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Aus einem Tagebuch
New York, 14. Juni 1940. Die Nazis in Paris. Deutschland jubelt, auch das »andere« Deutschland. Hitler führt Freudentänze auf. Ein Albtraum … Aber so phantastisch, so grauenvoll ist nur die Wirklichkeit.
18. Juni. Die Nachrichten aus Frankreich werden immer abscheulicher. Es ist nun deutlich, daß gewisse sehr einflußreiche französische Kreise die Niederlage des eigenen Landes wünschten und betrieben. »Lieber die deutsche Okkupation als die Herrschaft der sozialistischen Einheitsfront!« Ich habe solche Äußerungen selbst gehört. Gewiß ist auch Marschall Pétain dieser Meinung. Der Sieger von Verdun als Handlanger des Feindes! Hassenswerter Greis. (Wieviel man hassen muß, heutzutage!)
Wichtig: Extremer Konservatismus führt, wie die Dinge nun einmal liegen, nicht nur zu totaler Verblödung, sondern auch zu völliger Infamie. Armes Frankreich! Von blöder Infamie verraten …
Einziger Lichtblick: De Gaulle. (Der plötzlich in London auftauchte und heute wirkungsvoll sprach – freilich auch ein Konservativer.)
19. Juni. Wenn die Vereinigten Staaten neutral blieben und England opferten; wenn Hitler in London einmarschieren dürfte wie in Paris, ohne daß Amerika einen Finger rührte, was würde dann aus der amerikanischen Demokratie? Ein Amerika, das den Sieg des Fascismus geduldet hätte, wäre seinerseits für den Fascismus reif. Schrecklicher Gedanke! Statt eines senilen Marschalls würde hier ein fescher Ozeanflieger die Rolle des Quisling spielen. Charles Lindbergh im Weißen Haus …
Aber nein, dort sitzt F.D.R. It can't happen here!
26. Juni. Seltsame neue Bekanntschaft: die junge Carson McCullers, Autorin des schönen Romans »The Heart is a Lonely Hunter«. Frisch aus dem Süden eingetroffen. Sonderbar, die Mischung aus Raffinement und Wildheit, »morbidezza« und Naivität. Vielleicht sehr begabt. Die Arbeit, mit der sie sich jetzt beschäftigt, soll von einem Neger und einem jüdischen Emigranten handeln: zwei Parias. Könnte interessant werden.
... Arbeit, die ewige Last, ohne die alle übrigen Lasten unerträglich würden. Notizen zu einem Essay über Thomas Masaryk. Tröstlich. Wahrhaft in die Zukunft weisender Typ. Sehr wesentlich, sehr aktuell: seine Debatte mit Tolstoi über Pazifismus, den T. als ein absolutes, unbedingt verpflichtendes Postulat versteht, während M. die Anwendung von Gewalt unter gewissen Umständen (im Kampf gegen das aggressiv Böse) entschuldbar oder selbst notwendig findet. Heiligt der Zweck die Mittel? Fundamentales Problem …
Und wie viele solcher Fragen sind im Lichte unserer jüngsten Erfahrungen neu zu bedenken, neu zu formulieren! Werte und Prinzipien, an deren Gültigkeit wir nie gezweifelt haben, werden jetzt zweifelhaft. Die Krise verpflichtet zur Diskussion. Diskutieren wir! Was nottut, ist ein allgemeines Gespräch, ein Symposion ernster und ehrlicher Geister, die zur Klärung und Erneuerung unserer moralischen Grundbegriffe beizutragen wünschen.
Am gleichen Tag, später. Eine neue literarische Revue, könnte sie nicht das Forum für eine solche Debatte werden? Ich hätte wohl Lust, es noch einmal zu versuchen … Die Zeitschrift, die ich jetzt gründen möchte, müßte natürlich in englischer Sprache erscheinen und durchaus internationalen Charakter haben; eine Spezialisierung auf die Problematik der deutschen Emigration, etwa im Stil der »Sammlung«, wäre heute unbefriedigend, ja gefährlich. Ich bin kein Deutscher mehr. Bin ich noch Emigrant? Mein Ehrgeiz ist, ein Weltbürger amerikanischer Nationalität zu werden. In diesem Geiste wäre die Revue zu führen – weltbürgerlich-amerikanisch. (Der Geist Walt Whitmans, den ich wieder lese: mit größerer Freude als je.)
27. Juni. Vor dem Eiffelturm, dem Arc de Triomphe, der Opéra lassen grinsende Nazi-Flegel sich photographieren … Der Ekel würgt mich, mir wird buchstäblich schlecht, wenn ich dergleichen in der Zeitung lese. Ob die Gestapo-Beamten und SS-Offiziere Glück bei den Pariserinnen haben? Sicher doch. Und der weißhaarige Held von Verdun gibt seinen Segen zu solcher Unzucht. »O Star of France!« – wie Whitman prophetisch klagt. »Star crucified! by traitors sold!«
Bewunderung für England. Mit welcher Würde es durch den Mund Winston Churchills spricht! Seine Reden haben eine Erhabenheit, die in unserer Zeit fast anachronistisch wirkt. Aber diese naiv-gewaltige, rührend große Renaissance-Figur rettet vielleicht die Zivilisation des zwanzigsten Jahrhunderts.
... Der Gedanke an die neue Zeitschrift läßt mich nicht los. Wie nenne ich sie? Von den Namen, die ich bisher erwogen habe, gefällt Solidarity mir am besten.
28. Juni. Das Emigranten-Milieu, zu dem ich so lange gehört habe, wird mir nun immer fremder.
Gestern, bei Curt Rieß, ziemlich quälende Sitzung der »German American Writers«. Es sind Fremde darunter, Gumpert, Kesten usw.; aber mit der Mehrzahl weiß ich mich kaum noch zu verständigen. Manche scheinen den Krieg als eine Art von imperialistisch-kapitalistischer Verschwörung aufzufassen, eine Ansicht, die gerade in links-radikalen Kreisen recht verbreitet ist. Dort würde man sich für den Kampf gegen Hitler wohl nur interessieren, wenn die Sowjetunion involviert wäre. Solange Moskau und Berlin sich vertragen, finden die Kommunisten das demokratische England »mindestens ebenso schlimm« wie das fascistische Deutschland. Wie soll man da diskutieren?
Besprechung mit einigen der »Intimen« oder »Gleichgesinnten«, nach Abschluß des offiziellen Teils. Ich setzte folgenden Brief auf, der von Gumpert, Kesten, Rieß und ein paar anderen unterzeichnet wird:
»An den Vorstand der German American Writers Association
Sehr geehrte Kollegen,
Die Association of German American Writers ist als eine unpolitische Organisation gegründet und geleitet worden. Von Anfang an haben einige unter uns Zweifel und Bedenken gehegt, ob es sinnvoll oder auch nur möglich sei, unter den heutigen Umständen eine Vereinigung exilierter deutscher Autoren als ›unpolitische Berufsorganisation‹ funktionieren zu lassen. Seit dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges und besonders, seitdem er in sein entscheidendes Stadium eingetreten ist, hat die politische Problematik unserer Situation als Schriftsteller deutscher Abstammung sich noch mehr zugespitzt und fordert von jedem unter uns eine klare, verantwortungsbewußte Stellungnahme.
Jede Organisation von Deutschen in einem demokratischen – und das heißt also: in einem von den Deutschen bedrohten – Land, muß heute einen fragwürdigen, ja provokanten Charakter annehmen: es sei denn, daß sie sich auf ein präzises, politisches und kulturpolitisches Programm festzulegen vermag. Eben dieses Programm fehlt unserer ›Association‹, und eben in ihrer – statutenmäßig festgelegten – Selbstbeschränkung auf die ›unpolitische‹ Sphäre sehen wir ihr fatales Manko.
Denn es verhält sich doch keineswegs so, daß die einzelnen Mitglieder des Bundes sich nicht für Politik interessieren; vielmehr beweist das Bekenntnis zum Unpolitischen nur, daß in unserem Kreise die notwendige Übereinstimmung in den moralisch-politischen Grundsätzen und Zielen noch nicht – oder nicht mehr – vorhanden ist.
Obwohl wir uns gerade in diesem Augenblick nicht gerne von einer Gruppe exilierter deutscher Schriftsteller lossagen, haben wir uns doch nach reiflicher Überlegung zu einem solchen Schritt entschließen müssen und erklären hiermit unseren Austritt.«
29. Juni. Sorge um Golo, Onkel Heinrich, Mopsa Sternheim und andere, die in Frankreich verschollen sind. Golo, der sich als tschechischer Freiwilliger bei der französischen Armee gemeldet hatte, wurde prompt interniert, als ob Frankreich Krieg gegen die Antifascisten führte, nicht gegen die Fascisten. Die letzte Nachricht von ihm – das war noch vor dem débâcle – kam aus einem Konzentrationslager. Seither kein Wort – weder von ihm noch vom Onkel, der zur Zeit des Zusammenbruchs in Nizza gewesen sein dürfte. An Gerüchten fehlt es freilich nicht. Von Heinrich Mann hieß es schon, er sei den Nazis in die Hände gefallen, zusammen mit Lion Feuchtwanger, um die Sache erst recht schlimm zu machen. Glücklicherweise wurde diese schaurige Geschichte alsbald dementiert. Franz Werfel soll in Frankreich umgekommen sein; hoffentlich auch nur ein Greuelmärchen.
Und André Gide? In Paris wäre er seines Lebens nicht sicher. (Ob die Deutschen auch den südlichen Teil des Landes besetzen werden?) Und Julien Green? Und Cocteau? Es sind ihrer so viele, um die man sich jetzt ängstigt. Auch Selbstmorde wird es wieder geben. Erinnerung an Menno ter Braak, der sich eine Kugel vor den Kopf schoß, als die Nazis in Holland einfielen. Ein nobler und reiner Geist, höchst gesittet; den Triumph der Barbarei ertrug er nicht … Wie viele Franzosen mögen jetzt den gleichen Schritt erwägen oder schon zu ihm entschlossen sein?
Besonders verzweifelt die (innere und äußere) Lage der französischen Kommunisten. Zu dem Gram, den sie mit allen teilen, dürfte in ihrem Fall ein bitteres Gefühl der Reue kommen. Denn wenn es in erster Linie die extreme Rechte ist, die den Zusammenbruch verschuldet hat, so darf die Mitverantwortung, die Mitschuld der extremen Linken doch nicht übersehen oder vergessen werden. Haben »die Roten«, wie eine gehässige Presse sie hier gerne nennt, nicht mit den Lavals und Pétains gemeinsame Sache gemacht, indem sie den Widerstandswillen der Nation unterminieren halfen? Man fragt sich, ob die Dritte Internationale auch jetzt noch, nach dem französischen Fiasko, dabei bleiben wird, einen Krieg zu ignorieren und zu sabotieren, bei dem es doch – trotz allem, malgré tout, after all! – um die Sache der Freiheit geht. Der Kampf gegen Hitler – man sage, was man wolle – ist ein guter Kampf, oder doch ein notwendiger. Auch für Amerika wird es notwendig werden, sich an dieser Auseinandersetzung zu beteiligen: Roosevelt weiß das, wir alle wissen es; warum wollen die amerikanischen Kommunisten es nicht begreifen? Ihre Partei-Organe, »The Daily Worker« und »The New Masses«, konzentrieren ihren ganzen Haß auf »die Kriegshetzer in Washington«, während sie an den Friedensfürsten in Berlin »revolutionäre Züge« entdecken. Hat Hitler sich nicht für die »Brechung der Zinsknechtschaft« ausgesprochen? Und übrigens gibt es einen deutsch-russischen Nichtangriffspakt … Verläßt man sich in stalinistischen Kreisen darauf, daß die Nazis gerade diesen Pakt nicht brechen werden? Nach allem, was wir erlebt haben, scheint solche Blindheit beinah unverzeihlich!
Am gleichen Tag, später. Unverzeihlich? Ja, die jetzige Haltung der Kreml-Trabanten ist schwer zu verstehen, schwerer noch zu verzeihen. Aber vergessen wir nicht, was alles von »demokratischer« Seite geschehen ist, um die Sowjetunion und ihre Freunde in diese unheilvolle Position zu drängen! Denken wir an Spanien! Denken wir an München! Aus Angst vorm Kommunismus hat man den Fascismus großgezüchtet und nun, da man sich vom eigenen Protégé (dem Fascismus eben) überfallen findet, erwartet man Beistand von den Kommunisten! … Trotzdem bleibt es natürlich dabei, daß ein deutscher Sieg die Katastrophe wäre, auch für die Kommunisten, und gerade für sie. Nach England käme die Sowjetunion an die Reihe.
1. Juli. Den Artikel über Masaryk abgeschlossen – auf englisch! Muß nun durchgesehen, korrigiert werden. Wimmelt gewiß von Fehlern. Quälendes Gefühl der Unsicherheit. Plötzlich ist man wieder ein Anfänger: jeder Satz bereitet Kopfzerbrechen. Immerhin sind wohl gewisse Fortschritte festzustellen.
Notizen zu einer Erzählung (»Speed«) – auch in der neuen Sprache! Und der Verlag »New Directions« will von mir ein Vorwort zu Franz Kafkas Roman »Amerika«. Reizvolle Aufgabe. Freilich habe ich meine Zweifel, ob F. K. hier durchzusetzen sein wird.
Langes Gespräch mit Tomski (Curtiss) über die Zeitschrift, zu der auch er große Lust hat. Das finanzielle Problem. (T. will etwas Geld geben.) Brief an Archibald MacLeish, Chef der Library of Congress, der sich in offiziellen Kreisen für unser Projekt verwenden könnte. Vielleicht, daß auch in Hollywood einige Mäzene zu finden wären …
Der Name »Solidarity« gefällt mir nicht mehr. Zu »laut«, zu »propagandistisch«. »Zero Hour« wäre vielleicht besser. (Wie ließe sich das übersetzen? »In letzter Stunde«? »Eine Minute vor Zwölf«? »Der letzte Augenblick«: Alles gleich unmöglich. Aber glücklicherweise ist es ja kein deutscher Name, nach dem ich diesmal suche …)
Washington, 3. Juli. Erschöpft und recht deprimiert nach einem langen, geschäftigen Tag in dieser glühenden Stadt. Ausführliche Unterhaltungen über »Zero Hour« mit MacLeish in der Library of Congress, Michael Huxley von der Englischen Botschaft und dem tschechoslowakischen Gesandten, Major Hurban. Alle finden meinen Plan »quite interesting«, aber niemand will helfen. Es muß also ohne offizielle Unterstützung gehen. Statt der Dollars, Pfunde oder Tschechenkronen, die ich nicht kriegen kann, habe ich meine alte, geliebte Unabhängigkeit.
