig erklärt.

 

Die Emigration war nicht gut, aber man gewöhnt sich an alles, an die Unbequemlichkeiten, die Erniedrigungen, auch an die Gefahren. Einige Exilanten waren von den Nazis entführt oder ermordet worden, der Philosoph Theodor Lessing, zum Beispiel, und der Schriftsteller Berthold Jacob. Dergleichen konnte jedem von uns geschehen. Es empfahl sich, auf der Hut zu sein.

Man war es. Alles, was mit Deutschland zu tun hatte, wurde unheimlich, beängstigend. Das Gebäude, in dem sich ein deutsches Reisebüro oder gar ein deutsches Konsulat befand, betrat man nicht gern. Es gab dort vielleicht geheime Falltüren, die sich plötzlich vor einem auftaten – und man war gefangen. Um diesen Mercedes mit der deutschen Nummer machte man lieber einen scheuen Bogen. Wagte man sich zu nah heran, so öffnete sich wohl der Wagenschlag, ein Arm kam zum Vorschein, eine klammernde Faust, schon hatte man die Äthermaske vorm Gesicht, und wenn man wieder zu sich kam, war man in Deutschland: in der Hölle also.

Deutschland war die Hölle, das unbetretbare Gebiet, die verfluchte Zone. Manchmal träumte man, daß man in Deutschland sei, es war grauenhaft. Früher hatte man sich wohl im Traume nackt auf einen belebten Boulevard verirrt oder war in großem Kostüm auf eine Bühne getreten, um eine Rolle zu spielen, von der man kein Wort wußte, lauter Situationen von unleugbarer Peinlichkeit. Aber der neue Alb, der Emigranten-Angsttraum, war unvergleichlich ärger.

Es fing harmlos an. Man schlenderte eine Straße entlang, deren Aussehen bekannt anmutete, zu bekannt, wie einem allmählich klar wurde, bekannt auf eine bedrohliche, schaurig-intime Art. Es war eine deutsche Straße, man befand sich in München oder in Berlin: daher die Bangigkeit, die wachsende Beklemmung. Wie komme ich hierher? Was habe ich hier zu suchen? Und wie komme ich fort von hier? Während man sich dies fragte, versuchte man, möglichst unbekümmert zu erscheinen, ein sorgloser Passant, der das heitere Treiben auf dem Kurfürstendamm oder der Theatinerstraße genießt. Aber was nützt die nonchalante Pose? Du bist erkannt, immer drohender werden die Blicke, mit denen die Vorübergehenden dich mustern. Plötzlich erinnerst du dich, daß du eine der verbotenen Zeitschriften sichtbar unter dem Arm trägst, ein Exemplar der »Neuen Weltbühne« oder des »Neuen Tagebuch«. Du möchtest dich der kompromittierenden Druckschrift entledigen, sie unbemerkt zu Boden gleiten oder doch mindestens in deiner Tasche verschwinden lassen; aber es ist zu spät: du bist erkannt. Gibt es kein Entrinnen? Nein; denn nicht nur die Menschen sind gegen dich, auch die Häuser, das Pflaster, der feindlich verhüllte Himmel. Magst du immerhin rennen! Die Straße ist lang, du erreichst ihr Ende nicht, und selbst wenn du bis zum Ende der Straße kämest, die Häscher griffen dich, sie sind überall. Du rennst trotzdem, blind vor Angst, in keuchender Panik, ziellos, hoffnungslos. Die infernalische Straße läßt dich rennen, zappeln, springen, da sie weiß, daß du ihrem tödlichen Zugriff doch nicht entrinnen wirst. Du rennst zwischen Mauern, Fahnen, Menschenmassen, die sich immer näher an dich drängen, immer gefährlicher um dich schließen; du rennst – bis du schweißgebadet erwachst.

Dieser sehr schlimme Traum kam häufig vor in Emigrantenkreisen. Es gab Zeiten, in denen ich diesen sehr schlimmen Traum beinahe jede Nacht träumen mußte.

Deutschland, entfremdete, entstellte, gräßlich gewordene Heimat, die wir nur im Albtraum schauen durften! Die Reichsgrenzen wurden zu einem feurigen Ring, hinter dem es nur die Vernichtung gab. Uns ward beklommen zumute, wenn wir uns der schrecklichen Grenze zu nahe wußten – in Salzburg etwa oder in Basel. Die Reise von Zürich nach Amsterdam, die ich damals sehr häufig machte, war keineswegs unbedenklich. Der Schlafwagen, der mich durch Frankreich, Luxemburg, Belgien nach Holland befördern sollte, konnte umrangiert werden, sei es aus Zufall, sei es nach teuflischem Plan. Plötzlich wäre man jenseits des Feuer-Rings, mitten drin im Gräßlichen. Man blickt aus dem Fenster, und liest: »Köln Hauptbahnhof« … Solche Vorstellungen verursachten physisches Unbehagen.

Indessen verhielt es sich nicht etwa so, daß die Emigranten dauernd in Angst und Schrecken lebten; so darf man sich das nicht denken. Wer die Emigration nicht selber mitgemacht hat, könnte überhaupt geneigt sein, die dramatischen und romantischen Aspekte dieser Existenzform zu überschätzen. Als Junge war ich fasziniert von den russischen Flüchtlingen, die damals in Berlin massenhaft auftraten. Wie interessant es sein mußte, kein Vaterland mehr zu haben, unbehaust durch die Welt zu schweifen, Haß und Heimweh im Herzen! Welch ein Abenteuer, Emigrant zu sein! Nun war ich selber einer, ohne mich über diese Tatsache ständig aufzuregen oder sie als abenteuerlich zu empfinden.

Man ist nicht pausenlos in kämpferischer Laune, auch das Heimweh macht sich nur gelegentlich bemerkbar, und man bringt nicht den ganzen Tag damit zu, die Tyrannen zu hassen, kurz, man ist nicht immer Emigrant »im Hauptberuf«. Man vergißt zuweilen, daß man sich im Exil befindet. Sogar in der Verbannung kommen heitere Stunden vor, die übrigens auch in der Heimat selten waren.

Geldsorgen? Die ist man gewöhnt. Man ist nie Kapitalist gewesen, hat sich vielmehr immer plagen müssen. Irgendwie schafft man es, plagt sich freilich im Exil noch weidlicher als zu Hause.

Neu ist das Paß-Problem, nun doch eine sehr ernste Sache. Ohne Paß kann der Mensch nicht leben. Das scheinbar unbedeutende Dokument ist in Wahrheit beinah ebenso kostbar wie der Schatten, dessen Wert der arme Peter Schlemihl erst so recht begriff, als er sich seiner leichtfertigerweise entäußert hatte. Transitvisen, Arbeits- und Aufenthaltserlaubnisse, »cartes d'identité«, »titres de voyage«; diese Dinge spielten eine durchaus dominierende und recht quälende Rolle in den Gedanken und Gesprächen deutscher Auswanderer. Aber schließlich fand sich meist irgendein Ausweg. In meinem Falle war es die freundliche Regierung der Niederlande, die rettend eingriff. Mir wurde ein holländischer »Fremdenpaß« zur Verfügung gestellt, der dem Staatenlosen einige Bewegungsfreiheit gab. Später machte die Generosität des Präsidenten Benesch uns alle, meine Eltern, Heinrich Mann, meine Geschwister (mit Ausnahme der britischen Erika), zu Bürgern der Tschechoslowakei.

Man lebte in Amsterdam, in Zürich, in Paris, ohne diese schönen Städte als »Exil« zu empfinden. Paris war einem schon seit langem eine Art von »deuxième patrie«; in Amsterdam gab es Freunde und Arbeit; in Zürich gab es Freunde und das Elternhaus.

Die Villa in Küßnacht bei Zürich konnte es an Stattlichkeit mit dem verlorenen Münchener Heim zwar keineswegs aufnehmen, war aber auf ihre bescheidenere Art ebenso hübsch und freundlich. Übrigens waren es von den sechs Geschwistern nur zwei, die beiden Jüngsten, die jetzt ständig im »Kinderhaus« logierten. Sie gingen zur Schule in Zürich, später besuchten sie das Konservatorium. Michael wollte Geiger werden, Elisabeth Pianistin. Beide waren Kinder gewesen, als wir Deutschland verließen; von Heimweh konnte bei ihnen keine Rede sein. Medi (Elisabeth) sprach schon mit leicht schweizerischem Akzent, sah auch aus wie ein Schweizer Mädchen, zugleich ernsthaft-gediegen und ein bißchen burschikos, mit klarer, intelligenter Stirn, freundlichem Blick, ungeschminkten Lippen, sportlichem Kostüm: man kennt den Typ, er gehört zu den erfreulichsten. Bibi (Michael) zeigte sich weniger empfänglich für den ortsüblichen Dialekt (auch Golo und ich hatten ja nie die bayerische Mundart beherrscht, in der Erika Meister war), verliebte sich aber in eine veritable Schweizerin, was wahrscheinlich die männliche Art ist, sich dem Gastland zu assimilieren.

Neben den zwei »Kleinen«, die so gar klein nicht mehr waren, gab es im gastlichen »Kinderhaus« fast immer den einen oder den anderen von uns Älteren, allerdings nur besuchsweise und vorübergehend. Erika stellte sich zwischen anstrengenden »Pfeffermühlen«-Tournées für kurze Rast in Küsnacht ein. Monika kam aus Florenz, wo sie damals lebte und wo sie übrigens die Bekanntschaft des jungen ungarischen Kunsthistorikers Jenö Lanyi machte, der später ihr Mann werden sollte. Golo, Doktor der Philosophie und Geschichte, dem in Deutschland eine bedeutende akademische Karriere sicher gewesen wäre, betätigte sich als Dozent in Frankreich, zunächst an der »École Normale« zu St. Cloud bei Paris, später an der Universität Rennes; die Ferien aber verbrachte der junge Gelehrte bei den gastlichen Eltern.

Es ging gesellig zu in der Küsnachter Villa, fast ebenso animiert wie einst in der Poschingerstraße. Von den alten Münchener Freunden ließen sich freilich nur noch jene sehen, die, wie wir, die Beziehungen zu Nazi-Deutschland abgebrochen hatten; wer dort noch leben und verdienen wollte, mied unser verrufenes Haus.

Die einzigen, oder beinah einzigen, die sich damals noch aus München zu uns wagten, waren Offi und Ofey, die erstaunlichen Urgreise. Sie ließen es sich nicht nehmen, zwei- bis dreimal jährlich auf Logierbesuch zu uns zu kommen, verhutzelt, aber von eiserner Vitalität und bemerkenswertem Eigensinn. Das schöne Palais in der Arcisstraße, das fast ein halbes Jahrhundert lang ihr Heim gewesen, hatten sie zwar plötzlich verlassen müssen: es war in der Nähe des Braunen Hauses gelegen und sollte nun niedergerissen werden, um einem neuen Parteigebäude Platz zu machen. Die »Arcissi«, Symbol und Zentrum legendärer Erinnerungen, von den Kindheits-Mythen eine der kostbarsten und geliebtesten, war dahin, dem Ehrgeiz eines unbegabten, aber mächtigen Architekten aufgeopfert …

Offi und Ofey fanden dies bedauerlich, waren aber durchaus abgeneigt, sich von solchen Kleinigkeiten in ihren Entschlüssen beeinflussen zu lassen. Überhaupt ließen sie sich nicht leicht beeinflussen, am wenigstens von uns. Wir beschworen sie, sich zur Emigration zu entschließen und nach Zürich zu ziehen, wo sie, immer noch wohlhabend, wie sie es damals waren, den angenehmsten Lebensabend hätten haben können. Aber nein, Ofey wollte nicht, auch Offi war dagegen. Emigrieren? Warum? Die Urgreise fanden es eine Kateridee. Sie waren der Ansicht, daß die jüngeren Generationen den Ernst der Hitler-Gefahr geradezu lächerlich überschätzten. Was die Urgreise betraf, so waren sie entschlossen, den ganzen Nationalsozialismus glatt zu ignonieren. Anstatt nach Zürich zu ziehen, nahmen sie sich eine hübsche Wohnung in München, nicht weit von ihrem alten Haus. Von dort machten sie sich ganz ungeniert zu ihren regelmäßigen Visiten nach Küsnacht auf.

Es war reizend, sie bei uns zu haben. Die »Arcissi« gab es also nicht mehr, aber solange Offi und Ofey so unverwüstlich vorhanden waren, blieb von den Mythen der Kindheit doch noch etwas lebendig und gegenwärtig. Ofey knärzte, Offi perlte. Sie war immer noch schön, mit silberweißer Rokokofrisur, anmutig beweglichem Mund und ausdrucksstarkem Blick. Eine echte Persönlichkeit, unsere Offi! Welch ein Temperament! Und ihr Widerspruchsgeist hatte mit den Jahren eher noch zugenommen. Wenn jemand von uns auf irgendein gräßliches Ereignis in Deutschland anzuspielen wagte, fragte Offi streng: »Warst du dabei?«, was man verneinen mußte. Sie lächelte triumphierend: »Na also!« Und die Sache war abgetan.

Offi und Ofey, die zähen Ahnen, demonstrierten und garantierten die Kontinuität unseres Familienlebens und des Lebens überhaupt, bei sonst gründlich veränderten Verhältnissen. Übrigens gab es auch noch andere Institutionen, auf deren Dauerhaftigkeit man sich verlassen konnte, das väterliche Arbeitszimmer zum Beispiel. Im Küsnachter Haus befand es sich im ersten Stock, während es in der Poschingerstraße zu ebener Erde gelegen war; aber sonst hatte sich nicht viel geändert. Durch irgendeine Kriegslist war es gelungen, den Schreibtisch mit einigem Zubehör aus dem gestohlenen Münchener Haus in die Schweiz zu schaffen. Da waren sie denn wieder, die vertrauten Gegenstände im vertrauten, pedantisch festgelegten Arrangement, Schreibmappe, Briefbeschwerer, Tintenfaß, das Savonarola-Profil, Mieleins Jugendbild – von Kaulbach angefertigt –, die ägyptische Büste. Auch die Atmosphäre im Raum war die gleiche geblieben, die alte aromatische Mischung aus Zigarrenrauch, Eau-de-Cologne und dem Geruch ledergebundener Bücher.

Nach dem Abendessen versammelt man sich in dieser zugleich traulichen und feierlich ernsten Stube, im Exil wie zu Hause. Vielleicht sind Gäste da, der gleichfalls schon seit Urzeiten und Kindertagen gekannte, gern-gemochte Hans Reisiger (er wird nicht mehr lange bei uns verkehren wollen, aber jetzt tut er's noch) oder unsere behaglich-dynamische Giehse oder Annemarie, das lieblich pagenhafte »Schweizerkind«. Es könnte aber auch Annette Kolb sein, die überraschend eingetroffen ist, aus Paris oder Basel kommend; nun sitzt sie in der Sofaecke, das rassig-lange Gesicht animiert unter dem unvermeidlichen schwarzen Hütchen, und plaudert auf angenehm zerstreute Art in ihrem höchst persönlich geprägten, oberbayerisch-pariserischen Jargon. Oder ist der Gast an diesem Abend Erich von Kahler, Kulturphilosoph und Dichter, treuer Freund des Vaters und der Familie? Der gebürtige Prager, lange Zeit bei München seßhaft, wohnt jetzt in Zürich und kommt oft zu uns. Ferdinand Lion käme auch in Frage, ein sensitiver Zuhörer und Kritiker, man hat ihn gern dabei, obwohl seine reizvoll originelle Geistigkeit nicht ganz eines etwas irritierenden Einschlages ins Eibisch-Kapriziöse entbehrt. Und wenn's nicht Lion ist, dann stelle ich mir Franz Beidler vor, den politisch, literarisch und literaturpolitisch sehr tätigen Enkel Richard Wagners, dem er übrigens zum Lachen und Verwundern ähnlich sieht; Franz Beidler also wäre auch willkommen. Mit ihm sind am Ende gar die lieben Oprechts erschienen, Emil und Emmy, das Verlegerpaar, deren Züricher Heim zum lebendigsten Treffpunkt der literarischen Emigration geworden ist … Kurz, es gibt Besuch, man hat den schwarzen Kaffee drunten im großen Wohnraum getrunken und läßt sich jetzt im Arbeitszimmer nieder. Mielein verteilt noch geschwind Aschenbecher, während der Zauberer sich schon im Lehnstuhl räuspert, Brille auf der Nase, Manuskript in der Hand. Dann wird es stille im Zimmer, und die Erzählung beginnt.

Sie beginnt nicht, sie geht weiter. Der Erzähler fährt fort, wo er sich das vorige Mal unterbrochen. Das vorige Mal – war das in München oder in Lugano oder in Sanary bei Toulon? Gleichviel, die Geschichte nimmt ihren Gang, läuft ab, entwickelt sich nach eigenem Gesetz: die geduldig ausgesponnene, farbig-genaue Geschichte und Gotteserfindung von Joseph und seinen Brüdern. Wie lange wir den anmutigen Rahel-Sproß nun schon kennen! Seine schöne und hübsche Gestalt ist uns ebenso vertraut wie die sonore Stimme, die Vater-Stimme, die den Reiz dieser zeitentrückten, mythisch distanzierten Jugend mit sehr sorgfältig gewählten Adjektiven zu beschwören, uns nahezubringen und gegenwärtig zu machen weiß.

Ja, der immer noch junge, wenn auch nicht mehr so ganz knabenhafte Joseph, dem wir nicht ohne Rührung am Zürichsee wiederbegegnen, ist noch der gleiche, der einst – wielange ist's her? – dem würdig-sinnenden Jakob das bunte Kleid abschwatzte und die Brüder mit seinen taktlosen Träumen ennuyierte. Inzwischen freilich ist dem Verwöhnten allerlei zugestoßen, sein Schicksal war nicht leichter als das unsere: das Exil – auch ihm blieb es nicht erspart. Erst mußte er in die Grube, dann in die Fremde; dort aber bewährt sich sein Stern, oder vielmehr, seine gewinnenden Eigenschaften helfen ihm aus der Patsche.

Für ein Emigranten-Publikum war es ermutigend zu hören, wie geschwind der zunächst scheinbar völlig ruinierte Joseph sich von seinem tiefen Fall erholt und in exotischem Milieu Karriere macht. Seine Eloquenz, sein Witz und Charme, seine angeborene Artigkeit erweisen sich als ebenso wirkungsvoll, ebenso unwiderstehlich im Hause des ägyptischen Großen wie daheim, im väterlichen Zelt. Selbst die Herrin, Gattin des Potiphar, – weit davon entfernt, über den Hergelaufenen die Nase zu rümpfen – verfällt diesem äußerst angenehmen Lächeln, dieser kindlich-schlauen Beredsamkeit, dem schönen Dunkel der Rahel-Augen. Die mondäne Priesterin und asketisch stolze grande dame wirbt um den spröden Sklaven. Wie sie brennt! Wie sie leidet! Wie sie sich verzehrt in bittersüßer Ekstase! Der Erzähler im Küsnachter Arbeitszimmer macht es mit treffend ausgesuchten und geschickt aneinander gereihten Worten so recht anschaulich, durch was für Höllen, was für Verzückungen die Heimgesuchte, Verzauberte geht. Aus ist's mit ihrer vornehmen Selbstdisziplin, der priesterlich eleganten Haltung! Sie streift ihre Würde ab wie eine lästige Maske. Die Liebe bricht ihren Stolz, verdirbt ihren Teint, läßt sie vettelhaft werden, die unmögliche, unerfüllbare, unstatthafte Liebe zum fremden Sklaven, der übrigens ein Aufgesparter und Unberührbarer ist. Potiphars Weib überläßt sich ihrer absurden Leidenschaft mit dem gleichen masochistischen Radikalismus, mit dem sich einst der alternde Romancier Gustav Aschenbach am venezianischen Lido Emotionen sehr verwandter Art überließ. Nun entwürdigt, erniedrigt sich die aristokratische Ägypterin, wie damals der Cholera- und Erosinfizierte Prosaist. Um ihrer tragischen, grotesken Liebe willen riskiert sie alles, Rang, Ansehen, Heim, Vermögen. Die unmögliche Liebe ist ihr Fluch, ihr Himmel, ihr Fieber, ihr Exil.

 

Dergleichen wird immer wieder durchgemacht, auch in der Verbannung. Von der Liebe könnte ich viel erzählen, tue es aber nicht, oder doch immer nur sehr nebenbei, andeutungsweise, ohne mich auf das schöne und trübe Thema je so recht einzulassen. Warum diese Diskretion? Aus Scham? Aus Vorsicht? Vielleicht. Wahrscheinlicher ist, daß ich mir gerade diesen Gegenstand für künstlerische Gestaltung aufhebe und vorbehalte.

Hier ziehe ich es vor, von der Freundschaft zu sprechen – ein Gefühls- und Erlebniskomplex, der, nach meiner Erfahrung, sich mit der Sphäre des Erotischen oder gar Sexuellen nur sehr selten berührt. Freilich, es gibt Grenzfälle, Übergänge: im Begehren kann der Freundschaftskeim enthalten sein, aus Kameradschaft wird Zärtlichkeit; aber im allgemeinen scheint es mir ratsam, zwischen Eros und Sympathie, zwischen geschlechtlich-emotioneller Attraktion und moralisch-intellektueller Affinität sauber zu unterscheiden. Liebe ist fast immer einseitig; Freundschaft gibt es nur bei reziproker Neigung. Man liebt, was dem eigenen Wesen fremd und entgegengesetzt ist; man befreundet sich dem Verwandten. Liebe ist Wagnis, Gefahr; Freundschaft ist Sicherheit. Die sexuelle Fixierung, die Sucht nach einem bestimmten menschlichen Körper, einem bestimmten Mund, einer bestimmten Umarmung bereitet Schmerz von solcher Grausamkeit, daß wir ihn ohne den Trost der Freundschaft kaum ertrügen.

Mein Leben war reich an Freundschaft; in dieser fragmentarischen Chronik müssen viele der Namen fehlen, die mir teuer waren oder es noch sind. Die Trennung von Deutschland freilich brachte das Ende herzlicher Kontakte, die man gern für dauerhaft gehalten hätte; aber die Mehrzahl der wirklichen Freunde war mit uns in die Emigration gegangen, und übrigens bildeten sich draußen bald neue Kameradschaften, darunter einige von großer Wärme und Fruchtbarkeit.

Die schönste menschliche Beziehung, die ich diesen ersten Jahren des Exils verdanke, ist die zu dem Verleger Fritz Landshoff. Seit 1933 ist er mein brüderlicher Freund. Bündnisse solcher Art werden meist nur zwischen sehr jungen Menschen geschlossen; um so größer der Glücksfall einer relativ späten Begegnung. Nicht, als ob ich damals alt gewesen wäre! Mit siebenundzwanzig mag man fast noch als Jüngling passieren. Aber ich war doch schon ein ziemlich erfahrener, umgetriebener Jüngling; ich hatte früh angefangen, mit allem, auch mit der Freundschaft. Den besten Freund hatte ich soeben eingebüßt; nach Rickis Tod durfte ich kaum noch hoffen, solche Gleichgestimmtheit und eine solche Treue jemals wiederzufinden. Nun gab es dies noch einmal; und wieder, wie im Falle Rickis, war es eine Freundschaft zu dritt. Erika gehörte dazu. In meinem Leben hat wohl nur das, woran sie Anteil nimmt, so recht eigentlich Bestand und Wirklichkeit.

Landshoff, der in Berlin ein Direktor des Kiepenheuer-Verlages gewesen war, gründete 1933 in Amsterdam den Querido-Verlag, die deutsche Abteilung einer alteingesessenen holländischen »Uitgeversmij«. Der Chef der Firma, Emanuel Querido – Niederländer von portugiesisch-jüdischer Abstammung – war ein weißhaariger Mann von kleiner Statur und großem Temperament, humorig-patriarchalisch, mit blitzblauen Kapitänsaugen in einem verwitterten, lustig-klugen Gesicht. Der alte Sozialdemokrat haßte den Fascismus in jeder Form, besonders aber in der deutschen; gerade deshalb war ihm die Betreuung der antifascistischen deutschen Literatur eine Herzenssache. Seine sehr gescheite, übrigens auch sehr attraktive Mitarbeiterin, Alice van Nahuys, nahm sich, zusammen mit Landshoff, der Leitung des neuen deutschsprachigen Verlages an. Die meisten emigrierten Autoren von Bedeutung erschienen bei Querido – Jakob Wassermann, Heinrich Mann, Ernst Toller, Lion Feuchtwanger, Anna Seghers, Arnold Zweig, Vicki Baum, Erich-Maria Remarque, Emil Ludwig, Alfred Döblin, Bruno Frank, Leonhard Frank, Ludwig Marcuse, Joseph Roth, Valeriu Marcu, um nur diese zu nennen. Was mich betrifft, so druckte der Verlag nicht nur meine Bücher, sondern auch meine Revue, »Die Sammlung«, bei deren Herausgabe mir Landshoffs organisatorische Erfahrenheit und literarischer Geschmack zugute kamen.

Man verlegte deutsche Bücher und eine deutsche Zeitschrift in Amsterdam, nicht aus ganz freier Wahl, sondern weil es sich zu Hause nicht mehr machen ließ: dort regierte das Scheusal. Dieser unangenehmen Tatsache blieb man eingedenk, was einen aber keineswegs daran hinderte, die neue, nicht ganz freiwillig gewählte Umgebung in vieler Hinsicht äußerst angenehm zu finden. Eine schöne Stadt, Amsterdam, ob nun ein Emigrant sich dieser Schönheit freut oder ein Vergnügungsreisender. Auch der Verbannte bewundert die nobel-schlichte Architektur der alten Patrizierhäuser, spürt den etwas verwunschenen Reiz der Grachten mit ihren venezianischen Gerüchen und Perspektiven. Das stehende Gewässer dieser pittoresken Kanäle hat mich stets auf unheimliche Art fasziniert. Ratten, so hat man mir wohl berichtet, hausen massenhaft in seiner öligen Tiefe. Es ist giftiges Wasser, Todeswasser; fiele man hinein und schluckte reichlich davon, man stürbe an malerisch-gräßlichen Beulen, wie ein Aussätziger im Mittelalter. Die Grachten entlang ziehen arme, aber rüstige Männer mit fahrbaren Drehorgeln – Instrumenten von gewaltigen Dimensionen, oft mit barocker Üppigkeit ausgestattet – und lassen traurige Weisen hören. Sie halten dem Passanten mit fordernder Gebärde die Klapperbüchse hin und empfangen die Münze wie einen Tribut, der ihnen rechtens zusteht. Die engen Gassen wimmeln von Radfahrern, deren lautlos-hurtiges Dahingleiten in der Dämmerung geisterhaft wirken mag. Überall gibt es Porträts der königlichen Frauen, Königin-Mutter, Königin, Kronprinzessin; überall gibt es Tulpen. Die Mädchen aber, die in gewissen Stadtgegenden gastlich am Fenster sitzen und den Vorübergehenden mit derbem Scherzwort locken, bevorzugen künstliche Blumen, Gott weiß warum. Stattlichen Rubensfiguren gleich, thronen sie im Lehnstuhl neben der Vase mit den papierenen Rosen und der traulichen Lampe. Sogar das »Laster« – wenn man es denn so nennen will – präsentiert sich in Amsterdam mit sinnig-altertümlicher Gemütlichkeit.

Altertümlich-gemütlich war auch die Pension, wo Landshoff und ich bescheidene, aber nicht unkomfortable Unterkunft gefunden hatten. Die Tage vergingen mit Arbeit. Wollte man Erholung, so spazierte man im großzügig angelegten, erfreulich soignierten Vondel-Park oder verbrachte eine andächtige Stunde im »Rijksmuseum« vor den erfrischend wirklichen, dabei ergreifend inspirierten Landschaften, Porträts, religiösen Szenen, Stilleben, Allegorien und häuslich-heiteren Genrebildern der großen Niederländer. Abends gab es gute Musik im »Concertgebouw«. Der große Kapellmeister und seltsame Charakter Willem Mengelberg, der sich später aus politischen Gründen in Mißkredit bringen sollte, dirigierte damals noch das Amsterdamer Orchester, das unter seiner Führung weltberühmt geworden.

Man saß auf der Terrasse des Hotel Américain und trank oude Genever, wozu man sich appetitliche Würfelchen aus holländischem Käse oder einen frischen Hering schmecken ließ. Vielleicht gastierte »Die Pfeffermühle« gerade in Amsterdam, wo sie sich besonderer Beliebtheit erfreute; dann hatten wir wohl Erika und die Giehse an unserem Tisch. Wahrscheinlich war auch Landauer mit von der Partie, der feine, grundanständige und grundgescheite, witzig-melancholische Walter Landauer, der mit Landshoff gemeinsam den Kiepenheuer-Verlag in Berlin geleitet hatte und dem jetzt die deutsche Abteilung des Verlages Allert De Lange zu Amsterdam unterstand. Zwischen seinem Unternehmen und Querido bestand eine Art von freundschaftlicher Rivalität, wobei das Beiwort stärker zu akzentuieren ist als das Substantiv. Die literarische Emigration war produktiv genug, um zwei Verlage mit erstklassigem Material zu versorgen.

Hermann Kesten gehörte zu den Autoren des Allert De Lange-Verlages, für den er übrigens auch als Lektor und Berater tätig war. Er lebte in Paris, kam aber häufig nach Amsterdam, immer anregend, amüsant, von unersättlicher intellektueller Neugierde und echter moralischer Leidenschaft, skeptisch bis zum Zynismus und idealistisch bis zum Naiven, reich an paradoxem Witz und eifervollem Glauben, verklatscht und generös, loyal und boshaft, ein grimmiger Humorist und hochgesinnter Verteidiger der Menschenrechte, ein guter Schüler Voltaires, einer aus der geistigen Familie des großen Heinrich Heine, ein guter Schriftsteller, ein guter Kämpfer und ein guter Freund.