Im Zug, zwischen Kansas City und Los Angeles; 5. Juli. Reisetage. Von Washington nach Chicago; dort Treffen mit Eltern und Erika. Die schon vertraute Fahrt durchs Öde, diesmal »en famille«. (Erinnerung an den vorigen Sommer, an Jury. Er will heiraten, wird Kinder haben. Ich nicht. Und die Jahre vergehen.)
Viel Gespräch. Über den Krieg. Der neue Widerstandswille in England. (E. möchte nach London.) Auch über die Zeitschrift. Ermutigt durch Zauberers herzliches Interesse.
Lektüre. Wieder sehr berührt von Kafkas »Amerika«. Freilich wiegt es leichter als die beiden anderen großen Roman-Fragmente; aber gerade diese Leichtigkeit macht »Amerika« zu einem einzigartigen Phänomen innerhalb des Kafkaschen Oeuvre. Im »Schloß« und im »Prozeß«, auch in der kleinen Prosa, mag es Stellen von makabrer Komik geben (ich muß über Kafka oft ebenso bittere Tränen lachen wie über Marcel Proust); aber das Komische wirkt doch immer nur wie die Maske, hinter der ein Antlitz von heillos-unheilbarer Tragik sich stolz und höhnisch verbirgt. Diese Verzweiflung, die sich nicht, wie etwa bei Kierkegaard, im Glauben erlösen darf, sondern die im furchtbarsten, definitiven »Krankheit zum Tode« ist – nur im »Amerika«-Fragment scheint Kafka von ihr befreit. Befreit? Ach, wohl nicht ganz! Aber in diesem Buch – sonst nirgends – ist doch der Wille zur Befreiung da. Ein Gefangener bricht aus, schweift unter fremden Himmeln, wagt sich in unbekannte Zonen vor. Das Land, das er entdeckt – oder erfindet er's? – ist reich an Schrecken; aber die Lüfte wehen leichter dort. Der Verzweiflungskampf lockert sich; man kann wieder atmen … Ich schaue durchs Fenster unseres Pullman-Wagens. Draußen ist's wüst und leer. Hätte Franz Kafka dies wirkliche Amerika gekannt, was wäre aus seinem grandios-grotesken Traum geworden? Aber vielleicht ist der Traum des Dichters wahrer, wirklicher als unsere Wirklichkeit. Der Traum lebt und zeugt. Aus dem Traum kommt Hoffnung. Hoffnung auf Amerika …
»Amerika« ist Kafkas heiterstes Buch. Im Vorwort zu betonen.
Brentwood (bei Los Angeles, California); 12. Juli. Jetzt gibt es Nachrichten aus Frankreich in überreichlicher Fülle, lauter Hilferufe, desperate Bitten um amerikanische Visen, »affidavits«, Geld etc. Alles will in die Vereinigten Staaten. Kabel und Briefe kommen aus Nizza, Marseille, Vichy, Perpignan, Casablanca. Einige der Freunde haben schon Lissabon erreicht und sind also in vorläufiger Sicherheit. Andere sind endgültig geborgen, nämlich tot. Neue Selbstmord-Epidemie. Ernst Weiß gehört zu den Opfern. (Habe ich ihm je gesagt, wie sehr ich seinen letzten Roman, »Der arme Verschwender«, bewundere?) Auch Walter Hasenclever hat sich umgebracht, ein alter Freund, den ich gern wiedergesehen hätte. Und Walter Benjamin, mir weniger sympathisch, wenngleich ich seine großen intellektuellen Gaben stets zu schätzen wußte. Wieviel Verluste! Wird die deutsche Literatur sich von diesem grausigen Aderlaß je erholen?
Hier werden Rettungsaktionen beraten und vorbereitet. In New York gibt es schon ein »Emergency Rescue Committee«; Mielein, E., die immer aktive, hilfsbereite Liesl Frank und andere sind dabei, hier eine Filiale zu organisieren. Amerikaner bieten ihre Hilfe an, darunter manche von erheblichem Prestige, wie Frank Kingdon (früher Präsident einer großen Universität, jetzt freier Schriftsteller und »lecturer«), Freda Kirchway (Herausgeberin der liberalen Wochenschrift »The Nation«) und George Cukor, der Filmregisseur. Auch prominente Quäker und führende Persönlichkeiten der sehr progressiven, sehr humanen »Unitarian Church« stellen sich zur Verfügung. Große Geldsummen sind aufzutreiben. In unserem Hause (für den Sommer gemietet) soll nächstens eine »money-raising party« stattfinden, eine gesellige Zusammenkunft zum Zweck des Schnorrens, wie es hierzulande üblich ist.
Eine Liste besonders wichtiger und besonders gefährdeter Emigranten wird von uns (mit Hilfe von Bruno Frank und anderen) für das »Committee« zusammengestellt. Natürlich gehört auch Leopold Schwarzschild in diese Kategorie. Ich gebe ihm nie mehr die Hand (er ist ein Verleumder); aber in den Händen der Nazis möchte ich ihn doch nicht wissen.
14. Juli. Ohne Frage, es ist ein Mirakel, was sich in England seit den schrecklichen Tagen von Dünkirchen vollzogen hat. Alle Nachrichten lassen darauf schließen, daß wenigstens diese eine Nation im Willen zum Widerstand geeinigt ist. Und also wird Hitler scheitern! Seine Stärke bestand immer nur darin, daß er die Schwäche anderer auszunutzen wußte. Die moralische Entschlossenheit, die das englische Volk jetzt zeigt, ist ein Faktor, mit dem er nicht gerechnet haben dürfte und der ihm den entscheidenden Strich durch die schmutzige Rechnung macht.
Wie sehr verstehe ich E.'s Wunsch, bald nach London zu fahren! Duff Cooper, der jetzt das »Ministry of Information« unter sich hat, will sie am B.B.C. sprechen lassen.
15. Juli. Heute nachmittag lange Unterhaltung mit Christopher Isherwood. Er ist mir so lieb, so brüderlich vertraut, und doch bringe ich für seine neue Entwicklung kein rechtes Verständnis auf. Zusammen mit Aldous Huxley und dem Philosophen Gerald Heard – oder unter ihrem Einfluß? – gerät er immer tiefer in den Bann einer indischen Mystik, zu deren ethischen Prinzipien die unbedingte Ablehnung der Gewalt gehört: eben jener absolute Pazifismus also, gegen den Masaryk sich in seiner Debatte mit Tolstoi wendet. Nicht, als ob ich die Anwendung von Gewalt weniger verwerflich fände als irgendein Isherwood, Huxley oder Heard! Und nun gar der moderne Krieg! Wem graute nicht vor seinem mörderischen Stumpfsinn, seiner apokalyptischen Idiotie? Man muß ein hysterischer Romantiker wie Ernst Jünger sein, um an den öden Schrecken der »Materialschlacht« Gefallen zu finden. Als gesitteter Mensch ist man natürlich Pazifist, was denn sonst?
Fragt sich nur, ob wir im vorigen Herbst noch die Wahl zwischen Krieg und Frieden hatten oder ob nicht damals die Entscheidung längst gefallen war. Ein Krieg, der unvermeidlich geworden ist, läßt sich nicht mehr »ablehnen«, sondern nur noch gewinnen. Warum wurde der Krieg unvermeidlich? Als ob wir es nicht wüßten! Weil die Demokratien dem Fascismus Vorschub leisteten, sei es aus mißverstandenem »Pazifismus«, sei es aus weniger vornehmen Motiven … Indem man Hitler tolerierte, finanzierte und protegierte, verscherzte man sich den Frieden. Nun fehlte nur noch, daß man ihn siegen ließe! Dann wäre der Krieg permanent.
Willst du das, Christopher Isherwood? Nein, natürlich nicht!
Und bestehst doch darauf, daß der Krieg »das schlimmste aller Übel« sei? Es gibt ein schlimmeres, my dear friend. Stelle dir die »Neue Ordnung« vor, die ein siegreicher Hitler etablieren würde, und du weißt, was ich meine.
Der Sieg der Demokratien aber könnte den Frieden bringen. (Ich wage nicht zu sagen: wird …)
Am gleichen Tag, später. Als ob ich sie nicht kennte, die Stunden des Zweifels, der Entmutigung! Warum sollte ich es mir nicht eingestehen? Manchmal – ach, nicht gar so selten! – ängstigt mich die Frage, ob es in diesem Krieg denn wirklich um eine moralische Entscheidung geht. Die Tatsache, daß der Kampf überhaupt möglich oder unvermeidlich werden konnte, bedeutet vielleicht an sich schon ein so schmähliches Fiasko für beide Parteien, daß es nun, moralisch gesehen, kaum noch einen Unterschied macht, welche Partei gewinnt. Wäre dem so, wie sollte man dann noch leben?
2. August. Das Kafka-Vorwort für »New Directions« abgeschlossen. Nicht ganz unzufrieden. Hätte ich es auf deutsch besser gemacht? Isherwood, dem ich das Manuskript vorlege, findet nur wenig zu korrigieren.
Briefe und Gespräche, »Zero Hour« betreffend. Beratung mit Bruno Frank, warmherzig und gescheit, wie immer. Mein freundschaftliches Gefühl für ihn vertieft sich von Jahr zu Jahr. Sehr schön, seine neue Novelle »16 000 Francs«, die ich gern in meiner Zeitschrift bringen würde.
18. August. Der Gedanke an Gretel (Walter), die heute vor einem Jahr in Zürich ums Leben gekommen ist. Wie habe ich sie angebetet, als wir Kinder waren! In meiner puerilen Schwärmerei identifizierte ich sie mit Carmen, der verhängnisvoll attraktiven Zigeunerin. Und wie Carmen mußte sie zugrundegehen … »Klassische« Tragödien dieser Art scheinen irgendwie absurd, phantastisch, unglaubhaft, wenn sie sich in unserem eigenen Kreis begeben. Der nicht mehr geliebte Gatte tötet erst die geliebte Frau, dann sich selbst. Ihre letzte Auseinandersetzung (sie kam noch einmal zu ihm, freiwillig, auf seine Bitte) muß ähnlich verlaufen sein, wie jener lapidare und finale Dialog zwischen Carmen und Don José: »Du liebst mich also nicht mehr?« – »Nein!« Worauf es eine Antwort nicht gibt, nur noch die klassisch absurde Geste … (Hat Carmen es anders gewollt? Bei Prosper Mérimée ist sie es, die femme fatale, die den verstoßenen Liebhaber zu seiner Untat zwingt. Er möchte es ihr, möchte es sich ersparen. Aber da er fleht: »Carmen! ma Carmen! laisse-moi te sauver et me sauver avec toi!« Was erwidert sie ihm? »José, tu me demandes l'impossible. Je ne t'aime plus; toi, tu m'aimes encore, et c'est pour cela que tu veux me tuer.« Vorher aber hat sie schon gesagt: »Tu veux me tuer, je le vois bien; c'est écrit.«)
Steht es geschrieben, daß wir alle eines gewaltsamen und bitteren Todes sterben müssen? Mit Ricki fing es an …
Je mehr Freunde man verliert, desto stärker fühlt man sich den überlebenden verbunden. Walters gehören zu den vertrautesten. Die arme Mutter freilich scheint sich von dem grausamen Schock nicht mehr erholen zu wollen. Aber beim Vater darf der Schmerz im gesteigerten musikalischen Gefühl produktiv werden. Als Dirigent, als Künstler ist er ohne Frage noch gewachsen. Herrliche Konzerte in der »Hollywood Bowl«; danach meist Geselligkeit. Überhaupt viel herzlicher Verkehr mit ihnen; Beverly Hills, wo sie jetzt wohnen, ist ja nach kalifornischen Begriffen so nah, daß sie beinah wieder unsere Nachbarn sind. Die Beziehung zu Lotte wird immer inniger.
19. August. Abreise E.'s nach England (über New York, Lissabon). Mit ihr zum Flugplatz. Wie beschreibe ich die Gefühle, die mir das Herz beschweren? Sorge mischt sich mit Neid, Traurigkeit mit Stolz … Sie ist mutig, ich bin stolz auf sie. Um so bitterer der Schmerz, die Scham des Zurückbleibens!
21. August. Zum Tee bei den Huxleys. Aldous in großer Form, viel gelockerter, heiterer, freier als früher, in Sanary. Seine Konversation sprüht von jener geistvoll skeptischen Bosheit, die sich mit seiner jetzigen Philosophie eigentlich kaum noch verträgt und die man doch nicht an ihm missen möchte. Ohne Frage, Huxleys »Bekehrung« zur Mystik, seine neue Tendenz zum Religiös-Ethischen ist eine Sache des Willens, des Intellekts, nicht des Instinkts, nicht des Herzens. Ein »geborener« Mystiker wäre kaum so witzig. Wie amüsant er heute nachmittag von seinen Abenteuern in den Filmateliers erzählte! Nicht weniger drollig waren die Anekdoten, die Anita Loos zum besten gab. Sie scheint intim mit den Huxleys kuriose Zusammenstellung! Läßt Aldous sich von ihr über amerikanischen Slang und amerikanische Psychologie belehren? In seinem neuen Roman, »After Many a Summer Dies the Swan«, kommt eine Hollywood-Nutte vor – die letzte Liebe des alternden Millionärs –, deren kesser Jargon von »Gentlemen Prefer Blondes« beeinflußt scheint …
Unterhaltung über Kafka (mit dem H. sich jetzt viel beschäftigt), Joseph Conrad, Dickens und andere literarische Gegenstände. Ich erwähne auch meinen Zeitschriftenplan. H., unter dessen Patronat ja schon »Die Sammlung« erscheinen durfte, stellt sich wieder als Mitarbeiter zur Verfügung.
Kein Wort über den Krieg, wie auf Verabredung. Mrs. Huxley erwähnt die Schrecken, denen ihre Verwandten und Freunde jetzt in Belgien ausgesetzt sind, als handele es sich um die tragischen Folgen eines Erdbebens oder einer Überschwemmung.
6. September. Erika in London. Ihr erstes Kabel klingt zuversichtlich, begeistert. Aber die Nachricht ist mehrere Tage alt und vielleicht überholt. In den Industriestädten der »Midlands« ist die Hölle schon los. Göring schickt seine Geschwader über den Ärmelkanal. Jeden Augenblick kann die Reihe an London sein.
E. hat gewiß keine Angst. Aber ich.
San Francisco, 13. September. Bin hier, um mich bei einigen Reichen einzuschmeicheln, die als Geldgeber für die Zeitschrift in Frage kommen. Und habe doch nichts im Kopf, als London und die infernalischen Bombardements! Buckingham-Palace getroffen. Nicht, als ob ich mir um »His Majesty, the King« besondere Sorgen machte! Aber vielleicht wohnt E. im gleichen Viertel …
Gestern, in Carmel. Sehr schön am Meer gelegen, nicht weit von San Francisco. Kurzer Besuch bei Bibi, der dort mit Frau und Kind den Sommer verbringt. (Während der Wintersaison wird er hier im Symphonie-Orchester als Bratschist tätig sein.) Das Kind heißt Fridolin und ist erst einige Monate alt. So hat man also einen Neffen … Nicht ohne Rührung betrachte ich das greisenhafte Gesichtchen mit großen Ohren, schaumig zarten Wangen. Die unglaublich winzigen Hände und Füße, schon so genau gebildet, sorgfältig geformt, regen sich wie nervöse Fleischblümchen. Was mag der nun erleben? Armer Fridolin! Arme Welt …
14. September. San Francisco hat Reiz; die schönste amerikanische Stadt, ohne Frage; außer New York, das ich am meisten liebe.