Auch sonst fehlte es nicht an Besuchern; viele der Autoren, die einem der zwei Verlage – Querido oder De Lange – nahestanden, ließen sich gelegentlich in Holland sehen. Ernst Toller kam – eine Persönlichkeit von sehr rührenden und liebenswerten Eigenschaften: hilfsbereit und kameradschaftlich bei aller Ich-Erfülltheit, aufrichtig bei aller Neigung zum Rhetorischen, dankbaren Herzens und oft heiteren Sinnes bei übrigens gefährlich sensitiver psychischer Disposition und einer ominösen Tendenz zum Manisch-Depressiven. Leonhard Frank stellte sich ein, die ernste, schöne, holzgeschnittene Miene zugleich abweisend und gewinnend mit dem sonderbar durchdringenden, eisblauen Blick und dem zerstreuten, fremden, dabei wissend-wohlwollenden Lächeln. Egon Erwin Kisch, »Der Rasende Reporter«, machte zwischen irgendwelchen abenteuerlichen Fahrten für ein paar Tage in Amsterdam Station, vibrierend von nervöser Vitalität, geplagt von nie ganz erfüllten, vielleicht unerfüllbaren Ambitionen, aggressiv, humorvoll, enthusiastisch, ein echter Weltfreund und Weltverbesserer, fast ein Romantiker, mit marxistisch-materialistischen Grundsätzen.

Die Visiten des österreichischen Dichters Joseph Roth brachten mancherlei Aufregung. Er bestand auf exorbitanten Vorschüssen – sei es von Querido, sei es von De Lange, es kam ihm nicht darauf an – und befremdete die Herren von der Presse durch bizarre politische Theorien, die er mit großer Beredsamkeit und Insistenz vertrat. Die Rettung Europas – Joseph Roth zufolge – konnte nur vom Hause Habsburg kommen, eine andere Hoffnung gab es nicht. Säße erst wieder die gesalbte Majestät in der Wiener Hofburg, so würde noch alles gut: das Regiment des »Antichrist« wäre vorüber. Während der Dichter dergleichen auseinandersetzte, konsumierte er erstaunliche Mengen äußerst konzentrierten Alkohols; in meiner Erinnerung waren es meist Getränke von ungewöhnlich dunkler, bräunlichtrüber Färbung und geradezu diabolischer Intensität, die unser Freund aus kleinen Gläsern schlürfte. Glasigen Blicks, aber sonst in würdig-zusammengenommener Haltung, hielt er Cercle in den Kaffeehäusern von Paris, Wien, Amsterdam und anderen Metropolen. Wo er sich auch gerade aufhalten mochte, immer wurde sein Tisch zum Zentrum. Dem Autor des »Hiob« und des »Radetzkymarsch«, der übrigens keineswegs die Rolle des »Meisters« spielte, eignete jene kreisbildende Attraktion, die manchmal zu den natürlichen Eigenschaften und Manifestationen des Talents gehört. Kollegen und Bewunderer umgaben ihn, während er mit einer nicht ganz geheueren, vielleicht verzweifelt scherzhaft gemeinten Begeisterung vom kaiserlichen Gedanken schwärmte und dabei ein dunkles Gläschen nach dem anderen kippte. Die Mischungen, an denen er sich erlabte, sahen wie Medizinen aus, waren aber furchtbar unbekömmlich: Der Dichter Roth beging langsamen Selbstmord, trank sich mählich zu Tod, inmitten der Bewunderer und Kollegen.

Etwas bedenklich stand es auch um einen anderen Poeten, der uns zuweilen in Amsterdam besuchte: Ödön von Horvath, den ungarischen Dramatiker und Romancier. Zwar trank er nicht so viel, sprach auch kaum je vom Kaiser; indessen fehlte es seiner Konversation doch nicht ganz an alarmierenden Zügen. Horvath, eine der merkwürdigsten dichterischen Begabungen seiner Generation, plauderte für sein Leben gern über seltsame Unglücksfälle, groteske Krankheiten und Heimsuchungen aller Art. Auch Gespenster, Hellseher, Wahrträume, Halluzinationen, Ahnungen, das Zweite Gesicht und andere spukhafte Phänomene spielten eine Rolle in seinem Gespräch, welches übrigens durchaus nicht in bangen Flüstertönen, sondern mit jovialer, oft recht lauter Heiterkeit geführt wurde. Horvath hatte nichts vom Hysteriker oder vom pedantisch-düsteren Liebhaber des Okkulten; eher zeichnete er sich durch robuste Gesundheit und Genußfähigkeit aus. Er wußte aber viel von der Angst, von jenem tiefen, lähmenden Unbehagen, welches Freud als ein zentrales Element unserer Kultur erkannt hat und dessen Überhandnehmen vielleicht das eigentlich entscheidende, verhängnisvolle Ereignis der Epoche bedeutet. »Vor den Nazis habe ich keine so sehr große Angst«, stellte Horvath fest. »Es gibt ärgere Dinge, nämlich die, vor denen man Angst hat, ohne zu wissen, warum. Ich fürchte mich zum Beispiel vor der Straße. Straßen können einem übelwollen, können einen vernichten. Straßen machen mir Angst.«

Nach einem Aufenthalt in Amsterdam reiste er nach Paris, wo er mit einer Filmgesellschaft zu verhandeln hatte. Vor der Abfahrt aber ging er noch zu einer Wahrsagerin: von ihr wollte er wissen, ob der einträgliche Filmabschluß zustandekommen würde. Das eingeweihte Frauenzimmer drückte sich vieldeutig aus, nach alter Orakel-Art: »Sie werden, mein Herr, in Paris das größte Abenteuer Ihres Lebens haben!«

Er verhandelte in einem Büro an den Champs Elysées; die Sache schien zu klappen, Horvath glaubte den Kontrakt schon in der Tasche zu haben. So viel Geld! Was für ein Abenteuer! Das größte seines Lebens, ganz wie die Hexe es vorausgesagt … In animierter Stimmung machte er sich auf den Nachhauseweg. Während er die Champs Elysées hinunterschlenderte, gab es einen kleinen Sturm, nicht einen Orkan gerade, aber doch ein ziemlich heftiges Wehen. Die steife Brise riß einen der vielen Zweige von einem der vielen Bäume, die am Rand des schönen Boulevards stehen. Es war der Baum, in dessen Schatten der Dichter gerade schritt. Der Zweig fiel ihm ins Genick – ein schwerer Ast, er traf den Hals wie ein Beil. Der Poet, der keine Angst vor den Nazis hatte, ward von einem friedliebenden Pariser Baum guillotiniert.

Man starb schnell in der Fremde, geschwinder, plötzlicher als daheim. In dieser Chronik wird noch von einer Reihe jäher Todesfälle zu berichten sein, wobei es sich meist um Emigranten handeln wird. Die große Selbstmord- und Herzschlag-Epidemie sollte freilich erst etwas später so recht in Schwung kommen; aber schon während dieser ersten Jahre des Exils wurde eifrig gestorben. Der berühmte Strafverteidiger und ziemlich erfolgreiche Dramatiker Max Alsberg, mit dem ich gut bekannt gewesen war, hatte von der Emigration sehr bald genug: er brachte sich schon 1933 um. Der Nächste war Kurt Tucholsky. Er tat es in Schweden, nicht ohne vorher seiner Verzweiflung Ausdruck gegeben zu haben. Jakob Wassermann starb eines natürlichen Todes, der ihm aber nicht so sehr unwillkommen gewesen sein dürfte. Der gewaltig fleißige alte Geschichtenerzähler und innig bemühte Denker, er hatte sich seinen Weg als Deutscher und Jude gar sauer werden lassen. Gegen Ende erschien seine Miene, die niemals heiter gewesen war, zerfurcht, zerwühlt von Gram und Müdigkeit. Er wollte seine Ruhe.

Mir am schmerzlichsten war der Verlust von zwei Freunden, deren Namen der Öffentlichkeit nicht viel bedeuten mögen, die ich aber in diesen Seiten schon vorgestellt und eingeführt habe; nun muß ich sie abtreten lassen: meine liebe Gert und meinen lieben Wolfgang. Das Mädchen Gert – man erinnert sich? – gehörte zu meinen Intimen, seit den weitentfernten, schon fast mythisch verklärten Bergschul-Tagen. Damals war sie von so drollig-kolossaler Gestalt, daß wir sie »das Elefantenbaby« nannten; später fiel sie vom Fleische, infolge übertrieben reichlichen Morphium-Genusses. Sie zerstörte sich, wohl nicht ganz ohne Absicht oder doch mit einer Unbedenklichkeit, die auf ein gewisses Nachlassen des Willens zum Leben schließen läßt. Das Ende kam in Paris, im Herbst des Jahres 1933.

Wolfgang Hellmert, der mindestens ebenso erhebliche Quantitäten der hold-verderblichen Droge zu sich nahm, wartete noch ein Jährlein, um dann seinerseits, 1934, das Zeitliche zu segnen, gleichfalls in Paris. Vorher hatte der hochbegabte, aber träge und übrigens an seiner Karriere nicht sonderlich interessierte Mensch sich noch zur Niederschrift einiger schöner Einfälle aufgerafft. Die paar Kostbarkeiten, die man in seinem Nachlaß fand – drei oder vier dunkel sanghafte Gedichte, zwei höchst suggestive Prosaphantasien – erschienen in der »Sammlung«. Da weilte der giftsüchtige, todessüchtige junge Poet schon nicht mehr in diesen Gegenden, hatte sich vielmehr aus dem Staube gemacht, wonach ihm ja, wie schon früher angedeutet, immer der stolze Sinn gestanden.

Indessen sind wir noch hier; es mag ein Vorzug sein oder ein Nachteil. Zuletzt befanden wir uns in Amsterdam, auf der Terrasse des Hotel Américain. Es war von Geselligkeit die Rede. Übrigens beschränkte diese sich keineswegs nur auf das deutsche Emigranten-Milieu. Man freundete sich mit Holländern an; am nächsten kamen mir der literarisch-philosophische Essayist Menno ter Braak, ein passionierter und reiner Geist von durchaus originaler Prägung; der Schriftsteller Jef Last, der damals gerade eines seiner besten Bücher, »Zuidersee«, herausbrachte und mit dem ich übrigens die freundschaftliche Bewunderung für André Gide gemeinsam hatte; das Maler-Ehepaar Karin und Ernst van Leyden, Künstler von Geschmack und Fleiß, Kosmopoliten von bemerkenswerter Bildung und intellektueller Angeregtheit, gastfreundlich liebe Menschen zudem, in deren idyllisch gelegenem Landhaus es sich gut rasten und arbeiten ließ.

René Crevel kam aus Paris, vielleicht mit unserer gemeinsamen Freundin Thea (»Mopsa«) Sternheim, oder allein, oder in Begleitung einer eleganten Südamerikanerin, die er sich damals zugelegt hatte. Er schimpfte, scherzte, klagte, betrank sich, las aus neuen Werken vor, war zärtlich, unduldsam, hilfsbereit, manchmal grausam. Er konnte grausam sein, gegen sich selbst wie gegen andere. Die Flamme in seinem weit geöffneten, explosiven Blick kannte weder Kompromiß noch Erbarmen.

Auch aus London gab es wohl Besuch. Mein ältester englischer Freund, Brian Howard, erschien mit gewohntem Temperament und obligatem Gefolge; der junge Romancier Christopher Isherwood, Stilist und Psycholog von außerordentlichen Qualitäten, ließ sich für eine Weile in Amsterdam nieder. Ich hatte ihn schon in Berlin gekannt, aber dort war immer »Betrieb«: man hatte keine Zeit für einander. Im stilleren Amsterdam fehlte es nicht an Muße, sich gründlich mit einem Menschen abzugeben, wenn es lohnend schien. Es lohnte sich im Falle Christophers. Der herzliche Kontakt mit ihm ist mir im Lauf der Jahre immer wertvoller geworden.

Seine Anwesenheit zog andere Briten herbei: Stephen Spender kam, dynamisch, überschwenglich, immer erfüllt von hochfliegenden Ideen und Projekten, der militante Träumer und aktivistische Poet, wie er im Buche steht, zugleich aggressiv und verschwärmt, Dichter-Jüngling mit rigorosen Prinzipien, Ariel, der Karl Marx gelesen hat; und W. H. Auden – Wystan, mein neuer Schwager, der sich um diese Zeit gleichfalls noch in seiner aktivistisch-revolutionären Periode befand. Freilich erschien sein Elan schon damals sehr viel weniger naiv als die rhetorische Sentimentalität oder die pedantische Rechthaberei der meisten links-radikalen Barden. Bei Auden ist alles zusammengesetzter, hintergründiger, stiller, geheimnisvoller, geistiger. Ein Mensch von solcher Komplexität wird nie in einer Gesinnung, einer Stimmung völlig aufgehen. Während er die Kameraden in eine gewisse Richtung führt und auf ein bestimmtes Dogma verpflichtet, macht er für sich selbst ironische Vorbehalte. Es war sonderbar, W. H. im Kreise seiner Freunde und Jünger zu beobachten. Was für ein vertrackter, vieldeutiger junger Meister!

Sehr gern erinnere ich mich auch des Tages, den wir, Landshoff, Isherwood, ich und ein paar andere Freunde, mit E. M. Forster in Zandvoort am Meer verbrachten. Der Autor von »A Passage to India« – ein Roman, der in der englisch-sprechenden Welt allgemein als »a classic« (klassisches Meisterwerk) anerkannt wird – gehört zwar zu einer wesentlich älteren Generation, erfreut sich aber besonderer Popularität bei der intellektuellen Avantgarde, dem Nachwuchs, der zu dieser Zeit vornehmlich von Auden, Spender und Isherwood repräsentiert wurde. Von allen literarischen Berühmtheiten, die ich im Lauf der Jahre mehr oder minder intim kennengelernt habe (und, Gott weiß, es waren ihrer viele! mehr als genug!), ist Forster eine der charmantesten, gerade weil er sich seines Charmes, seiner Persönlichkeitswirkung durchaus nicht bewußt zu sein scheint. Er ist heiter, anspruchslos, von sublimem Takt als Mensch wie als Schriftsteller. Alles bei ihm ist »understatement«, um mich eines unübersetzbaren englischen Ausdrucks zu bedienen; es gibt keine grellen Töne, keine steile oder kokette Geste. In seiner Gesellschaft kann man lustig sein, kann sich freuen. Wir waren lustig und wir freuten uns, an diesem Sommertag zu Zandvoort; es dürfte 1935 gewesen sein. Wir schwammen, und dann machten wir einen Wettlauf am Strand, und dann lagen wir in der Sonne und waren faul und erzählten uns dumme Geschichten, über die wir viel zu lange lachten. Es war ein richtiger Ferientag. Wir dachten nicht an Hitler. Wir vergaßen, daß es Konzentrationslager gab und wahrscheinlich Krieg geben würde und daß die Weltlage alles in allem durchaus nicht zum Lachen war.

Während dieser ersten Phase der Emigration war Amsterdam mein eigentliches Lebenszentrum und »Hauptquartier«, will sagen: ich verbrachte dort etwa fünf Monate des Jahres. Von den übrigen sieben Monaten gehörte der größere Teil Paris und Zürich; dazu kamen kürzere Aufenthalte an der französischen Riviera, Ausflüge nach Wien, Prag, Budapest, wohl auch einmal ein Besuch in London oder ein paar Sommerwochen auf der Insel Mallorca.

In Zürich gab es das Elternhaus und den elterlichen Freundeskreis, außerdem aber auch noch die zahlreichen Bekannten, mit denen man sich im Café Odéon, in der Oprechtschen Buchhandlung oder im Oprechtschen Heim, im Foyer oder in der Kantine des sehr lebendigen und fortschrittlichen Schauspielhauses am Pfauenplatz traf. A. M. Frey, Erzähler von sehr persönlich geprägtem Stil und Geschichtenerfinder von bizarrer, übrigens bemerkenswert ergiebiger Phantasie, gehörte zu diesem Kreis; Else Lasker-Schüler, genannt »Prinz von Theben«, tauchte huschend in unserer Mitte auf, etwas wunderlich schon, manchmal beängstigend, manchmal von irrer Komik, aber in jeder Gebärde, jedem scheu geflüsterten oder zornig geraunten Wort die genuine Dichterin, das personifizierte Talent, ein Talent von solcher Intensität und so durchaus eigener Art, daß es in der Tat fast den Namen des Genies verdient. Ignazio Silone, Schicksalsgenosse aus einem anderen Lande, gesellte sich wohl zu uns. Konrad Heiden berichtete über den Fortschritt seiner Arbeit an der Hitler-Biographie, mit der er sich später einen internationalen Namen machen sollte. Stefan Zweig, urban, klug, genießerisch, »eminent pazifistisch«, immer hilfsbereit, an den Arbeiten und Sorgen anderer warmherzig interessiert, hospitierte an mancherlei Tischen im »Odéon«, im »Terrasse«, im »Select« oder wie die Züricher Cafés sonst noch heißen mochten.

Welch geselliges Exil! Welch animierte Verbannung! Ob man nun am Leidsche Plein zu Amsterdam sein Gläschen »Genever« trinkt oder den obligaten »Kaffee-Kirsch« am Bellevue in Zürich – überall die vertrauten Gesichter! Der Figurenbestand war groß, zu groß, als daß im Rahmen dieser Aufzeichnungen an eine komplette Inventaraufnahme zu denken wäre. Immerhin erscheint es mir wichtig, einen Begriff zu geben, ein ungefähres Bild von dem Reichtum und der Vielfältigkeit der deutschen literarischen Produktion im Ausland.

Mit einer Ausnahme kannte ich sie alle, die deutschen Schriftsteller im Exil. Nur den Ernst Glaeser, der in den ersten Jahren der Emigration vorgab, zu uns zu gehören, kannte ich nicht. Ja, ich darf sagen, daß ich den wendigen Verfasser von »Jahrgang 1902« nie von Angesicht zu Angesicht gesehen habe. Allzu fest stand von vorneherein, daß es ihm bald genug leid tun würde, »aufs falsche Pferd« gesetzt zu haben, und daß er schließlich den Nazis irgendwo eine Frontzeitung redigieren würde. Man war nicht sehr exklusiv, vielleicht nicht exklusiv genug, in den Emigranten-Cafés; aber es gab doch Grenzen.

Ich fühlte mich wohl unter den Schicksalsgenossen, war auch allen gut, selbst denen, die mir später mit überraschender Infamie in den Rücken fielen. Leopold Schwarzschild, zum Beispiel, ich war ihm zugetan, seine putzige kleine Person gefiel mir, ich bewunderte seinen Stil. Wie brillant er schrieb in diesen ersten Jahren des Exils, des Kampfes! Der gerechte Haß – ja, er haßte die Nazis! – beflügelte seine Prosa, machte ihn witzig, einfallsreich, eloquent. Es waren fulminante Anklagen, politische Kommentare und Analysen von außerordentlichem Scharfsinn, die er jede Woche in seiner Zeitschrift, »Das Neue Tagebuch«, erscheinen ließ. Die Schwarzschildsche Revue hatte zu dieser Zeit ohne Frage eine sehr vitale Funktion; kein anderes publizistisches Organ der deutschen Emigration wurde international so ernst genommen; kein anderes tat so viel, die Welt über die wahre Natur und die schaurigen Potentialitäten des Nationalsozialismus aufzuklären. Ich war stolz darauf, zu den Mitarbeitern des »Neuen Tagebuch« zu gehören; es müssen viele Dutzende von Aufsätzen und Glossen gewesen sein, die ich während der Zeit von 1933 bis 1937 oder 38 dort veröffentlichte. Und dann, 1939, gab es in demselben »Neuen Tagebuch« plötzlich die tollsten Dinge über mich zu lesen. Schwarzschild hatte die Stirne, mich öffentlich als einen »alten Sowjet-Agenten« zu bezeichnen. Ich schrieb ihm aus New York: »Sind Sie von Sinnen? Sie wissen doch, daß es nicht stimmt. Dementieren Sie!« Er dachte nicht daran, zu dementieren. Wohin hätte das auch geführt? Ich war nicht der einzige, den er verleumdet hatte. Eine ganze Sondernummer der beliebten Wochenschrift, voll von Richtigstellungen und Widerrufen? Das wäre denn doch peinlich aufgefallen. Lieber bleibt man bei der frechen Lüge … Es war weit gekommen mit dem talentierten Herausgeber des »Neuen Tagebuch«. Wie erklärte sich dieser moralische Abstieg? Einst hatte er sich vom gerechten Haß inspirieren lassen. Der Haß, von dem er nun besessen war, wirkte sich weniger günstig aus. War es vielleicht ungerechter Haß? Jedenfalls verführte er zu skrupelloser Ungerechtigkeit, nicht nur in Schwarzschilds Fall …

Aber ich greife schon wieder vor, eine Unart, die ich mir so selten wie irgend möglich gestatten sollte. Wir schreiben noch nicht 1939, sondern 1935 oder 1936; Schwarzschild hat mich noch nicht als Söldling des Kreml entlarvt, sondern sitzt heiter mit mir beim Déjeuner in einem guten ungarischen Restaurant, nicht weit von seinem Büro in der Rue du Faubourg St. Honoré; in Pariser Emigranten-Kreisen geht es noch relativ friedlich zu, die großen Spaltungen und Zerwürfnisse haben noch nicht begonnen. Georg Bernhard, der brave alte bonhomme – früherer Chefredakteur der braven alten »Voß« – redigiert noch die »Pariser Tageszeitung«, um die es bald einen ausgewachsenen Skandal und fetten Stunk geben wird. Willy Münzenberg ist noch Kommunist und hat soeben das sehr effektvolle »Braunbuch« herausgebracht. Arthur Koestler ist noch Kommunist und noch nicht weltberühmt. Mein begabter Freund Gustav Regler (ich empfehle seinen Roman »Der verlorene Sohn«!) ist noch derartig kommunistisch, daß einem vor so viel militantem Glaubenseifer etwas ängstlich zumute wird. Die Kommunisten Anna Seghers, Johannes R. Becher, Theodor Plievier, Bodo Uhse, Alfred Kantorowicz treffen sich im Schutzverband Emigrierter Deutscher Schriftsteller mit Liberalen wie Hermann Kesten, Walter Hasenclever, Ernst Weiß, Fritz Walter, Walter Mehring, Klaus Mann, oder gar mit romantischen Monarchisten wie Joseph Roth.

Die beiden Zentren der literarischen Emigration in Südfrankreich sind Nizza und Sanary-sur-mer. In Nizza sitzt Heinrich Mann in einer kleinen Wohnung, nicht weit von der prachtvollen Promenade des Anglais, und arbeitet an seinem »Henri Quatre«, zwei starke Bände: erst die »Jugend«, dann die »Vollendung«. Beim Autor aber scheinen Vollendung und zweite Jugend zusammen zu fallen; nicht seit den Tagen der »Kleinen Stadt« und des »Professor Unrat« ist dieser Schriftsteller in solcher Form gewesen. Nun kommt zur schöpferischen Phantasie und zum erzählerischen Elan die Weisheit, der geistig-moralische Ertrag eines langen, bewußt und leidenschaftlich gelebten Lebens. Der »Henry Quatre« wird sein Meisterwerk.

Beim Onkel Heinrich in Nizza gibt es ein gutes Nachtmahl: dafür sorgt seine (zweite) Gattin, Frau Nelly, geborene Kröger, aus Lübeck. Nach dem Essen geht man in eines der großen Cafés an der Place Masséna, wo die emigrierte Literatur fast ebenso reichlich vertreten ist wie in den »Deux Magots« am Boulevard St. Germain.

Wen noch gab es in Nizza zu sehen, mit wem Gedanken, Erfahrungen und Pläne auszutauschen?

René Schickele gehörte zu den Ansässigen. Der Elsässer, der zeit seines Lebens zwischen Deutschland und Frankreich geschwankt hat, ist nun endgültig in die westlich-lateinische Sphäre zurückgekehrt. »Le Retour« wird der Titel des ersten – und übrigens auch letzten – Buches sein, das dieser große deutsche Prosaist auf französisch schreibt.

Valeriu Marcu ist da. Flott und lebemännisch – obgleich natürlich auch er in Geldsorgen steckt –, von etwas balkanhafter Eleganz (er ist in Rumänien geboren), mit weißen Handschuhen, rundem schwarzem Hut, roter Nelke im Knopfloch, wirft er mit provokanten Schnoddrigkeiten und zweideutigen Paradoxen um sich. Als junger Mensch war er mit Lenin befreundet, später spezialisierte er sich auf preußische Generale und schrieb Bücher über große Strategie; im Augenblick hält er es aus irgendwelchen bizarren Gründen mit katholischen Politikern: Marcu ist der einzige Literat meiner Bekanntschaft, der Umgang mit so un-, ja anti-literarischen Herren wie Brüning und Treviranus pflegt.

Wilhelm Speyer, gleich mir nur Gast in dieser Gegend, gehört zur alten Garde, zum vertrauten Kreis, man ist mit seinen Büchern aufgewachsen. »Wie wir einst so glücklich waren …«, »Der Kampf der Tertia«, »Charlott, etwas verrückt« – diese Titel sind für mich beladen mit Reiz und Wehmut vieler Erinnerungen. Jetzt aber spreche ich mit Speyer nicht von der Vergangenheit, sondern über seine neuen Sachen. »Gerade habe ich Ihren ›Hof der schönen Mädchen‹ zu Ende gelesen«, sage ich ihm. »Aber hören Sie mal, das ist ja ausgezeichnet! Sie werden immer besser. Mes félicitations!« – Als Valeriu so zweideutig-brillant schwadronierte, sahen wir Speyern schmunzeln; nun wirkt er verlegen, fast etwas gequält. Es gibt Autoren, die physisch aufzublühen scheinen, wenn man lobend ihrer Produktion gedenkt; andere wieder ziehen sich bei Erwähnung ihrer Arbeit irritiert in sich zusammen, sogar wenn sie spüren müssen, daß die preisenden Worte von Herzen kommen. Speyer gehört zu dieser Kategorie, die mir übrigens immer die sympathischere gewesen ist.

Theodor Wolff lebt hier – noch lebt er. Auch Magnus Hirschfeld ist in der Nähe. Sein Institut für Sexualwissenschaft, über das René Crevel sich einst so unbarmherzig lustig machte, haben die Nazis ausgeraubt; er selbst, der tapfere alte Forscher und Menschenfreund, ward »in effigie« auf öffentlichem Platze zu Berlin verbrannt. Im Fleische aber darf er noch ein Weilchen am Strande des Mittelmeers spazieren, begleitet von einem recht anmutigen chinesischen Famulus. Ich sähe ihn gerne wieder, meinen alten Freund Magnus. Wer weiß, wie lange er uns noch erhalten bleibt! Aber ich fahre morgen früh nach Sanary und sollte also heute abend nicht zu spät ins Bett.

Auf dem Wege nach Sanary mache ich wohl bei Carlo Sforza Station; sein Anwesen liegt nicht weit von Toulon. Ein erfahrener Emigrant, der anti-fascistische Graf! Sein selbstgewähltes Exil dauert nun schon an die zwanzig Jahre; indessen scheint seine Vitalität ebenso ungebrochen wie sein Stolz. Er spricht von der Heimat, auf die er immer vorbereitet ist. Der Duce wird fallen, etwas früher oder etwas später: Sforza bleibt davon überzeugt. Ist die Heimat erst frei, so gibt es dort viel zu tun für den Grafen, der dann unverweilt nach Hause zu reisen gedenkt, mit seiner belgischen Gräfin und dem jungen Sforzino.

Sanary-sur-mer, zwischen Toulon und Marseille gelegen, ist ein malerisches Fischerdorf mit einem Hotel, zwei oder drei Cafés und ein paar schmucken Villen. In der stattlichen Villa haust, wie sich's gehört, Lion Feuchtwanger, ein zäher Arbeiter, dabei immer munter und guter Dinge. Warum sollte er nicht lustig sein? Er glaubt an den Fortschritt und schreitet übrigens seinerseits von einem Erfolg zum anderen. »Die Geschwister Oppenheim«, die er gerade bei Querido hat erscheinen lassen, sind die wirkungsvollste, meistgelesene erzählerische Darstellung der deutschen Kalamität. Jetzt ist er wieder mit seiner großen historischen Komposition, dem »Jüdischen Krieg«, beschäftigt. Schwere Arbeit! Feuchtwanger berichtet, wie sauer er sich's werden läßt, lacht aber beim Erzählen, Überhaupt lacht er gerne, nicht selten über sich selbst. Zum Beispiel kommt es ihm ulkig vor, daß er unlängst fünfzig geworden ist. Ich brachte zu diesem Anlaß in der »Sammlung« eine Reihe von Glückwünschen und preisenden Äußerungen. Die kürzeste kam von Emil Ludwig: »Talent und Charakter!« – sonst nichts. Es genügt. Feuchtwanger hat sich seine schöne Villa verdient.

Aldous Huxley hat ein weniger großes Haus, aber auch hübsch gelegen. Der berühmte Autor von »Point Counter Point«, zweifellos einer der geistvollsten Männer seiner Epoche, ist im persönlichen Umgang eher still, befangen, von jener scheuen Liebenswürdigkeit, hinter der sich Hochmut oder Schüchternheit verbergen können. Sollte Hochmut im Spiele sein, so ist Aldous gewiß eifrig darum bemüht, solche Schwäche in sich zu überwinden. Denn der einst so Frivole, Skeptische, der intellektuelle Jongleur und ausgepichte Artist befindet sich schon im ersten Stadium der religiösen Krise, die ihn im Lauf der nächsten Jahre aufwühlen, verstören, wandeln und verjüngen soll. Der Glaubenslose will gläubig werden; der Agnostiker sucht nach dem Absoluten; der Hirnmensch verlangt nach Erleuchtung und Offenbarung … Von Politik wird dieser geläuterte Huxley nichts mehr wissen wollen: alles Weltliche gilt dem mystischen Asketen als essentiell böse oder doch uneigentlich, trughaft, schemenhaft, chimärisch. Noch aber macht er gewisse Unterschiede zwischen dem Nicht-ganz-Guten und dem Durchaus-Schlechten. An seinem Tisch, wie bei Feuchtwangers drüben, wird auf Hitler gescholten, wobei Mrs. Huxley (Belgierin von Geburt und daher den Deutschen überhaupt nicht gar zu freundlich gesinnt) ein kräftig Wörtlein mitzusprechen hat.

Auch bei Ludwig Marcuse spreche ich im Laufe des Abends noch vor. Sein großes Gesicht unter der Löwenmähne strahlt von Wohlwollen und Intelligenz. Man geht am Strande spazieren; man plaudert über Menschen, Bücher, Probleme, über die Arbeit. Ich will einen Aufsatz von ihm für die »Sammlung«, aber erst muß sein Buch über Ignaz von Loyola abgeschlossen sein, er ist schon beim letzten Kapitel.