Lunch mit dem alten Bender. (Munterer Greis, jüdisch-irischer Abstammung – eine Mischung, der ich, meines Wissens, noch nie begegnet bin. Vielleicht ein »Engel«, um mich des drolligen amerikanischen Ausdrucks für »Geldgeber« zu bedienen.)
Mit ihm nach »Treasure Island« zur großen »Fair«. (Wie nennt man das auf deutsch? »Ausstellung«? »Jahrmarkt«? Keine Übersetzung scheint ganz zu stimmen …) Der Eindruck entschieden imposanter als der von der New York Fair. Stärkere Farben. Das sehr blaue Meer. Stolzer Schwung der kolossalen Brücken.
Etwa zwei Stunden lang in der »Art Exhibition«, mit intensivem Genuß. Stark berührt von einigen Italienern, eine Madonna des Filippo Lippi, mit goldenem Hintergrund wie aus Brokat; großartige Porträts von Tintoretto; Reiz des Tiepolo. (Aber die glatte, süße Perfektion des Raffael läßt mich wieder ganz kalt.) Am stärksten fasziniert von einem grausig-ausgelassenen, makaber-saftigen Volksfest Brueghels und von einem wunderbaren Cranach: der heilige Hieronymus, mit Eichhörnchen, Vögeln, einem sanftruhenden Löwen, in seiner weiten, mit frommer Genauigkeit abkonterfeiten Gelehrtenstube … Sehr gefesselt von einem Poussin: Madonna in blauem Faltenwurf. (Das Statuenhafte seiner Figuren. Das Mysterium dieser Klarheit, die unergründliche Tiefe dieser Transparenz …) Ein paar kleine Rembrandts von ungeheurem Gehalt; trauerndes Haupt des David – ergreifend schön. Ebenbürtig die Dürer-Skizzen. Im neunzehnten Jahrhundert rechnen nur die Franzosen: schwach aber reizvoll vertreten durch Zeichnungen von Degas, Redon, Daumier, Cézanne, Renoir usw. Eine hinreißende Kunstreiterin mit kläffendem Pudel von Toulouse-Lautrec. Die modernen Amerikaner fast durchwegs matt. Kaum ein neues, wirklich inspiriertes oder repräsentatives Moment, nichts, was sich dem modernen amerikanischen Roman (Hemingway, Faulkner, Wolfe) an die Seite stellen ließe. Bei den europäischen »contemporains« eine Fülle des Interessanten, auch des Schönen. Freude an Braque, Dufy, Utrillo, Vlaminck. Bewunderung für eine virtuos gemalte, auch sehr innig empfundene Themse-Landschaft von Kokoschka. Von den zeitgenössischen Deutschen kommt nur noch Beckmann für mich in Frage. (Klee, der mir wichtig bleibt, ist kein Deutscher. Und Hofer, Nolde, Dix? »Ça n'existe pas.« Auch wenn es Liebermann nicht mehr gäbe, wäre der Verlust nicht gar zu bitter …) Beckmann, als einziger, hat echtes Pathos, den zwingenden Stil, die originale Vision. Die Verzerrung seiner sadistischen Gotik mag abstoßen, auch die grelle Aggressivität der Palette berührt oft unangenehm (»il est très boche«); aber aus jedem seiner Bilder spricht die starke, innig bemühte, ringende Persönlichkeit. Daher die Überzeugungskraft dieser Kunst, die sich in ihrer Einseitigkeit, ihrer Intensität, ihrer Tragik etwa mit der Kunst Rouaults vergleichen ließe. Aber was wird aus einem leidvoll problematischen und limitierten Talent wie Beckmann, oder wie Rouault, neben dem dämonisch wandlungsfähigen, wirklich universalen Schöpfer? Unter den vielen Begabungen der Epoche gibt es nur ein Genie: Picasso.
Im Zug (irgendwo im Staat Nevada); 16. September. Picasso läßt mich nicht los. Das Bild von ihm, das mich in San Francisco bezaubert hat – eine sitzende Jünglingsfigur –, stammt aus einer seiner halb-klassizistischen Perioden. Die strenge Anmut und Genauigkeit der Kontur läßt an Ingres denken. Aber wo gäbe es bei diesem oder bei irgendeinem anderen Meister dies zugleich unschuldig heitere und abgefeimte Spiel rosig hingehauchter und purpurn satter Tinten? So etwas kann nur Picasso, der alles kann.
Erinnerungen an sein ungeheures, ungeheuerliches Werk stellen sich ein, da ich die Augen schließe. Magisches Kaleidoskop heftig bewegter Farben, wechselnder Figuren! Das gläsern fahle Blau der frühen Zeit mit ihren Absinthtrinkerinnen, fragilen Zirkuskindern, Bettlern am Meeresstrand; die erhabene Lieblichkeit und klassische Würde des Knaben mit dem Pferd, brauner Knabe mit grauem Pferd auf braunem Grund, vor einem grauen Himmel; dann die Verzerrung, der Einbruch Afrikas: aus dem hellenisch edlen Antlitz wird die Kongo-Fratze. Nach dem kubistischen Experiment der Kriegsepoche kommt ein neues Blühen: in der Balkon-Idylle von 1919 löst sich der Krampf, die Farbe leuchtet wieder, das Gitarren-Symbol taucht auf, eine Siegestrophäe, das schöne Zeichen neuer Heiterkeit. Bleiben wir nun in der hellen Sphäre? Die kolossalischen Frauengestalten von 1920 mit den hypertrophierten Händen, Füßen und Brüsten scheinen in ihrer betrübten Massigkeit zwischen Unterwelt und Olymp zu stehen. Aber schon bald danach ist vollkommene Harmonie erreicht; einige Meisterwerke dieser zweiten klassischen Periode sind mir gegenwärtig in ihrer holden Präzision und diskreten Vollkommenheit: die Mutter mit dem Kind, ein römisches Liebespaar, die wunderbar klaren, liebevoll genauen Porträts der Madame Picasso, der gravitätisch ernste Harlekin mit schwarzem Hut. Aber in solcher Ruhe, so majestätischer Gelassenheit bereitet sich schon neues Wagnis vor. Nach der luziden Objektivität, nochmals die Verfratzung, nochmals die Abstraktion! Eine Dynamik, die kein Ermüden, kein Genügen kennt, darf sich manchmal im Brand der Farbe festlich-violent entladen. Der königlich grelle Gockel, den ich im New Yorker Museum of Modern Art bewundert habe, ist reine Glut, ein Farb- und Feuervogel; auch in den wild hingepinselten »doppelten Profilen«, das schauerliche Antlitz von der Seite her gesehen. Aber Nüstern und Augen sind grauenhafterweise doppelt da, scheinen rot, grün, blau, gelb und schwarz selbstherrlich zu triumphieren: Elementen gleich, die nicht zu fesseln sind. In der Guernica-Komposition aber erlischt die Flamme oder verdüstert sich doch zur bleichen Glut. Kein Leuchten mehr! Die apokalyptische Szene ist farblos, trostlos, ganz beherrscht von der Verzweiflungsgeste des gefallenen Menschen, dem Aufschrei der geschundenen Kreatur. Das klagende Pferd in Picassos »Guernica« – seit Grünewald ist solche Qual auf keiner Leinwand ausgedrückt worden.
Ohne Frage, Picasso ist nicht nur der größte Maler der Epoche, sondern der größte Künstler. Kein Dichter oder Komponist kann sich mit ihm vergleichen. Seine kreative Potenz wirkt erstaunlich, ja beunruhigend, beinahe monströs in einem Jahrhundert der bescheidenen Dimensionen und reduzierten Kräfte. Angesichts dieser sich immer wieder selbst zersetzenden, selbst überbietenden Meisterschaft, dieser zugleich souverän spielerischen und tragisch besessenen Produktivität kann man nicht umhin, sich zu fragen: Wie macht er es? Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu …
Immer wieder der Wunsch, über Picasso zu schreiben; einen größeren Essay, vielleicht ein Buch. Aber es ist schon so viel über ihn geschrieben worden. Und es gibt so viele Gegenstände, über die ich schreiben möchte.
New York, 20. September. Endlich Nachricht von E. Nur drei Worte: »Safe so far.« Ein ziemlich bedingter Trost.
Golo und Heinrich in Lissabon.
Gerüchte, daß André Gide hierherkommen will.
24. September. Die Novelle »Speed« abgeschlossen, mein erster erzählerischer Versuch in der neuen Sprache. Nicht zufrieden. Der epische Stil scheint unvergleichlich schwerer zu treffen als der kritisch-deutende oder der reportagehaft-berichtende.
25. September. Die Zeitschrift kommt zustande! Große Geldmittel werden mir nicht zur Verfügung stehen; aber wer wagt, gewinnt, und ich habe nun einmal Lust zu der Sache.
Die beiden ersten Manuskripte für die erste Nummer sind eingetroffen, von Aldous Huxley und Bruno Walter. Kein schlechter Anfang! Curtiss wird natürlich unser Theaterkritiker. Die begabte Muriel Rukeyser, mit der ich mich recht angefreundet habe, verspricht Gedichte. Auch Wystan (Auden) will mitarbeiten. Ausführliche Gespräche mit Carson McCullers, Robert Sherwood (der neuerdings als einer der intimen Berater Roosevelts gilt), Robert Nathan (populärer Name, dabei Schriftsteller von Niveau: kann nützlich sein!), Horace Gregory (Lyriker und Kritiker, sehr angesehen bei der Avantgarde) und anderen. Verwirrende Fülle neuer Bekanntschaften, alle in Zusammenhang mit dem Projekt. Besonders erfreulich die Begegnung mit Christopher Lazare, der Typ des stark europäisch beeinflußten jungen Amerikaners; brillanter Stilist und Causeur, dabei nicht ohne morbid-melancholische Züge. Ähnlichkeit mit Wolfgang Hellmert. So kehrt alles wieder … Übrigens ist es Lazare, der mich dazu bestimmt, den Namen der Zeitschrift zu ändern. »Zero Hour« klingt zu alarmierend; die Leute mögen das nicht. Von den neuen Namen, die erwogen werden, leuchtet mir »The Cross-Road« am meisten ein. Daß wir uns einer Wegkreuzung nähern – wer von uns spürte es nicht?
26. September. Telegramm von Mielein über das grauenhafte Abenteuer der armen Monika. Sie war mit Lanyi auf dem Dampfer »City of Benares«, der – unterwegs von England nach Kanada vor einigen Tagen von einem deutschen Unterseeboot torpediert und versenkt wurde. Lanyi ist ertrunken; mit ihm Hunderte von englischen Kindern, die man in Sicherheit zu bringen gedachte. Monika lebt. Ist wieder in London – »safe so far« …
13. Oktober. Ankunft des griechischen Dampfers »Nea Hellas« mit einer Ladung emigrierter deutscher Dichter und Literaten, darunter Heinrich Mann mit seiner Frau und Golo; Franz Werfel mit Alma Mahler-Werfel und viele andere bekannte Gesichter. Große Begrüßung am Hafen, zu der auch Zauberer und Mielein sich einfinden. Frank Kingdon, der sich um die Rettungsaktion besonders verdient gemacht hat, darf natürlich nicht fehlen. Ich komme mit Hermann Kesten, der schon seit einiger Zeit in New York. Festliche Stimmung, vielfaches Händeschütteln mit Alfred Polgar, Hermann Budzislawsky usw. Die Flüchtlinge scheinen beinah alle in recht guter Form, ausgeruht und gebräunt nach der langen Seereise. Nur Frau Alma wirkt etwas reduziert, gestürzte Königin jeder Zoll. Übrigens dürfte sie manches durchgemacht haben. Jeder bringt seine schreckliche Geschichte mit. Heinrich berichtet beim Lunch im »Bedford«, mit den Eltern, Gumpert, Annemarie S., von seiner nächtlichen Flucht über die französisch-spanische Grenze. Der steile Bergpfad, den es zu erklimmen galt, war, wie der Erzähler mit sanfter Mißbilligung konstatiert, »eigentlich für Ziegen gedacht, nicht für einen Schriftsteller reiferen Alters. Und überhaupt, wie kommt man dazu? Man ist schließlich kein Verbrecher!«
Aber nun sind sie ja hier – »safe so far« …
Schnelles Wiederanknüpfen abgebrochenen Gespräches mit Golo. Seine große Intelligenz, sein guter Wille und dazu der brüderlich vertraute Ton. Wohltuend, nach so viel konfusen, ziellosen Debatten mit fremdem Volk.
14. Oktober. Teevisite bei H. G. Wells, im Hause des Bankiers Thomas W. Lamont. Merkwürdig dunkles, altertümliches Schlößchen, mit krummbeinigen Dienern, einem viel zu großen, sehr langsamen, chinesisch dekorierten Lift. Wells schläft noch, als ich zur verabredeten Stunde eintreffe: wird vom Butler geweckt. Später gibt es Tee und »muffins« mit Orangenmarmelade, alles von bemerkenswerter Qualität.
Der Meister zeigt sich in besonders gallig-aggressiver Laune. Der grau verhangene, blasse, böse Blick, mit dem er mich mustert, wird noch eisiger, da ich auf meine Zeitschrift anzuspielen wage. Eine literarische Revue? Wells schüttelt sich vor Mißbilligung und Verachtung. Was für eine kindische Idee! »Ich will mit dergleichen nichts zu schaffen haben!« Wobei er mir, nicht ohne eine gewisse altväterische »politesse«, Tee und »muffins« kredenzt. Die Liste meiner Mitarbeiter, die er mit überraschender Sorgfalt studiert, reizt ihn zu neuen Attacken. Zu jedem Namen fällt ihm etwas Nettes ein: »Huxley? What a fool … Beneš? A complete failure! One of the most depressing characters …« In diesem Stil. Das mitleidige Lächeln, mit dem er über »good old Stefan Zweig« den Kopf schüttelt, ist noch vernichtender als die zornige Geste, die er für seine früheren Landsleute Auden und Isherwood hat: »They're finished, through! Why did they leave their country? They've made a mistake. They'll never return to England.«
Da ich bei all dem wohlgelaunt und gelassen bleibe, wechselt er das Thema und läßt mich seine Ansichten über den deutschen Charakter wissen. Alle Deutschen – er besteht darauf, mit zänkischer Fistelstimme – sind Dummköpfe, Prahler, Narren, potentielle Verbrecher. »Auch die Emigranten!« ruft der streitbare Greis. »Und eine deutsche Kultur gibt es nicht. Was ist deutsche Dichtung im Vergleich mit der englischen? Wer würde euren Goethe in einem Atem mit unserem Shakespeare nennen? Dabei halten diese lächerlichen Deutschen sich für das auserwählte Volk, das Salz der Erde!«
Ich stimme ihm fröhlich zu: »Right you are! Und die größte Albernheit der Deutschen haben Sie sogar noch unerwähnt gelassen. Manche gehen so weit, Bach und Beethoven ernst zu nehmen. Too absurd – isn't it?«
Hierüber muß sogar der grimmige Alte lachen.
Da es ihm nicht gelungen ist, mich zu provozieren, wird er plötzlich ganz nett. Ich bleibe eine Stunde bei ihm. Interessantes Gespräch über die Notwendigkeit einer »Weltrepublik« nach dem Kriege. Die Idee des »Empire« scheint diesem englischen Patrioten längst antiquiert. »Und überhaupt,« versichert er mir – gleichsam triumphierend –, »es gibt kein Empire mehr: nur noch eine lockere Föderation von Staaten, die sich leicht in einen universalen Staatenbund eingliedern ließe. The so-called Empire has no reality anymore; it's just a memory, just a dream. The Empire is a hallucination.«
»A grand old man«, ein großartiger alter Bursche, bei aller Schrulligkeit! Und er hat Humor, wie alle guten Briten. Zum Abschied wird er schalkhaft und versöhnlich. Ich bin schon an der Türe, da ruft er mir vom Teetisch zu: »Dieser Goethe, von dem ihr Deutschen so viel Wesens macht – vielleicht war er doch nicht so ganz unbegabt. Und was Ihre dumme Zeitschrift betrifft, junger Mann – na, wir werden ja sehen! Wenn ich mal eine Kleinigkeit übrighabe … Aber es ist und bleibt eine Kateridee. A literary review, of all things!«
1. November. E. aus England zurück. Und schon spricht sie von ihrer nächsten Expedition ins Kriegsgebiet!
Allgemeine Spannung wegen der bevorstehenden Präsidentenwahlen. Wieviel hängt davon ab! Dieser Wendell Willkie mag ein Mann guten Willens sein (er wirkt keineswegs unsympathisch); aber sein Sieg über F. D. R. wäre ein Triumph für Hitler und seine hiesigen Freunde, die »Isolationists«, kurz, eine Katastrophe.
Weiter zu viel Menschen. Ausgedehnte Weekends in Princeton, wo ich etwas zur Arbeit komme. Notizen zu einem Essay über Whitman; auch zu einer neuen Erzählung, »Dernier Cri« – die vielleicht ein wenig besser als die vorige werden könnte … Starke Eindrücke beim Lesen von T. S. Eliot. Der einzige moderne englische Dichter, dessen Melodie mich ebenso innig-unmittelbar berührt wie etwa der Ton des späten Rilke.
Dazwischen Stunden furchtbarer Traurigkeit. Werden sie häufiger? Der Todeswunsch. Eisiger Trost des Nichts.
4. November. Es war amüsant, die Wahlnacht – oder doch ihre ersten Stunden – in einem stockkonservativen, strikt »Republikanischen« Damenclub zu verbringen, wo alles auf einen Willkie-Sieg hoffte. Unser Tisch – E., Golo, Wystan, Gumpert und ich, samt der schöngeistigen Miß C. N., die uns eingeführt hatte – war der einzige, von dem Applaus für Roosevelt kam. Im übrigen wurden die Gesichter im Saal immer länger. Der Lautsprecher teilte Wahlergebnisse mit, die den Mitgliedern des exklusiven »Cosmopolitan Club« das Blut in den Adern erstarren ließen. »That man in the White House« war er nicht loszuwerden? Noch vier Jahre F. D. R.! Unbeherrschtes Seufzen bei den Republikanerinnen, während wir auf das Wohl des Siegers tranken.
Später zum Times Square; ungeheure Menschenmengen, karnevalistisch-festlicher Betrieb mit Papierschlangen, Konfetti, bunten Masken und Mützen, humoristischen Plakaten, Trillerpfeifen, Knallerbsen und sonstigen Kindereien. Waren es nur die Roosevelt-Anhänger, die dort tanzten und jubilierten? Alles schien sich einig im Enthusiasmus.
Sich einmal mit der Masse freuen zu dürfen! Gewöhnlich ist man doch der Außenseiter. Nicht diesmal! Wir schrien mit den anderen.
»Aren't we happy?« Es war Diana Sheean, englische Gattin des amerikanischen Schriftstellers Vincent Sheean, die mich mit dieser lachenden Frage begrüßte. Zunächst verstand ich ihre Worte nicht bei all dem Lärm. Da wiederholte sie, über die Köpfe einiger johlenden Negerjungen hinweg: »We are happy, for a change, aren't we?«
Wir sind zur Abwechslung einmal glücklich, nicht wahr?
Es klang rührend, wie sie es mir zurief, mit ihrem feinen englischen Stimmchen, ihrem britischen Akzent, inmitten der turbulenten amerikanischen Menge. Vincent Sheean, genannt »Jimmy«, stand neben ihr, hochgewachsen, athletisch, mit blondem Haar in der erhitzten Stirn, strahlend und leicht beschwipst. Noch ein Glas Whisky, und die kleine Britin wird ihren Riesengatten stützen müssen …
9. November. Den Namen der Zeitschrift geändert, im letzten Augenblick. Glenway Wescott, auf dessen Urteil ich etwas gebe und an dessen Mitarbeit mir übrigens gelegen ist, fand »The Cross-Road« zwar »ganz hübsch«, konnte aber doch nicht umhin, mich zu fragen: »Don't you think such a name might suggest a somewhat undecided editorial policy?« Unentschieden? Gerade das wollen wir doch nicht sein!
Meine Antwort: »If Cross-Road sounds undecided, why, I'll call it Decision.«
Entscheidung …? Ja, dabei bleibt es!
14. Dezember. Es wird ernst … Eine Sekretärin ist engagiert, auch ein »business manager«. Wir haben ein Büro, ein Bankguthaben, recht hübsches Briefpapier. Sogar eine Art von Aktiengesellschaft gibt es schon, »Decision Incorporated«. Merkwürdig, auch etwas beängstigend, die allmähliche Realisierung eines Planes, den man eigentlich für undurchführbar hielt …
Ich stürze mich in die redaktionelle Arbeit. Immer mehr Besprechungen; Anschwellen der Korrespondenz. Sehr anregender und herzlicher Briefwechsel mit Upton Sinclair, einem jener »alten Kämpfer«, die immer jung bleiben oder vielmehr immer jünger werden (wie Romain Rolland). Stefan Zweig ist natürlich aufs eifrigste bei der Sache. Er soll zu meinem »Board of Editorial Advisors« gehören, zusammen mit Sherwood Anderson, W. H. Auden, Eduard Benesch (jetzt in Chicago), Julien Green (auch im Lande), Vincent Sheean, Robert E. Sherwood und noch einigen schönen Namen.
Besonders froh bin ich über den Beitrag, den Somerset Maugham für die erste Nummer zur Verfügung stellt: eine sehr gediegene, dabei unterhaltende Studie über Edmund Burke als Stilisten. Wie charmant Maugham ist! Aus irgendeinem Grunde hatte ich erwartet die Bekanntschaft eines etwas eingebildeten und affektierten Herrn zu machen und war daher aufs angenehmste überrascht von seiner behutsam leisen, fast ängstlich bescheidenen Art. Wir sprachen lang über Churchill, nicht den Staatsmann, sondern den Rhetor und Literaten, dessen großartig beschwingte und gestelzte Prosa den Burkeschen Einfluß so sehr spüren läßt. Nachdem wir Churchills mächtige Eloquenz hinlänglich gepriesen hatten, verweilten wir auch ein wenig bei gewissen Schwächen und Maniriertheiten, die für seinen Stil charakteristisch sind, wobei ich leider die taktlose Bemerkung machte: »Nun ja, einem so alten Mann sieht man wohl manches nach!« Niemals vergesse ich das sanft zerstreute, gleichsam um Entschuldigung bittende Lächeln, mit dem Maugham mich darauf hinwies, daß der »Prime Minister« und er beinah genau gleichen Alters seien.
18. Dezember. Die erste Nummer in der Druckerei.
Ich hatte kaum geglaubt, daß Sherwood Anderson uns wirklich eine Erzählung geben würde. Als Curtiss und ich ihm vor zwei Wochen unsere Aufwartung machten, fanden wir ihn freundlich, sogar gütig, aber unverbindlich. Und nun trifft diese schöne Gabe von ihm ein, »Girl by the Stove«: eine Geschichte von sublimer Einfachheit und sinnlich-melancholischer Grazie, sehr rührend, sehr gewinnend, »echter Sherwood Anderson«. Was für ein liebenswerter Schriftsteller! (In Europa nicht bekannt genug.)
Weiter geselliger Betrieb im Zusammenhang mit der Revue, manchmal amüsant, manchmal ermüdend: immer zeitraubend.
Besuche bei Stephen Vincent Benet (einer meiner »distinguished Sponsors«); bei Alvarez Del Vayo (erstes Wiedersehen seit Barcelona, erfreulich); bei Jules Romains (der jetzt sehr aktiv und intensiv auf »unserer Seite« steht – was keineswegs immer der Fall gewesen ist …); bei Carlo Sforza (geistvoll, elegant und tapfer, wie stets); bei Jacques Maritain (ehrwürdig fragile Gestalt von wahrhaft priesterlicher Würde, dabei ganz ohne ölig-pfäffische Züge); bei Noel Coward, den ich (angenehm überrascht, wie in Maughams Fall) viel einfacher und netter, viel charmanter finde, als man es von einem professionellen, weltberühmten Charmeur erwarten sollte. Natürlich ist er »eitel«; aber er ist auch taktvoll und intelligent, weshalb seine Eitelkeit nie ins Lästige oder Lächerliche ausartet. Intelligente Gefallsucht ist kein Laster, sondern eine Tugend: sie macht höflich und aufmerksam, sogar ritterlich. Ja, es ist vielleicht vor allem dieser chevalreske Zug, der mir an Noel Coward so sympathisch ist. Übrigens hat er genug Rasse und Persönlichkeit, um sich gewisse kleine Posen und Affektationen leisten zu können, die bei seinen Nachahmern, bei den »would-be Noel Cowards« peinlich wirken.
Ungewöhnlich amüsant, freilich auch ungewöhnlich zeitraubend und ermüdend, ein intimes Souper bei Henri Bernstein, dem französischen Dramatiker, in seinem Appartement im »Waldorf-Astoria«, mit Dorothy Thompson, Robert Sherwood und einem Hollywood-»Producer«. Sherwood, dessen Stück »There shall be no Night« jetzt am Broadway volle Häuser macht, verhielt sich relativ schweigsam (er hat die etwas ungelenke, befangene Art, die man oft bei sehr großgewachsenen Männern findet). Und was den armen Film-Magnaten betrifft, so ließ man ihn kaum je zu Worte kommen. Es waren Henri und Dorothy, die das Gespräch beherrschten, aber wie! Die beiden sprühten, polemisierten, erzählten, scherzten, schalten um die Wette. Wenn Bernsteins Artikel für meine erste Nummer (noch immer nicht abgefertigt!) nur halb so brillant ist wie sein »small talk«, dann wird »Decision« eine Sensation. Der alte Komödien-Macher und Komödiant erwies sich als »raconteur« von großem Erfindungsreichtum und bemerkenswerter Zähigkeit. Um drei Uhr morgens war er immer noch groß in Form. Gegen vier Uhr freilich fing er an nachzulassen, während die formidable Dorothy immer frischer wurde. Am Schluß lag Monsieur irgendwo im Hintergrund auf dem Sofa, ein Erledigter, dem nichts mehr einfallen wollte als ein paar monotone Phrasen, mit denen er seiner fernen Freundin, Mademoiselle Eve Curie, lallend huldigte: »Eve est incomparable! Ah, comme elle est belle! Quelle femme! Elle est in-com-pa … rable …«. Miss Thompson aber hielt immer noch beim Champagner aus. Um fünf Uhr morgens beendete sie ihren erstaunlichen Monolog über Krieg und Frieden, Gegenwart und Zukunft mit der knappen Mitteilung, daß sie nun nach Hause gehen müsse: »My secretary is waiting for me. I have to dictate a couple of articles before lunch.«
3. Januar 1941. Tomski (Curtiss) in Uniform! Vor einigen Monaten hat er sich bei der »National Guard« gemeldet, und nun muß er mit seinem Regiment in ein Trainingslager irgendwo im Süden, im Staate Georgia. Die schweren Stiefel, die Jacke mit den goldenen Knöpfen, das dicke Khaki-Hemd, alles sieht so unwahrscheinlich an ihm aus. Es tut mir weh, ihn in solcher Maskerade zu sehen. Das Militärische paßt nicht zu ihm, er verabscheut den Krieg. Wie viele Pläne er hatte, im Zusammenhang mit »Decision« zum Beispiel. Ohne seine Hilfe gäbe es die Zeitschrift nicht, und gerade jetzt, ein paar Tage vor Erscheinen der ersten Nummer, muß er nach Georgia. Wozu? Um schießen zu lernen … Beschämender Gedanke: daß der »Furor Teutonicus« dieses Unheil über die Welt gebracht hat! Darum trägt mein Freund Curtiss, ein amerikanischer Zivilist, nun den Soldatenkittel … Aber dies unselig problematische, schuldbeladene Volk, gehöre ich nicht zu ihm? Ich fühle mich mitschuldig. Ich bitte Tomski um Entschuldigung.
10. Januar. Die erste Nummer der Zeitschrift scheint zu gefallen. Viel schmeichelhafte Briefe und Rezensionen; auch die Abonnenten vermehren sich, was wichtiger ist. Aber ich selbst bin keineswegs ganz zufrieden. »Decision« darf nicht eine Parade glanzvoller Namen werden. Nicht so viel »Prominente«! Mehr Jugend! Mehr Experiment!
26. Januar. Der Zauberer, Mielein und E. in Washington, als Gäste des Präsidenten und seiner Frau. E. schickt mir einen Brief aus dem Weißen Haus. Einfaches Briefpapier bescheidenen Formats; oben, in kleinen goldenen Buchstaben, der Absender: The White House, Washington D. C. Ich kann nicht leugnen, daß dies Stück Papier mich irgendwie beeindruckt, fasziniert. Botschaft aus einem Hause, wo vielleicht eben jetzt, gerade heute über die Zukunft unserer Zivilisation entschieden wird. Von Amerika hängt alles ab. Von Roosevelt hängt alles ab.