Wohin geht es jetzt? Vielleicht nach Barcelona: … Dort findet ein Kongreß des Internationalen PEN-Clubs statt, auf welchem ich die vertriebene deutsche Literatur repräsentieren soll. Eine ehrenvolle Verpflichtung! Ich bin schon unterwegs.

Oder ist es Sommer und man gönnt sich Ferien? In diesem Fall wäre Salzburg mein nächstes Ziel. Dort gibt es Festspiele und Freunde ohne Zahl. Die Walters sind da, Vater »Kuzi«, Mutter »Muzi«, Lotte und Gretel: Wenn Erika und ich mit ihnen beisammen sind, kommen wir uns vor wie zurückversetzt in die Vergangenheit, in die Mauerkircherstraße, die räumlich nahe in so unbetretbarer, unvorstellbarer Ferne zu liegen scheint. Ja, und die Franks, Bruno und Liesl, die das Haus in der versunkenen Straße im versunkenen München nach den Walters bewohnten, sie sind jetzt auch in Salzburg, man trifft sich abends bei ihnen. Es ist reizend bei Franks; die Massary ist mit von der Partie, Liesls berühmte Mama, die große Vedette des vor-hitlerschen Deutschland: grande dame in jeder Geste, Künstlerin in jedem Blick und Lächeln. Übrigens lächelt sie jetzt nur ausnahmsweise. Es ist noch nicht lange her, daß sie den sehr geliebten Gatten verloren hat: Max Pallenberg, der große Charakterspieler und Komiker, ist bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen. Offenbar – es fällt Frau Massary nicht ganz leicht, auch nur jetzt und hier, im Kreise der Intimen, ihren Kummer eine Weile zu vergessen. Aber nun lächelt sie doch, weil Alfred Polgar etwas Hübsches gesagt hat. Er ist der Hausfreund, man liebt und bewundert ihn, genießt die pointierte Poesie seiner wehmütig-scherzhaften, nachlässig-eleganten Rede.

Der andere Hausfreund ist weniger eloquent, aber auf seine kuriose Art ebenso attraktiv: Rudolf K. Kommer aus Czernowitz. Weiß man noch? Er ist der geheimnisvolle Kauz mit dem charmant-mürrischen Vollmondgesicht, unter dessen Führung wir das high life von New York erforschten; es ist nun beinah schon zehn Jahre her. Rudolf K.'s fabelhaft vermögender Gönner, Otto H. Kahn, der moderne Medici mit silbernem Schnurrbart und Wallstreet-»office«, ist längst den Weg allen Fleisches gegangen; auch die Reichen sind sterblich. Aber Max Reinhardt lebt noch und läßt sich von Kommer seine Feste auf Schloß Leopoldskron arrangieren. Wir machen einige mit; man tafelt – bei Kerzenbeleuchtung, natürlich! – mit Erzbischöfen, Lords und Ölmagnaten; Frau Helene Thimig-Reinhardt ist eine hostess von gotisch stilisiertem Liebreiz und angestrengt lächelnder Befangenheit; und Max … Ach, unser großer, einzigartiger, sehr liebenswerter Max Reinhardt! Nun, da ich dies niederschreibe, tut der Gedanke mir weh, daß er nicht mehr unter uns ist. Wie begabt er war! Und was für ein netter Mensch! Er konnte so gut zuhören – eine seltene Tugend! –; er lachte so gern, war so aufnahmefähig, so hellhörig, neugierig, so naiv im Grunde bei aller Geriebenheit. Eine Natur! Goethe, der sich auf dergleichen verstand, hätte seine Freude an ihm gehabt. Wir haben dies gekannt: den sinnlich-klugen Blick, der die Welt mit genießerischer Gastlichkeit in sich aufnahm; das zugleich herzliche und zerstreute Lächeln, die gaumig sonore Stimme, die Autorität, den undefinierbaren Magnetismus der genuinen Persönlichkeit. Die echte Persönlichkeit: der Name Max Reinhardts assoziiert sich mir mit diesem Begriff; viel mehr, als etwa der Gerhart Hauptmanns, an dem mich das Fassadenhafte immer gestört hat und hinter dessen Charme ich ohne die Hilfe Peeperkorns vielleicht nie gekommen wäre. Der Dichter Hauptmann posierte; der Theatermann Reinhardt war echt, faszinierend, erheiternd, unwiderstehlich echt: ob man ihn nun auf einer Probe im Deutschen Theater beobachtete oder inmitten seiner barock prunkvollen, festlich belebten Salzburger Häuslichkeit.

»Die Pfeffermühle« veranstaltete eine Gastvorstellung auf Schloß Leopoldskron; Erika mußte Wert darauf legen, auch von Amerikanern gesehen zu werden. Vielleicht hatte ihr Kabarett Chancen in der neuen Welt. Denn was die alte betraf, so wurde dort der Boden nachgerade beängstigend heiß. In der vorsichtigen Schweiz durfte das anstößige Ensemble sich kaum noch blicken lassen; auch in Holland und in der bedrängten Tschechoslowakei gab es schon Schwierigkeiten. Wien kam erst recht nicht in Frage; das reaktionär-klerikale Schuschnigg-Regime hatte keinerlei Sympathie für antifascistische Kleinkunstbühnen. Übrigens auch nicht für antifascistische Zeitschriften: Meine »Sammlung« war im ultramontanen Österreich ebenso unerwünscht wie Erikas »Pfeffermühle«.

Immerhin war Wien noch nicht unbetretbares Terrain, gehörte noch nicht zum Hoheitsgebiet des Teufels; man konnte sich dort noch aufhalten, eine Möglichkeit, von der ich zuweilen Gebrauch machte, trotz inneren Widerständen. Nach Italien ging ich nicht, weil Mussolini mir beinah ebenso greulich war wie sein früherer Schüler und zukünftiger Meister in Deutschland. In Wien hielt ich es gelegentlich ein paar Tage aus; die Atmosphäre dort war stickig, aber noch nicht lebensgefährlich. Übrigens fehlte es nicht an Attraktionen menschlicher und künstlerischer Art. Die Oper und die Konzerte unter Bruno Walter, das Theater unter Max Reinhardt und anderen Regisseuren von Rang, nicht zu reden von der großen Zahl kompetenter oder selbst vorzüglicher Schauspieler, die das deutsche Regime aus Berlin vertrieben hatte und die nun im relativ toleranten Österreich wirkten: es waren Genüsse, um deretwillen ein Ausflug ins Stickige, aber Noch-nicht-Lebensgefährliche sich wohl lohnen mochte.

Aus Berlin hatten sich einige politisch zahme Emigranten eingefunden: »Die Ratten betreten das sinkende Schiff«, wie der geniale, übrigens in vieler Hinsicht peinliche und sogar absurde Karl Kraus mit brechender Stimme scherzte. Der einfallreiche Herausgeber der »Fackel«, dem zu Hitler nichts einfiel, hatte nicht mehr viel Atem übrig. Es langte gerade noch für ein paar grimmige Witzworte – nicht gegen die Nazis, sondern gegen die Emigranten! – dann ein Achselzucken, eine verzichtend-verächtliche Gebärde (»Nachher war's einerlei …«) und der alte Satiriker und Prophet, der Clown und Moralist, der Querulant und Kämpfer, der Dichter Karl Kraus durfte endlich die Augen schließen.

Zu seinem Ärger lebten noch einige von denen, die er mit so übertrieben giftigem Eifer verfolgt und gezüchtigt hatte. Manche florierten sogar unter eben dem Schuschnigg-Regime, welches von dem früher so radikalen Karl Kraus ausdrücklich sanktioniert worden war. Der katholische Bundeskanzler, ohne sich um die etwas paradoxen Huldigungen des »Fackel-Kraus« viel zu kümmern, hielt es lieber mit Werfel, der im damaligen Wien die Rolle des quasi-offiziellen »poeta laureatus« spielte.

Kraus war für Schuschnigg, aber gegen Werfel, während ich, gerade umgekehrt, für Werfel gegen Schuschnigg bin. Schuschnigg machte schlechte Politik; Werfel machte schöne Gedichte. (Auch in seiner Epik gibt es eine Fülle bedeutender und liebenswerter Dinge; aber am bedeutendsten und am liebenswertesten scheint er mir als Lyriker.) Seine Religiosität, dieses zwischen Judentum und Katholizismus sonderbar schwankende, experimentierende Glaubenspathos war echt, ohne jede Frage: ebenso legitim, ebenso spontan und authentisch wie die tiefe, überschwengliche Musikalität, von der sein ganzes Wesen durchtränkt und getragen schien.

Man muß Werfel beim Hören von Musik gesehen haben, um ihn ganz zu kennen. Eine Verdi-Melodie – und er schien verzaubert. Welch strahlender Blick! Welch kennerisch-ergriffenes Lächeln! Welch innige Konzentration im Lauschen und Genießen! Der amerikanische Verleger Ben Hübsch erzählt gern von einem Abendessen, bei dem Franz Werfel und James Joyce seine Gäste waren. Die beiden Dichter hatten sich nicht viel zu sagen, aber mancherlei vorzusingen. Über den Tisch hinweg erinnerten sie einander an geliebte Arien, Chöre und Duette, diskret summend zunächst; dann aber, zum Erstaunen der übrigen Gäste im Restaurant, mit festlich erhobenen Stimmen. Wunderlicher Gedanken- oder vielmehr Gefühlsaustausch zweier verwandter Seelen! Geselligen Szenen ähnlicher Art habe ich in Werfels Wiener Heim mit heiterer Verblüffung beigewohnt. Wenn etwa Bruno Walter dort zu Gaste war, wie da geträllert wurde! Der eine saß am Klavier, der andere sang, beide waren glücklich. Da ihr »Franzl« im siebenten Himmel schien, wurde auch Frau Alma heiter.

Eine imposante Erscheinung im stärksten Sinn des Wortes, Frau Alma Mahler-Werfel, Witwe des großen Komponisten, Gattin des großen Dichters, mit dem ganzen Ruhm Österreichs verwandt, befreundet, verschwägert oder irgendwie liiert. Frauen solchen Formats kommen in unserer Zeit nur noch selten vor; diese Vitalität und Dynamik, diese Verbindung von künstlerischer Sensibilität und gesellschaftlicher Ambition scheinen aus einer anderen, glanzvolleren Epoche: Man denkt an Cosima, an die intellektuellen Musen der deutschen Romantik, an die stolzen und brillanten Damen des französischen grand siècle. Frau Alma, die Schuschnigg und seinem Kreise nahestand, machte den Salon, wo tout Vienne sich traf: Regierung, Kirche, Diplomatie, Literatur, Musik, Theater – es war alles da. Die Hausfrau, hochgewachsen, sorgfältig geschmückt, von immer noch schöner Miene und Gestalt, bewegte sich triumphierend vom päpstlichen Nuntius zu Richard Strauß oder Arnold Schönberg, vom Minister zum Heldentenor, vom stilvoll vertrottelten alten Aristokraten zum vielversprechenden jungen Dichter. In einer Ecke des Boudoirs wurde im Flüsterton über die Besetzung eines hohen Regierungsposten verhandelt, während man sich in einer anderen Gruppe über die Besetzung einer neuen Komödie am Burgtheater schlüssig ward.

Im Wien der Schuschnigg-Zeit gab es keinen Arthur Schnitzler, keinen Peter Altenberg, keinen Hugo von Hofmannsthal; aber es fehlte doch nicht an literarischen Figuren von Talent und Originalität. Der liebste unter ihnen war mir Franz Csokor, eine starke dichterische Begabung, ein Mensch von echter Wärme, Generosität und Lauterkeit.

Der zweitliebste, Karl Tschuppik, lebt nicht mehr. Ihn suchte ich immer gleich im »Bristol« auf, wo er ständig logierte, wahrscheinlich ohne jemals zu bezahlen. Zwischen ihm und dem Portier des fashionablen Hotels bestand ein Einverständnis, dessen Geheimnis ich nur zu gern ergründet hätte. Indessen wurde von beiden Partnern vollkommene Diskretion gewahrt. Der Portier nannte den literarischen Dauermieter »Herr Baron« und verneigte sich tief vor ihm, während Tschuppik seinerseits dem Angestellten fast übernatürliche Kräfte zuzutrauen schien. Ob es sich um große Politik oder metaphysische Probleme handelte, Tschuppik verließ sich auf das Urteil des eingeweihten, allwissenden Portiers. Respekt und Zärtlichkeit, Ironie und Angst mischten sich in dem Lächeln, mit dem der Dichter seines Orakels und Protektors Erwähnung tat. Tschuppik war ein Dichter, einer aus der geistigen Familie des wunderbaren Peter Altenberg. Um ihn war poetische Luft. Die Poesie einer Stadt war in seinem humorvoll-melancholischen Blick, seiner nachlässigen Gebärde, seinem versonnenen Spott, der Kadenz seiner zugleich schlampigen und beschwingten Rede.

Auch bei Egon Friedell gab es etwas von diesem spezifischen Reiz, diese bestimmte Nuance der Wehmut und des Witzes. Der Wiener Charme ist keine bloße Erfindung der Operette und des Feuilletons; er existiert, hat Wirklichkeit und Wirkung, selbst dort, wo er sich in verzerrter, denaturierter Form manifestiert. Erinnert man sich noch an Anton Kuh? Sein Name fällt mir ein, da von verzerrtem Wiener Charme die Rede ist. In seinem Falle ging die Verzerrung bis zur krassen Karikatur; in Kuhs fiebrig geistreichen Monologen, seiner äffischen Bosheit, seinem nervösen Elan schien der Wiener Kaffeehaus-Literat sich selbst zu parodieren, den eigenen Stil bewußt ins Makaber-Fratzenhafte zu übertreiben.

Der Stich ins Makabre war charakteristisch für das Wien dieser Epoche. Es ging gemütlich zu, die Kultur florierte, in den Cafés und Salons herrschte das munterste Treiben; aber hinter der gefälligen Fassade bereitete sich die Katastrophe vor. Die Wiener Freunde, die uns heute noch in ihrem gepflegten Heim empfingen, konnten morgen, wie wir, Flüchtlinge und Unbehauste sein. Dies bemerkenswert gute Mittagessen bei Siegfried Trebitsch, dieser Kaffeeklatsch bei Heinrich Eduard Jacob, dies gesprächige Nachtmahl bei Felix Salten, es war vielleicht alles zum letzten Male: in ein paar Monaten befanden die liebenswürdigen Gastgeber sich vielleicht schon im Konzentrationslager oder im Exil …

Wie lange ließ sie sich noch halten, diese prekäre, schon nicht mehr ganz wirkliche österreichische Unabhängigkeit? Würde die katholisch-reaktionäre Regierung auf die Dauer imstande sein, ihren Zweifrontenkrieg gegen Nazis und Sozialisten durchzuführen? Sollte Schuschnigg sich auf Mussolinis Protektion verlassen? Und wenn der »Duce« seinen Schützling fallen ließe oder Hitler trotz Mussolinis Opposition den Sprung nach Österreich wagte, würden die Westmächte mobilisieren? »Mourir pour Vienne …?« Lohnte es sich noch? War das Wien, wie es unter Dollfuß und Schuschnigg geworden war, einen Weltkrieg wert?