2. Februar. Mit E., Gumpen, Lotte Walter, in der Eröffnungsvorstellung des österreichischen Theaters: »Les Parents Terribles« von Cocteau. Großes Vergnügen, den doppelbödig amüsanten, schlau konstruierten Reißer endlich auf der Bühne zu sehen, freilich nur auf deutsch (Cocteau läßt sich kaum übersetzen), in einer oft peinlich naiven Aufführung und vor einem ziemlich gespenstischen Parkett. Wie eine »große Premiere« in Wien oder Berlin, vor fünfzehn Jahren! Da sitzt Alfred Polgar mit seiner Frau; dort Kurt Pinthus neben Manfred Georg, der jetzt in New York eine übrigens sehr gut gemachte deutsch-jüdische Wochenschrift, »Aufbau«, redigiert. Curt Rieß ist natürlich dabei, auch Kesten, Ferdinand Bruckner, Franz Schönberner, Oskar Maria Graf … Wieviel gute Bekannte man hat! Heinrich Eduard Jacob erzählt mir über zwei Parkettreihen hinweg, daß Anton Kuh gestorben ist, vor einigen Tagen schon. Unheimlich, daß sein Verschwinden, selbst in diesem abgeschlossenen Emigrantenzirkel, zunächst überhaupt nicht bemerkt worden ist. Und war doch einmal ein fast berühmter Mann!
Wie sang- und klanglos man heutzutage abtritt …
17. März. Gestern abend mehrere Stunden bei Wystan (Auden); Arbeit an dem »zwanglosen Gespräch«, das wir übermorgen am Rundfunk miteinander führen sollen. Das Thema – »Die Funktion des Schriftstellers in der politischen Krise« – ist natürlich viel zu komplex, als daß es sich in einer Viertelstunde auch nur annähernd erschöpfen ließe. Trotzdem könnte es ein interessanter Dialog werden, gerade durch die Gegensätzlichkeit unserer Gesichtspunkte. Wystan – früher (noch vor drei oder vier Jahren!) ein viel entschiedenerer politischer Aktivist, als ich es jemals gewesen bin – ist jetzt der Ansicht, daß der Schriftsteller jede Berührung mit der politischen Sphäre meiden sollte. Derselbe W. H. Auden, der 1937 das schöne Kampfgedicht »Spain« schreiben konnte, läßt sich 1941 folgendermaßen vernehmen: »Wenn ich auf die politischen Aktivitäten der literarischen Welt in den letzten zehn Jahren zurückblicke, kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, daß wir bei größerer Zurückhaltung und Mäßigung vielleicht stärker gewirkt, mehr ausgerichtet hätten. Der Künstler, wenn er auch nur halbwegs erfolgreich ist, nimmt ja in einer modernen, demokratischen Gesellschaft eine Ausnahmestellung ein, da er sich einer viel größeren Bewegungs- und Handlungsfreiheit erfreut als alle übrigen Bürger; weder der Staat noch irgendein anderer Chef haben ihm zu befehlen. Aber gerade diese Unabhängigkeit, diese soziale Losgelöstheit ist es vielleicht, die sein politisches Urteil trübt oder verzerrt; denn der ›freie Künstler‹ hat das Problem der politischen Macht nie am eigenen Leibe erlebt und also wohl nie begriffen. So dürfte die Schwäche zu erklären sein, die der politisierende Künstler für extreme Positionen zeigt, seine bedenkliche Neigung, das Heil entweder in der Anarchie oder aber bei einem ›guten Diktator‹ zu suchen.«
Auch werden wir von Auden ermahnt, keine politische Formel, kein soziales Programm jemals für die endgültige, absolute Wahrheit zu halten, woraufhin ich denn doch zu bemerken habe: »Gewiß ist jeder Fanatismus, jeder ›blinde Glaube‹ schädlich und gefährlich; aber eine ebenso große Gefahr liegt in jener lähmenden Skepsis, vor der alle Werte gleich fragwürdig, gleich relativ werden. Freilich enthält kein politisches Dogma die ›absolute Wahrheit‹; aber gewisse Dogmen sind von diesem Ideal noch weiter entfernt als andere: woraus sich für den Intellektuellen, den ›freien Schriftsteller‹ – auch, oder gerade für ihn – doch wohl die Verpflichtung zur Wahl ergibt.«
Wystan stimmt mir hierin zu, erinnert aber zum Schluß daran, daß die eigentliche Entscheidung des Künstlers und des Intellektuellen sich nicht in der politischen Sphäre zu vollziehen habe, sondern auf der moralischen Ebene. »Vor allem müssen wir den Sinn für absolute ethisch-religiöse Werte wiederfinden. Gelingt uns dies nicht, so werden wir dem Totalitätsanspruch der Macht des Staates auf die Dauer nichts entgegenzusetzen haben.«
8. April. Das vierte »Decision«-Heft ist beinah zufriedenstellend. Sehr wesentlich, sehr aktuell der Aufsatz des gescheiten, progressiven Max Lerner über »Democracy for a War Generation« mit seiner Forderung nach genau formulierten, kühnen und realisierbaren demokratischen Kriegszielen. Auch der Artikel von Maurice Samuel, »The Destruction of the Intelligence«, scheint mir bemerkenswert. Ausgezeichnetes über Psychologie und Methoden moderner Propaganda, wobei er die Goebbelsche nur als ein extremes Beispiel nimmt. Jede Propaganda, auch die gutgemeinte, hat es auf die Verdummung der Massen abgesehen: »The real objective is, always and continuously, the depression of the human intelligence.«
Was meinen eigenen (etwas zu langen) Essay über Walt Whitman betrifft, so kann ich nur hoffen, daß wenigstens ein Teil des Gefühls, welches mich beim Schreiben bewegte, in ihm nachschwingen und sich auf den Leser übertragen möge. Gerne wüßte ich, ob Sherwood Anderson, ein amerikanischer Dichter von wirklichem Format, an meinem Versuch Gefallen gefunden hätte …
Andersons Tod – auf einer Reise, irgendwo weit fort –, »this far-away death« (wie es in Muriel Rukeysers schönem Nachruf heißt) hat mich mehr betrübt, als in Anbetracht unserer kurzen Bekanntschaft vernünftig scheinen könnte. Aber vielleicht ist es gerade dies, was mich so traurig macht: daß ich ihn so wenig kannte, ihm nicht näherzukommen suchte, obwohl er mich mit solcher Freundlichkeit empfing.
Ich erinnere mich der Nachmittagsstunde in seinem ziemlich engen, ziemlich dunklen New Yorker Hotelzimmer; Tomski war auch dabei. Andersons Gesicht gefiel mir auf den ersten Blick; und je länger ich es ansah, desto lieber wurde es mir. Es war ein Gesicht mit weiten, ruhigen Flächen, etwas schlaff schon, etwas gedunsen, aber stark dabei; ein gutes, reiches Gesicht. Das Gesicht eines Mannes, der viel erlebt und viel verstanden hat: alles Menschliche ist ihm vertraut, die ganze Skala der Sehnsüchte und Leidenschaften: nur für das Kleinliche, die Bosheit, das Gemeine hatte er niemals Zeit.
Zum Abschied sagte er uns: »Come again.« Aber Tomski mußte nach Georgia, und ich war zu beschäftigt. So wurde der Besuch nicht wiederholt. Und ich hätte doch so viel von ihm lernen können.
20. April. Endlich ein Brief von André Gide! Er ist in Südfrankreich und scheint bis auf weiteres dort bleiben zu wollen; die Gerüchte über seine bevorstehende Amerikareise waren also wieder einmal »without any foundation«, aus der Luft gegriffen. Übrigens macht der Ton seines Schreibens es nur zu deutlich, daß er sich in einem Zustand der Depression und Entmutigung befindet. Ob er mir etwas für »Decision« schicken wird? Seine Zusage klingt recht bedingt: »Ich will versuchen, Ihnen möglichst bald ein paar Seiten zukommen zu lassen. Aber ich wage nicht, ein festes Versprechen zu geben; denn von fünf Tagen sind es mindestens vier – wenn nicht gar neun von zehn! –, die mich zur Arbeit völlig außerstande finden. Und zu den inneren Hemmungen kommen die äußeren; all diese ›Rücksichten‹, die zu nehmen sind …«
Das Wort »Rücksichten« – in Anführungszeichen! – sagt genug. Der Zensor! Vichy! Die Nähe der deutschen Macht!
Gide ist ein Gefangener.
2. Juni. Die Zeitschrift macht viel mehr Mühe, bringt viel mehr Ärger und Aufregung mit sich, als ich jemals für möglich gehalten. Am lästigsten ist natürlich das Geldproblem. War es also doch fehlerhaft, ein solches Unternehmen mit relativ geringen Mitteln zu beginnen? Man hatte mich gewarnt, aber ich wollte nicht hören. Und nun weiß ich nicht, wie ich die nächste Druckerrechnung zahlen soll … Quälende Verhandlungen mit Geldgebern, die nichts geben wollen. Ach, diese Reichen! Wie launisch sie sind! Wie grausam! Sowie sie merken, daß man Absichten auf ihr geliebtes Bankkonto hat, ziehen sie sich zurück. Aber freilich, wenn sie nicht geizig wären, sie blieben nicht lange reich. Und wenn sie kein Geld mehr hätten, was würde dann aus ihnen?
Bei all dem habe ich doch Freude an »Decision« und denke nicht daran, mein Sorgenkind aufzugeben. Gute Zusammenarbeit mit dem begabten und sensitiven, freilich auch etwas kapriziös-schwierigen Christopher Lazare, der jetzt zu meinem »editorial staff« gehört. Interessante Beiträge von jungen Amerikanern. Wie viel Talent es hier gibt! In der Juni-Nummer, eine entschieden merkwürdige, schwermütig-groteske »short story« von Eudora Welty, deren Namen man sich merken muß. (Sie kommt aus dem »Tiefen Süden«, wie Carson McCullers, wie Faulkner, von dem beide, Welty und McCullers, beeinflußt sind.) Im kritischen Teil, eine sehr brillante, sehr scharfe, übrigens ziemlich alarmierende Glosse von Martin Gumpert über Lawrence Dennis, »An American Fascist«. (»Dennis is unquestionably the brains behind Lindbergh, Anne Morrow, Wheeler, Taft, and all the others who are, knowingly or unkowingly preparing the collapse of democracy.«) Und für das Juli-Heft habe ich Zauberers großen Artikel über »Germany's Guilt and Mission«.
29. Juni. Hitlers Überfall auf die Sowjetunion ist ein Ereignis von so enormer Tragweite, daß ich es kaum zu kommentieren wage, nicht einmal in diesen persönlichen Notizen, geschweige denn öffentlich. Aber dies will ich doch heute aufschreiben: daß in meiner ersten, instinktiven Reaktion auf die ungeheure Neuigkeit das Gefühl der Erleichterung überwiegt. Gewiß, man ist entsetzt, empört, erschüttert, auch besorgt. (Wie lange kann Rußland sich halten? Wird das Hakenkreuz bald von den Türmen des Kreml wehen, wie von der Prager Burg und den Pariser Palästen?) Aber man atmet doch auf. Die Luft ist reiner geworden. Der Stalin-Hitler-Pakt, eine der größten Perversitäten und Paradoxe der Weltgeschichte, gehört nun der Vergangenheit an: zusammen mit »München« und anderen blamablen Erinnerungen …
Und die Zukunft …?
Am gleichen Tag, später. Niemand weiß, was geschehen wird. Aber selbst angenommen, die Rote Armee wäre wirklich so schwach, wie man hier allgemein zu glauben scheint, die Invasion der Sowjetunion wird Hitler immer noch teuer genug zu stehen kommen. Er hat einen Fehler gemacht, den entscheidenden. Es ist der Anfang vom Ende.
Ist er toll, dieser Hitler? Er hätte sich mit dem England Chamberlains gegen das kommunistische Rußland verbünden können oder mit dem kommunistischen Rußland gegen die angelsächsisch-kapitalistische Welt. Er aber greift beide an! Ja, er ist toll – Gott sei Dank!
In seiner Tollheit wird er zustande bringen, was keiner Diplomatie gelingen wollte: die Alliance zwischen Ost und West, zwischen Bolschewismus und Demokratie, zwischen Moskau und Paris-London-Washington. Wenn diese Große Koalition sich wirklich bilden und bewähren sollte – nicht nur im Kriege, sondern auch nachher –, unsere bedrohte Zivilisation wäre vielleicht gerettet. Wie dankbar wollten wir dem tollen Hitler sein (der dann schon längst ein toter Hitler wäre …)
10. August. »Einsamer nie als im August …«
Die Zeile von Gottfried Benn will mir – trotz allem – nicht aus dem Sinn.
Einsamer nie als im August:
Erfüllungsstunde –, im Gelände
die roten und die goldenen Brände,
doch wo ist deiner Gärten Lust?
Wo alles sich durch Glück beweist
und tauscht den Blick und tauscht die Ringe
im Weingeruch, im Rausch der Dinge,
dienst du dem Gegenglück, dem Geist.
Das »Gegenglück«, dem ich zur Zeit diene, heißt »Decision«. Die Zeitschrift hält mich fest. Ich bin an New York gebunden.
New York glüht. New York schwitzt. New York trieft und dampft, New York stinkt, New York stöhnt, New York geht aus dem Leim – der New Yorker Asphalt ist schon ganz aufgeweicht, eine zähe Masse … Die Hitze, die am Tage infernalisch scheint, wird in der Nacht noch schlimmer. Keine Kühlung! Kein Hauch vom Meer! Nur der sengende Atem der Hochhäuser, in deren getürmtem Gemäuer sich die ganze Glut des Tages zu akkumulieren scheint wie in gigantischen Öfen.
»Einsamer nie als im August …« Ich wandere nachts durch diese heißen, dunklen Straßen, immer in Schweiß gebadet, immer allein. Ich atme diese feuchte, schwere, mit Sinnlichkeit geladene Treibhaus- und Dampfbadluft. Ich bin immer hier. Seit der Auflösung unseres Princeton-Hauses – das dürfte im April gewesen sein – habe ich die Stadt nicht einen Tag verlassen, nicht eine Stunde war ich auf dem Land. Die Stadt gefällt mir. Ich mag Städte. Ich mag diese Stadt. New York gefällt mir, auch mit aufgeweichtem Asphalt. Ich habe keine Sehnsucht nach den Bergen oder nach dem Meer. Auch nach Menschen habe ich kein Bedürfnis.
E. ist in England. Die Eltern sind in Kalifornien, wo sie sich endgültig niederlassen wollen. Von den vielen Bekannten, die ich hier habe, scheinen die meisten, fast alle, in kühlere Regionen geflohen zu sein. Manchmal verbringe ich einen Abend mit Christopher Lazare. Oder mit Landshoff, der seit einiger Zeit hier ist. Oder mit Muriel Rukeyser, die sich neuerdings dem Redaktionsstab von »Decision« angeschlossen hat.