Die Tschechoslowakei Masaryks und Beneschs hätte verdient, daß man um ihretwillen das Äußerste riskierte. Es war ein gutes Land, eine gute Demokratie, die Tschechoslowakei Masaryks und Beneschs. Ich bin stolz darauf, ein Bürger dieser freien und tapferen Republik gewesen zu sein, sei es auch nur vorübergehend und mehr dem Namen nach. Aber obwohl ich mich nicht in der Tschechoslowakei niederließ (wo hätte ich mich jemals wirklich niedergelassen?), empfand ich meine Zugehörigkeit gerade zu dieser Nation doch als richtig und legitim. Von allen europäischen Völkern waren es die Tschechen, die damals am mutigsten und am klarsten eben die Ideale und Überlieferungen repräsentierten, die in Deutschland mit Füßen getreten wurden und die »der Westen« aus mißverstandener Friedensliebe oder aus kurzsichtiger Angst vorm Kommunismus zu verraten im Begriffe stand.

Die Reise nach der Tschechoslowakei gehörte zu meinem regelmäßigen Programm; jedes Jahr hielt ich mich mindestens ein paar Wochen dort auf. Ich hielt Vorträge in Prag, Brnó (Brünn), Bratislava (Preßburg) und anderen Städten, auf deutsch natürlich: das Tschechische habe ich, zu meiner Schande, nie erlernt. Die deutsche Sprache (nicht zu verwechseln mit dem Nazi-Jargon!) war zu dieser Zeit dort keineswegs verpönt; es bedurfte mehrerer Jahre brauner Okkupation, um das Idiom Goethes und Hölderlins verhaßt zu machen. Bis zur Krise von 1938 gab es in der Tschechoslowakei ein sehr angeregtes und fruchtbares deutsches Kulturleben, von der Regierung nicht nur toleriert, sondern sogar gefördert.

Es ist wahr, daß dieses deutsche Kulturleben stark unter jüdischem Einfluß stand, besonders in Prag, wo die intellektuelle Elite deutscher Zunge sich fast ausschließlich aus »nicht-arischen« Elementen zusammensetzte. Ohne finanzielle Unterstützung der jüdischen Geld-Aristokratie hätte das deutsche Theater, hätten deutsche Musik und Literatur nicht bestehen können; ohne den Beitrag jüdischer Talente verlor der deutsch-pragerische Kunstbetrieb seinen sehr einmaligen, sehr attraktiven Charakter. Was für Namen kommen uns zuerst in den Sinn, wenn wir an die große deutsch-sprachige Literatur der böhmischen Metropole denken? Franz Kafka, Franz Werfel, Egon Erwin Kisch, Max Brod … Keiner von diesen hätte nach dem Nürnberger Rassegesetz publizieren dürfen.

Die kleine, agile Gestalt Max Brods bleibt in meiner Erinnerung ein Wahrzeichen des literarischen Prag dieser Epoche. Brod war der berühmteste von den deutsch-sprachigen Autoren, die damals noch in der Moldau-Stadt lebten; er war auch der aktivste, der gastlichste, der kameradschaftlichste. Seine ganze Freude war es, junge Begabung zu entdecken, zu leiten, zu propagieren. Er hatte Kafka entdeckt, dessen Ruhm um 1935 noch nicht so modisch laut war wie heutzutage, da man sich beinahe schämen muß, einen Dichter zu lieben, der von so vielen Snobs und Schmöcken gepriesen (wenn auch nicht immer gelesen oder gar verstanden) wird. Es gibt Dinge von Brod, die ich bewundere, den Reübeni-Roman, zum Beispiel, und »Tycho Brahes Weg zu Gott«, aber der erste Gedanke, der sich mir mit seinem Namen assoziiert, ist doch immer der an Kafka. Ohne den liebevoll klugen Freund und getreuen Nachlaßverwalter wüßten wir vielleicht nichts vom »Schloß« und vom »Prozeß«, diesen unheimlich zwangshaften und zwingenden Visionen, in denen ein individuelles Schicksal, eine tiefpersönliche Problematik sich zum allgemeingültigen, universalen Mythos verdichtet und objektiviert.

Wie Brods Miene sich erhellte, was für Lichter aufgingen in seinem Blick, wenn die Rede auf Kafka kam! »Dem Lehrer, welcher immer lernt – Hat Gott die Augen schön besternt …« Die zwei Zeilen, die sich mir eingeprägt haben, sind aus einem Huldigungsgedicht für Max Brod, geschrieben (ich weiß nicht mehr, zu welchem Anlaß) von einem seiner Schüler und Protegés, Heinz Politzer. Der junge Dichter, den ich damals in Prag manchmal sah und von dem auch in meiner »Sammlung« einiges erschien, hatte einen sehr eigenen Ton, was unter Lyrikern immer seltener wird. Die meisten schreiben »à la Stefan George«, »à la Rilke«, »à la Else Lasker-Schüler«. Politzer brachte gewisse Ahnungen und Gefühle, die in unserer Luft, der Prager Luft, der Emigrations-Luft lagen, auf sehr präzise, liedhaft schlichte Formeln. Wenn ich jetzt seine Verse – die besten seiner Verse – wiederlese, wird mir die Atmosphäre jener unruhigen, zugleich traurigen und hochgestimmten Tage aufs neue gegenwärtig, so wie man zuweilen beim Hören gewisser Melodien sich auf traumhafte Art in vergangene Situationen zurückversetzt findet.

Neben den Einheimischen machte sich die literarische Emigration bemerkbar. Hermann Budzislawsky redigierte »Die Neue Weltbühne«, zu deren gelegentlichen Mitarbeitern ich zählte. Ich schrieb für die anti-stalinistischen »Europäischen Hefte« (Herausgeber Willi Schlamm); aber ich hatte auch Beiträge in der literarischen Monatsschrift »Das Wort«, die von dem streng kommunistisch eingestellten Wieland-Herzfelde im Malik-Verlag zu Prag herausgegeben wurde. Ich war mit dem sowjetfeindlichen Kurt Hiller befreundet, bin es übrigens noch. Seine leidenschaftliche Intelligenz und sein echter moralischer Eifer machen ihn mir sympathisch, auch wenn ich seine Meinungen nicht immer teilen kann. Ich stand aber auch auf herzlichem Fuße mit dem bayerischen Volksdichter Oskar Maria Graf, dem deutsch-böhmischen Kritiker und Romancier F. C. Weiskopf, dem Philosophen Ernst Bloch, Schriftsteller, die zum Kreis um den Malik-Verlag gehörten und dem orthodoxen Marxismus nahestanden.

Ich bin kein Kommunist und bin nie einer gewesen. Ich bin auch kein Marxist. Ich glaube, daß die orthodoxen Marxisten viele Fehler auf vielen Gebieten machen, moralische, philosophische, psychologische und politische Fehler. Aber ich glaube nicht, daß der orthodoxe Marxismus die große Gefahr des Jahrhunderts repräsentiert. Die große Gefahr des Jahrhunderts ist der Fascismus, der die leichterregbaren Massen mit dem Gift rassistischen und nationalistischen Größenwahns infiziert. Heiligt der Zweck die Mittel? Der absolute Moralist wird diese Frage verneinen und also die Diktatur des Proletariats ablehnen müssen. Aber doch nicht ebenso unbedingt wie die fascistische Diktatur, die nicht nur in ihren Mitteln, sondern auch in ihren Zwecken, in ihrem Programm, kurz, in ihrem tiefsten Wesen böse ist! Der Fascismus ist die Gefahr – heute, wie zur Zeit von Hitlers ersten Triumphen. Der Fascismus hat seine ruchlose Dynamik, sein unersättliches Expansionsbedürfnis bewiesen, und könnte es wieder tun. Nachdem der dynamisch-expansive Hitler in Deutschland zur Macht gekommen war, mußte jeder realistische Antifascist wissen, daß es nur noch eine Möglichkeit gab, den Frieden zu retten: die Zusammenarbeit mit Rußland. Wenn der demokratische Westen und der sozialistische Osten sich verständigten, hatte der Angreifer in der Mitte keine Chance mehr. Ein kluger Politiker wie der französische Außenminister Louis Barthou wußte dies, weshalb er auf die Allianz zwischen seinem Lande und der Sowjetunion hinarbeitete. Die Fascisten räumten ihn aus dem Wege …

Ich setze diese Bemerkungen hierher, um die Motive verständlich zu machen, die mich im Juli des Jahres 1934 dazu vermochten, eine Einladung nach Moskau anzunehmen. Ich wurde zur Teilnahme am Ersten Kongreß der Sowjet-Schriftsteller aufgefordert, obwohl ich kein Kommunist war, oder gerade deshalb: Die offizielle »Linie« war damals für die »Volksfront«, den »front commun«, und die Anwesenheit von »links-bürgerlichen« Elementen (zu denen man mich zählte) mußte den Arrangeuren des Kongresses also willkommen sein.

Es war eine eindrucksvolle Veranstaltung, eine Demonstration großen Stils, fast ein Volksfest, dies pompös aufgezogene Gala-Treffen der Sowjet-Dichter und Sowjet-Kritiker. Nicht nur die Regie imponierte; sie wäre kaum so wirkungsvoll gewesen ohne den Glauben, die Begeisterung bei den Rednern und Hörern. Offenbar, die Literatur war in diesem Lande eine Angelegenheit, für die nicht nur ein paar tausend Eingeweihte sich interessierten; die Massen nahmen Anteil an den Leistungen und Problemen der Schriftsteller. Die Fabrikarbeiter, Bauern, Soldaten und Matrosen, die auf jeder Sitzung in großer Anzahl vertreten waren, zeigten sich lernbegierig und enthusiastisch, dabei anspruchsvoll. Sie mischten sich in die Diskussion, stellten Fragen, brachten Beschwerden vor. Warum gab es noch keinen Roman über die Metallindustrie? Woran lag es, daß nicht mehr Lustspiele geschrieben wurden, über die man wirklich lachen konnte? Eine Bäuerin bestellte sich vaterländische Balladen für ihre Kinder. Eine junge Trambahnschaffnerin wollte mehr über die Liebe lesen, »wie sie wirklich ist«.

Der Schriftsteller in der Sowjetunion (will sagen: der offiziell akzeptierte, politisch »einwandfreie« Schriftsteller!) ist in viel stärkerem Grade »nationale Figur« als sein Kollege in irgendeinem westlichen Lande. Es war rührend und ermutigend, Zeuge der spontanen Begeisterung zu sein, mit der Maxim Gorki von den Massen begrüßt und gefeiert wurde. Kein Politiker, kein General, kein Athlet oder Mime, niemand, außer Väterchen Stalin selbst, war so populär wie der Mann, der »Nachtasyl« und »Die Mutter« geschrieben hatte. Er war ein Volksheld; seine Gegenwart bildete die große Attraktion, verlieh dem Kongreß Glanz und Würde.

Nicht, als ob er der effektvollste Redner oder die imposanteste Erscheinung gewesen wäre! Der dänische Delegierte, zum Beispiel, Martin Andersen-Nexö, Verfasser des beliebten Romans »Pelle, der Eroberer«, sah viel dekorativer aus mit seiner hochstirnigen, vom Weißhaar schön gerahmten Goethe-Physiognomie. (Oder war es eher Gerhart Hauptmann, dem er ähnlich sah?) Was rhetorische Brillanz betrifft, so konnte niemand mit den Franzosen Louis Aragon und André Malraux konkurrieren: sie donnerten mit dem Pathos eines Danton, scherzten mit dem Witz eines Voltaire, parlierten mit der Eleganz eines Anatole France, während Gorki, Präsident des Kongresses, mit mühsam pfeifendem Fistelstimmchen patriarchalische Plattitüden von sich gab. Was der kosmopolitisch versierte, geistreich wendige – auch etwas windige – Ilja Ehrenburg zu sagen hatte, war viel gescheiter und amüsanter. Der nachdenkliche und noble Dichter Boris Pasternak, der vollblütige Erzähler Alexei Tolstoi, der pedantische, aber hochintelligente und eifervoll bemühte Bucharin, selbst Karl Radek, dieser rotbärtige Intrigant und intellektuelle Jongleur, sie alle trugen mehr zur Klärung literarischer und kulturpolitischer Fragen bei, waren in ihren Äußerungen substantieller und origineller als der müde, schon todesnahe, in seiner Glorie erstarrte Ehrengreis. Indessen war es Gorki, dem die Menge zujubelte. Wenn er sich von seinem Präsidentensitz erhob, gab es rauschende Ovationen; er öffnete den Mund, und es ward stille im Saal. In andachtsvollem Schweigen lauschten die Poeten des Proletariats und die Poesie-beflissenen Proletarier auf das Patriarchengezirp.

Ein solenner Empfang in Gorkis Haus bildete den Höhepunkt und Abschluß des Kongresses. Der Dichter, der die extreme Armut, das düsterste Elend gekannt und geschildert hatte, residierte in fürstlichem Luxus; die Damen seiner Familie empfingen uns in Pariser Toiletten; das Mahl an seinem Tisch war von asiatischer Üppigkeit. Vor dem Essen beantwortete der Hausherr Fragen, die von den ausländischen Delegierten an ihn gerichtet wurden. Wir hörten einiges über Stellung und Aufgabe des Schriftstellers im sozialistischen Staat, Definitionen und Postulate von nicht eben verblüffender Originalität. Dann gab es sehr viel Wodka und Kaviar. Genosse Molotow, Genosse Kaganowitsch und Genosse Marschall Woroschilow repräsentierten die Obrigkeit. Generalissimus Stalin, dessen Erscheinen uns versprochen worden war, ließ sich entschuldigen.

Ich blieb etwa vierzehn Tage im Hotel Metropol zu Moskau und sah so viel oder so wenig vom sowjetrussischen Leben, wie unsere Führer uns sehen ließen. Wir besuchten Theater, Sanatorien, Bildergalerien, den berühmten Moskauer »Kulturpark«, ein paar Fabriken, Künstlerklubs, Warenhäuser, Zeitungsredaktionen und die Büros des Staatsverlags. Man versah uns reichlich mit Zigaretten, alkoholischen Getränken und Propagandamaterial. Das Essen war gut. Nach dem Dessert gab es weltanschauliche Diskussionen. Am deutschsprechenden Tisch ging es besonders angeregt zu. Theodor Plievier, Gustav Regler, Andersen-Nexö vertraten das marxistisch-leninistisch-stalinistische Dogma in seiner reinsten und starrsten Form. Ernst Toller, in dessen revolutionärem Pathos das emotionell-humanitäre Element bestimmend war, neigte zu Abweichungen, die von den Strenggläubigen als »kleinbürgerlich-sentimental« gegeißelt wurden. Der relativ tolerante Johannes R. Becher und der weltmännisch humorvolle Egon Erwin Kisch vermittelten zwischen den Orthodoxen und den »ideologisch Unzuverlässigen«, zu denen auch ich gerechnet werden mußte.

Vieles, was ich in Moskau und während eines kurzen Aufenthaltes in Leningrad zu sehen bekam, war geeignet, meinen Respekt vor dem Sowjet-Regime zu erhöhen; gleichzeitig fand ich aber auch meine Einwände bestätigt, meine Bedenken verstärkt. Was mich am meisten beunruhigte und abstieß, war nicht der Führer- und Heroenkult, nicht der aufdringliche Militarismus (sogar bei den Sitzungen des Literatur-Kongresses hatte es nicht an militärischen Paraden gefehlt!), nicht die naive nationalistische Selbstgefälligkeit: All diese störenden Züge und Tendenzen ließen sich als Kinderkrankheiten eines jungen Staatswesens, als unvermeidliche Reaktionen gegen die Feindseligkeit der kapitalistischen Welt verstehen und, bis zum gewissen Grad, entschuldigen. Schwerer fiel es mir, mich mit einer amtlich vorgeschriebenen Philosophie abzufinden, die meinem Gefühl nicht zusagt und meinen Verstand unbefriedigt läßt. Eine Weltanschauung, der jede Ahnung vom Metaphysischen fehlt, ein geistiges System, in dem es keinen Platz für die Kategorie des Transzendentalen gibt, bleibt mir Entscheidendes schuldig. Ich werde sie nie als mein absolutes Credo akzeptieren können. Genau dies aber fordert der autoritäre und totalitäre kommunistische Staat vom Intellektuellen: daß er die Marxsche Lehre mit all ihren Prämissen und Konsequenzen als absolut gültig und richtunggebend, als das alleinseligmachende Dogma, als Offenbarung und Evangelium anerkenne und befolge. Es genügt nicht, die Sozialisierung der Produktionsmittel als nützliche oder sogar notwendige Maßnahme zu wünschen und zu propagieren; der Intellektuelle im kommunistischen Staat soll glauben, daß mit eben dieser nützlichen oder sogar notwendigen Maßnahme das Problem des Menschen gelöst, die Tragik unseres irdischen Seins behoben sei. Die Kategorie des Tragischen ist dem orthodoxen Marxismus ebenso anstößig, ebenso verdächtig und verächtlich wie die Kategorie des Jenseitigen, die Sphäre des Geheimnisvollen. Die unleugbare Tatsache, daß der religiöse Impuls, die metaphysische Sehnsucht des Menschenherzen von der herrschenden Klasse jahrhundertelang zynisch mißbraucht worden ist und noch heute zynisch ausgenutzt wird, bringt den orthodoxen Marxisten dazu, diesen Impuls, diese Sehnsucht schlechthin zu leugnen oder als kontra-revolutionären Trick zu verdammen. Ist die Beschäftigung mit dem Mysterium notwendiger- und unvermeidlicherweise Sabotage am sozialen Fortschritt? Ich glaube nicht. Mir scheint, daß man den sozialen Fortschritt wollen und ihm tätig dienen kann, auch wenn einem alles Vergängliche nur als Gleichnis gilt und man unser diesseitiges Drama nur als Episode in einem größeren, unfaßbar großen, jenseitigen Zusammenhang begreift. Man kann, sollte ich meinen, für die Abschaffung oder Linderung der vermeidbaren menschlichen Leiden sein, und doch die Situation des Menschen im All und auf dieser Erde als essentiell tragisch, das menschliche Problem als wesentlich unlösbar, die Qual der individuellen Existenz als letztlich unheilbar empfinden. Ja, es sollte einem reifen und freien Geist möglich sein, Aberglaube und Obskurantismus zu bekämpfen, die Aufklärung zu fördern und sich doch das fromme Schaudern vorm Geheimnis zu bewahren. Die Liebe bleibt Geheimnis, auch im sozialistischen Staat; und was im Tod uns entfernt, auch Marx und Lenin haben es nicht entschleiert. Die Schleier bleiben, die Rätsel sind immer da, das Phänomen des Lebens enthüllt uns nicht seinen Sinn, wir wissen nichts. Wir können die Landwirtschaft kollektivieren und die Saboteure des Fortschritts einsperren und die klassenlose Gesellschaft anstreben; aber wir wissen nicht, warum wir hier sind, woher wir kommen und wohin wir gehen. Aber wir wissen nichts.

Hätte ich dergleichen auf dem Kongreß der Sowjet-Schriftsteller zu Moskau vorgebracht, es wäre zum peinlichsten Skandal gekommen. Es lag mir indessen fern, solcherart den Provokateur zu spielen und die Harmonie der festlichen Zusammenkunft zu gefährden. Wozu auch? Die strenggläubigen Kollegen, die dem Kongreß vorstanden und die mich zur Teilnahme aufgefordert hatten, waren sich ja wohl im klaren darüber, daß ich nicht zu ihrer Kirche gehörte. Trotzdem wollten sie mich dabeihaben, und ich bereute es nicht, ihrer Einladung gefolgt zu sein. Der Besuch in Moskau war mir wichtig und aufschlußreich als Berührung mit einer fremden aber nicht feindlichen Sphäre. Der Kulturbegriff des orthodoxen Marxismus war nicht der meine; aber er war dem meinen doch nicht so diametral entgegengesetzt wie die fascistische Barbarei. Im Kampf gegen den blutrünstig atavistischen Irrationalismus der Hitler und Rosenberg schien mir der militante Rationalismus, die »wissenschaftliche« Fortschrittsgläubigkeit der stalinistischen Schriftsteller ein akzeptabler oder selbst unentbehrlicher Bundesgenosse.

Ich glaubte an die Möglichkeit und Wünschbarkeit einer Zusammenarbeit zwischen Osten und Westen, zwischen Demokratie und Sozialismus – im Dienste, zum Schutz, zur Rettung des unteilbaren Friedens, der unteilbaren, von einem gemeinsamen Feinde bedrohten Zivilisation. Ich glaubte an die Möglichkeit und Wünschbarkeit der Einheitsfront aller progressiven, antifascistischen Intellektuellen.

 

Der erste Roman, den ich in der Verbannung schrieb, »Flucht in den Norden« (1934), handelt von einem jungen Mädchen deutsch-bürgerlicher Herkunft, die den deutschen Fascismus haßt und im illegalen Kampf gegen Hitler mit dem Kommunismus in Berührung kommt. Sie muß die Heimat verlassen; der Zufall verschlägt sie nach Finnland, wo sie auf dem Landsitz einer gastfreundlichen Familie vorläufige Unterkunft findet. Hier entwickelt sich das emotionelle Dilemma, die moralische Krise. Der junge Gutsherr, an den unsere Heldin ihr Herz verliert, ist reich begabt mit attraktiven Eigenschaften, physiologisch sowohl als auch geistig-charakterlich; indessen fehlt es ihm in beklagenswertem Maße an politischem Ernst und sozialer Ethik. Er lebt für den Tag, in den Tag hinein, durchaus hingegeben an das sinnliche Glück, die Lust, die Melancholie des Augenblicks, der flüchtigen Sekunde. Die empfindsame Amazone aus Nazi-Deutschland vergißt sich in seinen Armen oder ist doch in Gefahr, ist doch versucht, sich und ihre Aufgabe zu vergessen. Ihre Aufgabe ist der Kampf gegen Hitler. Aber warum sollte sie kämpfen, da die Küsse des Geliebten ihr so lieblich sind? Warum sollte sie nach Paris, wo die Genossen sie erwarten, da doch jeder Tag in dieser nordischen Idylle sie mit neuer Seligkeit beschenkt? Der klassische Konflikt zwischen Liebe und Pflicht, hier wird er wieder einmal erlebt, mit einer naiven Vehemenz, einem jugendlichen Einsatz des Gefühls, als wär's zum ersten Male. Ist aber alles schon dagewesen; meine Heldin, das knäbische Mädchen Johanna, steht vor dem gleichen Zwiespalt, mit dem schon mancher Patriot und mancher Revolutionär, mancher Soldat und mancher Priester fertig zu werden hatte. Auch Johanna wird schließlich fertig mit ihrem klassisch ausprobierten und doch immer wieder verwirrenden Problem. Sie entscheidet sich – für die Pflicht natürlich. Vorher gibt es noch eine ausgedehnte Lustpartie mit dem asozialen, aber sonst charmanten Buhlen; eine Autofahrt bis zur Nordspitze von Finnland, also gleichsam bis zum Ende der Welt. In schon beinah polarer Zone trennt das Mädchen Johanna sich endlich von ihrem Ragnar, um dem Ruf der Pflicht nach Paris zu folgen – ohne großen Enthusiasmus, wie sich denken läßt, aber doch mit tapferer Entschlossenheit.

Dorthin begleiten wir sie nicht mehr, sondern lassen sie die graue Straße der Tugend alleine wandeln, nachdem wir doch ihren weniger sittsamen Pfaden mit solch indiskreter Anteilnahme gefolgt. So sind die Geschichtenerfinder! Delektieren sich erst an der moralischen Bedrängnis und sinnlichen Schwäche ihrer Geschöpfe, um die armen, erfundenen Charaktere schnöde im Stich zu lassen, sowie die problematisch-sündige Eskapade vorüber ist und der Ernst des Lebens beginnt. Die brave Antifascistin Johanna, die in einem muffigen Pariser Hotelzimmer mit den Genossen hungert und konspiriert, ist nicht mehr interessant. Aber die innerlich gespaltene, zerrissene, aufgewühlte Johanna, die wollüstige Amazone und kämpferische Buhlerin, die Liebende mit dem schlechten Gewissen, das Heldenmädchen mit dem Penchant für rauschhaft exzessive Sexualität, die gefiel mir, war mir ein Gegenstand psychologischer Neugier und poetisch-menschlicher Sympathie.

Ich schrieb den Roman »Flucht in den Norden« mit großer Leichtigkeit; alle Figuren und Situationen schienen fertig und bereit in mir: ich brauchte sie nur auf das Papier zu bringen. Die verwunschenen Szenerien, durch die ich mein Liebespaar reisen ließ, diese stillen, weiten See- und Waldlandschaften des hohen Nordens waren mir wohlbekannt: 1932, kurz nach Rickis Tod, hatte ich mit Erika zusammen die Autofahrt von Helsingfors nach Petsamo gemacht. Ich schilderte die großen Panoramen, die mich damals bezaubert hatten; ich beschrieb Menschen, die mir in Finnland begegnet, Stimmungen und Stimmen, Gesichte und Akzente, die in meinem Gedächtnis lebendig geblieben waren. Dem Mädchen Johanna gab ich, in diskret-verspielter Weise, die Züge und Gebärden unserer Schweizer Freundin, der lieben und schönen Annemarie. Die Züricher Patriziertochter, die sich aus freien Stücken den deutschen Exilierten angeschlossen hatte (sie war sogar mit mir nach Moskau gekommen, eine wahrhaft kühne Geste für ein Mädchen von solcher Herkunft!) wußte vielleicht aus eigener Erfahrung manches über den Konflikt, den ihre fiktive Doppelgängerin in meinem nordischen Liebesmärchen zu bestehen hat …

»Flucht in den Norden«, sagte ich, schrieb sich leicht, fast von selber, wie unter Diktat. Ich könnte hinzufügen, daß mir damals, während dieser ersten Phase des Exils, die Arbeit überhaupt besonders flink von der Hand ging. Ich schrieb mit Gusto; ich schrieb schnell und viel, jedes Jahr ein Buch, wozu noch redaktionelle Pflichten, Vorträge, Artikel, Texte für die »Pfeffermühle« und mancherlei andere Nebenarbeiten kamen.

Der zweite Roman, den der Querido-Verlag von mir publizieren konnte, heißt »Symphonie Pathétique« (1935); sein Held ist der russische Komponist Peter Iljitsch Tschaikowsky.

Ich wählte mir diesen Helden, weil ich ihn liebe und weil ich ihn kenne: ich weiß alles von ihm. Ich liebe auch seine Musik, sie spricht mich an, oft ist sie mir so recht aus der Seele gesprochen. Ist es »große« Musik? Ich weiß nur, daß sie mir gefällt. Freilich weiß ich auch, daß der Komponist der gar zu gefälligen »Nußknacker«-Suite und des gar zu effektvollen Tongemäldes »1812« kein Beethoven ist, kein Bach. Aber welcher Erzähler würde sich an diese Titanen wagen? Ich hätte den Mut nicht. Vor Peter Iljitsch indessen war mir nicht bang. Gerade die Fragwürdigkeit seines Genies, die Gebrochenheit seines Charakters, die Schwächen des Künstlers und des Menschen machten ihn mir vertraut, verständlich, liebenswert.

Seine neurotische Unrast, seine Komplexe und seine Ekstasen, seine Ängste und seine Aufschwünge, die fast unerträgliche Einsamkeit, in der er leben mußte, der Schmerz, der immer wieder in Melodie, in Schönheit verwandelt sein wollte, ich konnte es alles beschreiben, nichts davon war mir fremd. Auch wenn es keine Dokumente über die Umstände seines Lebens und die Eigenschaften seiner Person gegeben hätte, die schöne Klage seiner Adagios, die gehetzten Rhythmen seiner Allegros sagten genug: Sache des Erzählers war es nur, diese melodische Konfession zu artikulieren, die sanghafte Beichte in Worte zu fassen.

Wie hätte ich nicht alles von ihm wissen sollen? Die besondere Form der Liebe, die sein Schicksal war, ich kannte sie doch, war nur zu bewandert in den Inspirationen und Erniedrigungen, den langen Qualen und flüchtig kurzen Seligkeiten, welche dieser Eros mit sich bringt. Man huldigt nicht diesem Eros, ohne zum Fremden zu werden in unserer Gesellschaft, wie sie nun einmal ist; man verschreibt sich nicht dieser Liebe, ohne eine tödliche Wunde davonzutragen. »Wer die Schönheit angeschaut mit Augen – Ist dem Tode schon anheimgegeben …« Platen wußte es; und Herman Bang, der adelige Däne, mit dem ich auf ebenso vertrautem Fuße stand wie mit Peter Iljitsch Tschaikowsky, – der wußte es auch, daß er ein »Vaterlandsloser« war auf dieser Erde.

Ein »Vaterlandsloser«, mein großer, rührender Freund Peter Iljitsch war es in mehr als einem Sinn. Nicht nur sein Eros isolierte ihn, machte ihn zum Außenseiter, fast zum Paria; auch die Art seines Talents, sein künstlerischer Stil war zu gemischt, zu schillernd, zu kosmopolitisch, um irgendwo ganz goutiert zu werden. In Rußland galt er als »westlich«: die Kritiker vermißten in Tschaikowskys mondäner Melancholie die barbarische Vitalität eines Mussorgsky; die Deutschen warfen ihm »asiatische Wildheit« vor, wozu noch, nach Ansicht der Leipziger und Berliner Kenner, ein störender französischer Einfluß kam. In Paris hingegen fand man ihn zu »germanisch«: ein Nachahmer Beethovens, viel weniger »typiquement russe« als der beliebte Rimsky-Korsakow.

Er war ein Emigrant, ein Exilierter, nicht aus politischen Gründen, sondern weil er sich nirgends zu Hause fühlte, nirgends zu Hause war. Er litt überall. Schließlich kam der Ruhm, diese ironische, meist verspätete Kompensation für ein Martyrium, für das es keine Bezahlung gibt und keinen Trost.

Es gibt keinen Trost. Der trostlose, berühmte Peter Iljitsch wird seinen trostlosen, verstohlenen Tod sterben; er begeht Selbstmord, mit listiger Diskretion, als Dreiundfünfzigjähriger. »Kurzes Wallen – wen macht es müd? Mir zu lang schon: Der Schmerz macht müd …« So heißt es bei Stefan George; auch einer, der um die Heimsuchungen des Eros wußte.