Aber sogar diese wenigen Gefährten verschwinden von Freitag nachmittag bis Montag früh. Ich bleibe, gelähmt, gefesselt vom Dämon dieses gnadenlosen Sommers. Ich kann mich nicht bewegen. Mein Zimmer im »Bedford« wird zum dumpfen Käfig, aus dem es kein Entrinnen für mich gibt …
Der einzige Trost dieser infernalischen Weekends sind die Anrufe aus der Stadt Savannah im Staate Georgia. Jeden Sonntag kommt Tomskis vertraute Stimme aus dieser fremden, südlichen Stadt, wo es gewiß noch heißer ist als hier. Er hat ein Hotelzimmer dort; für ihn aber ist es kein Käfig, sondern ein kleiner Hafen, eine Zufluchtsstätte, wo er sich nach einer harten Woche in »Camp Stewart« vierundzwanzig Stunden der Erholung gönnt. Er erzählt mir von den Märschen, den Schießübungen, dem groben Sergeanten, wie anstrengend und öde, wie häßlich und wie sinnlos alles ist. Er fragt nach New York – mit welcher Gier erkundigt er sich nach allem, was hier geschieht! Dabei geschieht so wenig … Er fragt mich nach meiner Arbeit. Und ich bin so faul!
In seiner martialischen Verbannung und Sklaverei beneidet er mich um meine Muße, meine Unabhängigkeit. Wüßte er, wie ich die Zeit vergeude! Wie wenig Genuß und Gewinn meine Freiheit mir bringt!
Ich schäme mich vor ihm. Ich möchte etwas tun, etwas leisten, wovon ich ihm am Telephon erzählen könnte. »Decision« genügt mir nicht mehr. Artikel genügen nicht. Ich will etwas Größeres schreiben, etwas Großes: ein Buch!
Ein Buch, in englischer Sprache … damit ich dem Tomski etwas zu berichten habe, wenn das Ferngespräch, der »person-to-person call« aus Savannah kommt. »Imagine! The first chapter is practically finished …«
Ein Buch …
Am gleichen Tag, später … Aber was für ein Buch?
Die Stunde ist ernst. Ich weiß um den Ernst der Stunde. Mir ist ernst zumute. Ich will ein ernstes Buch schreiben, ein aufrichtiges Buch.
Kann ein Roman ganz ernst, ganz aufrichtig sein? Vielleicht. Aber ich will keinen schreiben; nicht jetzt, nicht zu dieser Stunde. Ich bin müde aller literarischen Clichés und Tricks. Ich bin müde aller Masken, aller Verstellungskünste. Ist es die Kunst selbst, derer ich müde bin? Ich will nicht mehr lügen. Ich will nicht mehr spielen. Ich will bekennen.
Die ernste Stunde – das ist die Stunde der Konfession.
11. August. Was ich da gestern abend unter dem Einfluß der betäubenden Hitze und einiger Whisky-Sodas hingekritzelt habe, leuchtet es mir noch ein, da ich es nun mit nüchternem Kopf, bei etwas abgekühlter Temperatur bedenke? Ja und nein. Ich war aufgeregt, um nicht zu sagen »aufgewühlt«, und habe wohl den Mund ein wenig voll genommen. »Müde der Kunst«? Was nicht gar! Aber die Idee, gerade jetzt, im Augenblick der Krise, ein »Bekenntnis« abzulegen – das heißt also: eine Autobiographie zu schreiben –, scheint mir attraktiv und plausibel: auch ohne Alkohol und bei relativ kühlem Wetter.
Jedes ehrliche, genaue Zeugnis zählt und hat Gewicht. Warum sollte meines wertlos sein?
Jedes Menschenleben ist zugleich einzigartig und repräsentativ; in jedem persönlichen Schicksal, jedem individuellen Drama spiegelt und variiert sich das Drama einer Generation, einer Klasse, eines Volkes und einer Zeit.
Was für eine Geschichte ist es denn, die ich zu erzählen habe?
Die Geschichte eines Intellektuellen zwischen zwei Weltkriegen, eines Mannes also, der die entscheidenden Lebensjahre in einem sozialen und geistigen Vakuum verbringen mußte: innig – aber erfolglos – darum bemüht, den Anschluß an irgendeine Gemeinschaft zu finden, sich irgendeiner Ordnung einzufügen: immer schweifend, immer ruhelos, beunruhigt, umgetrieben, immer auf der Suche …;
die Geschichte eines Deutschen, der zum Europäer, eines Europäers, der zum Weltbürger werden wollte;
die Geschichte eines Individualisten, dem vor der Anarchie fast ebenso sehr graut wie vor der Standardisierung, der »Gleichschaltung«, der »Vermassung«;
die Geschichte eines Schriftstellers, dessen primäre Interessen in der ästhetisch-religiös-erotischen Sphäre liegen, der aber unter dem Druck der Verhältnisse zu einer politisch verantwortungsbewußten, sogar kämpferischen Position gelangt …
Meine Geschichte – möglichst ehrlich, möglichst genau ist sie aufzuschreiben, mit all ihren zeitbedingten, zeitcharakteristischen Zügen, mit ihrer besonderen und aparten Problematik. (Der Schatten des väterlichen Ruhms auf meinem Weg …, ja, das gehört auch hinein.)
Ich hätte Lust, gleich mit der Arbeit anzufangen. Will mit Landshoff darüber sprechen. Vielleicht wird es etwas für den amerikanischen Verlag, den er hier mit Bermann Fischer aufgemacht hat?
Am gleichen Tag, später. Aufrichtig sein! Nicht mehr lügen! Den Mut zu sich selber haben! Warum sollte ich mich bemühen, irgendjemandem zu schmeicheln oder Eindruck zu machen? Ich bin allein. Ich bin frei. Ich besitze nichts; ich will keinen Besitz. Warum sollte ich diplomatisch sein? Auf wen sollte ich Rücksicht nehmen? Ich kümmere mich nicht um den Stand der Börse, nicht um die Sexual-Tabus bourgeoiser oder marxistischer Zeloten, nicht um die Phrasen irgendeines Nationalismus. Der Nationalismus, jeder Nationalismus gilt mir als die gefährlichste und dümmste Verirrung des modernen Menschen. Ich habe mich von meiner Nation getrennt, weil mir ihre aggressive Prahlerei zum Ekel wurde. Ich glaube an die unteilbare, universale Zivilisation, nach der das Jahrhundert verlangt.
Am gleichen Tag, noch später. Alleine? Frei? Ich bin's. Aber ist es ein Grund zum Frohlocken? Freiheit kann zur Verzweiflung führen.
Angst vor der Verzweiflung.
22. August. Zwei Zitate würde ich gern meiner Autobiographie als Mottos voranstellen. Das eine, aus den Tagebüchern Franz Kafkas:
»Nicht verzweifeln, auch darüber nicht, daß du nicht verzweifelst. Wenn schon alles zu Ende scheint, kommen doch noch neue Kräfte angerückt, das bedeutet eben, daß du lebst.«
Das andere, aus der »Porte étroite« von André Gide:
»Je me figure la joie céleste non comme une confusion en Dieu, mais comme un rapprochement infini, continu … et si je ne craignais de jouer sur un mot, je dirais que je ferais fi d'une joie qui ne serait pas progressive.«
Ohne Datum: Wenn es Gott nicht gäbe, wir müßten Ihn erfinden. Könnte es dem Schöpfer zugemutet werden, im Nicht-Sein zu verharren, während Seine Schöpfung sich in tausendfacher Wandlung unersättlich selbst genießt? Welch unfaßbares, unerträgliches Leid es für Ihn wäre, nicht mit uns leiden zu dürfen.
Wäre Er nicht – aus Erbarmen müßte die Kreatur Ihn kreieren.
Am gleichen Tag, später. Aber Er ist!
Da wir uns Seine Existenz vorzustellen vermögen, wird Seine Nicht-Existenz unvorstellbar. Die Konzeption des Göttlichen muß göttlichen Ursprungs sein. Die Frage nach Gott, das Suchen nach Gott wird zum Gottesbeweis.
Woher käme unser schöpferischer Impuls, wenn nicht vom Schöpfer?
Und doch verhält es sich so, daß Gott des Menschen bedarf, vom Menschen abhängt. In unserem Gedanken wird Er sich Seiner Selbst bewußt; in unserer Sehnsucht erkennt Er das Eigene Gefühl. Vielleicht – sehr wahrscheinlicherweise – hat Er auch noch andere Instrumente der Selbst-Erkenntnis, der Selbst-Identifizierung; wir sind nicht Sein einziger Spiegel. Aber sogar wenn unser Gottesbegriff nur einer unter unendlich vielen wäre, Er könnte ihn nicht entbehren. Sein unendliches Wesen will unendlich oft geahnt, gedacht, gedeutet sein.
Er braucht uns …
Diese Einsicht involviert Verantwortungen ungeheurer Art. Gott will, daß wir Ihm gefällig seien, hier und jetzt, auf unserem irdischen Plan. Andere Welten gehen uns nichts an. Ich glaube, daß es andere Welten gibt; aber sie haben keinen Bezug auf unsere hiesige und jetzige Pflicht, unser jetziges, hiesiges Drama. Der Gedanke an diese anderen Welten ist eher geeignet, unseren Geist zu verwirren und von seiner jetzig-hiesigen, einzig relevanten Aufgabe abzulenken.
Da wir das Unendliche nur im Gleichnis des Endlichen erfassen können, wird das Endliche von unendlicher Bedeutung; denn nur über die erfüllte Endlichkeit führt unser Weg zum Unendlichen.
Er braucht uns. Wenn wir uns im Endlichen nicht erfüllen, bleibt auch Seine Unendlichkeit unerfüllt. Unsere Niederlage wäre auch die Seine; unsere Lüge beeinträchtigt Seine Wahrheit; unsere vergängliche Schande entstellt, versehrt Sein unvergängliches Bild.
Je mehr ich an Gott denke, je inniger ich mich mit Ihm beschäftige, desto deutlicher wird mir die enorme Wichtigkeit, die metaphysische Relevanz unserer jetzig-hiesigen Probleme und Affären.
3. September. Sehr beschäftigt mit den Vorarbeiten zur Autobiographie (»The Turning Point«) und mit »Decision«. Das September-Heft macht mir Freude, vor allem die »English War-Time Anthology«. Wichtige Beiträge von Harold Laski, Julian Huxley, E. M. Forster, Stephen Spender, Dylan Thomas. Alles, was jetzt aus England kommt, ist von hohem Niveau und zeugt von sittlich-politischer Reife. Es ist eine vornehm gelassene, elegante Entschlossenheit, mit der das bedrohte, beschädigte England sich behauptet. Kein Hurra-Patriotismus! Kein Fahnenschwingen oder Säbelrasseln! Kein Haß! Man bleibt sich der moralischen Werte bewußt, um die es in diesem Kriege geht und die im Prozeß des Kampfes nicht preisgegeben werden dürfen. Man will nicht nur den Krieg gewinnen, sondern auch den Frieden.
Gleichfalls in der September-Nummer – damit wir nicht zu optimistisch werden! – ein Aufsatz mit dem ominösen Titel »Post-War Apocalypse«. Der Autor, Henry G. Alsberg (ein literarischer Vorkämpfer der Rooseveltschen »New Deal«-Philosophie) prophezeit eine chaotisch aufgewühlte, tragisch uneinige Nachkriegswelt. »The outlook is dark, whichever way you look at it …«
16. September. Arbeit an einer deutschen Anthologie für die Oktober-Nummer: »short story« von A. M. Frey; Essays von Frank Kingdon, Heinrich Mann, Hermann Kesten, Gustav Regler; Lyrik von Bert Brecht und – Stefan George, den man hier fast nicht kennt. Unterhaltung über Größe und Gefährlichkeit dieser so sehr deutschen, fragwürdig-liebenswerten Dichterfigur mit Peter Viereck, sympathischer, begabter Sohn des politisch suspekten, literarisch zweitklassigen alten George Sylvester Viereck. Während der anrüchige Papa für Nazi-Deutschland Propaganda macht, untersucht Peter die geistesgeschichtlichen Wurzeln und historischen Hintergründe der gegenwärtigen deutschen Psychose. In seinem Buch »Metapolitics: From the Romantics to Hitler« gibt es viel zu lernen, selbst für mich, der ich mich doch im Labyrinth der germanischen Seele ein wenig auszukennen glaube. Aber dieser junge Amerikaner (teilweise deutscher Abkunft) scheint mit dem Problem des Deutschtums fast ebenso vertraut wie unsereiner – und steht ihm dabei doch mit größerer Distanz gegenüber.
Mit Peter verabredet, daß er den Zyklus von George-Gedichten im Oktober-Heft einleitet. Wollte es erst selber tun, aber mir fehlt die Objektivität: Mein George-Bild würde entweder zu idealisch ausfallen oder zu gehässig. (Oder beides – was das schlimmste wäre!)
Am gleichen Tag, später. Heute nachmittag, in der »Bedford«-Bar, erregten E. und ich den Unwillen eines älteren Gentleman, indem wir deutsch miteinander sprachen. Erst begriffen wir gar nicht, warum er an seinem Tisch so unheilverkündend brummte und knurrte, bis er endlich aufsprang und vor uns hintrat mit purpurner Zornesmiene. »Stop it!« brüllte der cholerische Greis. (Es war recht beängstigend: der Schlag hätte ihn treffen können.) »That damned Nazi talk! Stop it! Shut up! Or speak English!«
Er hätte noch lange getobt, aber E. unterbrach ihn, ganz damenhafte Liebenswürdigkeit. »Delighted to meet you, Sir!« Sie sprach mit ihrem feinsten britischen Akzent, wodurch der aggressive Alte so beeindruckt war, daß ihm der Mund buchstäblich offen stehen blieb. Der Mund blieb offen, während E. mit schöner Würde fortfuhr: »Ich verstehe Ihre Animosität, mein Herr; ich teile Ihren Abscheu vor den Nazi-Greueln. Aber da Amerika sich noch immer nicht entschließt, das greuliche Regime zu bekämpfen oder auch nur zu boykottieren, was soll der Boykott einer Sprache, die übrigens in ihrer richtigen und reinen Form mit dem Nazi-Kauderwelsch kaum irgendeine Verwandtschaft hat?«
17. September. »The Myths of Childhood« (erstes Kapitel des »Turning Point«) abgeschlossen. Merkwürdig, diese Beschwörung frühesten Erlebens, in fremder Zunge …
Und wenn ich den »Turning Point« später einmal, nach dem Kriege, in deutscher Sprache publizieren will – wer soll ihn übersetzen? Ich natürlich – wer sonst? Ich könnte nicht mein Leben von einem anderen auf deutsch erzählen lassen. Ich muß es selber tun.