Tschaikowskys Lebenswerk, besonders aber sein letztes Opus, ist nur das Vorspiel zu diesem einsamen Tod. Deshalb liebe ich seine Musik. Deshalb schrieb ich meinen Roman »Symphonie Pathétique«.

Warum schrieb ich meinen Roman »Mephisto«? Das dritte Buch, das ich im Exil – 1936 – veröffentlichte, handelt von einer unsympathischen Figur. Der Schauspieler, den ich hier präsentiere, hat zwar Talent, sonst aber nicht viel, was für ihn spräche. Besonders fehlt es ihm an den sittlichen Eigenschaften, die man meist unter dem Begriff »Charakter« zusammenfaßt. Statt des »Charakters« gibt es bei diesem Hendrik Höfgen nur Ehrgeiz, Eitelkeit, Ruhmsucht, Wirkungstrieb. Er ist kein Mensch, nur ein Komödiant.

War es der Mühe wert, über eine solche Figur einen Roman zu schreiben? Ja; denn der Komödiant wird zum Exponenten, zum Symbol eines durchaus komödiantischen, zutiefst unwahren, unwirklichen Regimes. Der Mime triumphiert im Staat der Lügner und Versteller. »Mephisto« ist der Roman einer Karriere im Dritten Reich.

»Vielleicht wollte er (der Autor) dem Schauerstück blutiger Dilettanten das Porträt des echten Komödianten gegenüberstellen«, wie Hermann Kesten in einer gescheiten Rezension meines Buches (»Das Neue Tagebuch«, 1937) mit Recht vermutete. Er fährt fort: »Ihm gelingt mehr, er zeichnet den Typus des Mitläufers, einen aus der Million von kleinsten Mitschuldigen, die nicht die großen Verbrechen begehen, aber vom Brot der Mörder essen, nicht Schuldige sind, aber schuldig werden; nicht töten, aber zum Totschlag schweigen, über ihre Verdienste hinaus verdienen wollen und die Füße der Mächtigen lecken, auch wenn diese Füße im Blute der Unschuldigen waten. Diese Million von kleinen Mitschuldigen haben ›Blut geleckt‹. Darum bilden diese die Stütze der Machthaber.«

Genau dieser Typus war es, den ich zeichnen wollte. Ich hätte meine Intention selber nicht besser zu formulieren vermocht. »Mephisto« ist kein »Schlüsselroman«, wie man ihn wohl genannt hat. Der ruchlos brillante, zynisch rücksichtslose Karrieremacher, der im Mittelpunkt meiner Satire steht, mag gewisse Züge von einem gewissen Schauspieler haben, den es wirklich gegeben hat und, wie man mir versichert, wirklich immer noch gibt. Ist der Staatsrat und Intendant Hendrik Höfgen, dessen Roman ich schrieb, ein Porträt des Staatsrates und Intendanten Gustaf Gründgens, mit dem ich als junger Mensch gut bekannt war? Doch nicht ganz. Höfgen unterscheidet sich in mancher Hinsicht von meinem früheren Schwager. Aber angenommen sogar, daß die Romanfigur dem Original ähnlicher wäre, als sie es tatsächlich ist, Gründgens könnte darum immer noch nicht als der »Held« des Buches bezeichnet werden. Es geht in diesem zeitkritischen Versuch überhaupt nicht um den Einzelfall, sondern um den Typ. Als Exempel hätte mir genau so gut ein anderer dienen können. Meine Wahl fiel auf Gründgens – nicht, weil ich ihn für besonders schlimm gehalten hätte (er war vielleicht sogar eher besser als manch anderer Würdenträger des Dritten Reiches), sondern einfach, weil ich ihn zufällig besonders genau kannte. Gerade in Anbetracht unserer früheren Vertrautheit erschien mir seine Wandlung, sein Abfall so phantastisch, kurios, unglaubhaft, fabelhaft genug, um einen Roman darüber zu schreiben.

Wie, man hatte mit ihm gelebt, gearbeitet, diskutiert, gespielt, gezecht, Pläne gemacht, gute Freundschaft gehalten, und nun saß er am Tische des monströsen Reichsmarschalls? Und nun zechte, spielte, diskutierte er mit den Mördern? Nicht genug damit, daß er atmen konnte in der verpesteten Luft, daß er es aushielt in jener Sphäre, die uns unbetretbar geworden war, er feierte Triumphe dort. Und man hatte mit ihm gelacht und sich an hübschen Dingen gefreut und auf häßliche Dinge geschimpft. Es war entschieden unheimlich, sich dies vorzustellen.

Unheimlich, ja, so wurde einem zumute, wenn man an die Heimat dachte. Der Gedanke kam in der Nacht zu uns, wie er zu dem Emigranten Heinrich Heine gekommen war und, wie ihn, brachte er auch uns wohl manchmal um den Schlaf. Er war beladen mit Schmerz und Bangigkeit, der Nachtgedanke. Er mahnte uns an die Greuel, die im entfremdeten Vaterland täglich Ereignis wurden, und an die anderen, die noch kommen sollten. Diese würden die schlimmeren sein. Elend und Zerstörung von ungekanntem Ausmaß standen bevor; wir wußten es und konnten nicht umhin, uns darüber Gedanken zu machen in der schlaflosen Nacht. Tagsüber versuchten wir wohl, der Welt von unseren Ahnungen und unserem Wissen etwas mitzuteilen. Aber niemand hörte uns zu. Wir waren nur Emigranten.

 

Die Emigration war nicht gut. Habe ich in diesem Kapitel den Eindruck erweckt, als hätten wir es im Exil doch alles in allem ganz traulich und animiert gehabt? Das ist nicht die Wahrheit, oder doch gewiß nicht die ganze. Ganz abgesehen von den Tausenden, die in der Fremde hungerten, oft verhungerten, sogar bei den materiell relativ Gesicherten blieben die lebenstechnischen Probleme von quälender Kompliziertheit, wozu der psychologische Druck, die seelische Spannung kam. Da war die Angst, die hilflose, verzweifelte Angst vor einem Verhängnis, das man immer unabwendbarer, immer unentrinnbarer werden sah; und da war der Ekel.

Wie man sich ekelte! Der Anblick einer deutschen Zeitung verursachte Brechreiz. Die Bilder vom Nürnberger Parteitag; ein deutscher Film, den man masochistischerweise über sich ergehen ließ, »Ohm Krüger« oder »Jud Süß«; ein paar Seiten Tiefenschmus von Rosenberg oder einem seiner Adepten; die im feinsten Oxford-Englisch vorgetragene Rede eines »appeasement«-freudigen Abgeordneten im Londoner House of Commons: so viel konnte man gar nicht essen, wie man da hätte kotzen müssen (um den seligen Max Liebermann zu zitieren). Das Schauspiel der deutschen Verwilderung und des europäischen Verfalls war nicht nur beängstigend, sondern auch degoutant.

»Je suis dégouté de tout« … Mein Freund René Crevel schrieb diese furchtbaren Worte auf ein Stück Papier, ehe er den Gashahn aufdrehte und, um ganz sicher zu gehen, auch noch eine kräftige Dosis Phanodorm schluckte. Das geschah im Sommer des Jahres 1935, etwas über drei Jahre, nachdem mein anderer Herzbruder und liebster Kumpan Selbstmord begangen hatte.

Muß mich's ewig mahnen! Es mahnt mich ewig. Ich vergesse viel; aber die Augenblicke, die mich vom Tode eines meiner Lieben unterrichteten, die bleiben mir gegenwärtig. Jedesmal stirbt ein Stück von mir mit; jedesmal fühle ich mich selbst um einen Grad bereiter werden. Nach so vielen Abschieden wird der eigene leicht. Möge ich gehen dürfen, ehe alle teuren Gesichter mir hier entschwunden sind! Ich ließe gern den einen oder anderen zurück, der vielleicht meiner gedächte.

Ich denke an René. Ich gedenke seiner. Ihm zum Gedächtnis schreibe ich diese Zeilen.

Er war reinen Herzens. Seine Augen waren sehr schön, weit geöffnet, von seltsam gemischter Farbe. Er sprach sehr geschwind, mit einem kindlich weichen, etwas zu dicken, ungeschickten Mund. Er glaubte, seine Eltern zu hassen, besonders seine ehrbare und korrekte Mama. Er war nicht korrekt. Er haßte das Dumme und das Schlechte. Er beklagte sich über das Niederträchtige, obwohl er wissen mußte, daß es das Mächtige ist – »was man dir auch sage«. Das mächtige imponierte ihm nicht. Er war ein Rebell.

Der Rebell fand einen Meister: André Breton, Häuptling der Surrealisten-Clique. Der Surrealismus machte den stolzen und empfindsamen Rebellen nicht glücklich; die konfuse Lehre des Meisters Breton konnte ihn auf die Dauer nicht befriedigen. Während seiner letzten Jahre stand mein Freund den Kommunisten ungefähr ebenso nahe wie den Surrealisten oder vielmehr, er stand zwischen diesen beiden Lagern, die einander aufs erbittertste befehdeten. Einige von Bretons Anhängern und Renés Freunden – vor allem Louis Aragon und Paul Éluard – waren schon zu den Stalinisten übergelaufen. René, der loyale, zögerte noch. Immerhin war er 1935 so weit, daß er kommunistisch-geleiteten Organisationen seinen Namen und seine Arbeitskraft zur Verfügung stellte.

Der Schriftsteller-Kongreß »Gegen Krieg und Fascismus«, der im Sommer dieses Jahres in Paris tagte, war ein unzweideutig partei-inspiriertes Unternehmen, obwohl zu den Teilnehmern auch Liberale gehörten. René war nicht nur als Redner vorgesehen, sondern saß auch im vorbereitenden Comité, zusammen mit André Malraux, André Gide und anderen, die damals als Säulen des französischen Kommunismus galten. Nicht so André Breton, der gegen die demonstrierenden Schriftsteller, wenn auch nicht gerade für Krieg und Fascismus war. Aber so pazifistisch war er doch wieder nicht, daß er etwa einer guten Rauferei ausgewichen wäre! Es kam zu einem dramatischen Zusammenstoß zwischen dem Surrealisten-Häuptling und einem Vertreter des Kreml, Genosse Ilja Ehrenburg, wobei beide Teile blutige Nasen davontrugen; ganz Paris lachte über die Farce. Aber René-Vagualame lachte nicht. Vagualame, der reine Tor und militante Parsival, nahm die Komödie ernst. Er nahm alles ernst, die Poesie und die Revolution, den Surrealismus und den Stalinismus, Breton und Ehrenburg. Er wollte weder die Revolution noch die Poesie verraten.

Beging mein Freund Selbstmord, weil André Breton und Ilja Ehrenburg sich prügelten? Er beging Selbstmord, weil er krank war. Er beging Selbstmord, weil er sich vor dem Wahnsinn fürchtete. Er beging Selbstmord, weil er die Welt für wahnsinnig hielt. Warum begeht man Selbstmord? Weil man die nächste halbe Stunde, die nächsten fünf Minuten nicht mehr erleben will, nicht mehr erleben kann. Plötzlich ist man am toten Punkt, am Todespunkt. Die Grenze ist erreicht – kein Schritt weiter! Wo ist der Gashahn? Her mit dem Phanodorm! Schmeckt es bitter? Was tut's? Das Leben hat nicht eben süß geschmeckt. Je suis dégouté de tout …

Als wär's gestern gewesen, und ich kann's nicht vergessen …

Ich fuhr mit Leonhard Frank nach Paris, wahrscheinlich von Zürich, um an dem Kongreß der antifascistischen Literaten teilzunehmen. Es war eine heiße Nacht; Landshoff, der aus Amsterdam gekommen war, erwartete uns an der Bahn – da war René schon tot. Landshoff wußte, daß René tot war, sagte es mir aber nicht; vielleicht sah ich etwas müde aus nach der Reise, und er wollte mir den Schock bis zum Morgen ersparen.

Ich stieg im »Palace« an den Champs Elysées ab – dem luxusfreudigen Leonhard Frank zu Gefallen; mir sind die kleinen Hotels des linken Ufers viel lieber und vertrauter. Ehe wir uns in der Halle verabschiedeten, sagte Landshoff zu mir: »Geh morgen früh nicht aus, ehe du von mir gehört hast!«

Ich schlief nicht gut in dem engen, erstickend heißen Zimmer, das man mir irgendwo unter dem Dach zugewiesen hat. Am Morgen, als ich im Glutstübchen mit Leonhard Frank beim Frühstück saß, läutete das Telephon. Es war einer der Veranstalter des antifascistischen Kongresses, Johannes R. Becher. Wir unterhielten uns über das Programm der kommenden Sitzungen, über die Rede, die ich halten sollte. Schließlich sagte Becher: »Diese Geschichte mit dem armen René Crevel, scheußlich, nicht wahr?«

So erfuhr ich es.

Ich muß wohl ziemlich blaß geworden sein. »Irgend was los?« erkundigte sich Leonhard Frank mit seiner tief schwingenden Cello-Stimme. Sein eisblauer Blick verlangte eine Antwort. Ich erzählte ihm. Er lauschte, wobei sein Lächeln zerstreut und fremd, aber auch voll Wohlwollen und Wissen war.

(»Ist leicht zu verstehen«, sollte er mir, viele Jahre später, zu ähnlichem Anlaß schreiben. »Aber ich kann dazu nur sagen, das Leben ist nicht wert, es sich zu nehmen.«)

Am gleichen Tage begannen die Sitzungen des Kongresses. Mein Onkel Heinrich sprach gegen Krieg und Fascismus. Mein großer Freund André Gide sprach gegen Krieg und Fascismus. Der gescheite Huxley, der sympathische E. M. Forster, der wirkungsvolle André Malraux: sie sprachen alle gegen Krieg und Fascismus. Und René war tot.

Zwischen den Darbietungen redete ich mit Mopsa Sternheim; sie war seine Freundin gewesen, sie war meine Freundin. Es tat mir gut, sie zu sehen. Wir weinten zusammen; weinend versäumten wir die Rede des Genossen Cachin – gegen Krieg und Fascismus.

»Er war der Beste«, sagte Mopsa immer wieder. »Er war der Beste von allen.« Kummer und Hitze wirkten zusammen, die Tusche auf ihren Augenwimpern zum Zerfließen zu bringen. Das schwarze Zeug rann ihr in kleinen Bächen über die Wangen. Es war, als ob sie schwarze Tränen weinte um den lieben Freund.

»Er war der Beste«, wiederholte sie hartnäckig. »Und lohnt es sich noch zu kämpfen, wenn die Besten gehen? Und lohnt es sich noch?«

»Solange wir da sind …«, sagte ich. »Solange er da war, hat er sich doch auch sehr brav gehalten.«

Jemand winkte mir von der Türe zum Versammlungssaal. Ich war an der Reihe: man erwartete mich auf der Rednertribüne.

Ich wischte Mopsa die schwarzen Tränen vom Gesicht. Ich küßte sie. Dann folgte ich dem Herrn mit der roten Armbinde zum Podium.

Ich sprach gegen Krieg und Fascismus.


 << zurück weiter >>