Das ganze Buch noch einmal schreiben! Ein Albtraum …
(Auch diese Notizen – in englischer Sprache aufs Papier geworfen – werden von meinem »alter ego«, meinem deutschen Ich zu übertragen sein.)
Am gleichen Tag, später. Das Sprachproblem – höchst quälend, höchst verwirrend …
Julien Green, der jetzt auch englisch schreibt (übrigens auch ein Erinnerungsbuch), erzählte mir neulich von seinen Schwierigkeiten. Dabei ist er, der in Frankreich geborene und erzogene Amerikaner, völlig zweisprachig aufgewachsen! Aber gibt es das überhaupt, völlige Zweisprachigkeit? Da Green sich nun einmal für das Französische entschieden hat, fühlt er sich – wie er mir versichert – im Englischen nicht mehr so recht zu Hause: obwohl es doch eigentlich seine »erste Sprache« ist …
Wenn die linguistische Metamorphose (die in seinem Fall doch nur eine Rückverwandlung, eine Heimkehr ist) schon ihm so viel Qual und Mühe macht, wie sollte ich sie zu bestehen hoffen?
Je tiefer ich ins Englische eindringe, desto stärker empfinde ich die eigene Unzulänglichkeit. Wie unendlich reich ist diese Sprache, die Sprache Shakespeares und Burkes, Melvilles und Whitmans! Und wie verschieden ist sie von der unseren!
Der unseren? Bin ich dem Deutschen nicht schon halb entfremdet? Vielleicht läuft es darauf hinaus, daß man die Muttersprache verlernt, ohne mit der neuen Zunge jemals ganz vertraut zu werden …
Aber wenn ich keine Sprache mehr hätte, was bliebe mir …?
Am gleichen Tag, noch später. Frappiert von diesen Zeilen, die ich bei T. S. Eliot (in seinem Gedicht »Eeast Coker«) finde:
So here I am, in the middle way, having had twenty years –
Twenty years largely wasted, the years of
l'entre deux guerres –
Trying to learn to use words, and every attempt
Is a wholly new start, and a different kind of failure …
Ein Meister, der in seiner eigenen Zunge schreiben darf und kämpft mit dem Wort, um das Wort, wie nur irgendein Anfänger oder wie einer, der sich auf eine neue Sprache umzustellen versucht.
Für ihn, wie für uns, für jeden, dem es ernst mit der Sprache ist und mit dem Leben: immer wieder das Lernen und Umlernen, immer wieder das Scheitern, und dann »the wholly new start«, der gänzlich neue Anfang.
»For us«, sagt Eliot, »there is only the trying. The rest is not of our business.«
Für uns gilt allein das Versuchen. Der Rest ist nicht unsere Sache. Gutes, tröstliches Wort!
7. Dezember. Pearl Harbor …
Meine Reaktion ist ähnlich wie vor einem halben Jahr, bei der Invasion der Sowjetunion; die gleiche Mischung aus Entsetzen und Erleichterung (wobei das Moment der Erleichterung, auch jetzt wieder, überwiegt). Aber diesmal ist alles näher, wirklicher. Gefühl direkter, persönlichster Betroffenheit.
12. Dezember. Es ist beinah unmöglich, an irgend etwas zu denken, außer an die »großen Ereignisse«.
Amerika ist im Krieg mit Nazi-Deutschland. Ich will in die amerikanische Armee. (Bin aber noch kein »citizen«, darf mich also nicht freiwillig melden, sondern muß hübsch warten, bis man mich holt …)
20. Dezember. Nur die »großen Ereignisse« im Kopf? Aber die Arbeit am »Turning Point« geht weiter und der Kampf um »Decision« auch. Am Tage nach »Pearl Harbor« war mein spontanes Gefühl: Schluß mit der Zeitschrift! Wozu noch »Decision«? Die Entscheidung fällt anderswo … Aber Tomski und andere Freunde taten alles, um mich umzustimmen. Eine kosmopolitisch-progressiv eingestellte Revue von hohem geistigem Niveau – so wurde mir versichert – habe gerade jetzt eine vitale Funktion und müsse unbedingt gerettet werden. Sei es drum! Aber die Schwierigkeiten häufen sich. Das Geldproblem geht mir immer mehr auf die Nerven.
Trost der Lektüre (immer wieder Gide, Eliot, Thomas Wolfe); Trost der Musik.
Sehr genußreicher Abend in der »Metropolitan Opera«: »Die Zauberflöte« (unter Bruno Walter). Tiefer denn je berührt von der holden Erhabenheit, der lächelnden Majestät des Werkes. Welch strömender Reichtum der musikalischen Erfindung, der vielfach wechselnden, präzis und innig formulierten Emotion! Das Mozartsche Genie entfaltet, verschenkt sich hier in seiner ganzen Fülle; »Die Zauberflöte« übertrifft selbst den »Figaro«, ja noch den »Don Giovanni« an dramatischem Effekt und kühner Inspiration. Auch das Libretto gefällt mir, trotz seinen naiven Fehlern. Sehr reizvoll, sehr suggestiv, die Mischung aus aufklärerischem Freimaurer-Ethos und phantastischer Laune, aus kindlicher Zauberposse und hohem Weihespiel. Die feierliche Vernünftigkeit, der ins Priesterliche gesteigerte common sense des Sarastro läßt an den späten Goethe denken; die stupende Vielfalt kontrastierender Stimmungen und Gesichte, dies gewagte Nebeneinander komischer und ernster, burlesker und zärtlicher Elemente gemahnt an Shakespeares universale Gastlichkeit.
Wie brutal und bombastisch, wie indiskret und vulgär, wie langweilig erscheint Richard Wagners »Musikdrama« neben dieser magisch-amüsanten, heiter-profunden Kunst! Die reizende »Zauberflöte« – nicht die wüste »Götterdämmerung« – antizipiert den musikalisch-dramatischen Stil der Zukunft: gesetzt, es gibt eine Zukunft mit Drama, mit Musik, mit Stil … Halb humanistisches Lehrstück, halb barocker Mummenschanz, raisonable noch in der Kaprice, edel noch im Ulk, in all seiner schillernden Zusammengesetztheit und hohen Unschuld, mit all seinem Glanz, seiner Lieblichkeit, seinen Ahnungen, seiner Anmut möge Mozarts festliches Meisterwerk von künftigen Geschlechtern geliebt, verstanden, nachgeahmt und vielleicht gar übertroffen werden!
14. Januar 1942. Angesichts des Heroismus, mit dem die Rote Armee und das russische Volk die Nazi-Invasion bekämpfen, erscheint unser Urteil über die Sowjetunion in mancher Hinsicht revisionsbedürftig. Gewisse Tendenzen und Aspekte der Kreml-Politik, an denen wir Anstoß zu nehmen pflegten, werden erst jetzt verständlich. Wie steht es etwa, im Licht der heutigen Ereignisse, um jene berüchtigten Prozesse von 1937? Die summarisch-rigorose Liquidierung der militärischen und »trotzkistischen« Opposition wurde damals in liberalen Kreisen als unerträglicher Skandal empfunden. Auch ich war tief empört und muß mich doch heute fragen, ob die garstigen Massenhinrichtungen vor fünf Jahren nicht doch vielleicht notwendig gewesen sind. Was damals in Moskau ausgerottet wurde, war es nicht eben jene »Fünfte Kolonne«, der die Demokratie in Frankreich, Holland, Belgien und anderen Ländern so geschwind zum Opfer fiel? Ohne die Prozesse von 1937 gäbe es heute, 1942, vielleicht keinen russischen Widerstand … Und Finnland? Wir alle schrien Zeter und Mordio, als dieses kleine und beliebte Land von der großen und unbeliebten Sowjetunion überfallen wurde. Wie aber, wenn wir uns voreilig entrüstet hätten? Nein, Eroberungslust war es wohl nicht, was die Sowjetunion zu ihrem aggressiven Akt bestimmte. Stalin griff an, um dem Angreifer zuvorzukommen. Er wußte, was Hitler plante und wie gefügig das anti-russische, pro-deutsche Helsingfors diesen Plänen war. Eine strategische Position von solcher Wichtigkeit mußte gesichert werden …
Die Tatsache, daß Rußland heute unser Bundesgenosse gegen Nazi-Deutschland ist, soll uns nicht blind für die Fehler des Sowjet-Regimes machen. Aber wenn dies Regime wirklich so hassenswert wäre und – wichtiger – wenn es von den russischen Massen wirklich so gehaßt würde, wie eine reaktionäre Presse uns seit über zwanzig Jahren einzureden versucht, wie erklärt sich dann der zähe Heldenmut, mit dem das russische Volk sich jetzt verteidigt? Man sage doch nicht, die Liebe zur »russischen Erde« sei das einzige Motiv für solche Tapferkeit! Auch 1917 stand der Feind auf diesem heiligen Boden – was die Bauern, Arbeiter und Intellektuellen keineswegs davon abhielt, den Krieg zu sabotieren; denn die Zarenherrschaft war nicht mehr erwünscht, und man gedachte, sie loszuwerden. Auch der kommunistischen Diktatur könnte man sich jetzt entledigen, hätte man es darauf abgesehen. Gerade dies scheint nicht der Fall zu sein. Man sabotiert nicht: man kämpft. Wem gäbe das nicht zu denken?
(Hier ließe sich allerdings der Einwand machen, daß es auch im Hitler-Reich kaum nennenswerte Sabotage gibt. Auch dort steht die Nation »wie ein Mann« hinter dem Diktator, ohne daß wir ihn darum weniger scheußlich fänden. Worauf aber denn doch zu erwidern wäre, daß der deutsche Tyrann bisher immer nur Siege aufzuweisen hatte und sogar jetzt noch siegt; wenigstens scheint es so. Warten wir einmal ab, was aus der Popularität des Führers wird, wenn die Russen vor Berlin stehen und die westlichen Alliierten im Rheinland! Sollten die Deutschen selbst dann noch ihrem Adolf die Treue halten – nun, so würde es nicht für diesen sprechen, sondern gegen jene …)
31. Januar. Man versichert mir allgemein, das soeben erschienene Doppelheft von »Decision« (die Januar-Februar-Nummer) sei das beste von allen. Schade, daß es auch das letzte ist. Es geht nicht weiter. Schluß! Mit ein paar tausend Dollars wäre das Ding zu retten; aber die sind nicht aufzutreiben …
Gefühl der Bitterkeit. Mit welcher Hoffnung, welchem Enthusiasmus habe ich dies Unternehmen angefangen! Wieviel Arbeit hat es mich gekostet! (Nicht zu reden von den finanziellen Opfern …) Umsonst … immer wieder läuft es darauf hinaus.
Einziger Trost: daß ich mich nun auf die Arbeit am »Turning Point« konzentrieren kann. Wieviel Zeit bleibt mir noch, um sie abzuschließen? (Ich will in die Armee. Ich will Uniform tragen wie die anderen. Ich will kein Außenseiter, keine Ausnahme mehr sein. Endlich darf ich mich einmal mit der Majorität solidarisch fühlen. Jeder Amerikaner sagt heute: »Let's lick that damned son-of-a-bitch over there, in Berlin!« Ich habe den gleichen Wunsch.)
23. Februar. Die Nachricht von Stefan Zweigs Selbstmord in Brasilien kam so völlig unerwartet, daß ich sie zunächst kaum glauben konnte. Bei Toller war man auf dergleichen vorbereitet; aber doch nicht bei ihm, der so lebensfroh, ja genießerisch, so verwöhnt vom Glück, so ausgeglichen, so vernünftig schien! Er hatte Ruhm, Geld, sehr viele Freunde, eine junge Frau – und warf alles fort … Warum? In seinem Abschiedsbrief ist vom Krieg die Rede. Der Krieg, Triumph der Barbarei, Durchbruch zerstörerischer Urinstinkte! Dem Humanisten graut. Ist dies noch seine Welt? Er erkennt sie nicht mehr. »Ich passe nicht in diese Zeit. Diese Zeit mißfällt mir …« Und greift zum Gift. Ruhm, Geld und Freunde läßt er hier zurück; die junge Frau aber wird mitgenommen.
Ist es so einfach? Ach, was wissen wir …
Ich lese seine Briefe aus den letzten Jahren wieder durch. Hier dankt er für ein Buch, dort übt er Kritik, gibt Ratschläge, verspricht einen Artikel, erzählt von einer Reise, einem Theaterabend. Sonst nichts? Doch, manchmal gibt es wohl ein Wort der bitteren Ironie oder Müdigkeit, gedämpfte Seufzer und diskrete Klagen. Mir fiel nichts auf. Ich verstand ihn nicht. Ich hielt ihn für den genäschig-weltoffenen Literaten, dem nichts nahegeht. Und er war ein Verzweifelter!
Als ich ihn zuletzt sah, hier in New York – es ist nicht lange her: fünf oder sechs Monate, vielleicht sieben –, da war er gewiß schon der Verzweiflung nah. Er ließ sich aber nichts merken, sondern gab eine »cocktail-party«. Die »party« verlief ganz munter; es waren fast nur Literaten da. Er war ja selbst mit Leib und Seele Literat, der Literatur verfallen und verschworen, »good old Stefan Zweig«!
Nach dem Cocktail-Klatsch begegnete ich ihm nur noch einmal, auf der Straße. Er kam mir auf der Fifth Avenue entgegen, ohne mich übrigens gleich zu bemerken. Er war »in Gedanken«, wie man wohl sagt; es dürften keine sehr vergnügten Gedanken gewesen sein. Die Sonne schien, der Himmel lächelte; nicht aber »good old Stez«, der eher düster wirkte. Da er sich unbeobachtet glaubte, gestattete er seinem Blick, starr und gramvoll zu werden. Keine Spur mehr von der heiteren Miene, die man sonst an ihm kannte. Übrigens war er an diesem Morgen unrasiert, wodurch sein Gesicht erst recht verfremdet und verwildert schien.
Ich sah ihn an, das Stoppelkinn, die blicklos finsteren Augen, und dachte mir: ›Nanu! Was ist los mit ihm?‹ Dann ging ich auf ihn zu: »Wohin des Weges? Und warum so eilig?« Er fuhr zusammen, wie ein Schlafwandler, der seinen Namen hört. Eine Sekunde später hatte er sich gefaßt und konnte wieder lächeln, plaudern, scherzen, verbindlich, angeregt wie eh und je: der weltmännisch gesittete und elegante, etwas zu glatte, etwas zu liebenswürdige homme de lettres mit wienerisch nasaler Stimme und von unzweifelhaft »eminent pazifistischer Gesinnung«.
Aber das wildfremde Bartgesicht, das er mir erst gezeigt, hätte mir doch zu denken geben sollen. Ich dachte: ›Nanu?‹ Und er war ein Verzweifelter …
13. März. E. macht mich darauf aufmerksam, daß heute das zehnte Jahr unseres Exils beginnt. Ein Jubiläum!
Werden wir – werde ich jemals wieder in Deutschland leben? Wohl kaum. Übrigens scheint mir die Frage, was mich betrifft, eigentlich nicht mehr von großer Wichtigkeit.
Ich bin weit gegangen, zu weit, als daß an Rückkehr noch zu denken wäre. Ich muß weitergehen – vorwärts, nicht zurück! – oder ich verliere den Weg und gehe in die Irre.
Die alte Heimat findest du nicht mehr, auch eine neue ist dir nicht beschieden. Die Welt ist deine Heimat: eine andre hast du nicht.
Die ganze Welt wird meine Heimat sein: gesetzt, es gibt noch eine ganze Welt nach diesem Kriege …
Heimkehr oder Exil? Falsche Problemstellung! Überholte Alternative! Die einzig aktuelle, einzig relevante Frage ist: Wird aus diesem Kriege eine Welt erstehen, in der Menschen meiner Art leben und wirken können? Menschen meiner Art, Kosmopoliten aus Instinkt und Notwendigkeit, geistige Mittler, Vorläufer und Wegbereiter einer universalen Zivilisation werden entweder überall zu Hause sein oder nirgends. In einer Welt des gesicherten Friedens und der internationalen Zusammenarbeit wird man uns brauchen; in einer Welt des Chauvinismus, der Dummheit, der Gewalt gäbe es keinen Platz, keine Funktion für uns. Wenn ich das Kommen einer solchen Welt für unvermeidlich hielte, ich folgte noch heute dem Beispiel des entmutigten Humanisten Stefan Zweig …
Aber warum sollte das Schlimmste immer unvermeidlich sein? Ich bin nicht ohne Hoffnung. (Hoffnung als Pflicht. Hoffnungslosigkeit als Schwäche.)
15. März. Den Nachruf auf Stefan Zweig für »Free World« abgeschlossen. Nun wieder zum »Turning Point«! Bin schon bei »Anja und Esther«, beim »Frommen Tanz«. Das Englische macht mir kaum noch Schwierigkeiten.
Wenig Menschen; viel Lektüre, vor allem Gide, der mir immer wieder neue Überraschungen bereitet. Lebhaftes Vergnügen an »Les Caves du Vatican«.
26. März. Ein Abend bei der (ziemlich radikal links eingestellten) »League of American Writers«. Harry Slochower (Literaturkritiker und Germanist, Autor eines sehr soliden Buches über Richard Dehmel) liest ein Kapitel aus seiner neuen Arbeit »Literature in War-Time«, über Ernst Toller, Stefan Zweig, Richard Wright. Nachher Diskussion, bei der F. C. Weiskopf (immer sehr sympathisch) und ein junger Neger-Schriftsteller (Namen vergessen) sich hervortun. Auch ich muß etwas sagen, bin aber in schlechter Form. Wie behindert, wie hilflos fühle ich mich in einem Kreis von Intellektuellen, die das Marxsche Dogma als Evangelium akzeptieren! Slochower, Weiskopf und der junge Neger scheinen sich darüber einig zu sein, daß Toller und Zweig sich nicht umgebracht hätten, wären sie nur bessere Marxisten gewesen. Macht die Philosophie des dialektischen Materialismus den Menschen immun gegen manisch-depressive Zustände und Schlaflosigkeit, immun gegen das »taedium vitae«, gegen den »Todestrieb«? Oder muß man aufhören, Mensch zu sein, um Marxist werden zu können?
10. April. Beim tschechoslowakischen Konsul. Interessante Mitteilungen über das Wachsen der Widerstandsbewegung in »unserem« Lande. (Ich bin ja noch immer Bürger der Tschechoslowakei und immer noch stolz darauf!) Der Konsul erzählt mir von Sabotage-Akten in der Rüstungsindustrie, im Verkehrswesen, in den Kasernen, von illegalen Rundfunksendungen und Flugblättern, von Attentaten.
Und diese Dinge geschehen nicht nur in der Tschechoslowakei, sondern auch in Frankreich, Holland, Norwegen, Dänemark. In allen besetzten Ländern!
Skeptiker ermahnen uns, die strategische und politische Bedeutung dieser weitverbreiteten, aber desorganisierten und hilflosen Opposition nicht zu überschätzen. Gewiß, die tollkühnen Verschwörergruppen und heroischen Individuen, die irgendwo zwischen Spitzbergen und Athen der Hitler-Macht heimlich trotzen, mögen heute als politisch-strategischer Faktor noch nicht in Frage kommen. Aber morgen? Wenn unsere Armeen erst in Europa stehen, auf wen werden wir uns dann stützen? Wer ist unser Bundesgenosse? Eben jenes Fähnlein der Aufrechten, jene desperaten Freiheitskämpfer, über die man jetzt die Achseln zuckt. In der europäischen »résistance« bereitet sich eine Volksbewegung vor, die nicht nur in der letzten Phase des Krieges, sondern auch bei der Gestaltung des Friedens eine sehr entscheidende Rolle spielen wird.
21. April. Amerikanischer Luftangriff auf Tokio; Lübeck von der RAF bombardiert. Gut so!
... Ich schreibe dies hin, und erschrecke. Wie, ist man schon so verhärtet, so entmenscht, daß man der Apokalypse Beifall klatscht? Denn apokalyptisch geht es ja wohl zu beim Bombardement einer modernen Stadt … Die Agonie unschuldiger Kinder, die Panik der Massen, das gehäufte Elend, die Zerstörung von Kathedralen und Krankenhäusern, Tempeln und Theatern, Gärten, Schulen, Arbeiterwohnungen und Bibliotheken – ist das »gut«?
Nicht gut, aber unvermeidlich! Hitler muß fallen. Alles, was ihn schwächt und seine Niederlage näher bringt, hat meinen Beifall. Die Bombardements schwächen Hitler. Ich bin für die Bombardements.
Am gleichen Tag, später. Aber was würde der Sieg über das Nazi-Regime nützen, wenn die Sieger sich vom Nazi-Geist infizieren ließen? Im Kampf gegen die äußerste Brutalität mögen brutale Mittel statthaft oder selbst notwendig sein. Indessen geziemt es sich, daß wir solche Mittel nur mit schlechtem Gewissen verwenden und akzeptieren. Die Skrupellosigkeit des Feindes darf uns nicht skrupellos machen. Gefahr der Ansteckung! Seien wir auf der Hut!
23. April. Gute Arbeit am »Turning Point«. Es geht schneller, leichter, als ich erwartet hatte.
Weitere Beschäftigung mit André Gide (das Tagebuch; essayistische Prosa: über Montaigne, über Dostojewski); gleichzeitig sehr innige und dankbare Wiederbegegnung mit deutschen Mystikern: Mechthild von Magdeburg, Jakob Böhme, Meister Eckhart, Angelus Silesius, Franz von Baader, Novalis … Zauberhafte Sphäre! Das »andere Deutschland« … ja, hier offenbart es sich in seiner reinsten und schönsten Form!
24. April. Brief von der Militärbehörde (»Local Board No. 15-23 of the Selective Service«) des Inhalts, daß »der Fall K. M.« neu geprüft werden soll. »The board intends to make a new determination of the registrant's classification.«
Mein Antwortschreiben (es ist schon unterwegs!) schließt mit den folgenden Sätzen: »Wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß ich bereit, ja begierig bin, der amerikanischen Armee beizutreten, auch schon vor meiner Naturalisation. Es ist mein aufrichtiger Wunsch, Ihrem Lande und unserer Sache zu dienen … Ich hoffe, es wird Ihnen möglich sein, meine Klassifizierung sofort zu ändern.«
28. Mai. Gestern, das letzte Kapitel des »Turning Point« abgeschlossen. Heute, zur militärischen Untersuchung.
Ich möchte, daß sie mich nehmen. Ich will dabei sein. Endlich einmal dabei sein!
2. Juni. Ungewißheit. Verzögerung. Warten …
Der sommerliche Tag ist lang und drückend. Ich habe zu viel Zeit, ein ungewohnter Zustand. Die Autobiographie ist fertig. Ich fühle mich ausgepumpt, erschöpft, unfähig zu neuer Arbeit. Übrigens wäre es riskant, gerade jetzt etwas Größeres anzufangen. Jeden Tag kann ich ja »zu den Fahnen gerufen« werden. Ich wünschte, es wäre soweit!
Überdrüssig der Freiheit; überdrüssig der Einsamkeit. Sehnsucht nach Gemeinschaft. Der Wunsch, mich einzuordnen, zu dienen!
4. Juni. Der Militärarzt ist nicht mit mir zufrieden. »Vorläufig abgewiesen.« Ich beantrage eine neue »physical examination«. Aber darüber können Monate vergehen …
Und inzwischen?
In diesem Zimmer halte ich es nicht mehr aus. Seit September 1940 – seit einundzwanzig Monaten also – habe ich noch keine fünf Nächte außerhalb New Yorks, außerhalb des »Bedford« verbracht. Eine Luftveränderung! Etwas anderes!
Ich erwäge eine Reise nach Kalifornien, zu den Eltern, die ich so lange nicht gesehen habe. Es wird doch Zeit, daß ich unserem neuen Heim in Pacific Palisades endlich einmal einen Besuch abstatte. Dort fände ich vielleicht sogar etwas Ruhe zur Arbeit.
15. Juni. Notizen zu einer Jakob Böhme-Biographie und zu einem Buch über André Gide. Ich weiß nicht, welcher der beiden Pläne mich mehr reizt. Aber vielleicht werde ich weder zum einen noch zum anderen kommen. Denn während ich mit dem Verlag (»Creative Age Press«) über den alten deutschen Propheten und den modernen französischen Proteus verhandle, bin ich auch in Kontakt mit einer etwas geheimnisvollen Organisation, die der Army irgendwie nahezustehen scheint, ohne übrigens ganz zu ihr zu gehören; eine sogenannte »Liaison-Elite-Truppe«, die wahrscheinlich mit Sabotage oder Spionage im besetzten Europa, oder gar in Deutschland selbst, zu tun hat. Dergleichen könnte abenteuerlich, gefährlich sein. Ich bin dabei! Zunächst freilich bleibt es beim Ausfüllen von Fragebögen. Die Offiziere, bei denen ich mich vorstelle (alle in Zivil!) sind von unverbindlicher Höflichkeit, sehr vage, sehr geheimnistuerisch.
29. Juni. Den Vertrag mit »Creative Age Press« unterschrieben. Es läuft also auf den »Gide« hinaus.
Meine »Elite«-Organisation wird immer vager, immer geheimnisvoller. Nicht auf sie zu rechnen.
Ich sage mich in Kalifornien an.
Pacific Palisades, Calif.; 8. Juli. Wiedersehen mit der Familie. Auch E. ist hier. Reizendes Haus, schöner Garten. Von meinem Zimmer geht der Blick über Palmen- und Orangenhaine bis zum Pazifischen Meer. Auf der anderen Seite liegt Los Angeles, dekorativ hingebreitet. Abends, großer Effekt der Lichter, lebhaft und festlich glitzernd in der trocken-windstillen Luft.
Ich freue mich auf die Arbeit. Auf der langen Zugfahrt, »Les Nourritures Terrestres« und »Les Faux-Monnayeurs« nochmals durchgenommen. Das erste Kapitel (»Legend and Reality«) skizziert.
15. August. Arbeit, zehn, zwölf Stunden am Tag … Zum »Gide« kommen jetzt auch noch die »Turning Point«-Korrekturen. Das Buch soll im Herbst erscheinen.
30. August. Heute Brief von der Army: ich bin zu einer neuen Untersuchung vorgeladen. Mache mich also zu schleuniger Abreise nach New York bereit. Wird es diesmal klappen …?
Vom »Gide« fehlen nur noch das letzte Kapitel und der Epilog.
New York, 7. September. Gestern, den ganzen Tag in »Governor's Island«. Endloses Schlange-Stehen mit anderen Rekruten (meistens nackt); sehr ausführliche »physical examination«. Wieder abgewiesen! Sehr traurig, sehr entmutigt.
6. Oktober. »André Gide: And the Crisis of Modern Thought« ist abgeschlossen, zur Zufriedenheit des Verlags. »The Turning Point: Thirty-Five Years in this Century« ist erschienen und wird viel gelobt. Schöne Briefe, glänzende Kritiken. Trotzdem bleibe ich deprimiert. Lähmendes Gefühl des Ausgeschlossen-Seins.
Neues Gesuch an die Army. Beantrage Wiederaufnahme meines Falles. (Wie man sich aufdrängen muß! Und so viele würden sich gerne drücken …)
15. Oktober. Immer mehr Rezensionen des »Turning Point« (in den »Sunday Times«, der »Herald Tribune« etc). Alle äußerst schmeichelhaft.
Depression hält an.
20. Oktober. Besprechung mit Landshoff über eine große europäische Anthologie, die ich, vielleicht in Zusammenarbeit mit Hermann Kesten, für »L. B. Fischer Publishers« redigieren soll. Ein Querschnitt durch die literarische Produktion aller europäischen Völker »entre les deux guerres«.
Interessante Idee, aber ich bin nur halb interessiert.
Traurigkeit.
24. Oktober. Furchtbare Traurigkeit – alles überschattend.
Der Todeswunsch.
25. Oktober. Der Todeswunsch – sonst nichts.
26. Oktober. Der Todeswunsch … (Wie lang erträgt man das?)
27. Oktober. Der Todeswunsch.
Ich wünsche mir den Tod. Der Tod wäre mir sehr erwünscht. Ich möchte gerne sterben. Das Leben ist mir unangenehm. Ich mag nicht mehr leben. Es wäre mir äußerst lieb, nicht mehr leben zu müssen. Der Tod wäre mir entschieden angenehm. Ich wünsche mir den Tod.
1. November. Immer noch am Leben …
Die Arbeit hilft – ein wenig.
Artikel über Virginia Woolf (für die »Chicago Sun«).
Notizen zu »Heart of Europe« (die Anthologie). Gespräche mit Kesten – dessen standhafte Vitalität und tapferer Optimismus erfrischend auf mich wirken.
12. November. Brief von der spröden, exklusiven Army. Ich soll »demnächst« wieder untersucht werden. (Hoffentlich ehe der Krieg zu Ende ist …)
2. Dezember. Arbeit an »Heart of Europe« – teils allein, teils mit Kesten.
Druckbogen des »Gide«-Buches. Korrekturen.
Buchbesprechungen für die »Chicago Sun«.
14. Dezember. Die schon vertraute Fahrt zu »Governor's Island«. Untersuchung.
Accepted!
Genommen …
(Noch zwei Wochen »Galgenfrist«, um meine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen.)
20. Dezember. Arbeit: »Heart of Europe«. Notizen zur Einleitung. Nächtliche Sitzung mit Kesten.
27. Dezember. Packen. Abschiedsvisiten. Der Abend mit E.
Morgen früh habe ich vorm »Grand Central Palace«, Lexington Avenue, anzutreten – als Soldat.